Von der betörenden Wirkung von Schönheit
Amsterdam, 1636. Die Stadt ist im Tulpenfieber: Aus dem Fernen Osten stammt die neue Blumenart, für deren kostbare Zwiebeln die Spekulanten an der Amsterdamer Börse, ob Bürger, Kaufmann oder einfacher Knecht, bereit sind, alles zu riskieren. Allen voran für die schönste von ihnen: die Semper Augustus.
In dieser fiebrigen Atmosphäre verliebt sich der einfache Maler Jan van Loos in Sophia, die wunderschöne Ehefrau eines wohlhabenden Kaufmanns. Eigentlich ist Jan nur als Porträtmaler bestellt, doch schon nach ihrer ersten Begegnung ist es um Jan und Sophia geschehen. Immer tiefer verstricken sie sich in eine Affäre, für die es scheinbar keinen Ausweg geben kann. Zusammen mit Sophias Magd Marie schmieden sie einen waghalsigen Plan und setzen alles auf eine Karte. Sie rechnen jedoch nicht mit dem Undenkbaren: dass der Tulpenmarkt eines Tages zusammenbricht und sie alle in ein heilloses Chaos stürzen …
»Ein großartiger und fesselnder Roman über die Kunst und die Liebe, über Illusionen und Geld.« The Times
Deborah Moggach, geboren 1948, ist Autorin zahlreicher Romane und Drehbücher, u. a. von These Foolish Things, der als The Best Exotic Marigold Hotel das Kinopublikum begeisterte. Für die BBC-Adaption des Jane-Austen-Romans Stolz und Vorurteil wurde sie mit einem BAFTA ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihr im insel taschenbuch: Der Club der gebrochenen Herzen (it 4231).
Tulpenfieber
Roman
Aus dem Englischen von Ursula Wulfekamp
Insel Verlag
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Tulip Fever erstmals 1999 im Verlag William Heinemann, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 1999 im Verlag Fretz & Wasmuth, Bern.
Umschlagabbildungen: Erich Lessing,Pictures From History, akg-images, Berlin
Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg
eBook Insel Verlag Berlin 2016
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4470.
© dieser Ausgabe Insel Verlag Berlin 2016
Copyright für die deutsche Übersetzung von Ursula Wulfekamp © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2007
Copyright © Deborah Moggach 1999
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eISBN 978-3-458-74936-3
www.insel-verlag.de
Und wieder für Csaba
Oben leben ruhig und gelassen die Menschen; unten bewegen sich ihre Schatten ... Es würde mich nicht wundern, wenn die Grachten noch immer die Schatten von Leuten aus vergangenen Jahrhunderten widerspiegelten, von Männern mit breiten Halskrausen und Frauen in Nachthauben. Die Städte scheinen nicht auf der Erde, sondern auf ihren eigenen Spiegelbildern zu stehen; diese hoch ehrbaren Straßen scheinen aus bodenlosen Traumtiefen emporzusteigen ...
Karel Čapek, Liebenswertes Holland
Ja, ich habe die Welt der Armut und Häßlichkeit gut gekannt, aber gemalt habe ich die Haut, die glitzernde Oberfläche, den Anschein der Dinge – Damen in Seide und Herren in untadeligem Schwarz. Ich habe es bewundert, wie verbissen sie um ein etwas längeres Leben als das ihnen bestimmte gekämpft haben. Sie haben sich gewehrt mit der Mode, den Accessoires des Schneiders, einem phantasievollen Jabot, ungewöhnlichen Manschetten ... mit jeder Kleinigkeit, die ihnen erlaubte, ein bißchen länger auszuhalten, bis sie und uns der schwarze Hintergrund verschlingt.
Zbigniew Herbert, Stilleben mit Kandare
Unsere Aufgabe ist es nicht, Rätsel zu lösen, sondern sie bewußt zu machen, den Kopf vor ihnen zu neigen und die Augen auf ein unablässiges Entzücken vorzubereiten. Wenn Dir indessen unbedingt an Erfindungen gelegen ist, sage ich Dir, wie stolz ich darauf bin, daß es mir gelungen ist, eine besonders intensive Sorte Kobalt mit hellem Zitronengelb zusammenzustellen, so wie ich auch den Reflex des Mittagslichts notiert habe, das durch dickes Glas auf eine graue Wand fällt. Gestatte, daß wir unsere archaische Prozedur betreiben, daß wir der Welt Worte der Versöhnung sagen, daß wir zu ihr sprechen werden von der Freude über die wiedergefundene Harmonie, von dem ewigen Verlangen nach erwiderter Liebe.
Jan Vermeer zugeschriebener Brief
Vertrau nicht auf Äußerlichkeiten.
J. Cats, Emblemata, 1632
Mein Gemahl und ich essen zu Abend. In seinem Bart hängt ein Fädchen Lauch. Ich beobachte, wie es sich beim Kauen auf und ab bewegt, gleich einem Insekt, das sich im Gras verfangen hat. Ich verfolge das mit Gleichmut, denn ich bin eine junge, arglose Frau und lebe nur in der Gegenwart. Ich bin noch nicht gestorben und wiedergeboren. Ich bin noch kein zweites Mal gestorben – denn in den Augen der Welt wird das als zweiter Tod betrachtet. In meinem Ende liegt mein Anfang, der Aal krümmt sich und verschluckt den eigenen Schwanz. Und am Anfang lebe ich noch, ich bin jung, wenngleich mein Gemahl alt ist. Wir heben unsere Weinkelche und trinken. In mein Glas ist ein Spruch geätzt: Die Hoffnungen der Menschen sind zerbrechlich wie Glas, kurz ist daher auch das Leben. Ein Memento vor dem sinkenden Flüssigkeitsstand.
Cornelis reißt ein Stück Brot ab und tunkt es in seine Suppe. Einen Augenblick kaut er. »Meine Liebe, ich möchte etwas mit dir besprechen.« Er tupft sich die Lippen mit der Serviette ab. »Sehnen wir uns in diesem vergänglichen Leben nicht alle nach Unsterblichkeit?«
Ich erstarre. Ich weiß, was jetzt kommen wird. Ich schaue auf das Brötchen, das auf dem Tischtuch liegt. Es ist beim Backen aufgeplatzt und sieht aus wie ein leicht geöffneter Mund. Seit drei Jahren sind wir verheiratet, und ich habe noch kein Kind zur Welt gebracht. Das ist nicht auf einen Mangel an Versuchen zurückzuführen; in dieser Hinsicht ist mein Gemahl noch ein kraftvoller Mann. Nachts besteigt er mich. Er spreizt meine Beine, und ich liege da wie ein auf den Rücken gefallener Käfer, der von einem Schuh auf den Boden gedrückt wird. Mein Gemahl sehnt sich mit jeder Faser seines Herzens nach einem Sohn – nach einem Erben, der über den Marmorfußboden hüpft und diesem großen, leeren Haus in der Herengracht eine Zukunft gibt.
Bislang habe ich ihn enttäuscht. Natürlich überlasse ich mich seinen Umarmungen, denn ich bin eine pflichtbewußte Ehefrau und werde ihm immer dankbar sein. Die Welt ist tükkisch, und er hat mich dem Untergang entrissen, wie wir unser Land dem Meer entrissen, es entwässert und mit Deichen umgeben haben, damit es geschützt ist und nicht untergeht. Dafür liebe ich ihn.
Dann überrascht er mich. »Aus diesem Grund habe ich einen Maler verpflichtet. Er heißt Jan van Loos und gehört zu den vielversprechendsten Künstlern von ganz Amsterdam – Stilleben, Landschaften, vor allem aber Porträts. Hendrick Uylenburgh hat ihn mir empfohlen, ein sehr kundiger Kunsthändler, wie du weißt. Auch Rembrandt van Rijn, der gerade erst aus Leiden hergezogen ist, ist unter seinen Schützlingen.«
Derartige Vorträge hält mein Gemahl mir gern. Er erzählt mir mehr, als ich wissen möchte, aber an diesem Abend fallen seine Worte geräuschlos um mich her zu Boden.
Es wird ein Porträt von uns gemalt! »Er ist sechsunddreißig Jahre alt, genauso alt wie unser wackeres neues Jahrhundert.« Cornelis leert sein Glas und schenkt sich nach. Er ist trunken von der Vision: wir, unsterblich auf Leinwand. Von Bier wird er schläfrig, Wein dagegen macht ihn patriotisch. »Wir, die wir in der großartigsten aller Städte leben, der Heimat der größten Nation auf der ganzen Erdkugel!« Ich allein sitze ihm gegenüber, doch er spricht wie zu einem großen Publikum. Die Wangen über seinem gelblichen Bart sind gerötet. »Beschreibt Vondel Amsterdam nicht mit den Worten: Welche Gewässer werden nicht von ihren Segeln beschattet? Auf welchem Markt verkauft sie nicht ihre Waren? Welche Völker sieht sie nicht vom Mond bestrahlt, sie, die Recht und Gesetz für alle Meere spricht?«
Er erwartet keine Antwort, denn ich bin nur eine junge Gemahlin, die außerhalb dieser vier Wände kaum etwas vom Leben kennt. Die Schlüssel, die an meiner Taille hängen, öffnen nur unsere Wäscheschränke; Wichtigeres aufzuschließen steht mir noch bevor. Ich überlege, welches Kleid ich für das Porträt tragen soll. Größer ist meine Welt noch nicht. Um Meere, Kaiserreiche geht es mir nicht.
Maria trägt eine Platte mit Heringen auf und zieht sich schnüffelnd wieder in die Küche zurück. Vom Meer treibt Nebel herüber, und sie hustet schon den ganzen Tag. Aber das konnte ihrer Stimmung nichts anhaben. Ich bin sicher, daß sie heimlich einen Liebsten hat; in der Küche summt sie vor sich hin, und manchmal ertappe ich sie dabei, wie sie sich vor dem Spiegel das Haar unter der Haube richtet. Ich werde es herausfinden. Wir sind Vertraute, zumindest soweit die Umstände das zulassen. Seit ich nicht mehr bei meinen Schwestern lebe, habe ich niemanden außer ihr.
Nächste Woche kommt der Maler! Was Gemälde betrifft, ist mein Gemahl ein Kenner; unser Haus hängt voller Bilder. An der Wand hinter ihm ist eine Susanna im Bade. Die alten Männer beäugen das nackte Mädchen. Bei Tageslicht sehe ich ihre wollüstigen Gesichter, aber jetzt, im Kerzenschein, haben sie sich in den Schatten zurückgezogen, und ich erkenne nur Susannas üppiges, blasses Fleisch, direkt über dem Kopf meines Gemahls. Er legt sich einen Fisch vor. Er sammelt schöne Gegenstände.
Ich sehe uns als Gemälde. Cornelis mit weißem Spitzenkragen vor schwarzem Hintergrund, der Bart, der sich beim Essen auf und ab bewegt. Der Hering auf meinem Teller, die glänzend gebräunte Haut aufgeplatzt, so daß das Fleisch freiliegt. Die geöffneten Lippen meines Brötchens. Weintrauben, kugelig und durchscheinend im Kerzenlicht; das matte Schimmern des Zinnkelchs.
Ich sehe uns am Tisch sitzen, reglos – erstarrt in dem Moment, bevor sich alles ändert.
Nach dem Essen liest er mir aus der Bibel vor. »Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; denn des Herrn Odem bläst darein. Ja, Gras ist das Volk ...«
Aber ich hänge bereits an der Wand und beobachte uns.
Mit Eifer muß sie auf das Gebaren der Dienstboten achten, auf ihren Verkehr und ihren Umgang, ihre Spaßereien und Spielereien, darauf, welche Worte und Gesten zwischen Mannsbildern und Frauenzimmern fallen, denn wo solches vernachlässigt wird, ist Liederlichkeit in ihren Häusern die Folge, ja sogar Verderbtheit, und zeugt von großem Makel für die Herrschaft.
J. Dod und R. Cleaver,
A Godly Forme of Household Government, 1612
Schläfrig vor Liebe, poliert das Dienstmädchen Maria die kupferne Wärmepfanne. Maria ist schwer vor Verlangen und bewegt sich träge, als würde sie unter Wasser treiben. Ihr Gesicht, verzerrt von der Rundung des Metalls, lächelt ihr zu. Sie ist ein kräftiges, rotwangiges Mädchen vom Land, das mit einem gesunden Appetit gesegnet ist. Auch ihr Gewissen hat ein gesundes Anpassungsvermögen. Wenn Willem in ihr Bett steigt, das in die Wand hinter dem Küchenfenster eingelassen ist, zieht sie die Vorhänge zu, um Gottes Mißbilligung auszusperren. Aus den Augen, aus dem Sinn. Schließlich werden sie und Willem eines Tages heiraten.
Davon träumt sie. Sie träumt, daß ihre Herrschaft umgekommen ist – ertrunken bei einem Schiffbruch – und daß sie und Willem mit sechs süßen Kindern in diesem Haus leben. Wenn sie putzt, putzt sie für seine Heimkehr. Wenn ihre Herrin ausgeht, schließt sie die unteren Fensterläden, damit sie von der Straße aus nicht zu sehen ist. Dann liegt der Salon im Dunkeln, als spaziere sie auf dem Meeresgrund entlang. Sie zieht die blaue Samtjacke ihrer Herrin mit dem Pelzkragen und den Pelzmanschetten an und schlendert durchs Haus, immer wieder in einem der Spiegel einen Blick auf sich erhaschend. Es ist nur ein Traum, was kann das schon schaden?
Jetzt ist Maria auf den Knien, im Salon. Sie schrubbt die blau-weißen Kacheln auf den Scheuerleisten. Auf jeder Kachel ist ein spielendes Kind abgebildet – eins spielt mit einem Reifen, ein anderes mit einem Ball. Eins, ihr liebstes, reitet auf einem Steckenpferd. Das Zimmer ist bevölkert von ihren Phantasiekindern. Zärtlich wischt sie sie mit einem Tuch ab.
Durch die Mauer hört sie die Geräusche von der Straße – Schritte, Stimmen. Sie ist auf dem Land aufgewachsen, und das rege Treiben auf der Herengracht, die Art, wie die Straße in ihre geheime Welt im Haus eindringt, überrascht sie immer noch. Der Ruf des Blumenverkäufers, unheimlich wie ein Kiebitz. Der Mann von der Zinngießerei klappert mit seiner Schüssel und schreit die Namen der Gefäße, die er reparieren kann, als wollte er Sünder zu sich rufen. Jemand hustet und spuckt erschreckend nahe aus.
Und dann hört sie seine Glocke. »Fisch, frischer Fisch!« singt Willem tonlos; er hat eine schreckliche Stimme.
»Rotaugen-Brassen-Hering-Kabeljau!« Dann läutet er seine Glocke. Sie erkennt den Klang ebenso unfehlbar wie eine Schäferin das Geläut ihres Lieblings in der Herde.
Maria springt auf, wischt sich die Nase an der Schürze ab, streicht sich den Rock glatt und reißt die Tür auf. Es ist neblig an diesem Morgen, so daß sie die Gracht jenseits des Bürgersteigs kaum ausmachen kann. Aus dem Trüben taucht Willem auf.
»Guten Tag, meine Schöne.« Ein Lächeln strahlt auf seinem Gesicht.
»Was hast du denn anzubieten?« fragt sie. »Laß mal sehen.«
»Was möchtest du denn, Maria, mein Täubchen?« Er verrückt den Korb auf seiner Hüfte.
»Wie wär’s mit einem schönen fetten Stück Aal?«
»Wie magst du’s denn am liebsten?«
»Du weißt, wie ich’s mag«, lacht sie.
»Gedämpft mit Aprikosen und süßem Essig?«
»Mmmm«, macht sie. Ein Stück weiter die Straße entlang werden Fässer von einem Kahn abgeladen. Maria hört das dumpfe Dröhnen, mit dem sie auf die Straße rollen, wie das Pochen ihres Herzens.
»Wie wär’s mit einem Hering?« fragt er. »Wie wär’s mit einem Kuß?«
Er kommt die Treppe herauf, immer näher. Pochender Herzschlag.
»Psst!« Sie weicht zurück. Leute gehen vorbei. Enttäuscht läßt Willem den Kopf hängen. Er ist ein einfacher Mensch mit einem langen, kummervollen Gesicht, das bei anderen Heiterkeit auslöst. Sie liebt es, wenn dieses Gesicht sich zu einem Lächeln verzieht. Willem ist ein liebenswerter, unschuldiger Mann, der ihr das Gefühl gibt, welterfahren zu sein. Sie und welterfahren! Das zeigt, wie unschuldig er ist.
Willem kann nicht glauben, daß sie ihn liebt. »Ich war gestern hier. Warum hast du nicht aufgemacht?«
»Ach, der Gemüsemann hat mir gerade seine Möhren gezeigt.«
»Nimmst du mich auf den Arm?«
»Ich war auf dem Markt.« Sie lächelt ihn an. »Ich liebe nur dich. Ich bin wie eine Muschel, ich lebe zurückgezogen in meiner Schale. Nur du kannst mich öffnen.«
Sie tritt zurück und läßt ihn ins Haus. Er stellt seinen Korb auf den Boden und nimmt sie in die Arme.
»Igitt! Deine Finger!« Sie geht ihm voraus durch das voorhuis, den Gang entlang und die Stufen zur Küche hinunter. Während sie gemeinsam zum Wasserbecken stolpern, zwickt er sie in den Hintern.
Sie schiebt den Hebel zur Seite. Wasser spritzt aus dem Hahn auf seine ausgestreckten Hände. Er steht da, geduldig wie ein Kind neben seiner Mutter. Sie trocknet ihm die Hände ab und schnüffelt daran. Er drückt sich an sie, schiebt ein Knie zwischen ihre Schenkel – sie wird beinahe ohnmächtig – und küßt sie.
»Du kannst nicht lange bleiben«, flüstert sie. »Sie sind beide da.«
Sie zieht ihn zu ihrem Bett in der Wand. Zusammen fallen sie über den Holzrahmen und landen prustend auf der Matratze. Wie warm es hier ist! Das wärmste Bett im ganzen Haus. Auch wenn es ihnen gehört, werden sie noch hier unten schlafen, denn es ist Marias Höhle, der Mittelpunkt ihres Lebens.
Er flüstert ihr süße Worte ins Ohr. Sie kitzelt ihn. Er schreit auf. Sie bringt ihn zum Schweigen. Dann schiebt sie seine Hand zwischen ihre Beine; sie haben keine Zeit zu verlieren. Sie kichern wie Kinder. Schließlich haben sie früher beide dicht an dicht mit ihren Geschwistern geschlafen, sich aneinandergekuschelt, sich mit Kniestößen traktiert.
»Und was haben wir hier unten?« flüstert sie. »Was Schönes?«
Aus der Ferne ist ein lautes Klopfen an der Haustür zu hören.
Maria fährt hoch, schubst Willem von sich hinunter und krabbelt aus dem Bett.
Einen Augenblick später schiebt sie, erhitzt und außer Atem, den Türriegel beiseite. Vor ihr steht ein Mann. Er ist klein und dunkel – glänzende schwarze Locken, blaue Augen und ein Samtbarett auf dem Kopf.
»Ich werde erwartet«, sagt er. »Ich bin gekommen, um ein Porträt zu malen.«
Die reife Frucht fällt von selbst in die Hand.
J. Cats, Emblemata, 1632
»Ich soll die Hand hierhin legen, auf die Hüfte?« Cornelis wendet sich halb dem Maler zu. Er wirft sich in die Brust. Mit der anderen Hand umfaßt er seinen Stock. Er trägt seinen Brokatmantel und den schwarzen Zylinderhut, hat sich den Bart gekämmt, den Schnurrbart gewichst und die Enden gezwirbelt. Heute trägt er eine Halskrause – hoch und schneeweiß. Sie trennt seinen Kopf von den Schultern, als würde der Kopf auf einem Tablett dargeboten. Cornelis versucht, seine Aufregung zu verbergen.
»Kennt Ihr das Sprichwort, daß man einen Bach nicht eindämmen kann, weil das Wasser nur an anderer Stelle hervorstürzt? Obwohl wir unsere Kirchen weiß getüncht haben, Abbilder der Heiligkeit verboten haben ...« Er neigt den Kopf in meine Richtung. »Hier muß ich meine Gattin um Verzeihung bitten, denn sie ist katholisch. – Obwohl unsere Reformierte Kirche den Malern ihre Schirmherrschaft entzogen hat, hat ihr Talent sich andere Wege gebahnt, und wir sind die Nutznießer. Jetzt bilden sie unseren Alltag ab, mit einer Leuchtkraft und einer liebevollen Detailtreue, die – ohne gotteslästerlich sein zu wollen – an das Transzendentale grenzen kann.«
Der Maler begegnet meinem Blick, hebt die Augenbrauen und lächelt. Wie kann er es wagen! Ich schaue weg.
»Mevrouw, bitte haltet den Kopf still«, sagt er.
Wir werden in der Bibliothek meines Gemahls gemalt. Der Vorhang ist geöffnet, Sonnenlicht strömt herein und fällt auf sein Kuriositätenkabinett – Fossilien, Figurinen, ein Nautilus-Gehäuse auf einer Silbersäule. Auf dem Tisch, drapiert mit einem türkischen Läufer, stehen ein Globus, eine Waage und ein menschlicher Schädel. Der Globus versinnbildlicht das Unternehmen meines Gemahls, denn er ist Kaufmann. Im Hafen steht sein Speicherhaus; er importiert Getreide aus dem Baltikum und kostbare Gewürze aus dem Orient. Außerdem verschifft er Stoffe in Länder, die weit jenseits meines beschränkten Horizonts liegen. Er stellt seinen Wohlstand mit Stolz zur Schau, doch er ist ein guter Calvinist, und so erfüllt die Vergänglichkeit irdischen Reichtums ihn auch mit Demut – das erklärt die Waage, die am Jüngsten Tag unsere Sünden abwägt; das erklärt den Schädel. Vanitas vanitatum. Er wollte seine Hand auf dem Schädel ruhen lassen, aber der Maler hat eine andere Pose vorgeschlagen.
Cornelis redet. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sein Bart sich auf und ab bewegt, ein kleines gelbes Pelztier über der Krause. Wortlos beschwöre ich ihn zu schweigen. »Es ist ein Glück, daß ich durch meine Anstrengungen eine wohlhabende und angesehene Position erlangt habe.« Er räuspert sich. »Ein weitaus größeres Glück ist es jedoch, daß ich ein Juwel besitze, neben dem selbst Rubine ihren Glanz einbüßen – ich meine damit meine teure Sophia. Die größte Freude, der schönste Trost eines Mannes ist ein glückliches Zuhause, wo er nach des Tages Arbeit die Tür hinter sich schließen kann und am Kamin Frieden und Behaglichkeit findet, liebevoll umsorgt von seiner aufmerksamen Gemahlin.«
Ein ersticktes Prusten. Der Maler unterdrückt seine Belustigung. Wieder betrachtet er mich von seinem Platz hinter der Staffelei. Ich fühle seinen Blick auf mir ruhen, obwohl ich auf die Wand starre. Ich hasse ihn.
Es soll noch schlimmer kommen. »Mein einziger Kummer besteht darin, daß wir das Getrappel kleiner Füßchen noch nicht hören, aber ich hoffe, das wird sich bald ändern.« Mein Gemahl lacht leise. »Mögen meine Blätter auch trocken sein, der Saft steigt noch empor.«
Nein! Wie kann er das nur sagen? Wieder begegnet der Maler meinem Blick. Er grinst – mit weißen Zähnen. Er mustert mich von Kopf bis Fuß, entkleidet mich. Mein Gewand löst sich auf, nackt stehe ich vor ihm.
Ich möchte am liebsten sterben, erröte am ganzen Körper. Warum tun wir das? Wie kann Cornelis nur so reden? Er ist aufgeregt, weil wir gemalt werden – aber wie kann er uns derart der Lächerlichkeit preisgeben?
Der Maler steht hinter seiner Staffelei und beobachtet mich. Seine blauen Augen bohren sich in meine Seele. Er ist ein kleiner, drahtiger Mann mit verwegenen schwarzen Haaren. Er hat den Kopf zur Seite gelegt. Kühl erwidere ich seinen Blick. Aber dann wird mir klar: Er sieht nicht mich an. Er betrachtet ein Arrangement, das er malen soll. Stirnrunzelnd wischt er seinen Pinsel an einem Lumpen ab. Ich bin nur ein Gegenstand – braunes Haar, weißer Spitzenkragen und blau changierendes Seidenkleid.
Das ärgert mich. Ich bin keine Hammelkeule! Mein Herz klopft heftig; mir ist schwindelig, ich bin verwirrt. Was ist nur los mit mir?
»Wie lange dauert das noch?« frage ich.
»Seid Ihr schon müde?« Der Maler tritt zu mir und reicht mir ein Taschentuch. »Ist Euch unwohl?«
»Es geht mir sehr gut.«
»Ihr zieht schon den ganzen Vormittag die Nase hoch.«
»Das ist nur eine kleine Verkühlung. Ich habe mich bei meinem Hausmädchen angesteckt.« Ich will nicht sein Taschentuch benutzen, sondern hole lieber mein eigenes hervor und tupfe mir die Nase ab. Er kommt mir noch näher; der Geruch von Leinöl und Tabak steigt mir in die Nase.
»Ihr seid unglücklich, nicht wahr?« fragt er.
»Wie meint Ihr das, Mijnheer?«
»Ich meine, Ihr seid unglücklich darüber, stehen zu müssen.« Er zieht einen Stuhl heran. »Setzt Euch. Wenn ich das umstelle ... und das ...« Er verrückt den Tisch, gruppiert die Möbel mit raschen Bewegungen um. Den Globus schiebt er zur Seite, dann tritt er zurück und begutachtet sein Werk. Er arbeitet äußerst konzentriert. Sein braunes Wams ist mit Farbe beschmiert.
Und dann hockt er vor mir. Er kneift den Saum meines Gewandes, so daß die Spitze meines Pantoffels hervorblitzt. Dann nimmt er sein Barett ab und kratzt sich den Kopf. Ich betrachte seine Locken. Er kauert auf den Fersen, sieht auf meinen Fuß, dann umfängt er ihn mit einer Hand, schiebt ihn ein wenig nach rechts, stellt ihn auf das Fußöfchen und richtet die Falten meines Rockes. »Eine Frau wie Ihr hat es verdient, glücklich zu sein«, murmelt er.
Er stellt sich wieder hinter seine Staffelei. Dreimal wird er kommen, sagt er, damit wir hier in der Bibliothek für ihn Modell sitzen, dann wird er das Gemälde in seinem Atelier fertigstellen. Mittlerweile redet mein Gemahl, erzählt ihm von einem Bekannten, einem Freund des Bürgermeisters, der ein Schiff auf See verlor und damit ein ganzes Vermögen – versenkt von den Spaniern. Cornelis’ Stimme hallt aus weiter Ferne. Ich sitze da; meine Brüste pressen sich gegen die Baumwolle des Mieders, meine Schenkel unter dem Unterrock brennen. Ich spüre meine Kehle, meine Ohrläppchen, das Pulsieren meines Bluts. Mein ganzer Körper pocht, aber nur, weil ich Fieber habe. Das ist auch der Grund, warum mir alles weh tut, warum ich mich bleischwer und gleichzeitig federleicht fühle.
Der Maler arbeitet. Seine Augen wandern zu mir und wieder zur Leinwand. Während er malt, fühle ich, wie sein Pinsel meine Haut streichelt ...
Ich liege mit meinen Schwestern im Bett. Ich kneife die Augen zusammen, denn ich weiß, er sitzt dort und beobachtet mich. Er fährt sich mit der roten Zunge über die Zähne. Wenn ich die Augen öffne, wird der Wolf neben meinem Bett sitzen. Mein Herz ist wie eingeschnürt. Ich murmele den Rosenkranz ... Gegrüßt seist du, Maria ... Ich spüre seinen heißen, fleischigen Atem auf meinem Gesicht. Ich umfasse meine knospenden Brüste. Ich murmele schneller, um ihn zum Näherkommen zu zwingen.
Die Pflicht verlangt von mir zu arbeiten, aber die Liebe läßt mich nicht ruhen.
Nichts zu tun habe ich Lust;
Meine Gedanken sind erfüllt von Liebe, Liebe nährt mein Denken,
Und kämpfe ich dagegen an, so bin ich machtlos.
Alles, was ich tue, tue ich gegen meinen Willen, gegen meinen Wunsch,
Denn du, rastlose Liebe, hältst mich in deiner Macht!
J. H. Krul, 1644
»Ich liebe ihn. Wenn er mich anfaßt, erschauere ich am ganzen Körper. Wenn er mich ansieht, schmelze ich dahin wie Gelee.« Maria lehnt sich gegen den Leinenschrank, ihre Augen sind geschlossen. »Ich platze noch vor Glück. Ach, Mevrouw, ich werde ihn immer und ewig lieben, und wir werden sechs Kinder haben. Heute morgen habe ich nämlich einen Apfel gegessen und dabei an ihn gedacht, und dann habe ich die Kerne ausgespuckt, und es waren sechs.«
Maria drückt die Laken an ihre Brust. Eigentlich wollte sie das gar nicht bekennen, die Worte sind einfach aus ihr hervorgebrochen. Außer ihrer Herrin hat sie niemanden, dem sie das erzählen könnte; die Herrin ist ihre einzige Vertraute, denn Maria kennt in Amsterdam nur Händler und ihren Liebsten, ihren traurigen, herzigen, komischen Willem mit seinen Fischfingern.
»Ich liebe ihn bis zum Tod.«
Sophia erwidert nichts. Sie nimmt Maria die Wäsche ab und verstaut sie im Schrank. Der Kater reibt sich an ihren Beinen. Als sie nicht reagiert, stolziert er zu Maria und umstreicht deren Waden. Er geht von einer Frau zur anderen, wartet auf Zuwendung, aber die beiden sind weit fort, in ihren Träumen versunken.
Beide müssen gleichzeitig niesen. Maria lacht darüber, aber Sophia scheint es gar nicht gemerkt zu haben. Das verdrießt das Hausmädchen, das von der Herrin wißbegierige Fragen erwartet hat. Wer ist er? Wann hast du ihn kennengelernt? Hat er ehrenhafte Absichten? (Ja.)
Vor den Fenstern wird es Abend. Sophia schließt die Schranktür und lehnt sich dagegen, wie eine abgestützte Gliederpuppe. Sie trägt das blaue Seidengewand, das sie am Vormittag trug, bei der Sitzung; aber mittlerweile hat sie sich das goldene Kreuz um den Hals gehängt. Sie ist blaß, aber das kommt sicher nur daher, daß sie sich unwohl fühlt, wenngleich sie sich weigert, ins Bett zu gehen. Maria findet sie sehr hübsch, auf eine vornehme Art. Neben ihr kommt Maria sich vor wie ein Teigkloß. Sie sieht ihre Herrin an und denkt an Porzellan, das jederzeit zerbrechen könnte.
Maria ist kein neugieriger Mensch, und jetzt ist sie ganz mit ihrem eigenen Glück beschäftigt. Sie weiß wenig über ihre Herrin, außer, daß sie gleichaltrig sind – beide vierundzwanzig – und daß Sophias Vater, ein Drucker in Utrecht, jung starb und viele Schulden und mehrere Töchter hinterließ. Deshalb wurde Sophia mit einem wohlhabenden Mann verheiratet. Maria hält Cornelis für einen alten Langweiler, aber sie denkt praktisch. Man muß überleben, und dafür hat man immer einen Preis zu zahlen. Sie sind eine Nation von Kaufleuten – mit einem Erfolg, den die Welt nie zuvor gesehen hat –, und zwischen ihrer Herrin und Mijnheer ist ein Geschäftsabkommen geschlossen worden. Jugend wurde gegen Wohlstand eingetauscht, Fruchtbarkeit (mögliche Fruchtbarkeit) gegen ein Leben ohne Angst vor Hunger. In Marias Augen ist das ein vernünftiger Handel; sie mag zwar verträumt und abergläubisch sein, aber im Grunde ihres Herzens denkt sie bäuerlich und steht mit beiden Beinen fest auf dem Boden.
Trotzdem ist sie enttäuscht. Jetzt hat sie ihr Herz offenbart – und was hat sie dafür bekommen? Schweigen. Mit einem Wäschestapel auf den Armen stapft sie ins Schlafgemach. Ihre Herrin folgt ihr, um mit ihr das Bett zu machen. Sie arbeiten oft gemeinsam. Auf der Eichentruhe brennen drei Kerzen. Maria läßt das Leinen aufs Bett fallen und bläst eine aus.
»Warum tust du das?« fragt Sophia.
Maria schaudert. »Drei Kerzen sind ein böses Omen.«
»Was für ein Omen?«
»Tod.« Die Antwort ist knapp. »Wußtet Ihr das nicht?«
Von der (Bein-)Stellung der Weiber und jungen Bürschlein (oder Mägdlein):
Bei Weibern und jungen Bürschlein (oder Mägdlein) dürfen keine auseinandergespreizten und zu offenen Beinstellungen vorkommen; denn in denselben legt sich Keckheit an den Tag und gänzlicher Mangel an Schamhaftigkeit. Eng aneinandergeschlossene Beine aber beweisen Furchtsamkeit und Schamhaftigkeit.
Leonardo da Vinci, Traktat von der Malerei
»Schon wieder Fisch?« Cornelis sieht auf den Teller. »Wir essen die ganze Woche schon Fisch. Und letzte Woche auch, wenn ich mich recht entsinne. Bald werden uns noch Flossen wachsen.« Er lacht über seinen Scherz. »Ein Großteil unseres Landes lag einmal unter Wasser – wollt ihr uns in dieses Element zurückversetzen?«
»Mijnheer«, wendet das Dienstmädchen ein, »ich dachte, Ihr mögt Fisch. Das ist Brasse, Euer Lieblingsfisch.« Sie deutet auf Sophia. »Sie hat ihn mit Backpflaumen zubereitet, wie es Euch am besten schmeckt.«
Cornelis wendet sich an seine Frau. »Wie wäre es mit einem schönen Stück Schweinefleisch? Geh morgen zum Fleischer, mein Herz, bevor wir alle zu beschuppten Kreaturen der Tiefe werden.«
Maria brummt – ob vor Lachen oder Verachtung, kann er nicht beurteilen – und geht wieder in die Küche. Welche Unverschämtheit! Seit der Diener Karel gegangen ist, lassen die Umgangsformen im Haus zu wünschen übrig. Cornelis muß mit seiner Frau darüber reden.
Sophia ißt nicht. Sie blickt in ihr Weinglas und sagt: »Ich möchte nicht, daß der Maler noch einmal ins Haus kommt.«
»Was hast du gesagt?«
»Ich will nicht, daß er wieder herkommt. Ich möchte nicht, daß unser Porträt gemalt wird.«
Er starrt sie an. »Aber warum denn nicht?«
»Bitte!«
»Warum nicht?«
»Es ist gefährlich«, erklärt sie.
»Gefährlich?«
Sie überlegt kurz. »Wir ... wir frönen damit nur unserer Eitelkeit.«
»Und was tust du, wenn die Schneiderin kommt, mein Herz?«
»Das ist etwas anderes ...«
»Wie viele Stunden verbringst du mit Anproben, bei denen du dich vor dem Spiegel hierhin und dorthin drehst?« Er beugt sich über den Tisch und streichelt ihr Handgelenk. »Und ich freue mich, daß du das tust, mein Liebchen, denn deine Schönheit zu sehen erfüllt mein altes Herz mit Freude. Das ist auch der Grund, warum ich diese Blüte auf Leinwand festhalten will – verstehst du das?«
Sie spielt mit dem Saum des Tischtuchs. »Es ist zu teuer. Achtzig Gulden!«
»Kann ich mein Geld nicht ausgeben, wie es mir beliebt?«
»Achtzig Gulden sind viele Monatslöhne für – sagen wir, einen Zimmermann ...« Sie zögert. »Für einen Matrosen.«
»Woher kommt diese plötzliche Besorgnis?«
Wieder herrscht Schweigen. Schließlich sagt sie: »Ich mag ihn nicht.«
»Er scheint ganz nett.«
Sie blickt auf; ihr Gesicht ist leicht gerötet. »Ich mag ihn nicht – er ist vorlaut.«
»Wenn dir der Mensch wirklich so unangenehm ist – nun, dann zahle ich ihn aus und suche einen anderen Maler.« Cornelis möchte nur, daß Sophia glücklich ist. »Nicolaes Eliasz käme in Frage oder Thomas de Keyser. Sie haben viele Aufträge, wir müßten uns vielleicht auf eine Wartezeit einstellen. Ich könnte mich sogar an Rembrandt van Rijn wenden, obwohl die Preise, die er verlangt, möglicherweise selbst meine Mittel übersteigen.« Er lächelt sie an. »Alles, um dich glücklich zu machen, mein teures Herz.«
Erleichtert ißt er weiter. Darum ging es also. Frauen sind merkwürdige Wesen; sie haben absonderliche Grillen. Und wie schwierig sie doch sind im Vergleich zu Männern. Sie sind wie ein Geschicklichkeitsspiel – man muß hier ein Rädchen bedienen, dort einen Schlüssel drehen, und erst dann offenbaren sie einem ihre Geheimnisse.
Cornelis liebt seine Frau abgöttisch. Manchmal, wenn er sie im Kerzenlicht betrachtet, zerreißt ihre Schönheit ihm das Herz. Sie ist seine Hoffnung, seine Freude, der Schwung in seinem Schritt. Sie ist ein Wunder, denn sie hat ihn ins Leben zurückgeholt, als er schon alle Hoffnung aufgegeben hatte. Sie hat ihn gerettet – genauso wie er, auf eine völlig andere Weise, sie gerettet hat.
Nach dem Essen legt Cornelis noch ein Stück Torf auf das Feuer und zündet sich eine Pfeife an. Der größte Trost eines Mannes ist ein glückliches Zuhause, in dem er die Fürsorge einer liebenden Gemahlin genießt. Doch Sophia ist nicht da. Über ihm knarzt die Decke unter ihren Schritten. Dann herrscht Stille. Sie hat gesagt, sie habe Kopfweh, und sich früh zurückgezogen. Normalerweise bleibt sie bei ihm sitzen und näht; gelegentlich spielen sie ein Kartenspiel. Heute abend jedoch war sie unruhig, nervös wie eine Stute, die ein Gewitter nahen spürt. Die Anwandlung mit dem Maler war höchst ungewöhnlich für sie.
Besorgt fragt sich Cornelis, ob sie vielleicht krank wird; sie sah blaß aus. Vielleicht vermißt sie ihre Familie. Sie hat nur wenige Freunde in Amsterdam, und die Ehefrauen seiner Bekannten sind alle viele Jahre älter als sie. Sophia geht nicht oft genug aus, sie amüsiert sich nicht genug. In der ersten Zeit nach der Hochzeit war sie ein fröhliches, lebhaftes Mädchen, doch im Laufe der Monate ist sie verschlossener geworden. Vielleicht, weil sie die Verantwortung für den Haushalt trägt – sie müssen wirklich noch einen Dienstboten einstellen. Vielleicht fühlt sich seine Frau eingesperrt hier im Haus, wie der Goldfink, den er als Junge im Käfig hielt.
Cornelis klopft seine Pfeife aus und steht auf. Seine Gelenke schmerzen, der Rücken tut ihm weh. Es ist ein langer Winter gewesen. Er spürt die Schwere des Nebels, der auf der Stadt lastet wie der Deckel auf einem hutspot-Kessel. Er spürt sein Alter.
Er verschließt das Haus und bläst die Kerzen aus, bis auf eine, die er mit nach oben nimmt. Der Geruch von gekochtem Fisch hängt noch in den Zimmern. Gestern ist in Beverwijk ein Wal angespült worden, ein riesiges Tier, das größte, das in der Gegend je ausgemessen wurde. Die Dorfbewohner gerieten in Aufruhr – das sei ein unnatürliches Omen, ein Anzeichen, daß ein Unheil bevorstehe: Das Meer habe ein Ungeheuer ausgespien, um sie für ihre Sünden zu bestrafen.
Cornelis weiß, daß dieser Glaube einfältig ist. Das weiß er aus eigener Erfahrung. Tragödien ereignen sich nicht auf das Stichwort hin, das eine Naturkatastrophe gibt, sondern suchen die Menschen rein zufällig heim. Den Tod seiner ersten, geliebten Frau Hendrijke mit kaum vierzig Jahren hat kein zerbrochener Spiegel verursacht; keine Sternenkonstellation war für den Tod seiner zwei kleinen Söhne verantwortlich.
Denn Cornelis hat schon eine Familie verloren. Wie alle, denen der Tod einen geliebten Menschen raubte, weiß er, daß die Welt ohne Sinn ist. Im tiefsten Inneren wissen sie das, auch wenn sie anderen und sich selbst sagen, es sei Gottes Wille gewesen. Cornelis kommt seinen religiösen Pflichten nach. Jeden Abend liest er Sophia aus der Bibel vor, und sie senken ihr Haupt im Gebet. Am Sonntag geht er in seine Kirche, und sie nimmt an der Messe teil, die im geheimen abgehalten wird; ihre Religion wird toleriert, solange sie in privatem Kreis ausgeübt wird. Doch es ist Cornelis, als kämen inhaltsleere Worte über seine Lippen, als würde ein Fisch sie sprechen. In seiner Welt gibt es keine Möglichkeit, Zweifel zum Ausdruck zu bringen, auch wenn er sich das nie so direkt eingestanden hat. Er weiß nur, daß die Todesfälle seinen Glauben eher geschwächt als gestärkt haben; daß die einzige Sicherheit, an der er festhalten kann, hier in seinem Bett liegt.
Cornelis betritt das Schlafgemach. Sophia kniet am Boden und betet. Das überrascht ihn; er hatte geglaubt, sie liege schon lange im Bett. Sie muß schon eine geraume Weile beten. Als sie ihn bemerkt, fährt sie zusammen, bekreuzigt sich und klettert ins Bett, legt sich auf den Rücken und starrt zur Decke empor. Vom Balken hängt ihre papierene Brautkrone, die mittlerweile verstaubt ist; sie sieht aus wie ein Wespennest.
Unter den Kissen vergraben, räkelt Sophia sich seufzend. Sie verströmt den Duft der Jugend, so daß Verlangen seine alten Knochen erwärmt und seinen kalten, trägen Kreislauf beschleunigt. Er entkleidet sich, leert seine Blase in den Nachttopf und streift sein Schlafgewand über. Das Bett ist sein Rettungsboot; jede Nacht bewahren ihre festen, jungen Arme ihn vor dem Untergehen.
Sophia liegt zusammengerollt da, den Kopf in die Kissen gedrückt, und tut, als würde sie schlafen. Er bläst die Kerze aus und steigt ins Bett. Er zieht ihr Hemd hoch und legt seine Hand auf ihre kleine Brust, spielt mit der Warze. »Meine liebe Frau«, flüstert er und führt ihre Hand zu seinem schlaffen Glied. »Mein kleiner Soldat ist heute abend müde. Zeit, ihn zum Dienst zu rufen.«
Sie hat die Hand zur Faust geballt. Er biegt ihre Finger auf und legt sie um sein Fleisch, bewegt ihre Hand auf und ab. »Auf in die Schlacht ...« Sein Glied wird steif, sein Atem geht schneller. »Strammgestanden, Mijnheer«, murmelt er; das ist ein kleiner Scherz zwischen ihm und seiner Frau. Er spreizt ihre Beine und bringt sich in Position. Als er sich in sie schiebt, erschaudert sie leicht. Er vergräbt sein Gesicht in ihrem Haar, legt seine Hände um ihr Gesäß und drückt sie an sich; die Bettfedern knarzen rhythmisch. Mit dem Hinein- und Hinausgleiten wird sein Atem immer schneller.
Minuten vergehen. Je älter er wird, desto länger braucht er, um seinen Samen zu vergießen. Wenn er ermattet, denkt er an ein Erlebnis aus seiner Jugend – die Verwerflichkeit bringt ihn noch immer in Wallung. Er ist ein Junge in Antwerpen, das Hausmädchen Grietje kommt, um ihm gute Nacht zu sagen. Unvermittelt hebt sie ihre Röcke und schiebt sich seine Hand zwischen die Beine. Er spürt drahtige Haare und feuchte Lippen. Sie bewegt seine Finger; die Lippen gleiten gegeneinander wie dicke Scheiben Rindfleisch. Dann schiebt sie einen seiner Finger gegen etwas, das sich wie ein in den schlüpfrigen Fleischfalten verborgenes Stück Marmor anfühlt, und läßt ihn diese Stelle reiben ... auf und ab, fester und immer fester ... Auf einmal preßt sie die Schenkel zusammen, so daß seine Hand gefangen ist. Sie ächzt. Dann zieht sie seine Hand hervor, versetzt ihm lachend einen Klaps aufs Gesicht und geht aus dem Zimmer.
Damals hatte er schreckliche Angst, empfand sogar Panik. Abscheu erfüllte ihn und Scham. Er war erst zehn Jahre alt. Seine feuchten Finger rochen nach Salzlake, ein wenig nach faulenden Melonen. Doch in der Erinnerung besitzt der Vorfall die Macht eines Zaubermittels. Cornelis erschaudert ob seiner eigenen Verworfenheit ... aber sie erregt ihn auch. »Es kommt ... es kommt ... feuert die Kanonen!« flüstert er, und dann ergießt sich sein Same in sie. In einer letzten Aufwallung krallt er sich in ihr Fleisch, seine mageren Schenkel zittern. Schließlich sinkt er ermattet zusammen, sein altes Herz klopft donnernd gegen die Rippen. »Gott sei gedankt«, keucht er.