2Die in diesem Band versammelten Aufsätze verbinden zwei Behauptungen. Die erste ist, dass die begrifflichen Neuerungen, die die großen Figuren der deutschen philosophischen Tradition, allen voran Kant und Hegel, entwickelt haben – Begriffe wie Selbstbewusstsein, Freiheit, Subjektivität, Logik, Geist und philosophische Methode –, nach wie vor von herausragendem philosophischem Interesse sind, also keineswegs als bloß historische Bestände betrachtet werden dürfen. Die zweite Behauptung lautet, dass eine Reihe klassischer Deutungen dieser Begriffe weder deren Radikalität noch deren philosophisches Potenzial in den Blick bekommt. Dieses Manko präzise zu benennen und zu beheben – und dabei die Aktualität des Deutschen Idealismus zu belegen –, ist das Ziel dieses Bandes.
Robert B. Pippin ist Professor für Philosophie an der Universität Chicago sowie Mitglied des dortigen Committee on Social Thought. Im Suhrkamp Verlag erschien zuletzt: Kunst als Philosophie. Hegel und die moderne Bildkunst (2012).
Die Aktualität des Deutschen Idealismus
Suhrkamp
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eISBN 978-3-518-74493-2
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Analytischer Deutscher Idealismus Vorwort zur Buchreihe von James Conant und Andrea Kern
Die Aktualität des Deutschen Idealismus
Einleitung
I. Vernunft und Subjektivität
1. Die Form der Vernunft
2. Über Selbstgesetzgebung
3. Die Freiheit als Schicksal:
Verwirklichung und Geschichte bei Hegel
4. Moralität: Die subjektive Seite der Sittlichkeit?
5. Zu Hegels Behauptung, Selbstbewusstsein sei »Begierde überhaupt«
6. Hegel über die politische Bedeutung kollektiver Selbsttäuschung
II. Logik und Subjektivität
7. Logik und Metaphysik
Hegels ›Reich der Schatten‹
8. Die Logik der Negation bei Hegel
9. Eine Logik der Erfahrung?
Über Hegels Phänomenologie des Geistes
10. Brandoms Hegel
11. McDowells Idealisten
III. Moderne und Subjektivität
12. Der Status der Literatur in Hegels
Phänomenologie des Geistes
13. Ästhetik ohne Ästhetik
Zu Hegels Philosophie der Kunst
14. Selbstüberwindung, Versöhnung und Modernität bei Nietzsche und Hegel
15. Zurück zu Hegel?
Slavoj Žižek: Weniger als nichts. Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus
Textnachweise
Namenregister
Die Philosophie des Deutschen Idealismus – und damit meinen wir die Philosophie von Kant bis Hegel – scheint vielen durch die analytische Philosophie überholt. Nicht selten wird sie als Gegenprojekt zu dieser Tradition der Philosophie verstanden. Mit der Buchreihe »Analytischer Deutscher Idealismus« wollen wir sichtbar machen, dass die Philosophie des Deutschen Idealismus keinen Gegensatz zur analytischen Philosophie darstellt, sondern umgekehrt ihr Maßstab und Fluchtpunkt ist.
Die Reihe antwortet auf eine intellektuelle und gesellschaftliche Herausforderung, die durch die Renaissance des Naturalismus in den Wissenschaften erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt ist. Sie liegt in der für uns grundlegenden Frage, wie wir es verstehen können, dass wir geistbegabte Tiere sind, die einerseits das, was sie tun, aus Freiheit tun, deren Leben aber andererseits durch Gesetzmäßigkeiten bestimmt ist, die sie nicht selbst hervorgebracht haben. Es ist offenkundig, dass man diese Frage nicht beantworten kann, indem man ihre eine Seite – die Freiheit des Menschen – leugnet. Eine Naturalisierung des Geistes, die leugnet, dass all das, was das menschliche Leben ausmacht – Denken, Sprechen, Handeln, soziale Institutionen, religiöser Glaube, politische Ordnungen, Kunstwerke etc. –, Gegenstände sind, die, um mit Kant zu sprechen, dem Reich der Freiheit angehören, löst das Problem nicht, sondern kapituliert vor ihm. Doch auch wenn jeder sieht, dass diese Leugnung, die der Szientismus unablässig predigt, nicht das Resultat einer Erkenntnis sein kann, sondern vielmehr Ausdruck einer intellektuellen Hilflosigkeit ist, führt uns diese Reaktion ebenso vor Augen, dass die Frage nach der Einheit von Geist und Natur eine echte Frage ist, bei deren Beantwortung unser Selbstverständnis als geistige Wesen auf dem Spiel steht.
Die beschriebene Situation ist indes nicht neu. Blicken wir ins 18. Jahrhundert zurück, erkennen wir eine ähnliche intellektuelle Lage. Auch damals war es der Fortschritt der modernen Naturwissenschaften, der unser Selbstverständnis als geistbegabte Tiere 8herausgefordert hat. Der Deutsche Idealismus antwortet auf diese Herausforderung, indem er die Philosophie explizit durch die Frage nach der Einheit von Geist und Natur definiert. Im Angesicht der modernen Naturwissenschaft ringt die Philosophie von Kant bis Hegel darum, die zwei Seiten des Menschen zusammenzubringen: dass er ein Tier ist und doch ein geistiges Wesen, dass er Natur ist und doch Gesetzen unterliegt, die von anderer Art sind als die Gesetze der Natur: Gesetzen der Freiheit. Die Philosophie des Deutschen Idealismus ist von dem Bewusstsein durchdrungen, dass das Begreifen dieses Verhältnisses – des Verhältnisses von Geist und Natur, wie Hegel es zu Anfang seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften formuliert – die bestimmende Aufgabe der Philosophie ist. Wenn wir daher mit der Buchreihe »Analytischer Deutscher Idealismus« die Philosophie des Deutschen Idealismus stärken wollen, dann weil wir meinen, dass der Deutsche Idealismus für die intellektuelle Herausforderung, der wir uns gegenübersehen, die maßgebliche Orientierung ist. Der Deutsche Idealismus liegt nicht hinter uns, sondern vor uns. Damit meinen wir, dass die Art und Weise, wie der Deutsche Idealismus seine grundlegenden Begriffe und Ideen, allen voran die Begriffe der Freiheit, der Vernunft und der Selbstbestimmung, entwickelt und artikuliert, dem gegenwärtigen philosophischen Bewusstsein vielfach unbekannt und verstellt ist. Das liegt teilweise daran, wie die Philosophie in Westdeutschland nach 1945 mit diesem philosophischen Erbe umgegangen ist. Sie hat ihre durch den Nationalsozialismus verursachte Verstümmelung viel zu wenig als solche erfasst und zu heilen gesucht. Damit hat sie sich in eine Lage gebracht, in der sie aus sich heraus nicht mehr die Mittel schöpfen konnte, um die Begriffe und Ideen, in denen sie zu Recht ihre Bedeutung sah, so zu artikulieren, dass sie als Maßstab der systematischen Arbeit erscheinen konnten. Für einen großen Teil der Jüngeren wurde dieser Maßstab stattdessen die analytische Philosophie angloamerikanischer Prägung.
So wichtig diese Erneuerung der Philosophie war, so entstand dadurch doch der falsche Eindruck, die analytische Philosophie und die Philosophie des Deutschen Idealismus seien Gegensätze, nämlich Orientierungen und Vorgehensweisen, die nicht nur nichts miteinander zu tun haben, sondern einander ausschließen. Die Bücher dieser Reihe möchten darum auch sichtbar machen, dass der Deutsche Idealismus von Kant bis Hegel nicht nur kein 9Gegensatz zur analytischen Philosophie ist, sondern eine Form, und zwar eine maßgebliche Form, der analytischen Philosophie. Der Deutsche Idealismus, als analytische Philosophie, ist eine Reflexion auf elementare Formen des Denkens und damit auf die Quelle unserer grundlegenden Begriffe, die diese Begriffe zugleich als notwendig ausweist. Philosophie ist, so sagt es Hegel, der Versuch, das Denken aus sich selbst zu begreifen. Sie ist ein Begreifen des Denkens, das von keinen »Voraussetzungen und Versicherungen« abhängt, wie er sagt, eine radikal voraussetzungslose Untersuchung der Voraussetzungen des Denkens. Darin liegt der gemeinsame Zug der Philosophie des Deutschen Idealismus: dass die Begriffe, die sie durcharbeitet, von nirgendwo her – von keiner Wissenschaft und keinem Common Sense – übernommen werden, sondern diese Begriffe nur so weit verwendet werden, wie sie als notwendig für das Denken erkannt werden. Diese Einsicht, dass die Philosophie ihre Begriffe nur aus dem Denken selbst nehmen kann, macht den radikalen Anspruch des Deutschen Idealismus aus. Und so ist die Idee der analytischen Philosophie, die Idee der Philosophie als logischer Analyse der grundlegenden Formen des Denkens und der Aussage, nirgends so streng durchgeführt worden wie im Deutschen Idealismus.
Unter dem Label »Analytischer Deutscher Idealismus« versammelt die Buchreihe Texte und Bücher, die auf exemplarische Weise Philosophie als analytische Aufklärung verstehen, im Geist und mit den Begriffen des Deutschen Idealismus. Die analytische Philosophie kommt erst da zu sich selbst, wo sie sich nicht von der idealistischen Philosophie abwendet, sondern auf diese ausgerichtet ist: in ihren Grundbegriffen und in der Radikalität ihrer Methode. Das mag manchen als provokante These anmuten, doch es gibt viele Beispiele, die ihr entsprechen. Gottlob Freges Begriffsschrift, die vielen als Gründungsdokument der analytischen Philosophie gilt, ist kein Gegenprojekt zum Deutschen Idealismus, sondern eine Weiterführung der kritischen Philosophie Kants. Und wenn wir uns zwei andere große Werke der analytischen Philosophie vergegenwärtigen, Wilfrid Sellars’ Empiricism and the Philosophy of Mind (dt.: Der Empirismus und die Philosophie des Geistes) und Peter Strawsons The Bounds of Sense (dt.: Die Grenzen des Sinns), sehen wir, dass sich die herausragenden Repräsentanten der analytischen Philosophie niemals vom Deutschen Idealismus abgewendet, 10sondern stets dessen Nähe gesucht haben. Das offizielle Selbstverständnis der analytischen Philosophie, in dem sie sich dem Empirismus verschreibt und sich damit dem Deutschen Idealismus entgegensetzt, ist ein Selbstmissverständnis. Der Empirismus, der sich für aufgeklärt hält, weil er die empirischen Wissenschaften zum Maß der Erkenntnis erklärt, ist in Wahrheit der Widersacher der analytischen Philosophie, nämlich der radikalen, der grundlegenden Analyse der Formen unseres Denkens und Verstehens. Soweit der Empirismus die analytische Philosophie dominiert, verdeckt er deren eigentliche Orientierung, die dieselbe ist wie die des Deutschen Idealismus.
Der vorliegende Band von Robert B. Pippin, Die Aktualität des Deutschen Idealismus, ist der dritte Band dieser Buchreihe, an deren vorangehende Bände, Wiedererinnerter Idealismus von Robert B. Brandom und Die Welt im Blick von John McDowell, er nahtlos und kommentierend anschließt. Robert B. Pippin ist Professor für Philosophie an der Universität Chicago sowie Mitglied des dortigen Committee on Social Thought. In dem vorliegenden Band hat Robert B. Pippin Aufsätze zum Deutschen Idealismus versammelt, deren gemeinsame Absicht es ist, die Radikalität der begrifflichen Neuerungen, die die großen Figuren der modernen deutschen philosophischen Tradition entwickelt haben – in Begriffen wie Selbstbewusstsein, Freiheit, Subjektivität, Logik, Geist und philosophische Methode –, zur Geltung zu bringen und deren philosophisches Potenzial aufzuzeigen.
Die Buchreihe wird von einem internationalen Forschungszentrum getragen, dem Forschungskolleg Analytic German Idealism (FAGI), das 2012 an der Universität Leipzig gegründet wurde und dessen Arbeit durch ein international besetztes Gremium unterstützt wird (siehe 〈http://www.sozphil.uni-leipzig.de/cm/fagi/〉). Ziel des FAGI ist es auch, die Stimme des Analytischen Deutschen Idealismus in die außerakademische Öffentlichkeit hineinzutragen und ihr Gewicht in den Debatten über unser Selbstverständnis zu stärken.
Die hier versammelten Aufsätze stellen einen Versuch dar, die ungebrochene philosophische Bedeutung der Positionen in der theoretischen und praktischen Philosophie sowie in der Ästhetik aufzuzeigen, welche in der philosophischen Strömung verteidigt wurden, die heute als »Deutscher Idealismus« (beziehungsweise als »Post-Kantianische Deutsche Philosophie« oder – nach dem brillanten Titel von Eckart Förster – als »Die 25 Jahre der Philosophie«) bekannt ist.[1] Zum größten Teil (mit einer Ausnahme) in den letzten etwa fünfzehn Jahren geschrieben, beziehen sie sich zugleich auf frühere Arbeiten von mir und auf andere publizierte Diskussionen und beschäftigen sich überwiegend mit Kant und Hegel sowie der Beziehung zwischen beiden. Es gibt Kontroversen, die mit den grundlegenden Positionen verbunden sind, die hier eingenommen werden. Viele hängen mit interpretatorischen Fragen zusammen und einige auch mit der philosophischen Adäquatheit der Positionen selbst. Ich möchte hier versuchen, den allgemeinen Kontext für diese Kontroversen zu bestimmen, um diese Elemente so als Teile eines allgemeinen Projekts einzuführen.
Im Jahr 1989 habe ich ein Buch mit dem Titel Hegel’s Idealism: The Satisfactions of Self-Consciousness veröffentlicht.[2] Aufgrund dieses Buches wurde ich bekannt als Verteidiger einer »kantianischen« Interpretation von Hegels Idealismus und einer »nicht-« oder »anti-metaphysischen« Lesart von Hegels grundlegender Position in der Phänomenologie des Geistes und der Wissenschaft der Logik. Es hat sich jedoch herausgestellt, dass dies sehr irreführende Zuschreibungen sind, wie ich zu zeigen versuchen werde. Das »kantianische« Label (oder der Vorwurf) rührte von meinem Versuch her, zu zeigen, dass für Hegel einige brillante kritische Einsichten in der Kritik der reinen Vernunft enthalten waren, deren Radikalität und Implikationen Kant nicht gesehen hatte (auch wenn Hegel oft betonte, dass 14es Kants eigene Einsichten waren). Eine Einsicht betraf die Natur einer der beiden Fähigkeiten – Verstand und sinnliche Anschauung –, die nach Kant zusammen notwendig sind für Erfahrung und für die Erkenntnis, die in Erfahrung gründet. Das Vermögen des Verstandes, so Kant, ist in keiner Weise ein rezeptives, anschauliches oder sinnliches Vermögen. Es ist ausschließlich Spontaneität*, ein schöpferisches oder produktives Vermögen, sowohl in seinem Verhältnis zu den Inhalten der sinnlichen Mannigfaltigkeit als auch in seiner von dieser Mannigfaltigkeit unabhängigen Ausübung, als »Vernunft«, ein Vermögen, das Kant eine »zweckmäßige Tätigkeit«* nannte. Kant hatte gesehen, dass, wenn er damit recht hat, die gesamte rationalistische und empiristische philosophische Tradition als unhaltbar zurückgewiesen werden muss. Hegel folgte ihm begeistert bei dieser Neuausrichtung (obwohl er eher sagen würde, dass »sie neu interpretiert«, anstatt »zurückgewiesen« werden muss). Er versuchte, die Implikationen dieser Behauptung konsistenter und systematischer zu durchdenken, als Kant selbst es seiner Ansicht nach getan hatte, wie auch die einer anderen ungewöhnlichen Behauptung Kants, die in Kommentaren zu dessen Werk immer noch nicht in angemessener Form aufgegriffen worden ist: nämlich dass die Vernunft, als ein solches produktives Vermögen, »mit nichts als sich selbst beschäftigt« ist.
Zweitens machte sich Hegel auch begeistert Kants ebenso revolutionäre Behauptung zu eigen, dass der Verstand ein sich seiner selbst bewusstes und apperzeptives Vermögen ist. Die wahrheitsfähige Einheit, auf die es sowohl für Kant als auch für Hegel ankommt, war das Urteil, und keine Aktivität konnte als Urteilen gelten, wenn der Urteilende nicht wusste, dass er urteilt (oder glaubt, meint, hofft und so weiter). Hegel erkannte, dass Kant gesehen hatte, dass eine solche Apperzeption nicht einfach eine Art von Bewusstsein sein konnte, wie eine Selbstbeobachtung oder eine zweistellige intentionale Relation. Aber Hegel ging noch viel weiter als Kant in der Isolierung und im Durchdenken der Frage, was es für ein Subjekt bedeuten könnte, für sich kein Objekt in seiner sich seiner selbst bewussten Aktivität und dennoch auf sich selbst bezogen zu sein. (Hegel begann, dieses ungewöhnliche Verhältnis des Ich zu sich selbst »Unendlichkeit« zu nennen.) Darüber hinaus 15gilt für jedes Urteilen gemäß Kants Apperzeptionsvoraussetzung, dass es das Bewusstsein des Urteilens umfasst. Urteilen bedeutet daher, implizit die Voraussetzungen jedes solchen Urteilens zu unterschreiben (die etwa die Festlegung beinhalten, in der Lage zu sein, Gründe für das Urteil vorzubringen, alles abzulehnen, was unvereinbar mit dem Urteil ist, das Urteil in ein konsistentes Ganzes anderer Überzeugungen zu integrieren usw.). Allgemeiner gesprochen: Jeder tatsächliche Akt des Wissens beinhaltet apperzeptiv eine tatsächliche Erkenntnis dessen, was Wissen ist. In diesem Sinne ist der Versuch zu wissen, Erkennen*, der primär ein Urteilen ist, auch eine sich ihrer selbst bewusste zweckmäßige Aktivität: zweckgerichtet (sie zielt auf – nicht weiter qualifiziertes – Wissen*) und selbstkonstituierend (nur die Vernunft kann bestimmen, worauf die Wegnahme solcher Qualifikationen hinauslaufen würde). Im Fall des Verstandes oder des Urteilens, welches durch die sinnliche Anschauung informiert wird, bedeutet dies, dass jeder Vorgang des Urteilens ein Bewusstsein umfasst, dass das Urteil ein Stück »bedingtes« Wissen ist. Und da es ein Bewusstsein eines Versuchs zu wissen ist, kann kein solches Bewusstsein der Vollendung des Strebens nach diesem Ziel ausweichen, diesem »Bedürfnis«*, wie Kant es nannte, das Unbedingte zu erstreben. Solch ein Ziel ist untrennbar von jedem Streben nach dem Ziel des Wissens selbst. All das, so behauptete ich, akzeptierte Hegel und baute darauf in der Methodologie seines wichtigsten Buches auf: der Wissenschaft der Logik. Dieser Zusammenhang ist im Detail untersucht in den Aufsätzen von Teil II des vorliegenden Buches.
Schließlich ging Hegel davon aus, dass der zentrale kognitive Zusammenhang in Kants Theorie der Erfahrung, das Verhältnis von Anschauung und Verstand, missverstanden würde, wenn man annähme, dass es sich dabei um eine Art zweistufigen Prozess handelt, der erst die Rezeption der sensorischen Daten an sich und dann die Aufprägung der begrifflichen Form durch den Verstand umfasst. Beginnend mit seinem Jenaer Aufsatz Glauben und Wissen nahm Hegel die Hinweise Kants sehr ernst, dass es sich hier nicht um zwei verschiedene Vermögen handelt, die in dieser schrittweisen Form zusammenarbeiten, sondern um eine kognitive Auseinandersetzung mit der Welt, die zwei Seiten hat, welche logisch voneinander unterschieden werden können, aber in ihrer Betätigung untrennbar sind. Das Vermeiden solcher Dualitäten ist nicht nur 16typisch für Hegels Aneignung von Kant, es gewährt auch einen Blick auf die tiefsten Themen sowohl in seiner Philosophie als auch in der philosophischen Tradition bis weit zurück zu Platons Versuch, das Verhältnis zwischen noesis und dianoia zu verstehen.
Hegels Idealismus war also kantianisch in diesem Sinne: Er war (a) anti-empiristisch und (b) verpflichtet auf die Hinlänglichkeit der Selbstbestimmung der Vernunft bezüglich ihrer eigenen Voraussetzungen und ihrer Selbstautorisierung. Natürlich gab es auch große Differenzen zwischen den beiden Philosophen, obwohl die meisten von ihnen aus Hegels Sicht auf Kants Missverständnis hinsichtlich seiner eigenen Ergebnisse beruhten. Kants eigener Idealismus ist, richtig verstanden, kein subjektiver, aufprägender Idealismus und sicherlich kein Phänomenalismus, und er ist deshalb nicht zu der Ansicht verpflichtet, dass wir die Dinge an sich nicht kennen, sondern nur Phänomene, eine Art von subjektivem Überbleibsel unserer sinnlichen Auseinandersetzung mit der Welt. All diese Themen spielten dennoch eine Rolle in der Kritik an meinem Buch, als ob jede Annäherung an Kant unvermeidlich zu einem subjektiven Idealismus führen müsste. (Ich wurde darauf hingewiesen, dass hegelsche Begriffe nicht subjektiv sind, dass Hegel ein metaphysischer Realist war, weil er davon überzeugt war, dass die Realität nicht davon abhängt, gedacht zu werden. Ebenso sollte ich suggeriert haben, dass Hegel die Unterscheidung von Anschauung und Begriff »zusammenbrechen« lassen wollte und dass Hegel vermutlich die selbstwidersprüchliche Natur der Vernunft gefeiert hat, während Kant klugerweise darin ein Problem sah. All das sind grobe Missdeutungen, die auf einer ebenso groben falschen Dichotomie beruhen.)
Letztlich ignorierten all die jüngeren Versuche, zu zeigen, dass Hegel am Ende doch ein »metaphysischer Denker« gewesen ist, Versuche, die zum Teil auch gegen mein Buch aus dem Jahre 1989 gerichtet waren, die zentrale Rolle Kants in Hegels Denken über die metaphysische Tradition. (Aber unabhängig von dieser Beziehung: Wer bei klarem Verstand könnte bestreiten, dass Hegel »metaphysische Positionen« vertrat? Für ihn war das einfach ein anderes Wort für »philosophische Positionen«. Er hatte Ansichten zur Natur der Freiheit, zur menschlichen Handlungsfähigkeit, zur Natur von Begriffen, Individualität und Universalität sowie zu vielen anderen Themen dieser Art.) Doch er machte oft genug deutlich, 17dass er Kants Demontage der modernen rationalistischen metaphysischen Tradition zustimmte, also der Ansicht, dass die reine Vernunft von sich aus die Existenz und Natur übersinnlicher Entitäten mit Notwendigkeit bestimmen könnte: Substanzen wie die res cogitans, wie Monaden, wie eine monistische Substanz. Kant lag aus Hegels Sicht richtig. Es gibt keine »Dingmetaphysik« oder »Jenseitsmetaphysik«*. Aber Kants Angriff ließ diejenige metaphysische Tradition nahezu unberührt und unkritisiert, die auf Aristoteles zurückgeht, die sich nicht mit übersinnlichen Entitäten befasst, sondern mit den Prinzipien der Intelligibilität der gewöhnlichen natürlichen Welt, paradigmatisch der von Lebewesen. Das griff Hegel in seiner Logik wieder auf, um Aristoteles von der Verachtung zu befreien, die ihm und der scholastischen Tradition von Descartes oder Hobbes entgegengebracht worden war.
Folglich ist Hegels Absolutes kein Ding und keine Substanz (oder der christliche Gott), und die begrifflichen Artikulationen des Absoluten in seiner Logik sind auch kein Anzeichen einer darunterliegenden neoplatonischen noetischen Struktur, deren sinnliche Manifestationen nur Erscheinungen sind, Schein*, unwirklich. Dies zu verneinen, bedeutet für viele traditionelle Interpreten Hegels, die in der oben erwähnten falschen Dichotomie gefangen sind, dass solche Begriffe nur die Art, wie wir sprechen, kategorisieren, also subjektive Regeln sind, um etwas verständlich zu machen. (Das ist eine sehr vereinfachte, wenn auch standardisierte Interpretation von Kant, aber das ist ein anderes Thema.) Wie auch immer Hegel von Kant beeinflusst war, seine Annahmen sind hier jedenfalls aristotelisch. Der fundamentale Akt, etwas verständlich zu machen, besteht darin, zu sagen, was es ist, und die fundamentale philosophische Frage ist, was es heißt, von etwas zu sagen, was es ist. Das ist die Untersuchung, die eine Theorie der kategorialen Modi des Seins hervorbringt, der Weisen, in denen die Dinge das sind, was sie sind, und die notwendig sind, damit jedes einzelne Ding verständlich ist als das, was es ist. Es ist zugleich eine Studie der kategorialen Struktur dessen, was ist, ebenso wie es eine Untersuchung des Verstandes durch sich selbst ist. Es gibt hier keinen Unterschied, da Hegels Annahme die des Aristoteles ist – und in der Tat das grundlegende Prinzip des griechischen und westlichen Rationalismus. Zu sein heißt, auf bestimmte Weise verständlich zu sein. (Das ist ein Grund dafür, warum Platon und Aristoteles 18etwas annehmen konnten, das heute sehr fremdartig klingt und das Hegel auf seine Weise wiederaufgegriffen hat: das Ganze ist gut. Um Hegels Bemerkungen zur Rationalität und Geschichte zu paraphrasieren: Wer auf das Sein mit der Frage der Intelligibilität blickt, dem blickt es intelligibel entgegen.)
Im Jahr 2008 veröffentlichte ich Hegel’s Practical Philosophy: Rational Agency as Ethical Life, die Frucht aus 14 Jahren an Forschung und Publikationen zu Hegels Theorien der Freiheit, Handlungsfähigkeit, Sozialität und Geschichte.[3] Viele der wichtigsten Artikel sind hier abgedruckt. Ein zentraler Baustein des Projekts war die Ausarbeitung der Implikationen, die sich aus der Behauptung ergeben, dass alles Denken inklusive der reinen praktischen Vernunft ein produktives Vermögen ist, Spontaneität*. Hegel versteht das so und versteht Kant in dessen besten Momenten so, dass nur das Denken bestimmen kann, was es heißt zu denken, irgendetwas zu denken oder in gelungener Weise auf Objekte bezogen zu denken. Die Analogie zur praktischen Vernunft ist klar. Kant wollte zeigen, dass »reine« Vernunft, das bloße Nachdenken darüber, was ich tun sollte, das nicht durch eine erfahrene Neigung geleitet oder motiviert ist, praktisch wirksam sein kann und bestimmen kann, was ich tun sollte. Dabei erfasst sie jedoch nichts (wie zum Beispiel in der Tradition des Naturrechts); die Vernunft bestimmt für sich selbst, was reine praktische Vernunft ist, und »gibt sich« dabei selbst das »Gesetz«. Diese Sprache der Selbstgesetzgebung ist in der praktischen Philosophie nicht neu. Bereits in der ersten Kritik hatte Kant insistiert, »daß die Vernunft« in Bezug auf die Natur »nicht bettle, sondern gebiete«,[4] aber für einige überschritt seine Formulierung in der Grundlegung die Grenzen der Verständlichkeit. An der entscheidenden Stelle heißt es:
19Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen, daß er auch als selbstgesetzgebend, und eben um deswillen allererst dem Gesetze (davon er selbst sich als Urheber betrachten kann) unterworfen angesehen werden muß.[5]
Ich habe zu zeigen versucht, dass diese Idee für Hegels Theorie darüber, wie ein Begriff oder eine Norm »sich selbst Wirklichkeit gibt«, zentral war und eine grundlegende Prämisse in seiner Betonung des historischen Charakters des Geistes. (Hegel behauptet an vielen Stellen, dass der »Geist ein Produkt seiner selbst ist«, und ich habe dargelegt, dass dieser selbstkonstituierende Charakter seine Wurzeln in jener kantianischen These hat.) Von Kritikern wurde ich darauf hingewiesen, dass diese Interpretation einer volitionalen Anarchie, einem Konstruktivismus und schließlich einem wilden Relativismus Tür und Tor öffnet, der die Natur der Autorität der Vernunft nicht mehr erklären kann. (Wenn die Autorität meiner Selbstgesetzgebung entspringt, warum habe ich dann nicht die Freiheit, meine Autorisierung wieder zu entziehen?) Die Unterstellung war, dass Kant uns bloß daran erinnern wollte, dass Autonomie in der Ansprechbarkeit auf Gründe besteht und wir nur wirklich frei sind, wenn wir uns Gründe für das geben können, was wir tun. Aber diese Gründe sind entweder Gründe oder nicht; sie rechtfertigen oder nicht; sie hängen nicht davon ab, dass wir sie uns selbst als Gesetz gegeben haben.
Solche Einwände lokalisieren jedoch die These, die Kant formuliert und die Hegel aufgreift, nicht richtig, und sie beruhen auf einer falschen Vorstellung der Selbstgesetzgebung als etwas, das Individuen zu verschiedenen Zeitpunkten tun. Kant spricht aber von allen rationalen Subjekten als praktisch rationalen, und Selbstgesetzgebung ist daher etwas, das immer schon als das Handlungsprinzip bestimmend angesehen werden muss. Es gibt hier eine enge Parallele zum Unternehmen der Logik: die Selbstbestimmung des Denkens, was es heißt zu denken. Wenn wir sagen, dass das Objekt des reinen Denkens das reine Denken selbst ist, dann meinen wir nicht, dass sich das Denken hier auf ein spezielles Objekt oder Ereignis bezieht. Wir sollten vielmehr sagen, dass es seine eigene Möglichkeit bestimmt. Und diese Bestimmung ist kein psycholo20gisches Ereignis. Wenn wir uns darauf beziehen, wozu ein Subjekt fähig sein muss, um als Wissender oder Handelnder zu gelten, welche Vermögen es haben muss, dann sollte unsere Konklusion laut Kant eine logische sein, die von unseren Begriffen des Wissens und Handelns abhängt und nicht auf irgendwelche psychologischen Tatsachen referiert.
Wir könnten sogar sagen, dass das Subjekt sich selbstgesetzgebend seine eigenen Gesetze gibt (dass diese Gesetze so verstanden werden müssen, dass sie einen selbstgesetzgebenden logischen Status haben und keine Resultate eines ursprünglichen Akts in der noumenalen Welt sind), und den Gedanken auf diese Weise mit dem in Verbindung bringen, was dann für die spätere deutsche Philosophie, insbesondere für Fichte und Hegel, am anregendsten war. Das heißt, nur die reine praktische Vernunft kann bestimmen, was die Form der reinen praktischen Vernunft ist, ihr oberstes Gesetz. Kant spricht hier von Selbstgesetzgebung, davon, dass man der Autor (Urheber*) des Gesetzes ist. Aber »Gesetzgebung« ist keine grundlose Gesetzespostulierung, keine volitionale Anarchie. Es ist das Wissen der Vernunft um das, was nach Kant ihr einziges Objekt ist: keine übersinnlichen Objekte, sondern sie selbst. In exakt demselben Sinn, in dem die Bestimmung des reinen Denkens von jeder möglichen Intelligibilität, seine Bestimmung der eigenen Voraussetzungen des Denkens, nicht mit der Frage konfrontiert ist, ob die Welt mit diesen Voraussetzungen übereinstimmt (sein heißt verständlich sein), ist die Gesetzgebung durch die reine praktische Vernunft nicht mit der Frage konfrontiert, ob wir wirklich an ihre Resultate »gebunden« sind. Es gibt keinen solchen zweiten Schritt. Handeln heißt, an die Vernunft gebunden zu sein, deren Form die Vernunft selbst bestimmt. (Das sagt uns noch nichts darüber, was die reine Form der praktischen Vernunft ist oder warum sie moralisch von solcher Dringlichkeit ist. Das erste Kapitel des vorliegenden Buches greift diese Themen unter der Überschrift »Die Form der Vernunft« auf.)
Zentral für die Aufsätze, die Teil I versammelt, ist unter anderem die Idee, dass Hegels Theorie der Freiheit keine kausale Theorie ist und nicht auf spezielle psychologische Fähigkeiten referiert, durch die Handlungen als Realisierungen freier Handlungsfähigkeit von natürlichen Ereignissen unterschieden werden können. Vielmehr hat Hegel eine »Verwirklichungs-« und »Identifikationstheorie«. 21Ich bin frei, wenn meine vorläufige Absicht oder Festlegung in körperlichen Bewegungen verwirklicht wird, die ich als meine eigenen erkenne und mit denen ich mich identifiziere. Es gibt zeitgenössische Pendants dazu. Eines der Ergebnisse von Elizabeth Anscombes Arbeiten zur Handlungstheorie (in Absicht und in anderen Veröffentlichungen) war ebenfalls die Ablehnung eines psychologischen Handlungsmodells, um dadurch die Aufmerksamkeit auf die rationale Form solcher Handlungen zu lenken und eine spezifische Art der Einheit in der diachronen Struktur der Handlung zu betonen.[6] Hegels Ansatz ist gleichermaßen kein psychologischer oder kausaler; er hat allerdings kontraintuitive Implikationen. So ist etwa die rationale Struktur für ihn eine »Innen/Außen«-Struktur. Er behandelt »innere« Ex-ante-Bekundungen von Absichten als vorläufig, die erst »in der Tat« als das verwirklicht werden, was sie sind, und das auf eine Weise, die mir nur retrospektiv erlaubt, herauszufinden, was ich wirklich zu tun beabsichtigt habe. (Seine ungewöhnliche Formulierung ist, dass das Innen das Außen ist und vice versa.) Darüber hinaus denkt er, dass wir uns irren, wenn wir das Subjekt als ein selbstgenügsames Individuum isolieren. Praktische Gründe werden primär als Rechtfertigungen behandelt, die wir einander geben, wenn unsere Handlungen verhindern oder beeinträchtigen, was jemand andernfalls zu tun in der Lage gewesen wäre. Mit anderen Worten geht es eher um eine soziale Praxis als um ein subjektives Vermögen, oder zumindest nicht ausschließlich um eine solche subjektiv besessene Fähigkeit. Tatsächlich kann ich nach Hegels berühmter und kontroverser Ansicht nur als Bürger in einem Rechtsstaat* »wirklich« frei sein, und ich kann nur ein Bürger sein, wenn ich von anderen, die ich als Anerkennender anerkenne, als ein solcher anerkannt werde. Es ist wichtig zu sehen, dass Anerkennen und Anerkanntwerden für Hegel keinen psychologischen Austausch beinhalten, keine wechselseitige Affirmation, gemeinsam beschlossene Solidarität und kein ausdrückliches Bewusstsein usw. (Das ist meinem Verständnis zufolge die Richtung, in die Axel Honneths Entwicklung der Anerkennungstheorie Hegels Ansatz führt.)
Diese Themen der Sozialität und Geschichte spielen eine wichtige Rolle in Teil III.
Der Einfluss dieser Themen auf Hegels theoretische Philosophie ist jedoch schon ein Gegenstand der zwei Kapitel, die Teil II beenden, über die so genannten »Pittsburgher Neo-Hegelianer« Robert B. Brandom und John McDowell. Ich behaupte, dass Brandoms inferentialistische Lesart von Hegels Ansichten über begrifflichen Gehalt überzeugend und erhellend ist, aber zu kurz greift. Allzu einfach ausgedrückt: Brandom lässt Hegel den entscheidenden Schritt tun, darauf zu insistieren, dass die Semantik auf die Pragmatik eingehen muss, aber seine Konzeption von Pragmatik bleibt weit hinter Hegels Ambitionen zurück. Wenn einen Begriff zu verstehen bedeutet, zu wissen, welche Inferenzen eine solche Norm eröffnet, erlaubt und ausschließt, welche Rolle sie in Behauptungen und Inferenzen und in anderen Urteilen beziehungsweise anderen Typen von Urteilen spielen kann, dann ist das zwar alles im Sinne Hegels, aber eine solche pragmatische Dimension ist für Hegel nicht auf die Frage beschränkt, ob ich weiß, welche anderen Behauptungen ich wie machen darf, damit ich als jemand gelten kann, der die gehaltvolle Rolle eines Begriffs verstanden hat. Diese Behauptungen sind eingeflochten in Muster der Rechtfertigung und der Kritik, die letztlich unverständlich sind ohne den größeren Rahmen sozialer Gewohnheiten, Verbote etc. sowie den kollektiven Gesichtspunkt oder das telos solcher gemeinschaftlichen Praktiken und Regeln. Die Semantik muss auch auf die soziohistorische, praktische, teleologisch strukturierte Dimension normativer Gewohnheiten eingehen, sie muss eine eher »existentielle« als linguistische Pragmatik sein.
In ähnlicher Form hat mich McDowell in verschiedenen Kontexten dafür kritisiert, dass ich Hegel unterstellt hätte, dafür zu argumentieren, dass man nur dann ein freier Akteur sein könne, wenn man von den anderen »als ein solcher genommen werde«, und dass die Betonung einer solchen Dimension von Sozialität und damit Historizität weit über das hinausgeht, was Hegel will und benötigt. Für McDowell ist es einfach die Initiation in eine Sprachgemeinschaft, das Heranwachsen zu einem kompetenten Sprecher einer natürlichen Sprache, welches von sich aus die notwendigen Fähigkeiten bereitstellt, um als selbstbestimmter, autonomer Akteur zu gelten – als ansprechbar auf Gründe.
23Aber McDowells sprachliche Initiation erfüllt nur eine minimale und notwendige Bedingung für diese Ansprechbarkeit auf Gründe. Zum Beispiel müssten wir viel mehr darüber erfahren, worin genau uns eine solche Initiation einführt. Sicherlich stattet sie uns mit mehr aus als nur mit grammatischer Korrektheit. Wir lernen, was das Äußern eines bestimmten Satzes in einem bestimmten Kontext für diejenigen bedeuten würde, zu denen wir ihn sagen. Wir lernen zahlreiche nicht-formalisierbare Kanons der Angemessenheit und Unangemessenheit, den Unterschied zwischen manipulativen und offenherzigen rhetorischen Stilen, die Sprache der Autorität und der Unterwerfung, die Kennzeichen des Respekts und der Verachtung. Wir lernen nicht zuerst diese Dinge und dann, getrennt davon, ihre sprachliche Verkörperung. Ihre normative Natur ist ihre sprachliche Verkörperung. Und der Gehalt all dieser pragmatischen Normen ist abhängig vom institutionellen Leben der Gemeinschaften, in denen sie gelten, um erneut den Anerkennungs-Punkt zu machen. Schließlich wandeln sich solche gemeinschaftlichen Gewohnheiten, womit wir nochmals die Zentralität der Geschichte für Hegels Theorie darüber heranziehen, was es heißt, ein menschliches Wesen, Geist*, zu sein. Dieselbe Art von Meinungsverschiedenheit ergibt sich im Hinblick auf die Implikationen von Kants Erfahrungsholismus, also seiner Behauptung, dass die rezeptiven und aktiven Elemente der Erfahrung logisch unterscheidbar, aber untrennbar sind. Wenn wir Hegels Behauptung hinzunehmen, dass die Formen des Denkens als solche historisch variabel sind, dann bekommen wir ein viel stärker historisiertes Bild, als McDowells Verteidigung der sprachlichen Sozialität und der festgelegten Bestandteile der Wahrnehmung es zulässt.
Im Zusammenhang mit der richtigen Interpretation Hegels stellt sich auch die tiefe Frage nach der Notwendigkeit (oder Überflüssigkeit) der philosophischen Aufmerksamkeit für die konkrete und sich entwickelnde historische Sozialität bei der angemessenen Beschäftigung mit philosophischen Themen und nicht nur diejenige nach den außerphilosophischen Implikationen solcher Auffassungen. In einer umfangreichen Aufsatzsammlung aus dem Jahr 1997, Idealism as Modernism. Hegelian Variations, war meine Behauptung, dass Hegel uns eine überzeugende Theorie der philosophischen Bedeutung der Moderne geliefert hat, des möglicherweise bedeutendsten Ereignisses der Menschheitsgeschichte, ganz sicher aber der westlichen 24Geschichte.[7] Diese Theorie berief sich auf die Idee der kollektiven, rationalen Verwirklichung der menschlichen Freiheit, die ihrerseits abhängig ist von einer dialektischen Entwicklung der menschlichen Selbsterkenntnis. Das Phänomen selbst ist ungeheuer kompliziert und Hegels Versuch zu verstehen, ist nicht weniger kompliziert. Ich bin nicht zufrieden mit Hegels Position, aber es bleibt ein anregender Versuch. Wir haben bisher niemanden, der Die Phänomenologie des Geistes Teil zwei geschrieben hat (selbst Das Kapital enthält nur Prolegomena), und diejenigen, die einen solchen Versuch unternommen haben, Nietzsche und Heidegger, haben uns Narrative der Krise und des Verfalls geliefert.
Solch ein Versuch, der Hegels umfassenden Holismus widerspiegelt, ist wahrscheinlich nicht mehr der richtige Weg, um sich dem Problem im Denken zu nähern. Es gibt jedoch Elemente in Hegels Ansatz, die mir sehr wichtig erscheinen, aber heute wenig Anklang finden. Dazu gehört die Idee, dass wir, wenn wir glauben, dass die Philosophie eine zeitdiagnostische Aufgabe hat, Wege finden müssen, die philosophische Bedeutung großer Literatur, der bildenden Kunst und heutzutage des Films oder, allgemeiner, der visuellen fiktionalen Narrative anzuerkennen. Nur so können wir untersuchen, ob verschiedene verbreitete Selbstkonzeptionen der Spätmoderne (und wir brauchen zuallererst solche Ressourcen, um zu wissen, worin diese bestehen könnten) adäquat sind, eine effektive Verwirklichung erlauben, Instanzen eines Selbstbetrugs oder auch miteinander kompatibel sind, und wenn nicht, warum nicht. Wenn wir die Frage auf diese Weise stellen, erscheint ihre Beantwortung nicht nur einfach unmöglich, sondern auf geradezu aberwitzige Weise unmöglich. Aber das bedeutet nicht, dass es keine Wege gibt, auf denen jemand sich diesen Problemen der Kunst und der Frage der Modernität nähern könnte, Wege die eher bruchstückhafte, fragmentierte und unsystematische lokale Erkenntnisse erlauben. Es scheint mir den Versuch wert zu sein, und ich habe ebendies in meinen Arbeiten zur modernen Literatur, zum Hollywood- und zum Kunstfilm und zur europäischen Kunst in der Krise der Moderne getan. Einige der wichtigeren theoretischen Elemente, die dieses Unternehmen voraussetzt, sind in Teil III besprochen.
Aus dem Amerikanischen von Philipp Hölzing
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