ZIMTSTERNKÜSSE 2

HERAUSGEBERIN

CAT LEWIS

© 2016 Amrûn Verlag

Jürgen Eglseer, Traunstein

Herausgeber: Cat Lewis

Covergestaltung: Claudia Toman

Lektorat: Katja Kühnemundt

Korrektorat: Jasmin Krieger, Siegfried Lehmann

Illustrationen: Katharina Reitz

Alle Rechte vorbehalten

ISBN – 978-3-95869-204-6

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Bibliografische Information der

Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter

http://dnb.d-nb.de abrufbar

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INHALT

VORWORT

HASEN PUSCHEL KUSSE / Melanie Hinz

SELFIE MIT SPION / Anna Koschka

AUF DIE EIGENE ART / Phoebe Ann Miller

ZWEI TAGE UND ZWEI JAHRE / Jo Berger

1 – LEISE RIESELT DER SCHNEE

2 – ELISA - VANILLEKIPFERL

3 – JAHRESTAG …

4 – ELISA - GANZ SCHÖN KALT HIER

5 – EIN QUÄNTCHEN GLÜHWEIN

6 – ELISA - JETZT ABER!

7 – NUR EIN AUGENBLICK

DIE BEKEHRUNG DES WEIHNACHTS MUFFELS / Aurelia Velten

SEI MEIN KOMPAGNON! / Jenny Wood

ZIMTSTERN KUSSE FUR DEN BAD BOY / Violet Truelove

SALEP / Anastasia Donavan

ZIMTSTERN KUSSE / Laura Gambrinus

VORWORT

Es ist Ende August, und in den Supermärkten stapeln sich bereits die Lebkuchen, Dominosteine und Zimtsterne. Während die Sonne hoch am Himmel steht und man sich bei dreißig Grad noch einmal genüsslich auf der Sonnenliege umdreht, ist das nahende Weihnachtsfest bereits sehr präsent. Auf die paar Monate kommt es doch auch nicht mehr an, denken sich die Hersteller. Die meisten Kunden hingegen machen einen weiten Bogen um die Regale mit den Weihnachtsleckereien. Schon seit jeher gibt es Diskussionen darüber, ab wann es okay ist, sich seiner Zimtsternsucht hinzugeben und die Weihnachtszeit für eröffnet zu erklären. Genauso könnte man aber auch fragen, ab wann es in Ordnung ist, Weihnachtsbücher zu lesen. In den letzten zwei Jahren habe ich mich das ganze Jahr über mit Weihnachtsgeschichten beschäftigt. Ich habe die „Zimtsternküsse“ vorbereitet, die eingereichten Beiträge gesichtet und im Anschluss lektoriert. Dabei war mir vollkommen egal, ob es draußen geregnet, gestürmt oder die Sonne kuschelig warm auf die Erde geschienen hat. Zwar bin ich noch immer kein Verfechter der Sommerlebkuchenkultur, aber eigentlich muss jeder für sich selbst entscheiden, wann für ihn die schönste Zeit des Jahres beginnt.

Die „Zimtsternküsse“ haben mir unabhängig von der Jahreszeit durchgehend Freude bereitet, und ich bin sehr glücklich, euch den zweiten Band präsentieren zu dürfen. Dabei sind erneut neun herzerwärmende, nach Zimtsternen schmeckende Geschichten herausgekommen, die euch die Lesezeit versüßen werden.

Ich wünsche euch ganz viel Spaß mit „Zimtsternküsse 2“.


Eure
Cat Lewis

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HASEN

PUSCHEL

KUSSE

Melanie Hinz

Mehl, Speisestärke, Zucker, Eier, Vanilleschoten, Butter, Backpulver. Die Ansammlung an Backzutaten vor mir sieht gut aus, doch irgendetwas fehlt. Ich weiß, dass ich was vergessen habe, aber mir fällt es einfach nicht ein.

Ich hätte mich nicht darauf einlassen sollen, die Plätzchen für die Weihnachtsfeier meiner Kinderballettgruppe zu backen. Mein Sportstudium nimmt mich derzeit sehr in Anspruch, da brauche ich solche Freizeitbeschäftigungen nicht auch noch. Obwohl ich es für die süßen Mädels echt gerne mache und traurig bin, dass ich ab nächstem Jahr keine Zeit mehr habe, sie zu unterrichten.

Jetzt fällt es mir ein. Ich habe alles für Mürbeplätzchen, nur keinerlei Material, um sie bunt zu verzieren. Das geht natürlich gar nicht für eine Gruppe Sechsjähriger, die zu einem großen Teil noch ans Christkind oder den Weihnachtsmann glauben.

Mit einem gestressten Seufzer mache ich mich auf die Suche nach meiner Geldbörse. Die finde ich schließlich auf der Couch in einem Haufen sauberer, aber ungefalteter Wäsche.

In der Hoffnung, dass der Tante-Emma-Laden am Ende der Straße mir aushelfen kann und ich nicht noch mal in die Stadt fahren muss, schlüpfe ich in meine Stiefel und ziehe einen Mantel über. Als ich die schwere Tür zu meinem Elternhaus hinter mir zuziehe, empfängt mich eisiger Wind. Ich schließe hastig den Mantel und ärgere mich darüber, dass ich Schal und Mütze vergessen habe. Dennoch gehe ich nicht zurück ins Haus, sondern mache mich auf den Weg die Straße hinunter.

Das Ladenlokal von Emma – ja, die Inhaberin heißt tatsächlich so – ist klein, aber effektiv bestückt. Ich habe wenig Hoffnung, dass ich hier fündig werde, auch wenn Emma stets ein paar Extras bereithält. Als ich die Türe öffne, empfängt mich der vertraute Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee. So altertümlich der Laden ist, einen guten Milchkaffee to go bekommt man hier immer.

Ich bin die einzige Kundin im Laden, doch im Lager höre ich jemanden poltern und fluchen. Die Stimme ist mir bekannt, auch wenn ich sie seit einer Ewigkeit nicht mehr gehört habe. Mein alter Klassenkamerad Nick ist hier. Emma ist seine Mutter, doch ihn habe ich lange nicht mehr gesehen.

»Ich bin gleich bei Ihnen«, ruft er von hinten.

»Kein Stress«, sage ich, obwohl ich schon seine Schritte höre.

Nick begrüßt mich mit einem geschockten »Ach du Scheiße!«.

Kurz denke ich darüber nach, warum ihn mein Anblick so sehr erschreckt, als mir klar wird, dass er an mir vorbei aus dem Fenster schaut. Jetzt drehe ich mich auch um, damit ich sehen kann, was er sieht.

Ach du Scheiße, wahrhaftig. Es schneit, und das nicht nur ein bisschen. Dicke Flocken fallen vom Himmel und verwandeln die Dorfstraße innerhalb von Sekunden in eine Winterlandschaft. Der Schneefall ist so dicht, dass man keine zehn Meter weit sehen kann.

»Ich hoffe inständig, du hast noch Puderzucker und bunte Streusel für mich, denn bei dem Wetter möchte ich nicht mehr in die Stadt fahren müssen«, sage ich, immer noch auf die Straße fixiert. Die Aussicht ist wunderschön, aber mein persönlicher Autofahreralbtraum.

»Lilli?« Jetzt hat Nick mich erkannt.

Ich löse den Blick vom Schaufenster und drehe mich zu ihm.

»Du bist es tatsächlich«, stellt er fest. »Wie geht es dir? Was machst du hier? Bist du bei deinen Eltern zu Besuch?« Er befeuert mich mit Fragen, bis er merkt, dass ich keine Chance zu antworten habe, und grinst mich an.

Hatte er damals so ein nettes Lächeln? Und war er da schon so groß? Verlegen bemerke ich, wie mir die Hitze in die Wangen steigt, doch ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen.

Er trägt die Haare länger als früher, wodurch seine fast schwarze Lockenpracht zur Geltung kommt. Es dürfte nicht mehr viel an Länge fehlen, damit er sie zusammenbinden kann. Ich habe eigentlich nichts für Männer mit langen Haaren übrig, aber zu ihm passt es.

Ich sollte ihm antworten, sonst merkt er, dass ich ihn nur anstarre.

»Meine Eltern haben sich bis ins neue Jahr nach Spanien verabschiedet. Mein Vater ist jetzt pensioniert und die beiden sind nur noch unterwegs. Deswegen schaue ich solange nach dem Haus und der Katze. Mein altes Kinderzimmerbett ist außerdem immer noch deutlich komfortabler als die Pritsche im Studentenwohnheim.«

Nun schießt mir endgültig das Blut in die Wangen. Ich habe nicht vergessen, dass Nick mal mit mir in diesem Bett gelegen hat. Es war nur eine dieser frühen Teenagerlieben, bei denen nie mehr als ein wenig rumknutschen passiert ist, weil unsere Eltern immer dafür sorgten, dass die Zimmertüren weit aufblieben.

Wenn ich mich nicht täusche, dann fällt auch Nick gerade wieder ein, dass wir für ungefähr drei Tage im 8. Schuljahr ein Paar waren. Aber er sagt nichts und erspart mir die Blamage.

»Also, was kann ich für dich tun?«, fragt er stattdessen.

»Mir das Leben retten. Aber ich habe da wenig Hoffnung, dass du das kannst.«

»Vergiss nicht, ich war in der freiwilligen Feuerwehr und bin in erster Hilfe ausgebildet«, sagt er lachend.

»Okay, dann versuche ich es noch mal. Ich brauche dringend Puderzucker und bunte Streusel«, wiederhole ich meine Einkaufsliste. »Am besten in einer weihnachtlichen Farbe. Oder irgendetwas, womit ich Plätzchen verzieren kann.« Ich bin verzweifelt und das hört man mir an.

»Sorry, Lilli, aber das sieht ganz schlecht aus. In zwei Tagen ist Heiligabend, da hat meine Mutter solche Dinge nicht mehr aufgestockt.« Er schaut mich ehrlich geknickt an.

»So ein Mist. Jetzt darf ich tatsächlich noch in die Stadt fahren. Ich hab meinen Ballettmädels für morgen eine Weihnachtsfeier versprochen und da kann ich nicht mit trockenen Keksen ankommen. Trotzdem danke, Nick. Es war echt nett, dich wiederzusehen.«

Ich habe bereits den Türgriff in der Hand, als er mir hinterherruft. »Willst du bei dem Wetter wirklich über die Landstraße? Ich würde etwas warten, weil da noch längst nicht gestreut wurde.«

Erst jetzt bemerke ich, dass in den Minuten, die ich mich mit ihm unterhalten habe, das Schneechaos nur noch schlimmer geworden ist.

»Ah, verdammte Sch…«, im letzten Moment bremse ich mich. Ich kann zwar ausgezeichnet fluchen und tue das auch oft und ausgiebig, aber irgendwie möchte ich einen positiveren Eindruck bei ihm hinterlassen.

»Ich mach dir einen Vorschlag. Du wartest noch etwas, in der Hoffnung, dass es besser wird, und in der Zwischenzeit trinkst du mit mir einen Kaffee.«

Hat er mich gerade …? Ist das ein …? Ich sollte wirklich öfter ausgehen, um klar erkennen zu können, wenn ich angebaggert werde.

Nein, das kann nicht sein. Er will nur nicht unhöflich wirken.

»Ja, das klingt gut. Ich muss den Wagen von meinem Papa nehmen, aber der hat noch keine Winterreifen drauf, weil er selbst kaum noch fährt. Mein Auto steht noch an der Uni.«

Nick winkt mich zu sich ins Lager, wohin ich ihm zu einer kleinen Sitzgruppe folge und meine Jacke ablege.

»Du ziehst nicht ernsthaft in Erwägung, den Wagen bei diesem Wetter nur einen Millimeter zu bewegen?«, sagt er und sieht mich strafend an. Er bedeutet mir, mich hinzusetzen, ehe er sich an der Kaffeemaschine zu schaffen macht.

»Nicht wirklich, aber ich will die Mädels nicht enttäuschen.«

»Brauchst du die Sachen unbedingt heute?«, fragt er und stellt eine Zuckerdose, Löffel und einen Tetra Pak mit frischer Milch vor mir ab.

»Auf jeden Fall. Selbst wenn ich eine Nachtschicht einlegen muss. Morgen Nachmittag ist die Feier und bis dahin muss ich alles fertig haben.«

»Aber notfalls sollten sie doch auch mit nicht dekorierten Plätzchen klarkommen. Meinst du nicht? Das ist ja nun wirklich nichts, weswegen du über die Landstraße schlittern musst.«

»Nein, eigentlich nicht.« Seufzend lehne ich mich im Stuhl zurück und nehme eine dampfende Tasse von ihm entgegen.

»Dank dir«, sage ich. »Bei euch bekommt man wenigstens guten Kaffee. Meine Eltern haben inzwischen nur noch eine von diesen fürchterlichen Kapselmaschinen.«

Lächelnd setzt Nick sich mir gegenüber und greift gleich nach der Zuckerdose. Angeekelt sehe ich ihm zu, wie er vier gehäufte Teelöffel Zucker in seine Tasse kippt. Mir reicht ein bisschen Milch.

»Kann man das trinken oder ist das für Wiederbelebungsmaßnahmen gedacht?«, frage ich grinsend.

»Hey, das ist das Einzige, was mich in mageren Zeiten während der Ausbildung über Wasser gehalten hat. Das und Tütensuppen.«

»Dafür hast du dich gut gemacht«, sage ich, ehe mir klar wird, dass das wie ein Flirtversuch rüberkommen kann.

Verschämt schaue ich auf meine Hände, die sich krampfhaft um die heiße Tasse schließen. Möglich, dass ich gleich Brandblasen bekomme, aber zumindest nimmt das etwas von der Durchblutung weg, die in mein Gesicht schießen will.

»Du warst früher schon so herrlich leicht in Verlegenheit zu bringen. Inzwischen schaffst du das offenbar ganz alleine«, sagt er in einer verwirrend liebevollen Tonlage. »Und dabei hattest du damals keine Ahnung, dass dir deswegen alle Kerle zu Füßen lagen.«

Wenn er mich noch mehr in Verlegenheit bringen will, dann war er erfolgreich. Ich spüre das Blut in meinen Ohren rauschen.

»Red nicht so einen Quatsch. Ich war doch früher für euch nur die eiserne Jungfrau. Niemand lag mir zu Füßen. Aber können wir das Thema jetzt bitte abschließen? Sonst muss ich mich augenblicklich in den Schneesturm stürzen, nur um mein Gesicht abzukühlen.«

Nick lacht. »Du hast wirklich keine Ahnung, wie dich andere sehen. Aber okay. Worüber möchtest du lieber reden? Ich will schließlich nicht, dass du mir draußen im Schnee verloren gehst.«

Zum Glück fällt mir da gleich etwas ein, um von seiner offensichtlichen Flirterei abzulenken.

»Warum schmeißt du den Laden? Bist du nicht letztes Jahr wegen eines Jobs nach Berlin gezogen? Deine Mama hat sowas erzählt.«

Nun ist es an ihm, verlegen zu werden. Auch wenn ich den Grund dafür nicht verstehe, beziehungsweise noch nicht kenne. Er kann mir kaum mehr in die Augen schauen.

»Hab ich etwas Falsches gesagt?«, frage ich vorsichtig.

»Nein, alles gut«, wehrt er mich ab und nimmt einen großen Schluck von seinem Kaffee, als müsste er sich Mut antrinken. Ich bin mir relativ sicher, dass er sich den Mund verbrannt hat, doch er lässt sich nichts anmerken.

»Meine Oma ist letzte Woche gestürzt und hat sich den Oberschenkelhalsknochen gebrochen. Sie musste leider operiert werden und liegt immer noch im Krankenhaus. Wie es aussieht, wird sie danach nicht mehr allein leben können, also rennen meine Eltern jetzt hin und her, um alles für ihre Entlassung zu organisieren und sie im Krankenhaus zu besuchen. Ich hatte noch so viele Urlaubstage, da hab ich mich angeboten, bis Ende des Jahres den Laden zu beaufsichtigen, damit sie sich in Ruhe um meine Oma kümmern können. Es ist nicht so, als würde man sich hier überarbeiten.«

»Das ist sehr edel von dir.« Ich kann mir vorstellen, dass Weihnachten in Berlin wesentlich spannender ist, als hier auf dem Kuhdorf zu hocken und sich einschneien zu lassen.

»Unsinn«, winkt er ab. »Ich wäre ja über die Feiertage sowieso gekommen. So war ich eben ein paar Tage früher hier und hab gleichzeitig meine Mutter davor bewahrt, dass sie vollständig ergraut. Sie hat genug um die Ohren und mit den paar Kunden werde ich hier fertig. Und das Ganze hat auch etwas Gutes – ich habe dich wiedergesehen.«

Er will mich wirklich fertigmachen. Normalerweise kann ich Anmachen recht gelassen abschütteln, aber er macht es mir unmöglich, seinen Charme zu ignorieren. Vielleicht habe ich mich in den letzten Monaten nur zu intensiv im Studium vergraben und dabei vergessen, dass es noch schönere Jungs als meinen Ex da draußen gibt.

»Ich hab mich auch gefreut, dich noch mal zu sehen«, sage ich und nehme einen kräftigen Schluck vom heißen Kaffee. Ich muss hier raus, sonst blamiere ich mich bis auf die Knochen, doch ich will nicht unhöflich sein und die volle Tasse stehen lassen.

»Meine Mutter hat erzählt, du studierst jetzt in Köln Sport auf Lehramt?«, fragt er hastig, als hätte er bemerkt, dass ich Fluchtpläne schmiede.

»Ja, genau. Ich hab nach dem Abi mit Jura angefangen, aber das war pure Verzweiflung, weil ich nicht wirklich wusste, was ich wollte. Da ich aber immer in einigen Sportarten aktiv war und bereits früher die ein oder andere Kindergruppe geleitet habe, lag das nahe. Ich konnte es mir damals nur noch nicht recht vorstellen, aber jetzt fühlt sich das total richtig an. Was hast du eigentlich genau nach dem Abi gemacht?«

Es ist mir etwas peinlich, dass er mehr über mich weiß, als ich über ihn. Möglich, dass seine Mama da einmal drüber gesprochen hat und ich einfach nicht zugehört habe.

»Ich hatte keinen Bock aufs Studieren und hab eine Tischlerlehre gemacht. Ich bin kein großer Theoretiker und arbeite lieber mit den Händen. Nächstes Jahr werde ich mit der Meisterschule anfangen und wieder hierherziehen.«

»Und was ist mit deiner Freundin?«, frage ich. Soweit hatte ich seiner Mutter doch noch zugehört.

»Das hat sich erledigt. Sie hat vor einer Weile beschlossen, dass ich nicht der Richtige bin. Ich bin ja nur wegen ihr nach Berlin gezogen und jetzt hält mich ehrlich gesagt nichts mehr dort.«

Seine Gelassenheit überspielt nicht, dass er verletzt wurde. Kein Wunder. Wenn man für jemanden so viel aufgibt und dann zurückgelassen wird, dann schmerzt das gleich noch mehr.

»Das tut mir sehr leid. Trennungen sind immer bitter.« Beinahe hätte ich ihm angeboten, dass wir ja mal etwas unternehmen können, wenn er wieder hier wohnt, aber ich bin einfach nicht offensiv genug, um mich sowas zu trauen.

»Es ist eine Weile her, von daher ist es okay. Letztendlich ist es besser so, als wenn es sich noch ewig hingezogen hätte.«

»Das stimmt. Ich hab in meinem Bekanntenkreis bereits die ersten Scheidungen. Dabei sind wir noch nicht ganz Mitte Zwanzig. Das finde ich heftig.« Ich lehne mich im Stuhl nach hinten, um einen Blick nach draußen zu erhaschen.

Der Schneefall ist geringer geworden, doch die Schneedecke leider nicht.

»Was willst du jetzt machen?«, fragt Nick. »Sag bitte nicht, dass du noch in die Stadt fährst. So wichtig können bunte Kekse kaum sein.«

»Nein, keine Sorge. Ich habe soeben aufgegeben. Gleich werde ich noch backen, aber mehr kann ich echt nicht tun. Wir stellen auch so eine nette Feier auf die Beine.«

»Das beruhigt mich«, sagt er und schenkt mir ein warmes Lächeln, bei dem ich nicht anders kann, als es zu erwidern.

Die letzten Jahre haben ihn auf eine positive Weise reifen lassen. Jetzt freue ich mich darüber, dass er bald zurückkehrt.

»Kann ich dich bringen?«, fragt er, während er mir in die Jacke hilft. »Falls du den Weg nicht mehr findest, bei den Schneemassen.«

Mit einer hochgezogenen Braue drehe ich mich zu ihm um. »So schlimm ist es jetzt noch nicht. Aber danke für das Angebot.«

»Ich hab nur eine Ausrede gesucht, um noch etwas Zeit mit dir zu verbringen.«

»Hör auf, mit mir zu flirten, sonst glaube ich nachher noch, dass du es ernst meinst.«

»Oh, es ist mir todernst. Aber ich merke auch, wenn ich abblitze. Ich wünsche dir viel Erfolg mit deinen Keksen und hoffe trotzdem, dass wir noch mal einen Kaffee zusammen trinken können, wenn ich wieder hier wohne.«

Nein, nein, nein. Oh, nein. Das ist mein Schicksal. Meine Schüchternheit wird mir so oft als Arroganz und Ablehnung ausgelegt. Wie viele Menschen ich damit schon vergrault habe, kann ich gar nicht mehr zählen.

»Das meinte ich so nicht. Ich würde gerne noch mal mit dir Kaffee trinken. Aber jetzt muss ich wirklich los.«

***

Erleichtert, dass ich mich nicht weiter blamiert habe, verlasse ich den Laden und bereue es augenblicklich. Ich stehe knöcheltief im Schnee, der in der letzten halben Stunde die Straße bedeckt hat, und ärgere mich nun maßlos, dass ich vorhin nur Turnschuhe angezogen habe. Wie erwartet beschert mir das auf dem Rückweg nasse Füße, die ich im Haus meiner Eltern erst einmal trocknen muss, um sie anschließend vor dem Kaminofen im Wohnzimmer aufzuwärmen.

Eigentlich habe ich kaum die Zeit, um hier rumzusitzen, wenn ich keine Nachtschicht einlegen will, aber eine Erkältung kann ich auch nicht gebrauchen. Durch das kleine Glasfenster des Ofens beobachte ich das prasselnde Feuer und spüre zum ersten Mal seit Tagen eine leichte Traurigkeit in mir aufsteigen. Ja, ich habe meine Eltern in der Entscheidung unterstützt, Weihnachten im Süden zu bleiben und ich habe eigentlich gar keine Zeit, um mit ihnen eine dreitägige Fressorgie zu verbringen. Trotzdem fehlen sie mir jetzt und der Gedanke daran, Heiligabend hier alleine zu sitzen, lässt mich nun doch sehr schwermütig werden. Meine Freunde sind natürlich alle bei ihren Familien und haben keine Zeit, um wenigstens für einen Abend mal etwas trinken zu gehen.

Ich habe meine Bücher und muss lernen, aber so gar kein Weihnachten mit meinen Eltern ist doch trauriger, als ich es mir vorgestellt hätte. Hoffentlich sind morgen die Straßen wieder frei, damit ich mir noch Frustfutter besorgen kann. Außerdem werde ich mir mindestens einmal Drei Haselnüsse für Aschenbrödel ansehen. So viel Weihnachten muss dann doch drin sein.

Nur widerwillig löse ich mich von meinem warmen Platz vor dem knisternden Feuer und mache mich mit frischen, trockenen Socken und in meinen Hasenpuschen auf den Weg in Küche.

Ich habe gerade einen großen Ballen Plätzchenteig im Kühlschrank kaltgestellt und bin dabei, den Ofen vorzuheizen und die Bleche vorzubereiten, als es an der Haustür klingelt.

Verwirrt sehe ich durch die Kaffeehausgardinen am Küchenfenster nach draußen. Der Paketbote hat seine tägliche Runde hinter sich. Es ist bereits dunkel und ich erwarte wirklich niemanden. Im schwachen Licht der Straßenlaterne erkenne ich eine Gestalt in einem schwarzen Daunenparka und eine Wollmütze, unter der ein paar dunkle Locken hervorschauen. Bevor mir meine Fantasie ausmalen kann, dass ich gleich sicher überfallen werde, dreht sich die große Gestalt zu mir und lächelt. Es ist Nick und er hält eine Tasche unbekannten Inhalts hoch.

Damit der arme Kerl nicht unnötig lange draußen in der Kälte versauern muss, flitze ich zur Haustür. Natürlich fallen mir die Hasenpuschen an meinen Füßen erst wieder ein, als ich die Tür bereits weit geöffnet habe.

»Hey, was machst du denn hier?«, frage ich und versuche, meine Fußbekleidung hinter dem Schirmständer zu verbergen, was mir eher schlecht als recht gelingt.

»Ich habe die Küche meiner Mutter durchsucht und bin fündig geworden. Puderzucker, Lebensmittelfarbe und Streusel in allen erdenklichen, weihnachtlichen Ausführungen. Sie wollte eigentlich backen, aber wegen meiner Oma hat sie es nicht geschafft.«

»Nick, das kann ich nicht annehmen. Was ist, wenn sie doch noch etwas damit geplant hat?«

»Mach dir darüber keinen Kopf. Ich habe sie angerufen und gefragt, ob ich die Sachen nehmen kann. Sie ist so eingespannt, dass das nicht mehr vor den Feiertagen passiert, und war froh, dass ich dir aushelfen konnte.«

»Okay, komm rein. Ich hole dir das Geld«, sage ich und trete beiseite, um ihm die Türe zu öffnen. Jetzt gibt es kein Zurück mehr, er bekommt die volle Breitseite meiner Hasenpuschen zu sehen.

»So war das nicht gemeint. Die Sachen musst du mir nicht bezahlen. Meine Mutter tritt mich, wenn ich dir da Geld für abnehme«, sagt er. Trotzdem folgt er mir ins Haus und schließt die Türe hinter sich.

An der Garderobe greife ich dennoch nach meiner Handtasche und schaue ihn fragend an.

»Echt jetzt? Das kann ich doch nicht annehmen«, sage ich verunsichert.

»Klar, kannst du. Das nennt man Nachbarschaftshilfe. Ich nehme aber gerne deine Telefonnummer als Bezahlung.« Grinsend schaut er auf meine Füße, sagt jedoch kein Wort.

Würde ich ihn nicht so sympathisch finden, dann würde ich ihm sagen, dass ich dann doch lieber mit Geld bezahle und ihn rausschmeißen. Doch wie er jetzt vor mir steht, mit diesem verlegenen Lächeln, da kann ich nicht widerstehen und gehe schließlich aufs Ganze.

»Deal. Aber nur, wenn du mir beim Verzieren hilfst. Also, falls du Zeit hast. Ich hänge nämlich ganz schön hinterher und würde es ehrlich gesagt gerne heute noch ins Bett schaffen.

Hoffentlich bekommt er die Anspielung auf mein Bett jetzt nicht in den falschen Hals. Oh Gott, ich bin so aus der Übung beim Flirten, das ist schon tragisch.

»Ich hatte gehofft, dass du fragst. Also, was kann ich tun?« Ehe ich mich versehe, hat er seine Jacke ausgezogen und an der Garderobe aufgehängt. »Ach ja, und soll ich einfach hier die Schuhe ausziehen oder gibt es bei euch Hasenpflicht?«, fügt er beiläufig hinzu.

»Nur kein Neid. So niedliche Häschen gibt es nicht für deine Quadratlatschen.«

Nick lacht herzhaft. Er entledigt sich seiner schneedurchtränkten Schuhe und folgt mir in die Küche. Ich bin froh, dass er hier ist.

Er ist ein erstaunlich effizienter Plätzchenverzierer, das muss ich ihm lassen. Ohne ihn wäre ich nur halb so weit. Während ich Plätzchen aussteche und die vollen Bleche in den Ofen schiebe, nimmt er das fertige Gebäck entgegen und verteilt es zum Auskühlen auf der Arbeitsplatte. Nebenbei trägt er Zuckerguss und Streusel auf.

»Du bist mein Held des Tages«, sage ich und versuche, mir eine Spur Mehl aus dem Gesicht zu wischen. »Ohne dich hätte ich noch eine Nachtschicht einlegen müssen.«

»Gern geschehen. Mit dir jederzeit wieder.« Er nimmt ein Küchenhandtuch von der Heizung und kommt auf mich zu. Da ich gerade dabei bin, den restlichen Klumpen Teig mit dem Nudelholz zu glätten, begreife ich erst im letzten Moment, was er vorhat. Ganz nah steht er plötzlich neben mir. Er greift an mein Kinn, um es nach oben zu drücken, damit ich ihn ansehe. Er wird doch wohl nicht …

Ganz sanft schiebt er mein Gesicht ein Stück zur Seite … und wischt mit dem Tuch die Mehlspuren von meiner Stirn und Wange.

»Schon besser«, sagt er leise. »Sonst reibst du es dir nachher noch in die Augen.« Langsam tritt er wieder einen Schritt zurück und lässt mich schwer atmend stehen. Ich glaube, meine Zunge klebt an meinem Gaumen fest, so trocken ist mein Mund geworden.

»Was machst du eigentlich Heiligabend? Deine Eltern sind ja gar nicht hier?«, fragt er dann, als wäre nichts geschehen.

Ich bin erleichtert, dass er sich wieder den Keksen zuwendet, denn so sieht er meine entflammten Wangen nicht.

»Nichts Besonderes. Ich werde vielleicht einen Weihnachtsfilm schauen, lernen, und wenn es das Wetter zulässt, werde ich mir in der Stadt noch etwas beim Chinesen holen, womit ich mich dann über die Feiertage über Wasser halte. Für mich alleine kochen, finde ich überflüssig.«

»Das ist nicht dein Ernst. Du willst doch Weihnachten nicht ganz alleine hier rumsitzen? Hast du keine Freundin in der Nähe, mit der du Zeit verbringen kannst?«

Seine Besorgnis ist ja niedlich, aber auch anstrengend.

»Ich bin schon groß, Nick. An den Weihnachtsmann glaube ich schon seit einer Weile nicht mehr und außerdem muss ich noch eine ganze Menge Stoff für die Uni nachholen.«

»Trotzdem ist das traurig. Ich würde dich ja gerne zu uns einladen, aber wir gehen Heiligabend zu meiner Oma ins Krankenhaus, damit sie nicht alleine ist.«

Ich kenne ihn nicht gut genug, auch damals nicht, um mich in so einer Familiensituation wohlzufühlen. Aber seine Besorgnis weiß ich zu schätzen, obwohl sie unnötig ist. Zudem ich mich selbst unter anderen Umständen nicht bei seiner Familie an den Tannenbaum setzen würde. Abgesehen von unserem kurzen Ausflug in eine Jugendliebe verbindet uns eigentlich recht wenig. Wir hatten auch später unterschiedliche Freundeskreise.

»Warum liegt dir so viel daran, dass ich nicht alleine bin?« Nur mit Mühe kann ich den genervten Ton aus meiner Stimme heraushalten.

Nick legt ein fertig dekoriertes Plätzchen beiseite und dreht sich zu mir.

»Weil Weihnachten die einzige Zeit im Erwachsenenleben ist, wo man sich noch völlig schamlos der kindlichen Magie der Feiertage hingeben darf. Und niemand will sich an diesen Tagen wie ein obdachloses Waisenkind fühlen.«

Er bringt sein überzogenes Argument mit so viel Inbrunst rüber, dass ich nur noch lachen kann.

»Sorry, Nick. Aber du guckst zu viele Weihnachtsfilme.« Jetzt schaut er, als hätte ich einen Welpen getreten und das verursacht mir fast ein schlechtes Gewissen.

»Komm schon«, sage ich. »Wir beide stammen aus weitestgehend intakten Familien und keiner von uns hat eine nennenswert tragische Kindheit vorzuweisen. Deswegen ist es echt kein Drama, dass ich alleine bin, nur weil meine Eltern sich den ersten Paarurlaub in 25 Jahren gegönnt haben. Die Zwei tun so viel für mich, darum kann ich ihnen das wirklich nicht übelnehmen. Außerdem habe ich genug zu tun, ich werde hier nicht in einem Meer aus Schokolade und Tränen versinken.«

Nick beobachtet mich skeptisch und zieht dann demonstrativ eine Augenbraue hoch. Mir wir bewusst, dass es so klingt, als müsste ich es vor mir selbst rechtfertigen.

»Ist doch wahr«, setze ich noch trotzig obendrauf. Um das Gespräch zu beenden, beginne ich laut klappernd die Plätzchenausstecher und Schüsseln zu spülen. Nick erkennt den Wink mit dem Zaunpfahl und lässt das Thema endlich fallen.

Anschließend ist die Stimmung dahin und er verabschiedet sich nach kurzer Zeit. Beim Abschied haben wir trotzdem Telefonnummern getauscht, doch irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich nun nichts mehr von ihm höre. Betrübt sitze ich auf dem Küchenstuhl, um zu verschnaufen, ehe ich das ganze Gebäck in Tupperdosen verpacke. Ich starre auf meine Füße und fluche innerlich. Verdammte Hasenpuschel. Einer Frau in High Heels wäre das sicher nicht passiert.

Die Weihnachtsfeier für meine kleinen Ballettdamen und ihre Familien war ein voller Erfolg. Unsere Aufführung vom Nussknacker war furchtbar chaotisch, natürlich stark vereinfacht und trotzdem zuckersüß. Die Mädels haben so hart gearbeitet, um das Stück einzustudieren, und alle Mütter haben bei den Kostümen mitgeholfen, aber von einer Gruppe Sechsjähriger erwartet niemand Perfektion.

Da es bereits auf die Abendbrotzeit zugeht, sind die meisten wieder mit den Kindern nach Hause abgezogen, während einige der Väter mir beim Aufräumen der Turnhalle helfen.

Im Laufe des Nachmittags habe ich ein paar Mal gespürt, wie mein Handy in der Tasche vibriert hat, doch ich habe nicht nachgesehen, von wem die Nachrichten kommen. Meine Eltern können es nicht sein, denn die halten Textnachrichten nach wie vor für überflüssig und unhöflich. Oder es ist Nick, doch von ihm wollte ich mich nicht ablenken lassen.

»Schaffst du den Rest alleine oder soll ich dir noch beim Ausfegen helfen?«, spricht mich der Vater von Jasmin von der Seite an. Er ist immer im Einsatz für seine Kinder, von denen inzwischen das Vierte unterwegs ist.

»Nee, Stefan. Das ist okay. Geh nach Hause und hilf deiner Frau, die Rasselbande ins Bett zu bekommen. Ich komme hier klar. So schlimm sieht es nicht aus und später kommt sowieso die Putzkolonne.«

»Okay«, sagt er hörbar erleichtert. »Danke nochmal für die Mühe. Die Mädels werden dich nächstes Jahr sehr vermissen.«

Ich darf nicht dran denken, dass ich die Truppe nur noch im Januar unterrichte, sonst fange ich gleich an zu heulen.

»Sie werden mir auch sehr fehlen, aber meine Nachfolgerin ist toll. Außerdem will ich versuchen, wenigstens in den Semesterferien ein paar Mal auszuhelfen, aber im Augenblick kann ich noch nichts versprechen.«

»Das ist okay. Studium geht vor. Ich wünsch dir schöne Feiertage.«

»Das wünsche ich euch auch.«

Ich begleite ihn noch bis zur Tür und will hinter ihm abschließen, als wie aus dem Nichts Nick vor mir steht.

»Was machst du denn hier?«, frage ich verwundert. Er sieht durchgefroren aus, als würde er länger hier stehen.

»Ich hab dir ein paar Nachrichten geschickt und dann ist mir aufgefallen, dass es vielleicht ein paar zu viele waren, um nicht aufdringlich zu wirken. Und um dir das zu erklären, wollte ich dich wenigstens nach Hause begleiten. Ja, und jetzt wird mir bewusst, dass ich wie ein irrer Stalker wirken muss, aber ich wollte dich wirklich gerne wiedersehen.«

»Ich hab deine Nachrichten noch nicht lesen können, weil ich den ganzen Nachmittag beschäftigt war, aber ich hätte dir nachher geantwortet. Komm rein, du bist ja ganz durchgefroren.« Ich winke ihn in den warmen Vorraum der Turnhalle und schließe die Türe ab. »Ich muss nur noch fegen und die Thermoskannen spülen, dann bin ich fertig für heute.«

»Ich helfe dir.« Ohne auf meine Zustimmung zu warten, zieht er Jacke und Schal aus und hängt sie an der Garderobe auf. »Wo finde ich einen Besen?«, fragt er und schaut sich suchend um.

»Du musst mir wirklich nicht helfen, Nick. Ich hab dir gestern schon deinen Feierabend gestohlen.«

»Schwachsinn«, sagt er. »Zuhause wartet nur der Fernseher und eine aufgewärmte Suppe auf mich.« Zielstrebig öffnet er die Tür zur Besenkammer, wo er gleich fündig wird.

Meinen weiteren Versuch eines Einwands ignoriert er einfach und beginnt stattdessen, in der kleinen Turnhalle die Spuren der Weihnachtsfeier zu beseitigen.

»Musst du wischen?«, fragt er, während ich die Thermoskannen einsammle.

»Nein, die Putzfeen kommen gleich sowieso. Ich muss nur den groben Dreck wegmachen.«

»Okay. Geh spülen!«, befiehlt er mir in einem gespielten Kasernenton, der mich zum Lachen bringt.

»Ja, Sir!«

»So gefällt mir das!«, ruft er mir hinterher, als ich schon mit zwei Kannen in jeder Hand in den Waschräumen verschwinde.

»Gewöhn dich nicht dran!«

Mit Nicks Hilfe bin ich in zwanzig Minuten mit allem fertig und kann endlich nach Hause. Ich sehne mich nach einem heißen Bad und einem Glas Wein, aber ich fürchte, der Bücherstapel auf dem Küchentisch wird mein Vorhaben bremsen. Außerdem muss ich unbedingt etwas essen, denn nur mit Keksen und heißem Kakao komme ich nicht über den Tag.

»Du bist ein Engel.« Dankbar sehe ich zu Nick hoch, während wir unsere Jacke anziehen. »Ohne dich hätte alles mal wieder viel länger gedauert.«

»Jederzeit, Lilli. Das meine ich ernst. Ich hatte so viel Spaß mit dir gestern Abend und das würde ich gerne viel öfter wiederholen. Am liebsten noch heute.«

Er hat keine Ahnung, wie verlockend dieses Angebot ist.

Nur einmal nicht an die Uni denken und mir einen Tag frei nehmen. Ich weiß nicht, wann ich das zum letzten Mal bewusst gemacht habe.

»Ich würde furchtbar gerne, aber ich muss noch so viel Stoff für die Uni nachholen«, sage ich auf dem Weg nach draußen. »Auch wenn du es mir vielleicht nicht glaubst, ich will dich nicht abwürgen, aber ich muss noch so viel tun.«

»Das glaube ich dir. Aber du musst doch trotzdem essen. Oder mal eine Pause machen.«

»Theoretisch schon.«

»Siehst du. Und praktisch könnte ich dir dabei Gesellschaft leisten.«

»Nick …«, seufzend bleibe ich vor ihm stehen und sehe dabei zu, wie er nervös seinen Schal zurechtrückt. Er ist nicht der großkotzige Aufreißer, für den man ihn halten könnte. Das hier scheint ihm tatsächlich am Herzen zu liegen.

»Lilli, versteh das nicht falsch. Ich will dich nicht aufhalten, aber du kannst doch nicht nur lernen. Morgen ist Heiligabend und für heute hast du schon genug getan.«

»Wie geht es deiner Oma?«, frage ich, um abzulenken.

»Sie erholt sich langsam, und ich weiß genau, dass du nur das Thema wechseln willst. Komm, ich begleite dich nach Hause«, sagt er und hält mir seinen Arm hin, damit ich mich bei ihm einhake.

Die Spuren vom gestrigen Schneefall liegen immer noch auf den Straßen, auch wenn die meisten Hausbewohner sich bemüht haben, die Bürgersteige freizuschaufeln. Ich kann meinen Atem in einer weißen Dampfwolke vor meinem Gesicht beobachten. Es ist angenehm, neben Nick durchs Dorf zu schlendern. Er ist ein interessanter Gesprächspartner und er passt stets auf, dass ich auf glatten Flächen nicht ausrutsche. Ich bin es nicht gewöhnt, dass Männer in seinem Alter schon so viel Rücksicht an den Tag legen und es gefällt mir sehr, dass er die entsprechende Reife zeigt. Verwunderlich ist es jedoch nicht. Sein Vater ist ein großer Charmeur, der bei den älteren Damen im Dorf überaus beliebt ist, auch wenn er nur Augen für seine Frau hat.

Als wir nach nur wenigen Minuten vor der Haustür meiner Eltern stehen, schaut er traurig aus.

»Was ist los?«, frage ich.

Er zuckt mit den Schultern. »Sehe ich dich wieder?«, fragt er schließlich. »Nach den Feiertagen fahre ich zurück nach Berlin, und bis ich hierher zurückziehe, hast du mich bestimmt vergessen.«

Plötzlich steht er gefährlich nah vor mir. So nah, dass ich den Kopf heben muss, um ihn ansehen zu können. Ich traue mich nicht, die Hände aus den Taschen zu nehmen, weil ich denke, dass er sie dann ergreifen würde. Und dann würden wir uns weiter anstarren, bis wir uns küssen würden. Das wäre nicht gut. Glaube ich.

Ach, ich weiß es doch nicht. Vorsichtshalber gehe ich einen Schritt zurück. Nick lässt enttäuscht den Kopf hängen, tritt dann aber beiseite.

»Du hast meine Telefonnummer. Ich wünsche dir ein schönes Weihnachtsfest, auch wenn du alleine bist.«

Jetzt kommt er wieder auf mich zu und küsst meine Wange, bevor er mich ohne ein weiteres Wort stehen lässt.

Großartig. Ich hab es endgültig verbockt. Aber vielleicht ist es wirklich besser so. Ich sollte mich auf die Uni konzentrieren, und nicht auf schöne Männer mit haselnussbraunen Augen.

Es ist eigentlich keine Überraschung, dass sich der Heiligabend alleine nicht so gut anfühlt. Selbst wenn ich kein Kind mehr bin und vorhin noch mit meinen Eltern telefoniert habe, fühle ich mich für den Moment ein bisschen wie eine Waise.

In der letzten Nacht und über den Tag hat es wieder heftig geschneit, weswegen ich lieber darauf verzichte, mein Essen beim Chinesen zu besorgen. Meiner Mutter habe ich vorgelogen, dass ich mir etwas Nettes gekocht hätte, sonst wäre sie vermutlich heute noch in den Flieger gestiegen. Stattdessen überlege ich, ob ich mir eine Tiefkühlpizza in den Ofen schieben soll oder ob ich mir tatsächlich die Mühe mache und wenigstens Gemüsereis koche. So richtig reizt mich das alles nicht, aber ich kann mich nicht nur von den restlichen Plätzchen und einer Tüte Chips ernähren.

Auf dem Weg zum Kühlschrank fällt mir mein blinkendes Handy ins Auge, das zum Aufladen an der Steckdose neben dem Herd hängt.

Die letzten drei Stunden war ich so in meine Bücher versunken, dass ich nicht einmal mitbekommen hätte, wenn draußen die Welt untergegangen wäre.

Nick: Ich will wirklich nicht zum Stalker mutieren, aber hast du schon gegessen? Gruß Nick

Als hätte er meine Gedanken gelesen.

Lilli: Noch nicht. Ich verzweifle am mageren Kühlschrankinhalt und mag ehrlich gesagt nicht losfahren, um mir etwas zu besorgen. Bist du nicht bei deiner Oma im Krankenhaus?

Nick: Nicht mehr. Sie war zu müde und hat uns rausgeschmissen. Aber meine Mutter hat wieder für eine ganze Armee gekocht und ich hätte was anzubieten.

Er ist so unfassbar hartnäckig, dass ich nicht Nein sagen kann und es auch gar nicht will.

Lilli: Was bietest du an?

Nick: Mach die Haustür auf, dann zeige ich es dir.

Nachdem Nick mich mit Kartoffelgratin und unglaublich zarter Hähnchenbrust gefüttert hat, bin ich zufrieden, satt und träge. Am liebsten würde ich mich ins Bett legen und bis zum nächsten Mittag durchschlafen, doch er hat da andere Ideen.

»Zieh dir deine Stiefel an, wir gehen noch eine Runde spazieren«, sagt er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet. Obwohl mir der Sinn nicht nach Bewegung steht, bin ich viel zu sehr im Kalorienkoma, um mit ihm zu verhandeln. Außerdem hat er mir meine erste vernünftige Mahlzeit seit Tagen verschafft und da kann er beinahe alles von mir verlangen.

Trotzdem steige ich nur unter wehleidigem Gemecker in meine Stiefel und lasse mir von Nick in den Mantel helfen.

»Für eine Sportstudentin bist du ganz schön träge«, bemerkt er feixend, während er mir die Wollmütze auf dem Kopf zurechtrückt.

»Ich bin eine überarbeitete Sportstudentin, die ziemlich vollgefressen ist. Hab Erbarmen!«

Nick schließt seine Jacke und bietet mir seinen Arm an, bei dem ich mich nur zu gerne einhake.

»Einmal um den Block schaffst du aber noch?«, fragt er, als ich mit der freien Hand die Haustür hinter uns schließe.

»Ich gebe mein Bestes. Hoffentlich finden wir bis dahin noch den Weg zurück.« Es hat wieder angefangen zu schneien und gerade sieht es nicht so aus, als würde es heute Nacht noch einmal aufhören.

»Warum lernst du über die Feiertage noch so viel?«, fragt Nick, während wir die ersten Schritte Richtung Marktplatz schlendern. »Es dürfte doch nicht so problematisch sein, über Weihnachten etwas auszusetzen.«

Ich mag ihm darauf eigentlich nicht antworten.

Die Straßen sind menschenleer. Wer jetzt noch wach ist, der sitzt mit seiner Familie unterm Tannenbaum.

Noch nicht mal einen Tannenbaum habe ich dieses Jahr. Das macht mich traurig.

»Ich bin zu Semesterbeginn ziemlich versackt«, erzähle ich ihm schließlich doch. »Erst hat mein Freund mich für seine Ex-Freundin verlassen und dann hat mich noch die Grippe erwischt und für fast drei Wochen außer Gefecht gesetzt. Wenn ich das jetzt nicht nachhole, dann kann ich dieses Semester komplett knicken. Ich bin nicht stolz drauf, aber wenn ich das nicht aufhole, dann muss ich meinen Eltern gestehen, wie weit ich zurückgefallen bin. Es ist schon schlimm genug, dass sie mein Leben immer noch mitfinanzieren. Da muss das nicht zusätzlich noch sein.«

Der Schneefall wird heftiger. Nick zieht mich in die überdachte Bushaltestelle am Markt, wo wir uns auf die Bank setzen.

»Die Grippe hast du dir doch nicht mit Absicht eingefangen und dein Ex ist offensichtlich ein Arsch. Aber das Ende von Beziehungen kann man nie planen.«

»Ich weiß. Trotzdem fühle ich mich wie ein Versager.«

Wenn er wüsste, wie gerne ich in die dichten Locken greifen würde, die unter seiner Wollmütze hervorschauen. Nick beobachtet, wie ich versuche, meine Hände durch Aneinanderreiben aufzuwärmen. Meine Handschuhe liegen daheim auf der Garderobe.

»Komm her«, sagt er und nimmt meine Finger zwischen seine.

Das wärmt mich augenblicklich auf, und zwar nicht bloß an den Fingern.

Verlegen schaue ich auf den Boden der erstaunlich sauberen Haltestelle.

»Soll ich dir mal etwas vom Versagen erzählen?«, fragt er leise.

Ich ahne nicht, worauf er hinaus will, also zucke ich nur mit den Schultern.

»Ich war nicht ganz ehrlich, als wir uns gestern unterhalten haben. Es gibt noch einen Grund, warum ich zurück nach Mönchengladbach gehe.«

Nun mache ich den Fehler, aufzusehen, denn wir sitzen so nah beieinander, dass da kaum noch ein Spalt Platz zwischen uns ist. Abwesend starre ich auf Nicks perfekt geschwungene Lippen. Ich würde ihn so gerne küssen.

»Und der wäre?«, frage ich, auch wenn mein Interesse nicht so sehr seiner Erzählung gilt.

»Ich hab meinen Job aufgrund von Einsparungsmaßnahmen bei meinem Arbeitgeber verloren und trotz größter Bemühungen einfach nichts Neues da oben gefunden. Deswegen bleibt mir im Endeffekt gar keine andere Wahl, als erst einmal bei meinen Eltern unterzukommen. Wenn ich nach den Feiertagen zurückgehe, dann nur, um meine Zelte abzubrechen. Berlin ist nur dann toll, wenn man Kohle hat. Soviel zum Thema Versager.«

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Er hat genauso wenig einen Fehler gemacht und ist lediglich ein Opfer der Umstände.

»Aber es ist nicht deine Schuld und die Meisterschule klingt doch nicht verkehrt.«

»Nein, es klingt sogar gut und vielleicht brauchte ich das, um endlich diesen Schritt zu machen. Dennoch würde es sich besser anfühlen, wenn es nicht bloß aus der Not heraus passiert wäre.«

»Freust du dich denn darauf, zurückzukommen?«

»Ja, auf jeden Fall. Berlin war nie mein Zuhause. Und jetzt habe ich noch einen Grund mehr, mich wieder hier niederzulassen.«

Schüchtern wendet er den Blick ab.

Es ist diese kleine Geste, bei der es für mich klick macht und ich weiß, dass ich ihn wiedersehen will. Seine offensichtliche Flirterei ist nett, aber dabei kann ich nicht sicher sein, ob er das nicht bei jeder halbwegs ansehnlichen Frau macht. Es braucht keine großen Zeichen. Diese liebenswerte Verunsicherung in ihm sagt mir mehr als tausend charmante Worte.

Immer noch hält er meine Hände und reibt mit den Daumen über meine Fingerknöchel. Ich spüre die Berührung am ganzen Körper und will nichts mehr, als ihm noch näher zu sein. Die Kälte spielt keine Rolle mehr und dass wir hier gerade eingeschneit werden, nehme ich nur im Hintergrund wahr.

»Nick?« Ich flüstere seinen Namen, laut genug, damit er zu mir aufschaut. Er hat so unglaublich warme Augen, die sich vertrauter anfühlen, als sie es eigentlich sind. Unsere Kindheit verbindet uns, auch wenn wir sie nur sehr bedingt miteinander verbracht haben.

»Ich weiß, Lilli. In den letzten Tagen habe ich dich vielleicht genervt und es ist nicht meine Art, einer Frau so hinterher zu rennen, aber ich hab das Gefühl, da könnte etwas zwischen uns sein. Als du vor zwei Tagen bei meiner Mutter im Laden standest, da bin ich fast in die Knie gegangen. Du warst zwar damals schon unglaublich hübsch, aber jetzt bist du atemberaubend. Außerdem bist du klug und hast Humor und bei dir fühle ich mich, als wären die ganzen letzten Monate gar nicht geschehen und ich freue mich endlich wieder auf die Zukunft. Ich weiß nicht, ob du mich wirklich wiedersehen willst, oder ob du es nur aus Höflichkeit sagst, aber ich musste das loswerden. Sonst bereue ich es, wenn ich in Berlin sitze und du mich hier in nur wenigen Tagen komplett vergessen hast.«

Nervös zappelnd sitzt er neben mir, als hätte er diese Rede schon lange vorbereitet, doch jetzt ist er sich nicht mehr sicher, dass es eine gute Idee war.