Kurt Kotrschal — HUND & MENSCH
Allen Menschen gewidmet, denen das Leben mit Hunden ein Bedürfnis ist, und allen jenen, die dieses Glück noch für sich entdecken werden. Und natürlich unseren Hunden seit 1978, Rolfi, Basko, Briska und Bolita, die ihren Anteil daran hatten, dass unsere beiden Kinder heute erfolgreich im Leben stehen.
Hunde bewirken wahre Wunder als Gefährten im Zusammenleben mit Kindern, Alten, aber auch mit Erwachsenen in der Rushhour ihres Lebens. Das meinen nicht nur die überzeugten Hundemenschen, das belegen in beeindruckender Weise auch die wissenschaftlichen Ergebnisse der letzten Jahre.
Wie kann „nur“ ein Tier für so viele Menschen derart wichtig sein? Ich bin überzeugt, dass das an unserer langen gemeinsamen Geschichte liegt. Seit mehr als 30 000 Jahren leben so gut wie alle Menschen in mehr oder weniger engem Kontakt zu Hunden. Will man Menschen verstehen, wäre es seltsam, die Beziehung zum Hund nicht mitzudenken und mitzuforschen – manche unter unseren Kolleginnen und Kollegen halten Hunde sogar in vielerlei Aspekten für geeigneter, das menschliche Sozialverhalten zu verstehen, als zum Beispiel die viel näher mit uns verwandten Schimpansen.
Umgekehrt können Hunde nicht verstanden werden, ohne den Menschen mitzudenken. Nicht dass sie es nicht wert wären, um ihrer selbst willen erforscht zu werden. Aber eigentlich ist es nicht zielführend, denn ohne den Menschen gäbe es sie nicht. Und so könnte das hoch konzentrierte Destillat aus diesem Buch lauten: Als domestizierte Wölfe haben sich Hunde derart eng an das Zusammenleben mit uns Menschen angepasst, dass sie als soziale Hybridwesen und Mittler irgendwo zwischen uns und den anderen Tieren stehen. Das ist ein Schluss, der nicht etwa dem vorurteilsbehafteten Hirn eines sentimentalen Hundefreundes entspringt, sondern der von den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen untermauert wird.
Wobei die Wissenschaft Hunde in ihrer Beziehung zum Menschen erst spät als Forschungsgegenstand entdeckt hat. Zwar werden Hunde schon länger im Dienste der Wissenschaft eingesetzt, zum Beispiel als Laborhunde, um neue chirurgische Verfahren zu testen, bevor diese am Menschen angewandt werden. Doch die Verhaltens-, Evolutions- und Kognitionsforschung machte lange einen weiten Bogen um privat gehaltene Hunde: Was könne man von einem domestizierten Tier schon lernen? Und all diese Hundebesitzer und -besitzerinnen in ihren anstrengenden Spielarten, all die vielen unterschiedlichen Bedingungen, unter denen Hunde mit ihren Menschen leben … Das sei nicht untersuchbar, da nicht standardisierbar. So dachten noch vor zwei Jahrzehnten die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen.
Doch dieses Bild hat sich gründlich gewandelt. Ab 1990 machten vor allem Vilmos Csányi, Adam Miklósi, Josef Topál und deren Team an der Eötvös-Universität in Budapest auch privat gehaltene Hunde in der Forschung salonfähig. Den knappen Mitteln geschuldet, erkannten sie in Kumpanhunden eine günstige Ressource zur Beantwortung höchst spannender wissenschaftlicher Fragen, auch was das Sozialleben des Menschen betrifft. Das ungarische „Family Dog Project“ wurde zum Vorreiter einer Forschung, die sich rasch um die ganze Welt ausbreitete und die gerade in den letzten paar Jahren noch deutlich an Fahrt aufgenommen hat. Von all den Gruppen, die sich weltweit mit Hunden beschäftigen, gehören zweifellos die in Budapest und wir in Wien zu den produktivsten. Darum wird hier auch immer wieder von ihren und unseren Ergebnissen zu lesen sein.
Dieses Buch konzentriert sich auf die sozialen und geistigen Fähigkeiten der Hunde und darauf, wie wir Menschen von ihnen profitieren können – und hoffentlich sie von uns. Geistige und soziale Fähigkeiten sind nur aus dem evolutionären Zusammenhang heraus zu erklären. Nicht nur bei Menschen und Wölfen müssen die Ökologie und das Sozialsystem mitgedacht werden, sondern auch bei Hunden. Deren relevanter „ökologischer“ Kontext ist der Mensch und seine Kulturumgebung.
Beginnen möchte ich Kapitel 1 mit einer ganz persönlichen Schilderung jener Ereignisse in meinem Leben und meiner Forschung, die mich immer mehr in das Thema Hund– Mensch hineinzogen haben. Außerdem werde ich von den vielfältig positiven Wirkungen von Hunden auf die geistige und körperliche Gesundheit von Menschen aller Altersstufen berichten.
In Beziehung zu Hunden fühlen sich Menschen nicht nur subjektiv wohler als Leute ohne Hund, sie sind auch tatsächlich aktiver, sozial besser vernetzt und gesünder, wie umfassende und weltweite Studien zeigen. Wachsen Kinder mit einem Hundegefährten auf, bedeutet das Vorteile für ihre körperlichen, geistigen, emotionalen und sozialen Fähigkeiten, für ihr Selbstbewusstsein und ihre Verantwortung für andere. Kinder und Hunde, Menschen und Hunde, gehören deshalb zusammen.
Besonders stark und auf vielfältige Weise profitieren Personen in herausfordernden Lebenssituationen von einem Leben mit Hund: vom Kleinkind in schwierigen Familienverhältnissen über Kranke bis hin zu allein lebenden Alten. Zu den Vierbeinern fassen auch jene Kinder und Erwachsene Vertrauen, denen in früher Kindheit keine optimale Zuwendung zuteilwurde. Hunde erleichtern es, emotionale Beziehungen zu anderen Leuten zu entwickeln und mit dem Unbill des Lebens zurechtzukommen. Darum werden Hunde auch immer häufiger als Assistenten im Rahmen unterschiedlichster Therapien eingesetzt.
Das Leben mit Hund schützt zudem wirksam gegen Altersdepression. Eigentlich eine sensationelle Nachricht, denn Altersdepressionen machen unselbstständig und töten. Fehlen nachhaltig Antrieb, soziale Kontakte, Regelmäßigkeit und Sinn, wird es gefährlich. Eine balancierte Emotionalität hingegen gilt als wichtigste Basis für ein langes und gesundes Leben.
Hunde sind ausgezeichnete „soziale Schmiermittel“. Für ein altes Ehepaar bildet ihr Hund den Fokus der gemeinsamen Fürsorge, und über den Hund bleiben Menschen mit anderen in ihrem Umfeld verbunden.
Hunde geben genau die Zuwendung, die besonders alte Menschen dringender brauchen als ein Stück Brot – bedingungslos, nicht von Äußerlichkeiten, von Schönheit oder geistiger Brillanz abhängig. „Aschenputteleffekt“ wird das genannt. Und wenn Aschenputtel ein wenig vergesslich wird, ist das dem Hund auch egal.
Beinahe könnten in Sozialberufen tätige Menschen auf den sozialen Wunderwuzzi Hund eifersüchtig werden. Denn die positiven Effekte von Hunden als Sozialgefährten sind so gut belegt, dass etwa im amerikanischen Rechtssystem Eltern wegen sozialer Deprivation geklagt werden können, wenn sie ihrem Kind zugemutet haben, ohne Hund aufzuwachsen.
In Kapitel 2 widme ich mich der Frage, warum Hunde für uns in einer aus den Fugen geratenden Welt so wichtig sind, um die Bodenhaftung nicht zu verlieren. Offensichtlich sind Hunde für den modernen Menschen ja nicht so sehr Arbeits-, als vor allem Sozialkumpane. Entsprechend wird es in diesem Buch auch eher um Hunde gehen, die „zu nichts nütze“ sind: Die nicht täglich Menschen aus Trümmern oder Lawinen retten oder Verbrecher fangen, sondern die einfach nur „da“ sind.
Warum Hunde heute so wichtig sind, mag viele Gründe haben. Einer ist aber sicher, dass wir uns im Spiegel von Hunden auch als Menschen deutlicher erkennen. Viele Leute gefallen sich in ihrer Rolle als ach so rationaler moderner Mensch. Aber es braucht nicht viel, um den Kern des Menschseins freizulegen: eine immer noch tiefe Verwurzelung in der Natur, in den Emotionen und letztlich auch in der Spiritualität. Menschen sind prinzipiell auf der Suche, meist nach sich selbst, immer aber nach dem Glück. Noch nie lebten so viele Menschen gleichzeitig, noch nie waren wir anthropozentrischer, also stärker auf uns Menschen konzentriert als heute. In dieser komplexen, oft Angst machenden Zeit übernehmen Hunde immer öfter die Rolle eines „emotionalen Blindenhunds“ oder eines „sozialen Pfadfinders“.
In Kapitel 3 werden wir sehen, wie sich Hunde im Laufe der Zeit an ein Zusammenleben mit uns Menschen angepasst haben: Welche Fähigkeiten sie entwickelt, welche sie im Laufe der Hundwerdung im Vergleich zum Wolf verloren haben. Aus den vielen kleinen Puzzlesteinen der Forschung möchte ich hier ein möglichst klares Bild der gegenwärtigen Erkenntnisse zu Wölfen und Hunden zeichnen. Hier wird auch viel von unserer Forschung in Ernstbrunn mit handaufgezogenen Wölfen und Mischlingshunden die Rede sein.
In Kapitel 4 geht es auch um die Gründe, warum Menschen mit Hunden nicht nur leben wollen, sondern dies auch können, teilen wir doch zumindest innerhalb der Säugetiere einen erheblichen Teil jener Strukturen und Mechanismen in Gehirn und Physiologie miteinander, die uns das innerartliche Sozialsein mit Menschen ermöglichen. Hunde sind also nicht irgendwelche an uns angepasste „Aliens“. Sozial und emotional ticken sie weitgehend so wie wir.
Es ist sogar vorstellbar, dass in einer Art Koevolution Hunde Beiträge zur menschlichen Sozialentwicklung geliefert haben. Der Nachweis ist schwierig, denn seit 35 000 Jahren gibt es keine Menschen ohne Hunde, es fehlt also eine „Kontrollgruppe“. Menschen sind ob der langen gemeinsamen Geschichte ohne Hunde aber zumindest unvollständig. Diese Einsichten zur ganz besonderen und schon lange währenden Beziehung zwischen Menschen und Hunden begründen meiner Ansicht nach ein „Menschenrecht auf Hundehaltung“. Jedenfalls lassen sie erahnen, warum Hunde für uns Menschen derart wichtig wurden.
Dass gerade Kinder und Tiere, insbesondere Hunde, zusammengehören, entspricht einem evolutionär grundgelegten Bedürfnis, von dem ebenfalls in Kapitel 4 die Rede sein wird: unserem Wunsch nach Kontakt zur Natur. Die lange gemeinsame Geschichte mit Wölfen und Hunden mag dazu beigetragen haben, dass Menschen gemäß dem großen US-amerikanischen Biologen Edward Wilson ein „biophiles“ Wesen entwickelt haben, was bedeutet, dass wir nahezu instinktiv an Tieren und Natur interessiert sind.
In Kapitel 5 begebe ich mich auf die lange gemeinsame Reise von Menschen und Wölfen bzw. Hunden durch die Zeit. Hunde sind die längstgedienten Tiergefährten des Menschen. Genetische Ergebnisse legen nahe, dass die große Ausbreitungswelle des Homo sapiens aus Afrika über die Erde, die vor etwa 60 000 Jahren begann, unsere Vorfahren bereits vor etwa 40 000 Jahren in Kontakt mit Wölfen brachte.
In Euroasien trennten sich vor etwa 35 000 Jahren erstmals die Genome von Wölfen und Hunden. Die ersten Mammutjägercamps tauchten auf, und ungefähr 15 000 Jahre später verschwand der Neandertaler – wozu das Bündnis unserer Vorfahren mit Wolf und Hund möglicherweise beigetragen hat. Die meisten Gene unserer Hunde entstanden allerdings viel später: vor etwa 17 000 Jahren in Südostasien. Noch nicht allzu lange wissen wir einigermaßen gesichert, was zwischen Mensch und Wolf bzw. Hund in den letzten 35 000 Jahren geschehen ist. Vor wenigen Jahren hätte dieses Kapitel noch viel mehr Fragezeichen enthalten – der Erkenntnisgewinn durch neueste genetische Ergebnisse ist hier tatsächlich enorm.
Mit dem Sesshaftwerden der Menschen und einer zunehmenden Auslese auf Zahmheit entwickelten sich auch immer mehr Aufgabenfelder für Hunde. Aus den altsteinzeitlichen Jagdgefährten wurden geschätzte Partner im Krieg und beim Hüten und Verteidigen von Herden. Diensteifrige Hunde heute schützen, retten, sind unentbehrliche psychische und physische Assistenten von Menschen mit Behinderung, erschnüffeln Sprengstoff, sind wertvolle Ko-Therapeuten und vieles mehr. Die über Jahrtausende entwickelte Symbiose zwischen der menschlichen Übersicht und dem Sinneswunder Hund erbringt erstaunliche Spitzenleistungen in einer schier unglaublichen Fülle von Bereichen.
Von Anfang an waren Hunde respektierte, gelegentlich missbrauchte Sozialgefährten der Menschen. Sie sind eine Art verlängertes Ego, werden geachtet und verachtet, geliebt und gehasst, wie wir sonst nur Menschen lieben oder hassen können. Vielleicht fällt es Menschen sogar leichter, Hunde bedingungslos zu lieben als andere Menschen? Umgekehrt scheint es jedenfalls so zu sein: Menschen sind für Hunde offensichtlich wichtiger geworden als die eigenen Artgenossen.
Hunde sind zwar offensichtlich keine Wölfe mehr. Dennoch werden sie und die Beziehungskiste mit ihren Menschen nur verständlich, wenn man sie mit Wölfen vergleicht. Ein solcher Vergleich zeigt, worin die Anpassungen der Hunde an das Zusammenleben mit Menschen bestehen. Im Licht der heutigen Forschung müssen wir die süßlichen, von Vorurteilen geprägten Szenarien der Erstbegegnungen genauso überdenken wie die gängigen Ideen, was im Verlauf von 35 000 Jahren Domestikation, also dem Prozess der Hundwerdung, wirklich geschah.
Viele nehmen an, dass aus den wilden und aggressiven Wölfen schrittweise die sanften, uns zugewandten und kooperationsbereiten Hunde wurden. Aber Hunde wurden nicht einfach nur netter. Ihre Anpassungen an alle Arten von Menschen und Lebensumstände erzeugten ein komplexes Mosaik von Eigenschaften, aus dem die ganze Vielfalt der heute lebenden Hunde mit ihren auch genetisch nachweisbaren Unterschieden wurde. So ist es kein Widerspruch, dass das Prinzip der Selektion auf Zahmheit zwar als wichtigster Mechanismus der Domestikation gelten kann, dass Hunde aber dennoch in vielen Situationen aggressiver reagieren als Wölfe. Der Schlüssel zum Verständnis dieses scheinbaren Paradoxons liegt in der Gruppenbezogenheit von Menschen, Wölfen und Hunden, wie in Kapitel 6 nachzulesen sein wird. Dies wurde von den bisherigen, relativ schlichten wissenschaftlichen Hypothesen zur Domestikation des Wolfs noch zu wenig bedacht.
Spannende neue Ergebnisse belegen beileibe nicht nur, was Menschen, die mit Hunden leben, „schon immer“ wussten. Wir können heute immer besser beurteilen, wie stark Hunde in ihrer Denk- und Beziehungsfähigkeit unterschätzt – oder auch überschätzt – werden. Ich hoffe, mit diesem Buch einen Beitrag leisten zu können, viele Vorurteile und schiefe Bilder zu korrigieren.
Im Spiegel der Hunde sehen wir heute aber auch Menschen als soziale und kooperative Wesen in einem neuen Licht. Das hat zu einem Gesinnungswandel im Umgang mit Hunden geführt: vom „Dominieren“ hin zur partnerschaftlichen Beziehung, allerdings mit „Leadership“ durch den Menschen. Das ist kein alter Wein in neuen Schläuchen, sondern ein modernes Konzept, wie ich in Kapitel 7 ausführen werde. Ein respektvoller und motivierender Umgang und sozial kompetentes Führen sorgen für gute und verlässliche Beziehungen nicht nur mit unseren Mitmenschen, sondern auch mit Hunden. Dies steht durchaus im Einklang mit dem sich immer stärker durchsetzenden Bewusstsein, dass wir Menschen genauso Gast auf dieser Erde sind wie alle anderen Spezies, nicht aber die Herren der Welt – und wenn wir klug sind, auch nicht die Herren der Hunde.
Wir forschen am Hund und finden die Natur des Menschen. Dabei vermenschlichen wir die Hunde. Doch das ist nichts Besonderes. Menschen kommen mit ihrer Welt genau deshalb zurecht, weil sie alles „vermenschlichen“, was für sie von Belang ist. Mit unseren Menschenhirnen und Menschenerfahrungen können wir gar nicht anders. Meist halten wir das für etwas Schlechtes – spätestens seit sich der Mensch im Verlauf der abendländischen Religions- und Geistesgeschichte zur „Krone der Schöpfung“ erhoben und sogar zu der ungeheuerlichen Annahme verstiegen hat, der Geist hätte mit dem Körper nichts zu tun. „Geist“ käme in dieser Vorstellung natürlich nur Menschen zu. Erstaunlicherweise glauben das manche bis heute. Dies führte auch zu der eigentlich nicht sehr intelligenten Frage, wodurch sich „der Mensch“ vom „Tier“ unterscheide. Nach 200 Jahren biologischer und 20 Jahren kognitionsbiologischer Forschung wissen wir inzwischen: nicht durch allzu viel.
Erstaunlicherweise kann man Leute immer noch verstören, wenn man von „Menschen und anderen Tieren“ spricht, wie es unter Biologinnen und Biologen mittlerweile üblich geworden ist, in Anerkennung der Darwin’schen Erkenntnis, dass buchstäblich alle Unterschiede zwischen Menschen und (eben anderen) Tieren gradueller und nicht prinzipieller Natur sind. Für Hunde mag das noch durchgehen, denn sie werden in einem erstaunlichen Ausmaß als Teil der eigenen Person gesehen, als Partner auf Augenhöhe.
Aber natürlich sind Hunde keine Menschen. Zumindest sehen sie doch etwas anders aus (wobei ich mir da nicht einmal immer sicher bin angesichts der oft frappierenden physiognomischen Ähnlichkeiten zwischen Hunden und „ihren“ Menschen). Ich werde in Interviews oder von sendungsbewussten Menschen recht häufig gefragt, ob die Vermenschlichung der Hunde – gemeint sind hier jene, die am Tisch mitessen und rosa Rüschenmäntelchen tragen – nicht schrecklich sei. Hintergrund für diese moralisierende Steilvorlage ist wohl der beunruhigende Eindruck, dass viele Leute ihre Hunde mehr lieben als zum Beispiel bedürftige Kinder. Das wäre aber ein unzulässiger Vergleich zwischen moralischen Äpfeln und Birnen. Ich jedenfalls erkläre meinem meist überraschten Gegenüber gewöhnlich, man könne Hunde eigentlich gar nicht vermenschlichen. Denn die hätten das in ihrer lange dauernden evolutionären Anpassung an uns bereits selbst besorgt.
Mehr zu Gegenwart und Zukunft der gesellschaftlichen und individuellen Beziehung zum Hund wird in Kapitel 8 zu lesen sein. Dort wird es unter anderem um hundespezifische Bedürfnisse gehen: Neben gesunder Ernährung und Bewegung, neben gemeinsamer Arbeit, Spiel und Spaß an der frischen Luft ist das vor allem die soziale Nähe und gute Beziehung zu ihren Menschenpartnern, fallweise zu anderen Hunden. Aber sind das wirklich nur hundespezifische Bedürfnisse? Oder doch ziemlich genau jene Faktoren, die wir Menschen für ein gutes, glückliches Leben benötigen? Tatsächlich verschwimmen hier die Artgrenzen zwischen Hund und Mensch. Eine hundegerechte Stadt und hundefreundliche Gesellschaft sind fast automatisch auch menschoder kindergerecht und kinderfreundlich.
Warum erleben wir gerade mit der Verstädterung einen nahezu weltweiten Boom der Beziehung zu Hunden?
Hunde stellen inzwischen einen bedeutenden ökonomischen Faktor dar: Mehr als eine Million Menschen in Österreich leben mit 700 000 Hunden, für Deutschland sind die Werte in etwa zu verzehnfachen. Anderswo, wie in den USA, sind die Zahlen sogar noch höher. In Österreich wird jährlich mehr als eine Milliarde Euro pro Jahr durch Hundehaltung umgesetzt, für Deutschland schwanken die Schätzungen zwischen drei und zehn Milliarden. Das bedeutet mindestens 200 Millionen Euro an Steuereinnahmen und die Sicherung von 5 000 Arbeitsplätzen allein in Österreich (in Deutschland entsprechend mehr).
Ist dieser Hundeboom Ausdruck einer steigenden Humanität, die Tiere mit einschließt? Oder versuchen Stadtmenschen unbewusst den Verlust an Naturbeziehung und/oder soziale Defizite zu kompensieren? Familien- und Kleingruppenersatz? Ist der Hund gar Fluchtpunkt aus einer immer komplizierteren, globalisierten, digitalisierten und kommerzialisierten Welt? Eine einfache Antwort auf diese Fragen gibt es nicht. Mensch-Hund-Beziehungen sind so vielfältig wie die Beziehungen zwischen Menschen. Es kann deshalb keine „allgemein gültigen“ soziologischen Erklärungen für alle Mensch-Hunde-Beziehungen geben. Nur eines gilt immer: die sozialen Grundmuster der Beziehung als Erfüllung wechselseitiger sozialer Grundbedürfnisse, die letztlich im Zentrum dieses Buches stehen.
Natürlich verursachen nicht wenige Hunde auch Probleme: Pro 100 Hunde gibt es jedes Jahr etwa einen verletzten Menschen, wobei diese Zahl je nach Informationsquelle und Weltgegend erheblich variiert. Hunde können sogar töten, meist Kinder – was selten, aber doch vorkommt. Dass solche Katastrophen häufig innerhalb der Hunde-Familie passieren, lässt auf schwere Beziehungsprobleme zwischen diesen Menschen und ihren Hunden schließen.
Im Vergleich dazu ist es ein geringes, wenn auch das Zusammenleben mit Hunden in der Gesellschaft belastendes Ärgernis, dass Hunde noch immer Gehsteige „verzieren“, dass sie die Kinder genervter Mütter in Panik versetzen („Er will ja nur spielen!“) oder die Nachbarschaft aus dem Schlaf bellen. Hunde verursachen Kosten und können zum Konfliktfall werden – genau wie Menschen auch. In der Folge kommen leider viel zu viele Gemeinden auf die Idee, Hundehaltung schikanös zu erschweren, anstatt sich um ein besseres Miteinander zu bemühen. Eine solche Schikane ist die flächendeckende Leinen- oder gar Maulkorbpflicht. Schade und nicht besonders intelligent, denn angesichts des sozialen Potentials von Hunden sind solche Vorschriften ein Schuss ins Knie – und eine Missachtung des Bedürfnisses eines erheblichen Teiles der Menschen, mit Hunden gut zusammenzuleben.
Das Bedürfnis und auch das Recht von Menschen, mit Hunden zu leben, gibt jedenfalls hinreichend Anlass, den gesellschaftlichen Bedingungen und den konkreten Erfordernissen der Hundehaltung mehr Aufmerksamkeit zu schenken, zum Beispiel im Wohnungs-, Siedlungs- und Städtebau. Viele Städte wie Paris, New York oder Wien zeigen bereits ein hunde- und daher menschenfreundliches Gesicht. Aber es gibt überall noch Luft nach oben. Gerade weil es den Menschen ein Bedürfnis scheint, müssen Hunde im zukünftigen politischen und gesellschaftlichen Diskurs eine wesentlich größere Rolle spielen. Aus menschlicher Sicht als unsere wichtigen Gefährten, aber genauso aus Sicht der Hunde, die sich zunehmend zu unseren Sozialpartnern entwickelt und sich damit von ihrem Status als „Pets“, also eine Art lebendiges Spielzeug, emanzipiert haben.
Was wir Menschen nicht mit Hunden teilen, sind unsere hoch entwickelte Fähigkeit zur komplexen Symbolsprache und unser Mythen- und Geschichtenerzählergehirn. Darum kann die Wolf-Hund-Mensch-Geschichte auch nur von Menschen erzählt werden. Bedauerlich. Es wäre höchst spannend, auch die Hundeversion unserer Partnergeschichte zu hören.
Wenn sie es könnten, würden Hunde diese Beziehungsgeschichte wohl mit mehr Fokus auf das für sie Wesentliche erzählen, ohne die nahezu zwanghafte menschliche Kompliziertheit. Der Sinn des Lebens für Hunde liegt, auch den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge, in guten Beziehungen. Das gilt zwar weitgehend auch für Menschen, doch während wir oft seltsame Konzeptbeziehungen zum lieben Gott, zum Humanismus oder zu Marx benötigen, um einen Sinn im Leben zu finden, sind Hunde einfacher gestrickt: Sie haben und brauchen uns. Punkt. Der Mensch wurde offensichtlich so lange immer gescheiter, bis er schließlich laufend über den eigenen Geist stolperte. Hunden blieb dieses Schicksal erspart. Sie beurteilen weder Schönheit noch Klugheit oder Reichtum. Sie sind – wie angeblich auch der liebe Gott – einfach bedingungslos zugewandt.
Wie sich die Zukunft der Mensch-Hund-Beziehung entwickelt, ist aus gesellschaftlicher Sicht kaum vorherzusagen. Es wird wohl auch in diesem Bereich die Vielfalt der individuellen Lebensentwürfe und Möglichkeiten zunehmen. Ziemlich sicher aber wird in Zukunft die „Seelenverwandtschaft“, also die soziale und psychologische Passung zwischen Hund und Mensch, weiter zunehmen.
Der Autor mit vier Hunden des Wolfsforschungszentrums in Ernstbrunn, Enzi (li.), Panya (weiß, im Vordergrund), Pepeo (braun) und Laila (schwarz). Sie werden gleich aufgezogen und gehalten wie die Wölfe des Zentrums. Der Unterschied zwischen Hunden und Wölfen zeigt sich bereits in der Begrüßung: immer stürmisch durch die Hunde, immer gemessen-freundlich durch die Wölfe.
Der Wolfsrüde Geronimo (re.) begrüßt die Eurasierhündin des Autors, Bolita, die alle Wölfe und Hunde des Wolfsforschungszentrums mit aufgezogen hat.
Die Mischlingshunde des Wolfsforschungszentrums Imara (li.) und Hiari mit beschwörendem Blick in Richtung Trainerin: Lass uns doch endlich was zusammen zu tun!
Typisch Hund: Layla, Panya und Pepeo (von vorne) in voller Konzentration auf ihre Trainerin.
Gemeinsam laufen ist höchst wichtig für Hunde (li. Hiari, re. Imara), Wölfe und auch Menschen.
Auch typisch Hund: Die Eurasierhündin Bolita, Sozial- und Arbeitsgefährtin des Autors, wachsam auf Ausguck.
Nochmals typisch Hund: die Mischlingshunde des Wolfsforschungszentrums Kilio (re.) und Maisha beim intensiven Erkunden des Teichufers.
Einer der Welpen der Eurasierhündin Bolita. Hundewelpen kommen schon früh in Kontakt mit den Dingen der Menschen. Ihr Gehirn ist viel geeigneter als das von Wolfswelpen, sich daran anzupassen.
Das Leben mit Hunden lehrte mich, dass es besser sein kann, von ihnen zu lernen als aus den Büchern alter weiser Männer. Dass ein Hund das soziale Klima in einer Schulklasse entscheidend verbesserte, überzeugte schon um das Jahr 2000, also in der „Steinzeit“ der Mensch-Hund-Forschung, den skeptischen Naturwissenschaftler in mir. Inzwischen zeigen immer mehr Forschungsergebnisse, dass sich ein Leben mit Hund vielfältig positiv auf das Wohlbefinden und die Gesundheit von Menschen auswirkt.
Zwei „Erweckungserfahrungen“ haben meinen Blick auf Hunde und meine Einstellung zu ihnen stark verändert. Das erste große Aha-Erlebnis hatte ich um das Jahr 2000, als unsere Arbeitsgruppe an der Universität Wien die Wirkung der Anwesenheit eines Hundes auf das soziale Klima in einer Grundschulklasse wissenschaftlich begleiten durfte. Das zweite nicht nur wissenschaftlich beeindruckende, sondern auch emotional beglückende Erlebnis war und ist der respektvolle und partnerschaftliche Umgang mit Wölfen und Hunden bei uns am Wolfs- und Hundeforschungszentrum Ernstbrunn, das ich seit seiner Gründung 2008 gemeinsam mit meinen Kolleginnen Friederike Range und Zsofia Virányi leite.
Natürlich wusste ich schon immer, dass Wissenschaft darin besteht, die richtigen Fragen zu stellen und den Dingen auf den Grund zu gehen. Gehandelt habe ich als junger Mann zunächst aber anders. Gerade in deutschsprachigen Landen wird von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen noch immer erwartet, gleichsam unfehlbar über die Dinge Bescheid zu wissen. Doch damit verlassen wir eigentlich den Boden der Wissenschaft: werden zu Ideologinnen und Predigern der eigenen Weisheiten. Ich denke, Neugierde und Zweifel sollen die Wissenschaft antreiben, nicht Gewissheiten und der Glaube, im Besitz der „Wahrheit“ zu sein.
Geprägt vor allem von den Büchern der „Hundeweisen“ Konrad Lorenz und Erik Zimen glaubte ich als junger Mann zu wissen, wie Hunde und Wölfe ticken. Darum ging ich an unsere ersten Familienhunde auch mit dem Selbstbewusstsein des „Wissenden“ heran, anstatt mich einfach auf die Beziehung als Partnerschaft einzulassen und auf diese Weise die Chance zu nutzen, vom Hund zu lernen. Diese Einsicht reifte erst viel später in mir: einerseits mit den ersten Hündinnen in unserem Haus, andererseits ganz entscheidend mit dem Aufziehen der ersten Wolfs- und Hundewelpen am Wolfsforschungszentrum. Aber der Reihe nach.
Ich selbst hatte nicht das Glück, mit Hunden aufzuwachsen – auch wenn trotzdem etwas aus mir geworden ist, wäre es doch spannend zu wissen, um wie viel besser ich meine geistigen, emotionalen und sozialen Fähigkeiten mit einem Hundegefährten hätte entwickeln können. Als 1978, gleichzeitig mit unserem ersten Kind Katharina, ein Welpe ins Haus kam, waren meiner Frau Rosemarie und mir die möglichen förderlichen Auswirkungen eines Hundes auf die Entwicklung von Kindern noch nicht bewusst. Katharina und mein zwei Jahre später geborener Sohn Alexander wuchsen zusammen mit Rolfi auf, einem großen, schwarzen und ebenso schlappohrigen wie kinder- und menschenliebenden Mischlingsrüden. Aus den zwei Kindern wurden auf beiden Beinen im Leben stehende, aus ihrer Mitte heraus agierende Personen.
Ich weiß heute nicht mehr, warum wir gleichzeitig mit dem ersten Baby einen Hund wollten. Vermutlich war eine Spur von klassischem Rollenbild im Spiel: der Frau „ihr“ Baby, dem Mann „seinen“ Hund. Ich studierte damals begeistert und recht aktiv Zoologie, insbesondere vergleichende Anatomie an der Universität Salzburg. Aber obwohl ich schon bald Assistent für Histologie war, also jemand, der totes Gewebe in dünne Scheiben schneidet, um es unter dem Mikroskop analysieren zu können, interessierte ich mich doch immer mehr für das Verhalten von lebenden Tieren (erst Jahre später wurde mir bewusst, dass natürlich auch Menschen zu den Tieren zählen …). Dieses Interesse ließ mich auch die verständlicheren Werke von Konrad Lorenz verschlingen, darunter „So kam der Mensch auf den Hund“ aus dem Jahr 1960, oder die Dissertation von Erik Zimen, der in Kiel beim Haustierforscher Wolf (!) Herre das Verhalten von in Gehegen gehaltenen Wölfen mit Pudeln und „Puwos“ verglichen hatte. Puwos sind Erst-und Zweitgeneration-Mischlinge zwischen Pudeln und Wölfen.
Zimen war der Frage nachgegangen, ob Hunde wirklich vom Wolf abstammen oder nicht vielleicht doch teilweise vom Goldschakal, wie Konrad Lorenz und andere damals noch meinten. Seine Ergebnisse, die mittlerweile von zahlreichen genetischen Untersuchungen bestätigt wurden, zeigten klar, dass Hunde von Wölfen abstammen. Schakale können mit Wölfen und Hunden zwar fruchtbare Mischlinge zeugen, aber in der Hundwerdung spielten sie offenbar keine Rolle. Konrad Lorenz gab seinen Irrtum später übrigens bereitwillig zu. Dennoch ist sein Büchlein auch heute noch eine erbauliche Lektüre. Und ein interessantes Zeitdokument über die zu jener Zeit sehr hierarchisch verstandene Beziehung zwischen Menschen und Hunden.
Von Anfang an war mein Interesse am Hund stark vom Schielen auf den Wolf motiviert und beeinflusst von den gängigen, ideologisch gefärbten Meinungen zum Unterschied zwischen Wolf und Hund. Heute sehen wir die Domestikation vom Wolf zum Hund als Anpassung des Wolfes an ein Leben mit uns. Dank des Vektors Mensch waren die Wölfe in Hundegestalt sogar überaus erfolgreich: Etwa 200 000 wild lebenden Wölfen in Eurasien und Nordamerika stehen heute etwa eine Milliarde Hunde auf vier Kontinenten gegenüber – aus evolutionärer Sicht ziemlich genial von den Wölfen, Menschen so erfolgreich für sich einzuspannen.
In den 1970er-Jahren dagegen betrachtete man domestizierte Tiere als genetisch, körperlich und vom Verhalten her degenerierte Versionen der Wildformen. Konrad Lorenz nannte dies in seiner drastischen Art „Verhausschweinung“. Er bezog auch den „selbstdomestizierten“ Zivilisationsmenschen als „Mängelwesen“ in dieses Konzept mit ein, in der Tradition von Arnold Gehlen, eines prominenten Vertreters der philosophischen Anthropologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und machte seine Ideen in dem 1973 erschienenen kulturpessimistischen Büchlein „Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit“ populär.
Vor dem Hintergrund dieser Uraltideen entwickelte sich unser Rolfi in meinen Augen allzu menschenfreundlich. Statt vermeintlich typisch wölfisches Erbe zu zeigen, wie „Manntreue“, „Distanz zu Fremden“ und „Tapferkeit“, lief Rolfi freundlich wedelnd auf alle Menschen zu. Das nervte mich – ich hielt seine „übertriebene“ Menschenfreundlichkeit für ziemlich degeneriert hündisch –, und ich glaubte, das arme Tier autoritär-dominant erziehen zu müssen, oft mit nicht gerade sanften Methoden.
Heute schreibe ich diese Zeilen fassungslos darüber, wie sehr die alten faschistischen Vorurteile zum Wesen des Wolfes damals für Wissen gehalten wurden – und auch darüber, dass nicht wenige das immer noch tun. Zu viel Konrad Lorenz kann also durchaus Schaden anrichten.
Andererseits verbrachten Rolfi und ich viel Zeit miteinander, und es entwickelte sich dann doch eine passable Partnerschaft zwischen uns. Zum Rest der Familie war seine Beziehung ohnehin immer ungetrübt, und nach Rolfis Tod litten wir alle „wie die Hunde“.
Aus mehreren Gründen dauerte es ein paar Jahre, bevor der nächste Welpe ins Haus kam: der Eurasier-Rüde Basko. Für die damals noch junge Rasse der Eurasier interessierten sich meine Frau und ich wegen ihrer Wolfsnähe. Eurasier sind Spitz-ähnliche Hunde, die vor etwa 50 Jahren durch die Kreuzung von Wolfsspitz, Chow-Chow und Samojeden entstanden. Genetisch gehören sie damit zur Gruppe der „wolfsähnlichen Hunde“.1
Würde ich an Gott glauben, hätte ich Basko vielleicht als gerechte Strafe für mein seltsames Verhältnis zum sanften Rolfi auffassen können. Wie Rolfi war Basko schwarz und bullig – doch in allem übrigen war er das genaue Gegenteil. Wir erlebten mit ihm die für Hunde nicht ganz untypische Mischung aus Sanftheit gegenüber der Familie und erheblicher Aggressionsbereitschaft gegenüber Fremden. Seinem Naturell nach ähnelte er unserem heutigen Wolfsrüden Kaspar am Wolfsforschungszentrum, der seine Alpha-Rolle immer besonders ernst nimmt, aber das konnte ich damals noch nicht wissen.
Basko war „immer im Dienst“ und gerierte sich als Reibebaum und „männlicher Rivale“. Zwei Machos in einer Familie – das konnte nicht gut gehen! Vor allem aber war Basko Genussbeißer: Er hatte es vorwiegend auf große, starke Männer abgesehen, verschonte aber auch Frauen nicht, wenn es ihm gerade in den Kram passte. Sein Schnappen nach ihm missliebigen Personen konnte spontan erfolgen oder lange geplant sein, kam immer ohne Vorwarnung, mit selbstbewusster Körperhaltung und blitzschnell. So ergriff er eine passende Gelegenheit, eine Nachbarin sehr unsanft am Ellenbogen zu packen, zwei Jahre, nachdem sie ihn als Welpen schreiend daran gehindert hatte, mit ihrem Hund zu spielen. Und wenn es ihm aufgrund unserer Vorsichtsmaßnahmen nicht gelang, sofort gegen männliche Gäste in unserem Haus vorzugehen: Irgendwann nach Stunden oder Tagen würde es gewiss eine Sicherheitslücke geben …
Jegliche erzieherischen Versuche, gegen diese Eigenart anzugehen, verliefen erfolglos. Zu Kindern dagegen war Basko immer sanft und duldsam. Hunden gegenüber trat er selbstbewusst und sozial kompetent auf und war stets erfolgreich im Deeskalieren brenzliger Situationen.
Erst als eine Hündin ins Haus kam, wurde Basko sanfter, und noch einmal mehr, als er mit fünf Jahren aus medizinischen Gründen kastriert werden musste. Bis zu seinem Herzinfarkt mit zwölf Jahren (das kommt vom übersteigerten Pflichtbewusstsein!) blieb er jedoch ein unbestechlicher und absolut verlässlicher Wächter von Haus oder Auto.
Durch einschlägiges Werkstudium und eigene Erfahrungen glaubte ich um die Jahrtausendwende, gut über Hunde Bescheid zu wissen. Seit 1990 leitete ich als Professor an der Uni Wien die Konrad Lorenz Forschungsstelle in Grünau, wo wir tief in die Mechanismen des sozialen Zusammenlebens bei Graugänsen, Raben und Waldrappen vorgedrungen und zu der Einsicht gelangt waren, dass Vögel und Säugetiere in ihrem Sozialleben recht ähnlich ticken.2 Dies beflügelte unser Interesse an der Mensch-Tier-Beziehung, dieser seltsamen Beziehungskiste zwischen Menschen und ihren Hunden, Katzen oder Pferden. Unsere Grundannahme war schon damals, dass die Beziehung zu Kumpantieren oder auch zu anderen Menschen auf ganz ähnlichen Mechanismen des Gehirns und der Physiologie beruht, und zwar sowohl bei Menschen wie anderen Tieren. Es wurde immer klarer, dass die Beziehung zu Hund, Katz & Co. ganz normale Sozialbeziehungen sind, nicht nur „so etwas Ähnliches“ wie eine Beziehung. Wir sollten damit weitgehend recht behalten.
Im Jahr 1999 trat das Institut für die interdisziplinäre Erforschung der Mensch-Tier-Beziehung IEMT Österreich an uns heran: In einer Grundschulklasse im 22. Wiener Gemeindebezirk sollte es einen Versuch mit der Anwesenheit eines Hundes geben. Ob wir den wissenschaftlich begleiten könnten?
Das Experiment wurde im Grunde nicht aus wissenschaftlichem Interesse geboren, sondern entsprang dem Wunsch einer Lehrerin, ihre beiden Hunde nicht alleine zu Hause lassen zu müssen, während sie unterrichtete. Dass sich die Wissenschaft hier opportunistisch anschloss, ist ein nicht unüblicher Vorgang bei der Untersuchung von Mensch-Tier-Beziehungen in Institutionen wie Schulen, betreuten Wohngemeinschaften oder Krankenanstalten, denn der Routinebetrieb an diesen Einrichtungen darf durch Forschung nicht beeinträchtigt werden.