Ein Urban-Fantasy-Roman
Herausgegeben von
Sarah Meyer-Dietrich und Sascha Pranschke
Der Roman entstand im Rahmen des Projekts »Das Erbe der Flussgeister«, das sich als Teil der Projektfamilie »FlussLandStadt. Eure Heimat – euer Roman« versteht. Ermöglicht wird es durch Mittel des Ministeriums für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr des Landes NRW sowie durch Partner vor Ort, die Räumlichkeiten und Referenten zur Verfügung stellen: Consol Theater, Initiativkreis Bergwerk Consolidation e.V., »werkstatt« in Gelsenkirchen-Buer, Stadtbücherei Bochum, Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur.
FlussLandStadt. Eure Heimat – euer Roman
Die Projektfamilie »FlussLandStadt. Eure Heimat – euer Roman« ist eine Kooperation des Friedrich-Bödecker-Kreises NRW und jugendstil - dem kinder- und jugendliteraturzentrum nrw mit der Emschergenossenschaft.
In das Buch flossen außerdem Ergebnisse der Projekte »Carls Erbe« (in Kooperation mit der Zeche Carl), »Hammer Vielfalt« (ein Projekt der Stadtteilpartner »HaRiHo« – in Trägerschaft der Falken Bochum) und der Fachtagung der UNESCO-Projektschulen mit ein.
Die Fachtagung der UNESCO-Projektschulen fand in Essen statt.
Carls Erbe ist Teil von »Kunst schafft Stadt«, einem Projekt der Auf Carl gGmbH, das im Rahmen der dreijährigen Konzeptförderung für Soziokulturelle Zentren in NRW vom Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen gefördert wird.
Hammer Vielfalt wurde gefördert aus Mitteln der Robert Bosch Stiftung und durch eine Spende des SPD Ortsvereins Bochum-Hamme, die aus der Tombola und den gespendeten Künstlergagen des Stadtteilfestes »Hammer Treff« finanziert wurde.
Gefördert von:
Projektteam
Projektleitung | Dr. Sarah Meyer-Dietrich |
Wissenschaftliche Leitung und Beratung | Prof. Dr. Martina Oldengott |
Werkstattleitung/Lektorat | Sascha Pranschke, Sarah Meyer-Dietrich |
Impressum
Sarah Meyer-Dietrich, Sascha Pranschke, Hg.
Emschererwachen. Ein Urban-Fantasy-Roman
1. Auflage September 2015
Satz und Gestaltung | Heike Amthor | Klartext Verlag |
Umschlaggestaltung | Volker Pecher, Essen |
Umschlagfoto | Frank Vinken, |
Fotos | Frank Vinken, Timo Malers |
Zeichnung | Benjamin Bäder |
ISBN 978-3-8375-1424-7
ISBN ePUB 978-3-8375-1605-0
Alle Rechte der Verbreitung, einschließlich der Bearbeitung für Film, Funk, Fernsehen, CD-ROM, der Übersetzung, Fotokopie und des auszugsweisen Nachdrucks und Gebrauchs im In- und Ausland sind geschützt.
© Klartext Verlag, Essen 2015
www.klartext-verlag.de
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://www.dnb.de abrufbar.
Wenn 2018 die letzte Zeche im Ruhrgebiet schließt, geht ein wichtiges Kapitel in der Geschichte der Emscherregion zu Ende. Doch schon lange vorher hat der Prozess des Vergessens begonnen. Bereits 2013 stellten wir in einem unserer Schreibprojekte mit Jugendlichen fest, dass selbst Begriffe wie »unter Tage« und »über Tage« nicht mehr selbstverständlich im Sprachgebrauch der Heranwachsenden vertreten sind. Sie sind erklärungsbedürftig geworden, seit das Leben im Emschertal nicht mehr unmittelbar von der Schwerindustrie gekennzeichnet ist, seit Zechen, Kokereien und Stahlwerke nicht mehr die Dreh- und Angelpunkte des Alltags hier darstellen.
Erklärungsbedürftig wird aber auch die Landschaft des gesamten Emschergebietes, die so maßgeblich durch die Montanindustrie gestaltet wurde, dass sie ohne gewisse Hintergrundkenntnisse kaum mehr nachvollziehbar ist. Ein Flusssystem, das in ein Betonbett gezwängt wurde. Stadtteile, die rund um Industrieanlagen entstanden und nach dem Wegfallen dieser Bezugspunkte plötzlich plan- und strukturlos anmuten. Die dichte Siedlungsstruktur der Region, in der Stadtgrenzen kaum wahrnehmbar sind. All diese Phänomene sind der montanindustriellen Vergangenheit der Region geschuldet.
Umso wichtiger ist es für heutige Jugendliche und kommende Generationen, um diese Hintergründe zu wissen. Ein Verständnis des eigenen kulturellen Erbes – wozu eben auch die industrielle Vergangenheit und ihre sozialen und städtebaulichen Folgen gehören – sorgt nicht zuletzt für Identifikation mit der Region. Eine Vielzahl von Orten und Baudenkmälern, die es so nur im Emschertal gibt, zeugen von dieser Vergangenheit – sei es eine offizielle UNESCO-Welterbestätte wie Zollverein oder seien es die vielen anderen Objekte, die mit ihrem individuellen Wert ebenfalls die Kriterien der Einzigartigkeit erfüllen und in jedem Falle „welterbewürdig“ sind – mit oder ohne Titel!
Einige spannende Orte haben die jungen Autoren dieses Buches im Rahmen des Projekts »Das Erbe der Flussgeister« besichtigt und erforscht. Allen voran: die Kokerei Hansa in Dortmund, das Bergwerk Consolidation in Gelsenkirchen, die Zechen Carolinenglück und Hannover mit dem Stadtteil Bochum-Hamme/ Hordel, der zwischen diesen Zechen und dem Stahlwerk des Bochumer Vereins mit der Jahrhunderthalle entstand. Außerdem, immer integriert, die Emscher und ihre Zuflüsse, die all diese Orte nicht nur geographisch verbinden. Stehen die historische Entwicklung der Emscher zum offenen Abwasserkanal sowie die jetzige Umgestaltung zum naturnah umgebauten Flusssystem durch die Emschergenossenschaft doch symbolisch für die Industriegeschichte und die postindustrielle Entwicklung des Ruhrgebiets.
Und da diese Orte nicht nur durch ein Flusssystem miteinander verbunden sind, sondern auch durch die Vergangenheit der hier lebenden Menschen, durch ihre Familiengeschichten, die nicht selten Einwanderungsgeschichten sind, liegt es nahe, gemeinsam und städteübergreifend Geschichten zu erfinden – Geschichten, die von der Einzigartigkeit dieser Region und von der historischen Bedeutung ihrer Denkmäler erzählen, die aber nicht weniger die aktuelle Lebenswelt von Jugendlichen und die Herausforderungen an der Schwelle des Erwachsenwerdens thematisieren. Seit 2013 erreichen wir das in den Schreibwerkstätten der Projektfamilie »FlussLandStadt. Eure Heimat – euer Roman.« Den fünften Band dieser Reihe halten Sie nun in Ihren Händen.1
33 Autoren zwischen 12 und 18 Jahren haben an diesem Roman mitgeschrieben und sich dabei die Geschichte wie einen Staffelstab von einer Stadt zur nächsten weitergereicht, an der Entwicklung der Vorgeschichte hatten ebenfalls bereits rund 20 Jugendliche mitgewirkt (Projekte: »Carls Erbe« und »Hammer Vielfalt«, Workshop im Rahmen der Fachtagung der UNESCO-Projektschulen). Die jeweils fünftägigen Workshop-Wochen des Projekts »Das Erbe der Flussgeister« begannen mit Exkursionen an unverwechselbare Orte der Industriegeschichte und Vorträgen von Experten, die stets die Bedeutung dieser historischen Stätten für die soziale und städtebauliche Entwicklung der Region in den Mittelpunkt stellten – eine Entwicklung, die bis heute andauert, wie etwa die Umgestaltung der Emscher vom oberirdischen Abwasserkanal zu einem naturnahen Fluss zeigt.
Die Emscher und ihre mehrfache Veränderung durch den Menschen spielt nicht zuletzt deshalb auch eine zentrale Rolle in diesem Roman. Wir durften erleben, wie inspirierend dieser Fluss und seine Entwicklung – neben den Geschichten rund um die großen Industrieanlagen – auf unsere jungen Autorinnen und Autoren wirkte: Die bei den Exkursionen und Vorträgen gewonnenen Informationen verbanden sie mit typischen Problemen heutiger Teenager bzw. junger Erwachsener und einem in dieser Altersgruppe ausgeprägten Faible für Fantasy-Literatur. Herausgekommen ist ein Urban-Fantasy-Roman, in dem nicht nur die Emscher zu neuem Leben erwacht, sondern auch vermeintlich tote und beinahe vergessene Bewohner der Region. Mit ihnen ersteht auch die Vergangenheit der Region wieder auf. Und so erschrieben die Autoren sich einen Teil ihrer Vergangenheit und schufen selbst einen Beitrag zum Erhalt – und zum Verständnis – des kulturellen Erbes im Emschertal. Perspektivisch blickten sie dabei auch in ihre Zukunft und in die Zukunft der Region.
Und weil die jungen Protagonisten auch ohne Besuch von Geistern und Feen aus der Vergangenheit schon mehr als genug Probleme haben, lassen Verwicklungen und Gefahren nicht lange auf sich warten.
Aber lesen Sie selbst!
Prof. Dr. Martina Oldengott (Emschergenossenschaft)
Sarah Meyer-Dietrich und Sascha Pranschke
1 Bereits erschienen: »Stromabwärts. Ein Emscher-Roadmovie« (2013), »Grenzgänger. Ein Ruhrpott-Roadmovie« (2014), »Neben der Spur. Ein Dülmen-Thriller« (2015), »Endstation Emscher. Zwei Hellweg-Krimis« (2015), alle im Klartext Verlag, Essen.
Sie sind mir zur Qual geworden, die wolkenlosen Sommertage. An denen ich halb austrockne und den Gestank des weltlichen Elends verbreite. An denen alles zäher fließt, sich der Stahl meiner Brücken aufheizt und ich gleißend daliege. In meinem Betonbett, gesäumt von kargen Wiesen.
Sie sind mir zur Qual geworden. Diese wolkenlosen Tage.
Noch einmal versuche ich, das Blau des Himmels zu reflektieren.
Scheitere. Erfolglos.
Ich habe mich noch nicht ganz damit abgefunden, glanzlos zu sein. Erwarte noch immer die lachenden Kinder, die mal an meinen Ufern spielten.
Nur langsam schwindet mein vermessener Stolz, der einstmals doch so richtig schien.
Es ist lange her, dass ich ein Fluss war. Die idyllische Berne, die ihr Wasser der klaren Emscher zuführte. Bilder der Vergangenheit.
Die Menschen kamen und ihre Visionen mit ihnen. Wie hätte ich denn wissen können, dass gerade ich den Preis für ihre Träume zahlen würde?
Ich floss nur vor mich hin und staunte.
Staunte, als sie die Erde aufbrachen.
Staunte, als sie den Himmel verdunkelten.
Staunte, als sie ihre Werkzeuge brachten.
Der Schmerz kam mit den Maßnahmen. Ich wurde begradigt, erhöht, vertieft. Ich wurde ganz entfremdet. Und schließlich in Beton gefasst. Dieses Bett wurde zur Fessel.
Heute bin ich eine Kloake. Abbild für die Kehrseite der Zivilisation. Braun gefärbt von Dreck und Scheiße. Die Ophelia der Gewässer im Klopapierballkleid. In mir ist all der Abfall, der übrig bleibt, wenn das Gute vom Ursprünglichen getrennt und verlebt wird.
Und an so ganz und gar wolkenlosen Tagen wie heute, wenn die Hitze das Wasser dem Bachbett entwendet, trockne ich halb aus und verbreite den Gestank des weltlichen Elends. Dann denke ich zurück an meine Zeit als Fluss.
Und träume von der Wiederkehr.
»Ach herrje, herrjemine, was ist hier bloß geschehen?
So schrecklich, scheußlich dieser Ort. Trau mich kaum noch hinzusehen.
Einst war’s so friedlich, schön und klar,
doch jetzt ist nichts mehr, wie es war.
Nur die Hoffnung ist geblieben,
dass irgendwann,
glaub nicht mehr lang,
ich werd den Fluss wieder von Herzen lieben.«
So lauten die Worte, die der Emscherfee Lucy über die Lippen kommen, als sie traurig in das trübe Wasser der Berne schaut.
»Hoffnung?«, ertönt es da plötzlich laut aus dem Nichts. Es ist Raphael, ein Elf der Emscher und Lucys Freund, der diese Sätze gesprochen hat und jetzt an der Böschung auftaucht.
»Raphael, bist du mir gefolgt?«, fragt Lucy.
»Nur dem Klang deiner Stimme!«, sagt Raphael und fährt dann reimend fort:
»Lucy, oh, Lucy, du kannst es nicht lassen,
es wird langsam Zeit, dir ein Herz zu fassen.
Au revoir zu sagen,
nicht mehr zu klagen,
Hoffnung zu spenden
und sich den wichtigen Dingen zuzuwenden.«
»Was gibt es Wichtigeres, mein Freund, als unsere Flüsse?«, entgegnet Lucy und dann wieder reimend:
»Die Emscher, sie ist unser Heim,
Verschmutzung darf nicht länger sein,
hast du denn schon jetzt vergessen,
wie wir damals hier gesessen,
so glücklich, sorglos, alle lachten, und wie viel Zeit wir hier verbrachten?«
Und wieder antwortet Raphael in Versen:
»Vergessen? Nein, das kann ich nicht!
Wie der Fluss reflektierte das helle Licht,
und wie sich deine bezaubernden Flügel im Wasser spiegelten,
und wie wir für immer unsere Freundschaft besiegelten.«
Jetzt muss Lucy lachen: »Bezaubernde Flügel! Übertreib mal nicht, Raphael!«
Raphael hat Lucy doch noch gar nicht gekannt, als sie noch Feenflügel besaß. Denn die hat Lucy, genau wie alle anderen Emscherfeen und Emscherelfen, schon vor langer Zeit verloren. Die Verschmutzung der Emscher und ihrer Nebenflüsse war daran schuld.
Lucy und Raphael haben sich erst sehr viel später kennengelernt, als Lucy schon längst keine Flügel mehr hatte. Vor zwei Jahren im Kaisergarten in Oberhausen.2 Dort hatte es Lucy, die eigentlich aus Dortmund kommt, immer wieder hingezogen. Dort sammelte sie neue Kräfte. Am letzten natürlichen, sauberen Arm der Emscher.
Von Raphael hat Lucy erfahren, dass sie nicht allein ist. Es gibt sie noch, die Feen und Elfen, die einst die Region besiedelten. Nur haben sie sich zurückgezogen, eine andere Form des Überlebens gesucht. Viele haben sich, geschwächt und ohne Hoffnung, zu Stein verwandelt.
Auf der Suche nach all ihren Artgenossen, denen aus Stein und denen aus Fleisch und Blut, sind Raphael und Lucy nun. Um ihnen Hoffnung zu bringen. Denn sie wissen, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis die Emscher und ihre Nebenflüsse wieder aussehen wie einst.
Unterwegs vertreiben sie sich manchmal die Zeit, indem sie Reime erfinden über das, was bald der Vergangenheit angehören wird: die Klagen der Elfen und Feen über die verschmutzte Emscher. Reime, die sie sammeln und bewahren. Denn, so findet Lucy, auch wenn es keine schöne Zeit ist, muss man sich trotzdem daran erinnern. Ist sie doch ein wichtiger Teil der Geschichte ihres Volkes.
2 Wenn ihr nachlesen möchtet, wie Lucy und Raphael sich in Oberhausen kennengelernt haben, könnt ihr das im Band »Stromabwärts. Ein Emscher-Roadmovie« (Klartext Verlag 2013) tun.
»Was machst du denn noch hier? Verschwinde endlich!« Ein Typ steht mit hochrotem Kopf vor mir. Der Wirt der Kneipe, in der ich gestern mein Absackerbier getrunken habe, dämmert es mir. Lukas, Lukas, was ist bloß los mit dir, höre ich Nikkis besorgte Stimme in meinem Kopf. Nicht jetzt, Nikki, denke ich und schiebe den Gedanken an meine Mitbewohnerin ganz weit weg.
Der Kneipenwirt steht immer noch vor mir, die Hände in die Hüften gestützt, und schaut mich erwartungsvoll an.
Ich versuche mich hochzurappeln. Beim Aufstehen schwanke ich, mein Kopf dröhnt, neben mir steht eine überfüllte Mülltonne – offenbar mein Bett der letzten Nacht.
Ich blicke den Wirt grinsend an: »Ich trenn bloß den Müll, sieht man das nicht?«
Der Wirt schüttelt den Kopf und geht.
Meine Klamotten sind verdreckt und ich stinke nach Schweiß und Bier. Eine gelungene Partynacht. Nach dem Auftritt meiner Band The Black Swaggies in der Zeche Carl bin ich noch auf ein paar Bier geblieben. Und dann mit Leuten, die ich gerade erst kennengelernt hatte, noch weiter in Essen um die Häuser gezogen. Wie ich dann schließlich im Müll landete? Pff, das weiß ich selber nicht mehr so genau. Eigentlich wollte ich ja nur eine rauchen. Bin wohl eingeschlafen. Kann passieren. Ist ja nicht das erste Mal. Orientierungslos stolpere ich aus dem Hinterhof. Wo genau bin ich hier eigentlich? Der Versuch, meine Gedanken zu ordnen, scheitert an einer Laterne, gegen die ich laufe.
Irgendwie schaffe ich es zur Bahnstation Altenessen Mitte. Sonntagmorgen kurz vor neun. Familien sind auf dem Weg zu Ausflügen. Zum Glück muss ich nicht lange warten, bis meine Linie kommt.
Kaum stehe ich in der Bahn, ruft jemand meinen Namen. Ich drehe mich um. Ein Typ, etwa in meinem Alter, grinst mich an: »Lukas! Lange nicht mehr gesehen.« Das Gesicht kenne ich doch.
»Erinnerst du dich an deinen Kumpel Jacob?«, fragt der Typ.
Es macht Klick. Jacob Bräuer aus meiner Grundschulklasse in Gelsenkirchen. Wir waren damals beste Freunde. Nach der Grundschule verloren wir uns schnell aus den Augen, weil wir auf unterschiedliche Schulen kamen.
»Jacob! Natürlich erinnere ich mich an dich! Wie geht’s dir denn? Was treibst du so? Wie läuft es mit den Frauen?« Ich grinse ihn an.
Er war immer schüchtern, hatte außer mir wenig Freunde und interessierte sich vor allem für die Schule, auch wenn er nicht gerade der Beste war. Im Gegensatz zu mir. Ich musste für die guten Noten nie viel tun.
»Du, Zeit für Frauen gibt es bei mir leider wenig«, sagt Jacob. »Ich studiere jetzt in Essen Medizin. Studierst du auch, oder hast du schon einen richtigen Job?«
Einen richtigen Job? Was will er denn damit sagen? Hauptsache, überhaupt einen Job, oder nicht?
»Och, ich arbeite so hier und da. Festlegen will ich mich noch gar nicht«, antworte ich ihm fast patzig. »Bin ja noch jung. Ich will Spaß und feiern!«
Jacob mustert mich von oben bis unten. Irgendwie abwertend. Aber dann grinst er und fragt: »Woher hast du eigentlich das blaue Auge?«
Wahrscheinlich schaue ich ziemlich blöd in diesem Moment. Woher ich das blaue Auge habe? Ich weiß es nicht. Wusste ja noch nicht mal, dass ich ein blaues Auge hab … Vielleicht war es doch zu viel Alkohol.
»Ist ja auch egal«, sagt Jacob und ich kann seinem Blick nicht so recht entnehmen, was er jetzt über mich denkt.
»Ich muss die nächste raus«, sagt er.
»Wieso wohnst du denn in Gelsenkirchen, wenn du in Essen studierst?«, frage ich.
»Tu ich gar nicht. Wollte nur meine Eltern besuchen. Sonntagsfrühstück.« Er verdreht die Augen. »Und du? Wo wohnst du?«
»Egonstraße, Gelsenkirchen-Hassel«, sage ich.
»Na dann, war schön dich wiederzusehen, Lukas. Vielleicht komm ich dich mal besuchen«, sagt er. Und: »Hast mir gefehlt.« Dann steigt er aus der Bahn.
Wenig später muss auch ich aussteigen. Unterwegs laufe ich an der Emscher entlang. Früher bin ich die Strecke von hier nach Essen und zurück oft mit dem Fahrrad gefahren. Früher war ich überhaupt dauernd mit dem Rad unterwegs. Früher.
Die Emscher sieht auch so aus, als hätte sie keine Kraft und keine Ahnung mehr, was sie machen soll. Die Emscher hat sich genauso verändert wie die Menschen. Besser gesagt: wie ich. Vor der Industrialisierung sah sie nicht so dreckig aus, hat mein Opa mir erzählt. Aber das ist so lange her, dass selbst er das nicht mehr miterlebt hat.
Mein Opa, der Bergmann. Der hat hart gearbeitet. Und ich?
Ich kicke einen Stein vor mir her.
Nicht festlegen, Spaß haben, feiern – ist das echt alles, was ich will? Mich mit verschiedenen Jobs über Wasser halten? Wut steigt in mir auf. Wut auf mich selbst. Darüber, dass ich mich so hängen lasse. Aber was soll ich auch groß machen?
Nikki ist da ganz anders. Weiß genau, was sie will. Sie ist die konsequenteste und interessanteste Person, die ich kenne. Wir sind immer füreinander da, sie wird mir bestimmt einen guten Rat geben. Hoffe ich zumindest, da ich in letzter Zeit nicht gerade der beste Freund war, immer nur am Partymachen. Ich hoffe, sie ist gleich zu Hause und nicht in …
Oh shit! Ich hab ganz vercheckt, dass heute Sonntag ist. Ich habe versprochen, dass wir zusammen frühstücken. Vielleicht kann ich unterwegs wenigstens noch Brötchen holen.
Ich gehe schnell, immer schneller, renne schon fast. Gegenläufig zum Strom der Emscher. Gegen den Strom – das passt zu meinem Leben.
Kurz bevor ich abbiegen muss, sehe ich wieder die große Baustelle an der Emscher. Da, wo jetzt Kanalröhren gebaut werden, um das Schmutzwasser unterirdisch abzuleiten. Damit die Emscher wieder sauber wird und naturnah umgebaut werden kann. Wenn es möglich ist, dass die Emscher von einer Kloake wieder in einen sauberen Fluss zurückgewandelt wird, dann muss doch auch ich es schaffen, mich zu ändern. Bloß: Wer will ich denn eigentlich sein?
Nikki sitzt in ihrer liebsten Aladinhose und mit einem süß riechenden Tee im Korbstuhl am Küchentisch. Sie blickt nachdenklich in die Tasse. Es ist neun Uhr an einem Sonntag. Lukas ist noch immer nicht zurück von seinem Konzert gestern Abend und so langsam macht Nikki sich Sorgen. Nicht der erste Sonntagmorgen in letzter Zeit, den Nikki so verbringt. Von ein paar kleinen Jobs mal abgesehen, macht Lukas schließlich nichts anderes als zu feiern, zu trinken und zu schlafen. Früher hat er auch schon gern gefeiert. Aber da war er sonntags trotzdem immer zum Frühstück wieder da.
Das gemütliche, ausgiebige Sonntagsfrühstück mit Lukas war oft eins der Highlights der Woche für Nikki. Das Rumalbern und Quatschen fehlt ihr. Sie kann nicht verstehen, dass Lukas das nicht fehlt. Er hat sich verändert. Seit einem Jahr verliert er immer mehr den Boden unter den Füßen. Nikki sitzt sonntags immer öfter allein am Frühstückstisch. Aber heute wollte er da sein. Das hat er versprochen.
Für sie ist unbegreiflich, warum Lukas nichts aus seinem Leben macht. Er hat doch so viele Möglichkeiten. Könnte zum Beispiel ein Freiwilliges Soziales Jahr machen oder sich einen richtigen Job suchen, wenn er schon nicht anfangen will zu studieren. Wenn er so weitermacht, wird er noch den Bach runtergehen, ohne es zu merken. Aber Nikki weiß einfach nicht, wie sie ihm helfen kann.
Dabei bedeutet er ihr doch so viel! Fast ein bisschen zu viel für einen besten Freund. Seine blonden Haare, die im Sonnenlicht bronzefarben schimmern, und seine blauen Augen, die grau gesprenkelt sind, wirken einfach so anziehend. Ach Mist! Diesen Gedanken verwirft sie lieber wieder ganz schnell. Bei zu vielen Freundinnen hat sie mitbekommen, dass wunderbare Freundschaften zerbrochen sind, nur weil plötzlich Liebe ins Spiel kam. Sie kann sich sowieso nicht vorstellen, dass Lukas mehr als Freundschaft für sie empfindet. Wäre doch absurd, wenn man bedenkt, wie gut er aussieht und wie viele Mädchen ihm hinterherschauen.
Sie muss sich dringend ablenken. Aber womit? Früher wäre sie mit Lukas spazieren gegangen oder hätte ihre Eltern in Spanien angerufen. Doch alleine spazieren gehen macht keinen Spaß und ihre Eltern würden sofort merken, dass nicht alles in Ordnung ist. Und dann müsste sie alles erzählen … Soll sie zu ihrer Freundin Eda fahren und mit ihr darüber sprechen? Die hat bestimmt keine Zeit, beschäftigt wie sie immer ist.
Vielleicht sollte Nikki einfach ein bisschen lesen. Aber in dem Buch, das sie zur Zeit liest, kommt auch ein Lukas vor. Das hilft ihr erst recht nicht, sich abzulenken. Mist! Mist! Mist! Am besten fängt sie schon mal an, für die nächste Prüfung zu lernen. Vielleicht sollte sie doch nach Essen in die Nähe der Uni ziehen. Für Lukas hier wohnen zu bleiben, den sie ja sowieso kaum noch zu Gesicht bekommt, lohnt sich doch fast nicht mehr.
In diesem Moment hört sie den Schlüssel im Schloss.
Lukas kommt herein. Eine Brötchentüte in der Hand. Seine Haare sind total zerstrubbelt, das eine Auge ist blau und er scheint sehr müde zu sein. Kein Wunder, wenn man erst morgens um halb zehn zu Hause ist.
»Lucy, da vorne ist einer von uns.« Mit diesen Worten zeigte Raphael auf die Berne.
Die beiden waren nun schon einige Tage stromaufwärts unterwegs. Immer auf der Suche nach Artgenossen, die den Wandel noch nicht mitbekommen hatten, der an der Emscher vor sich ging.
»Wo denn? Ich sehe gar nichts«, entgegnete Lucy. »Nur verdrecktes Wasser und benutztes Klopapier …«
»Hier irgendwo!« Raphael sprang ins Wasser, dass es nur so spritzte. »Ich kann den Stein singen hören.«
»Iiiih!« Lucy schrie auf, als ein Schwall Schmutzwasser sie traf. »Kannst du nicht aufpassen? Wegen dir bin ich ganz verdreckt von Bernewasser.«
»Stell dich nicht so an.« Raphael lachte.
Lucy zauberte sich den Dreck vom Leib. Zurück blieben reine Wassertropfen, die auf Lucys Haut und Kleidung abperlten und im Sonnenlicht funkelten. Sie wünschte, ihre Fähigkeiten wären stark genug, die ganze Berne wieder in einen sauberen Fluss zu verwandeln. Oder am besten sogar die ganze Emscher.
»Hörst du nicht das Singen, Lucy?« Raphael griff in das verdreckte Wasser, bekam zuerst etwas Glitschiges zu fassen und ließ es direkt wieder los. Er wollte lieber nicht wissen, was er da erwischt hatte. Beim zweiten Fühlen bekam er einen runden Stein zu fassen. Als er ihn aus dem Wasser hob, konnte auch Lucy das leise Singen hören.
Raphael freute sich: »Endlich einer unserer Artgenossen, Lucy!«
Lucy sprach ihren Zauber, mit dem sie den Stein zum Reden bringen konnte:
»Du Stein der Weisen,
oh, du Stein der Weisen,
sprich mit uns!
Rede mit uns!
Lass deine Stimme hören.«
Seit vielen Jahrzehnten liegt Amalia auf dem Grund der Berne. Das ewige Warten vertreibt sie sich mit dem Dichten von Liedern, die sie leise vor sich hin singt:
»Ich will leben! Ich will leben in meiner Traumwelt!
So, wie sie mir gefällt!
Am besten ohne Sorgen und ohne Geld.
Ich bin eine Fee, die keine Angst hat vor dem Tod
Ich gehe durch einen goldenen Meeresspiegel.
Und verwandle mich in einen Stein.«
Aber plötzlich passiert etwas.
Amalia fühlt nicht mehr das Wasser um sich her. Stattdessen schwebt sie in der Luft.
Was ist denn nur mit mir los, denkt Amalia müde. Wo bin ich?
Der Stein gähnte laut.
»Wie heißt du denn?«, fragte Lucy.
Verschlafen entgegnete der Stein: »Amalia.«
»Guten Morgen, Amalia. Das ist mein Freund Raphael und ich heiße Lucy.« »Schön und gut, aber warum weckt ihr mich? Ich möchte nicht zurück in diese grausame Welt.« Amalias Stimme klang hoffnungslos.
Raphael erwiderte: »Wir würden dich nicht wecken, wenn es keine guten Nachrichten gäbe. Wir suchen nach euch, die ihr euch in Stein verwandelt habt. Um euch zu bitten, euch zurückzuverwandeln und wieder mit uns in einer Gemeinschaft zu leben.«
»Leben?«, fragte Amalia zweifelnd. »Wo wollt ihr denn hier leben? Das ganze Flusssystem ist verseucht! Das sollen eure guten Nachrichten sein?«
Lucys Stimme klang schrill vor Aufregung: »Du irrst, Amalia! Stromaufwärts gibt es Hoffnung!«
Unendlich müde sagte Amalia: »Hoffnung … dieses Wort habe ich lange nicht mehr gehört.«
»Glaub uns doch!«, rief Lucy. »In Dortmund ist es sehr viel grüner geworden an den Ufern der Emscher und ihrer Bäche. Weite Teile sind wieder sauber. Viele Arten von Fischen leben dort.«
»Wirklich?«, fragte Amalia erstaunt. »Was für eine wunderbare Kreatur hat das vollbracht?«
»Die Menschen«, entgegnete Lucy. »Sie haben das Wunder vollbracht. Und sie arbeiten weiter daran, das Flusssystem umzubauen, um ihm seine natürliche Gestalt wiederzugeben.«
Amalia klang nun wütend: »Nein! Die Menschen doch nicht! Sie … sie sind doch an allem schuld! Wisst ihr nicht mehr, was sie uns angetan haben? Weil sie unsere Flüsse mit ihrer Industrialisierung verunreinigt haben. Und ihr kennt doch die Folgen! Unsere Flügel fielen aus, unsere Kraft wurde geschwächt, den meisten von uns blieb keine andere Wahl, als sich zurückzuziehen und in Stein zu verwandeln.«
Jetzt mischte Raphael sich beschwichtigend ein: »Die Menschen sind nicht mehr wie früher, Amalia. Sie haben sich verändert. Sie haben ein Bewusstsein für die Natur bekommen.«
»Das glaubt ihr doch selber nicht«, rief Amalia aus. »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm! Ihre Kinder und Kindeskinder sind bestimmt nicht besser als die Menschen damals!«
»Wir sind unterwegs zur Quelle. Folge uns doch!«, schlug Raphael vor. »Dann kannst du dich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass wir nicht lügen.«
Müde erwiderte Amalia: »Nein, ich will weiter in meiner Traumwelt leben. Weil ich da meine eigene Herrin bin. Genau deshalb habe ich mich in Stein verwandelt. Weil die Hoffnung gestorben war. Weil ich einsehen musste, wie machtlos ich den Menschen gegenüber bin.«
»Amalia, komm doch bitte mit uns!«, flehte Lucy. »Die Hoffnung ist nicht tot.«
»Nein!«, sagte Amalia mit fester Stimme. Dann rollte der Stein von Raphaels Händen und landete mit einem kräftigen »Plops« wieder in der verdreckten Brühe.
Raphael und Lucy wechselten ratlose Blicke, während Amalia im Bernewasser wieder ihr trauriges Lied anstimmte.
»Wo warst du denn wieder?«, fragt Nikki besorgt und etwas vorwurfsvoll, während sie Lukas Kaffee eingießt.
Frisch geduscht sitzt er Nikki gegenüber am Küchentisch. »Ich hab nur ein bisschen viel getrunken nach dem Konzert. Mehr nicht.«
»Was ist nur los mit dir, wieso tust du dir das an?«, will Nikki wissen. »Ach, ich tu mir gar nix an«, entgegnet Lukas schroff.
»Doch, tust du!«, widerspricht Nikki. »Du feierst ständig und kommst betrunken nach Hause. Wo hast du überhaupt geschlafen?«
»Das kann mal passieren, reg dich wieder ab.« Lukas beginnt, sich ein Brötchen zu schmieren und ignoriert Nikkis Frage.
»Ach Lukas, willst du nicht irgendwann etwas anderes werden als Möchtegern-Rockstar? Vielleicht wäre ein Ausbildung oder ein Studienplatz gut. Du hast doch früher Führungen in der Zeche Zollverein gemacht.3 Das hat dich doch auch interessiert!«
»Ja, hat es«, entgegnet Lukas kurz angebunden.
»Was ist eigentlich mit deinem Auge passiert?«, bohrt Nikki jetzt nach.
»Ähm, ich glaube, ich hab mich mit irgendwem gestritten«, weicht Lukas aus.
»Du glaubst? Mit irgendwem?« Nikki ist fassungslos.
»Ach, vergiss es doch einfach!« Lukas nimmt das Brötchen, das er geschmiert hat, in die eine, die Kaffeetasse in die andere Hand und geht aus der Küche.
Nikki folgt ihm in sein Zimmer: »Okay, okay, ich versuch, dich nicht zu nerven. Ich mach mir doch nur Sorgen.«
»Brauchst du nicht, ich kann schon auf mich selbst aufpassen.«
»Um das Thema zu wechseln, wie war das Konzert?«, lenkt Nikki ein.
»Es war okay. Wir haben auch gleich eine Anfrage für einen neuen Gig bekommen.«
»Cool!« Nikki lächelt. Dann schaut sie sich um. »Und deine Gitarre? Hast du die verkauft?«
»Oh shit!«, ruft Lukas, »die hab ich total vergessen. Muss noch in der Zeche stehen.«
»Fahr zurück nach Essen«, schlägt Nikki vor. »Vielleicht kann dir jemand aufschließen.«
3 Eine Führung, die Lukas auf dem Areal der Zeche Zollverein mit einer Schulklasse durchführte, endete für ihn, zwei der Schüler und einen Lehrer beinahe tödlich. Nachzulesen in der Erzählung »Picknick im Park« (Klartext Verlag 2014).
Meine Lunge brennt … ich habe kaum noch Kraft … ich muss durchhalten! Sie jagen mich … Sie? Wer denn überhaupt? Ich wage es nicht mich umzudrehen, sie sind mir zu dicht auf den Fersen …
Emil-Heinrich Pottgießer hetzt durch den düsteren Wald. Gefolgt von den Schatten unbekannter Jäger. Gefolgt von ihren seltsamen Rufen. Er kann kaum noch, aber er läuft weiter, in der Hoffnung, ihnen zu entkommen. Das einzige Licht, das ihn durch die Dunkelheit führt, ist der schwache weiße Schein des Mondes, der die schwarze Decke der Äste hier und da durchbricht.
Sind sie noch hinter mir her? Ja, ich höre noch immer ihr Rufen. Wo soll ich bloß hin? Ich muss weg. Auf keinen Fall dürfen sie meine kostbaren Pläne in die Finger kriegen. Denn warum sonst sollten sie hinter mir her sein, wenn nicht dieser Pläne wegen.
Die Berne muss ganz in der Nähe sein. Ich kann das Plätschern des lieblichen Baches hören. Vielleicht kann ich mich da …
Ein Sirren in der Luft. Ein stechender Schmerz, den Emil im Rücken verspürt. Dann plötzliche Stille. Ihm wird schwarz vor Augen. Und viel zu kalt für diese laue Sommernacht …
Mann, diese Feierei bringt mich noch um, dachte ich. In der Bahn nach Altenessen Mitte schauten mich alle blöd an. Der Platz neben mir blieb leer. Wahrscheinlich hatte ich eine totale Fahne. Oh mein Gott, wie peinlich! Hätte ich bloß meine Gitarre nicht in der Zeche Carl vergessen. Dann könnte ich jetzt gemütlich in meinem Bett liegen und …
»Oh shit!« Ich musste wohl eingeschlafen sein. Dabei hatte ich doch nur ganz kurz die Augen zugemacht. Altenessen Bahnhof statt Altenessen Mitte, zwei Haltestellen zu spät, verließ ich hektisch die Bahn und knallte dabei gegen einen Mann, der gerade einsteigen wollte. »Pass doch auf, du Penner!«, schrie er mich an.
Ich verkniff mir eine Antwort. Hatte auch keine Lust, auf die Bahn in die Gegenrichtung zu warten. Die paar Meter würde ich laufen. Ohnehin konnte ich etwas frische Luft gut vertragen. Ich lief also los Richtung Zeche Carl.
Wieder musste ich an meinen Opa denken, der in Essen als Bergmann gearbeitet hatte. Wenn ich als kleiner Junge traurig war, hatte er gesagt: Macht dir das Leben Ärger, dann pfeif ihm was. Dann hatte er ein lustiges Lied gepfiffen und ich meinen Kummer immer ganz schnell vergessen.
Okay, Opa, dachte ich und fing an »Don’t worry, be happy« zu pfeifen. Tatsächlich ging es mir schon viel besser. Ich pfiff immer lauter. Jetzt war mir egal, ob die Leute mich blöd anschauten. Sollten sie doch.
Aber als ich an eine Bernebrücke kam und in die dreckige Brühe schaute, fielen mir meine Gedanken von heute morgen an der Emscher wieder ein. Schlagartig ging es mir wieder schlecht. Mein Leben verdreckte genauso wie dieses Flusssystem. Früher noch sauber und schön, jetzt verdreckt und hässlich. Eigentlich gab es keinen großen Unterschied zwischen diesem Fluss und meinem Leben.
Vielleicht hatte Nikki recht. Ich musste was aus meinem Leben machen. So ging es nicht mehr weiter.
Wann hatte das angefangen, dass ich mein Leben nicht mehr im Griff hatte? Ich wusste nur zu gut, wann es begonnen hatte. Ich wusste es, wollte aber nicht daran denken. Wollte endlich vergessen, was letzten Sommer passiert war.
Ich starrte in den trüben Fluss.
Plötzlich tauchte eine menschliche Gestalt daraus auf. Die Gestalt schaute auf und sah mir direkt ins Gesicht. Ich erschrak. Die gleichen blonden Haare und blauen, grau gesprenkelten Augen, sogar die Sommersprossen … Das war ich! Die Gestalt dort unten in der Berne war ich!
Ich rieb mir die Augen: Sah ich das wirklich, oder lag es am Restalkohol? Wurde ich jetzt völlig irre? Was für ein missglückter Tag: der schimpfende Wirt, der Streit mit Nikki, die Leute in der Bahn, die verpassten Haltestellen, der Mann, der mich Penner nannte … und jetzt dieser Typ dort unten im Fluss. Das konnte doch alles nicht wahr sein!
Langsam kletterte die Gestalt die Böschung herauf.
Panik breitete sich in mir aus. Panik, die ich nur zu gut kannte. Ich rannte los. Rannte um mein Leben. Ich rannte und rannte …
Emil öffnete die Augen und stutzte.
Was ist passiert? Warum bin ich im Wasser?
Er erhob sich und schaute verwirrt nach oben. Über ihm, auf der Brücke, stand ein junger Mann. Der sieht doch genau aus wie ich! Doch bevor Emil sich noch fragen konnte, wer der seltsame Doppelgänger sei, rannte dieser weg.
Emil eilte die Böschung hoch, aber er verstand das alles nicht. Warum bin ich hier? Was mache ich in diesem verschmutzten Betonbecken? Und wer zum Geier ist dieser andere junge Mann? Als er oben ankam, verflogen bis aufs Erste all diese Fragen. So sehr verschlug ihm das, was er dort sah, die Sprache.
Vor Emil erstreckt sich eine unendlich lange, asphaltierte Straße. Die Sonne scheint auf ihn nieder, aber er spürt keine Wärme.
Hinter sich hört Emil ein wütendes, brummendes Grollen. Er dreht sich um und erblickt entsetzt ein monstergleiches Ungetüm. Es rast auf ihn zu. Seine Schnauze glänzt silbrig in der Sonne, die Augen schimmern gefährlich orange, fixieren ihn, es knurrt ihn bedrohlich an. Seine vier Beine sehen aus wie … Räder?!
Ehe Emil einen klaren Gedanken fassen kann, galoppiert es durch ihn hindurch.
Emil stockt der Atem.
Es ist durch mich hindurchgaloppiert! Wie kann das sein?! Und was war das? Es sah aus wie eine Kutsche für den Adel, nur ohne Pferde, die die Kutsche ziehen. Aber wie kann es sich von alleine bewegen?!