Die vielen Lutherbilder und der fremde Luther
Es gibt nur wenige historische Persönlichkeiten, die in der Erinnerung auch noch nach 500 Jahren Freund wie Feind geradezu magnetisch anziehen wie Martin Luther. Dabei hat sich das Bild, das man sich im Laufe von 500 Jahren von Martin Luther machte, vielfach gewandelt: Luther als Reformator, Luther als Kirchenvater des Protestantismus, Luther als Vorkämpfer für Vernunft und Freiheit, Luther als tapferer deutscher Nationalheld und viele andere. Man hat schon gesagt: Es gibt so viele Lutherbilder wie es Lutherbücher gibt.1
Für Katholiken war Luther lange Zeit der Häretiker schlechthin, der die Schuld an der Spaltung der abendländischen Kirche trägt, mit allen ihren schlimmen Folgen bis heute. Diese Zeiten sind insgesamt vorbei. Die katholische Lutherforschung des 20. Jahrhunderts brachte eine bedeutsame Wende im Verständnis Luthers; sie führte zur Anerkennung des genuin religiösen Anliegens Luthers, zu einem gerechteren Urteil über die Schuld an der Kirchenspaltung und im Zeichen der Ökumene zur Rezeption mancher seiner Einsichten und nicht zuletzt seiner Kirchenlieder.2 Die letzten Päpste haben sich dieser Sicht angeschlossen, zuletzt Papst Benedikt am 23. September 2011 bei seinem Besuch im Kapitelsaal des Augustinerklosters in Erfurt, wo Luther seine Ordensgelübde ablegte. Für manche ist Luther schon fast zu einem gemeinsamen Kirchenvater geworden.
Die zahlreichen Stellungnahmen, die zum Jahr »2017 – 500 Jahre Reformation« erschienen sind, gehen nicht so weit. Sie tragen alle dem Wandel in der ökumenischen Wahrnehmung Luthers Rechnung, aber sie sagen auch, dass zwischen den Kirchen nach wie vor kontroverse Fragen im Raum stehen.3 So erwarten viele Christen zu Recht, dass das Gedenken von 500 Jahren Reformation im Jahr 2017 uns ökumenisch einen Schritt dem Ziel der Einheit näherbringen werde. Wir dürfen diese Erwartung nicht enttäuschen.
Luther selbst war kein Ökumeniker. Gegen Ende seines Lebens hat er eine Einigung mit Rom nicht mehr für möglich gehalten. Dass heute katholische Christen in ihren Gottesdiensten seine Kirchenlieder singen, konnte er sich wohl kaum vorstellen, ebenso wenig unseren Dialog mit den Juden, über die er sich in einer für uns hochpeinlichen Weise abfällig äußerte, nicht unseren Dialog mit Muslimen, denen er sich in den Schriften gegen die Türken auch nicht gerade günstig gesinnt zeigte, und nicht unseren Dialog mit den Täufern, heute mit den Baptisten und Mennoniten, die damals von Evangelischen wie von Katholischen verfolgt wurden.
Die Fremdheit geht noch tiefer. Heute sind vielen, auch vielen praktizierenden Christen beider Kirchen, die von Luther aufgeworfenen Fragen gar nicht mehr verständlich. Das gilt für viele Katholiken bezüglich des Ablasses, für viele evangelische Christen bezüglich der Rechtfertigung des Sünders. Beides ist in einer Welt, in der Gott oft ein Fremder geworden ist, vielen Zeitgenossen zum Fremdwort geworden. Vollends ist das Wort Kirche, noch mehr als schon für Luther damals, für viele ein blindes und undeutliches Wort.4
Bevor wir über die Aktualität Luthers heute sprechen, müssen wir uns mit seiner Person und seinem Werk beschäftigen, um ihn dann in die veränderte Situation beider Kirchen und der Ökumene einzuordnen. Dabei müssen wir uns die Fremdheit der Welt, in der Luther lebte, wie die Fremdheit seiner Botschaft bewusst machen. Ich möchte die These aufstellen und im Folgenden begründen: Gerade die Fremdheit Luthers und seiner Botschaft ist seine ökumenische Aktualität heute.
