Inhalt
Prolog
Anno 1231
I
Achtundvierzig Jahre zuvor, auf der Burg zu Kelheim
II
Das jähe Ende unbeschwerter Kindertage
Ein neuer Freund
Ein ganz besonderer Fund
Der Ernst des Lebens
Anna kommt mit einem blauen Auge davon
Der Unfall
Alles halb so schlimm
III
Ende einer Kindheit
Ein Wiedersehen nach langer Zeit
Zurück in Kelheim
Ernste Konflikte
Zwist mit dem Grafen von Bogen
Eine neue Welt tut sich auf
Lebensweisheiten
Anna erweitert ihren Horizont
Unruhen im Lande
Machtkampf im Reich
Zukunftssorgen
Nachhilfe für das Glück
Ereignisreiche Zeiten
Jacob Graubart in Not
Fügungen des Lebens
IV
Pater Adalberts Tod
Bürgerkrieg in Bayern
Eine hinterhältige Entführung
Anna und Rachel erfahren Genugtuung
Glück im Unglück
Eine brisante Entdeckung
Anna und Georg
Pogrom in Kelheim
Der Ruf nach Landshut
Alles kommt ganz anders
V
Ein Attentat und seine Folgen
Enttäuschung über Ludwig
Wie ein Fähnlein im Wind
Spätes Glück
Ludwig wechselt wiederholt die Seiten
Ein neues Gesicht für Bayern
Anna in Gefahr
Man begegnet sich immer zweimal
Das Leben geht weiter
Die Trausnitz – ein Hort der Kultur
Ein wahrhaft kaiserliches Geschenk
Schock für Anna
Ein Wittelsbacher geht auf Kreuzzug
Ludwigs Scheitern
VI
Ein Ziehsohn für Ludwig
Sorge um Kajetan
Erneut wechselt der Herzog die Seiten
Verheerender Krieg in Bayern
Traurige Bilanz für Kelheim
Das große Wundenlecken
Gegenseitige Nähe und Annas Vorahnung
VII
15. September anno 1231
Annas Entscheidung
Epilog
Nachwort
Prolog
Anno 1231
Was für ein ansehnlicher Mann mein gnädiger Herr doch ist, dachte Anna Winterhalter und lächelte dem Sechsundfünfzigjährigen zu, als sich an diesem herrlichen Morgen des 15. September ihre Wege kreuzten.
Gemeinsam mit einer Schar Begleiter schickte sich Herzog Ludwig von Bayern an, die kurze Strecke durch das Donautor in Richtung Marktplatz per pedes zu bewältigen. In aller Regel bevorzugte er es zwar, zu reiten, doch heute war einer dieser Tage, da er dem Volk nahe sein und wieder einmal ein Bad in der Menge nehmen konnte.
Die Bürger der Stadt verehrten den klugen Wittelsbacher, der sich allerdings viel zu selten bei ihnen sehen ließ, seit er seine Residenz nach Landshut verlegt hatte. Der hohe Herr genoss es noch immer sehr, die Huldigungen all jener, denen er von Kindesbeinen an vertraut war, entgegenzunehmen – und zwar von Angesicht zu Angesicht.
Selbst nach fünf Jahrzehnten, die Anna den Bayernherrscher bereits kannte, ging der Ehefrau des herzoglichen Chronisten Kajetan Winterhalter das Herz auf beim Anblick des prächtig gekleideten Fürsten. Er war von mittelgroßer Statur, sein Bart inzwischen ergraut, das einst üppige Haupthaar ausgedünnter als noch vor Jahren. Stirn und Wangen waren von tiefen Furchen durchzogen. Doch in ihren Augen würde Ludwig I., der ganze drei Lenze weniger zählte als sie, immer derselbe hübsche, neugierige, etwas schüchterne Knabe bleiben, den sie einst kennen- und lieben gelernt hatte. Obschon der Standesunterschied gewaltiger nicht hätte sein können und sie beide aufgrund verschiedene Lebensläufe zurückblickten, hatten sie einander nie aus den Augen verloren.
Wie die vielen anderen Kelheimer Bürger sah Anna Winterhalter dem Herzog wohlwollend dabei zu, wie dieser erhobenen Hauptes die Donaubrücke betrat. Gleich würde er durchs Stadttor schreiten.
Wär ich eine Grafentochter gewesen, wer weiß, was aus uns beiden womöglich hätte werden können, überlegte die hoch gewachsene, auch im Alter von neunundfünfzig Jahren noch ansehnliche schlanke Frau, deren blaugrüne Augen so lebhaft wie eh und je funkelten – nur dass diese jetzt in einem Geflecht aus feinen Fältchen ruhten und die dicken Zöpfe unter der kleinen Haube nicht mehr weizenblond, sondern silbergrau hervorlugten.
Sie fasste den Entschluss, sich durch die gaffende Menge zu drängen, die sich im Nu vor dem Tor versammelt hatte, um dem Herzog zuzujubeln. Es war an der Zeit, ihn persönlich zu begrüßen, denn sie hatten sich eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Da die Kelheimer sie kannten und um ihre Sonderstellung bei Herzog Ludwig wussten, machte man Frau Anna, der Gattin des herzoglichen Schreibers, bereitwillig Platz.
Kurz bevor sie Ludwig erreicht hatte, schob sich mit einem Mal ein fremdartig gekleideter Hüne dem Herzog in den Weg: ein Mann um die dreißig mit nahezu olivfarbenem Hautton, der mit seinem weiten grünen, an den Knöcheln gerafften Beinkleid und dem weiß-goldenen Wams die Blicke aller auf sich zog. Um den Kopf hatte er ein gelbes Tuch geschlungen, auffällig waren seine flachen Schuhe aus feinem rotem Leder, mit aufgebogenen Spitzen.
Später danach befragt, vermochte Anna nicht zu sagen, woher der Mann so unvermittelt gekommen war … Vermutlich hatte er in einer Nische im Donautor gewartet. In ehrfurchtsvoller Haltung nach vorn geneigt, blieb er vor Ludwig stehen, hielt ihm ein gefaltetes Papier entgegen und schien dabei das Wort an den Herzog zu richten. Doch der Lärm der begeisterten Menge verhinderte, dass Anna irgendetwas von dem Gesprochenen verstehen konnte.
Sicher ein Bettelbrief, oder vielleicht eine kaiserliche Botschaft?
Friedrich II., der kaum jemals einen Fuß auf deutschen Boden setzte, sondern meist in sizilianischen Gefilden weilte und mittlerweile befremdliche Freundschaften mit heidnischen Sarazenen pflegte, war es durchaus zuzutrauen, einen so fremdartig anmutenden Boten nach Bayern zu schicken.
Anna wusste, dass es zuletzt große Spannungen zwischen dem Kaiser und dem Herzog gegeben hatte, die inzwischen allerdings beigelegt worden waren. Womöglich handelte es sich gar um ein Versöhnungsschreiben … Unwillkürlich musste sie schmunzeln, denn sie wusste, wie sehr Ludwig auf ein solches Zeichen gewartet hatte.
Dasselbe schienen im Übrigen auch die Leibwachen – allesamt mit Waffen ausstaffiert – zu vermuten, denn offenbar fühlte sich keiner vom ihnen bemüßigt, den Unbekannten gewaltsam zu vertreiben oder auf andere Weise von dem Adeligen fernzuhalten.
Anna beobachtete, wie Ludwig freudig überrascht den Brief entgegennahm, ihn lächelnd entfaltete und sich anschickte, ihn auf der Stelle zu lesen …
I
Achtundvierzig Jahre zuvor, auf der Burg zu Kelheim
Man schrieb den 10. Juli 1183. Frau Agnes, die junge Herzogin von Bayern, versammelte wie jeden Abend in der Kelheimer Schlosskapelle ihre Kinderschar um sich, um für die gesunde Rückkehr ihres Gemahls, Herzog Ottos I., zu beten.
Auch Anna, deren Oheim Pater Adalbert war, der Beichtvater des Herzogs und dessen Gemahlin, nahm ganz selbstverständlich an der Betstunde teil – wie überhaupt an so gut wie allen Unternehmungen der hochadeligen Familie.
Als die von Geburt an verwaiste Anna vor vier Jahren kurz nach ihrem achten Geburtstag auch noch die Großeltern verlor, die sich bisher um sie gekümmert hatten, hatte der Benediktinermönch aus dem nahen Kloster Weltenburg sie mit an den herzoglichen Hof genommen, um sich um das kleine elternlose Mädchen zu kümmern.
Im Jahre 1169 hatte Herzogin Agnes als damals Neunzehnjährige den Bayernherzog Otto geehelicht, der mit bereits fünfzig Jahren gut und gern ihr Vater hätte sein können. Ein stämmiger, mittelgroßer Mann mit hitzigem Gemüt war er, leicht aufbrausend und im Jähzorn häufig unberechenbar.
Er konnte aber sich auch sanft und nachgiebig geben; seine hübsche und kluge Gemahlin schätzte und verehrte er über alles. Das Verhältnis zu seinen Kindern war stets gut; und was die kleine Anna anbelangte, machte Herzog Otto niemals einen Unterschied zwischen ihr und den eigenen Töchtern.
Leider sah er seine Familie in der letzten Zeit viel zu selten. Da er seine Aufgaben als bayerischer Landesvater sehr ernst nahm, weilte er nicht mehr oft daheim in Kelheim. In den knapp drei Jahren, seit Kaiser Friedrich Barbarossa ihn zum Dank für geleistete Dienste mit dem Herzogtum Bayern belehnt hatte, war er ständig in seinem Reich unterwegs, um für Frieden zu sorgen und um Recht zu sprechen.
Herzog Otto unterstützte Barbarossa, wo er nur konnte. Einesteils aus dankbarer Ergebenheit – andererseits stand ihm das warnende Beispiel Heinrichs des Löwen vor Augen, dem der Kaiser die Herrschaft über Bayern kurzerhand entzog, nachdem der ihn schnöde im Stich gelassen und ihm die Gefolgschaft verweigert hatte.
Agnes, seine Gemahlin, ahnte längst, dass Otto sich in seinem Alter zu viel zumutete, und ihre Besorgnis um seine Gesundheit wuchs. Er hatte mit dem Kaiser das heilige Pfingstfest in Regensburg gefeiert und anschließend den »Rotbart« zum Friedensschluss mit den Städten der Lombardei nach Konstanz am Bodensee begleitet.
Es war Hochsommer und brütend heiß.
Der Herzog, der jetzt schon fünfundsechzig Jahre zählte, vertrug die Hitze nicht mehr gut; sein für gewöhnlich schon gerötetes Antlitz verfärbte sich bei hohen Temperaturen dunkelrot. Seine Umgebung befürchtete dann nicht ganz zu Unrecht einen Schlaganfall; worauf sein Leibknecht üblicherweise einen Medicus holen ließ, damit dieser den hohen Herrn zur Ader ließe, um Schlimmeres zu verhüten.
Agnes war unruhig. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab, was ihrem Sohn Ludwig nicht verborgen blieb.
»Woran denkt Ihr bloß, Frau Mutter?«, fragte der aufgeweckte Achtjährige, dessen um fünf Jahre älterer Bruder vor zwei Jahren an einer unbekannten Krankheit verstorben war und stattdessen ihn zum Erben und Nachfolger seines Vaters hatte werden lassen. »Macht Ihr Euch so große Sorgen um den Herzog? Ihr wisst doch, dass Vater diese Nacht noch in der Burg Pfullendorf verbringen will, um gleich morgen in aller Herrgottsfrühe aufzubrechen. Wenn alles gut geht, könnte er schon morgen Abend wieder bei uns sein!«
Ja, wenn alles gut ging!
Die Herzogin strich ihrem Sohn über den immer etwas wirren Blondschopf und seufzte. Sie sollte sich vor den arglos-unschuldigen Kindern nicht so gehen lassen. Mit aller Macht kämpfte sie gegen das dumpfe, bedrohliche Gefühl an, welches ein heraufziehendes Unheil anzukündigen schien.
Liebevoll ließ sie den Blick über die Kinderschar gleiten, die sie ihrem Gemahl bisher geschenkt hatte. Neunmal bereits hatte sie ihre »schwere Stunde« über sich ergehen lassen müssen und neun Kindern das Leben geschenkt. Einige hatte Gott der Herr allerdings schon wieder zu sich genommen: Otto, der älteste Sohn, starb als Elfjähriger. Auch zwei Mädchen hatte sie begraben müssen. Geblieben waren: Sophie, Agnes, Richardis, Ludwig, Heilika, Elisabeth und Mechthilde.
Lieber Herrgott, lass mir die restlichen wenigstens am Leben und schick mir meinen Gemahl heil nach Hause, betete die junge Herzogin im Stillen.
»Du hast recht, mein Sohn«, sagte sie sodann laut und entschlossen und schickte sich an, mit den Kindern die Kapelle zu verlassen. »Morgen kehrt euer Vater wieder heim!«
In ihrem innersten Herzen jedoch ahnte sie, dass sie den Gemahl nie mehr lebend sehen würde.
Am nächsten Tag ritt ein Bote in gestrecktem Galopp zur Burg Kelheim und überbrachte gegen Abend Frau Agnes die Trauerbotschaft, als diese sich gerade mit den älteren Kindern zur Tafel begeben wollte: »Euer Gemahl, edle Frau, Herzog Otto I. von Wittelsbach, ist in den frühen Morgenstunden des 11. Julius, im Jahre des Herrn 1183, in Pfullendorf einem Schlagfluss erlegen.«
Obwohl sie insgeheim damit gerechnet hatte, traf die Todesnachricht die Herzogin wie ein Blitzschlag. Stundenlang zog sie sich in ihr Gemach zurück; nur dem Beichtvater gewährte sie Zutritt. Ihre verstört draußen wartenden Kinder vernahmen nur das verzweifelte Weinen der Mutter, was auch sie in lautes Klagen ausbrechen ließ.
Endlich öffnete sich die Kammertür; Agnes erschien mit rot umränderten Augen, jedoch einigermaßen gefasst. Mit klaren Worten schilderte sie Ludwig, seinen älteren Geschwistern sowie auch Anna, wie der Herzog gestorben war, wobei sie ausdrücklich betonte, er habe vor seinem Ende noch die Tröstungen der heiligen Mutter Kirche empfangen. Gleichzeitig ermahnte sie die Weinenden, sich zu beruhigen und für die Seele des lieben Verblichenen zu beten.
»Folgt mir in die Kapelle, Kinder«, sagte sie leise.
Agnes von Loon, deren schlimmste Befürchtungen sich bewahrheitet hatten, war eine noch junge Witwe, die nun ihre vornehmste Aufgabe darin sah, zu verhindern, dass den Wittelsbachern nach dem Tod ihres Gemahls das Herzogtum Bayern gleich wieder verloren ging.
Bei Pater Adalbert, ihrem verständnisvollen Beichtvater, suchte und fand sie Rückendeckung und Unterstützung: »Neider und Missgünstige, die sich selbst Chancen auf die fette Beute ausrechneten, nachdem seinerzeit Heinrich der Löwe beim Kaiser in Missgunst geraten war, gab und gibt es immer noch viele, Frau Herzogin. Unternehmt alles, um die Herrschaft für Euren Sohn Ludwig zu retten!«
Glücklicherweise war Agnes nicht nur eine ansehnliche, sondern auch energische, politisch klug agierende und hochgebildete Frau. Ludwig zuliebe überwand sie den Schmerz und reiste sofort nach Ottos Bestattung in der Familiengruft zu Scheyern von Burg zu Burg zu den mächtigen bayerischen Geschlechtern, wo sie für ihren Zweitgeborenen mit guten Argumenten warb.
Eine Aufgabe, die nicht nur Fingerspitzengefühl, sondern auch den Mut zu allerhand Zusagen und Versprechungen – und nicht unerhebliche finanzielle Zuwendungen! – verlangte. Uneigennützig gaben weder die Grafen von Andechs noch die von Bogen, gleich etlichen anderen, ihr Einverständnis dazu, die begehrte Herzogswürde bei den Wittelsbachern verbleiben zu lassen.
Frau Agnes hoffte, der Einsatz möge sich lohnen. Zusammen mit den weiteren Vormündern ihres Sohnes: Pfalzgraf Otto, Oheim Friedrich – ein Mönch – sowie Ludwigs Oheim Konrad – seit diesem Jahr Erzbischof von Mainz – würde sie die Munt und die Regentschaft bis zu Ludwigs Mündigkeit übernehmen.
»Mein größter Wunsch ist es, dir, meinem geliebten Sohn, einst ein geeintes Bayernland zu übergeben, dessen weltliche und geistliche Herren treu an deiner Seite stehen«, verkündete sie ihm im Kreise der gesamten Familie, unmittelbar nach ihrer Rückkehr von der strapaziösen Rundreise durchs Land.
Agnes’ Ältester machte Anstalten, ihr die Hand zu küssen, doch seine Mutter winkte ab.
»Ich erwarte mir jetzt keinen Dank von dir, Ludwig, sondern nur deinen aufrichtigen Willen, alles zu tun, wozu ausgesucht gute Männer dich künftig anleiten werden, auf dass du einst fähig sein mögest, deines Vaters würdiger Nachfolger zu sein!«
Anna, die atemlos gelauscht hatte, vergaß die feierlichen Worte der Herzogin Agnes niemals.