Über das Buch:
Immer mehr Menschen gehen auf Reisen, wandern aus, müssen fliehen, arbeiten im Ausland oder chatten einfach im Internet. Kulturen begegnen sich und bleiben einander doch fremd. Manchmal gefährlich fremd. Doch der „Kampf der Kulturen“ ist nicht unvermeidlich: Wir alle können nur gewinnen, wenn wir begreifen, warum die anderen so ticken, wie sie ticken – ob es mein Wohnungsnachbar aus Afrika ist oder mein Praktikum in Australien, Bahrein oder Costa Rica. Sarah Lanier hat als international tätige Lehrerin und Vortragsreisende für Jugend mit einer Mission auf allen fünf Kontinenten gelebt. Über viele Jahre hinweg hat sie die Grundprinzipien für den Umgang der Kulturen miteinander entdeckt und gelernt. Egal, ob Sie einen Auslandsaufenthalt planen, einfach nur Ihren Horizont erweitern möchten oder neue Wege suchen, mit der Guten Nachricht bei Ihren Nachbarn verstanden zu werden – dieses Erfahrungspotential sollten Sie nutzen!
Über die Autorin:
Sarah Lanier wurde in Georgia (USA) geboren. Seit 1980 arbeitet sie für die christliche und überkonfessionelle „Universität der Nationen“ in Hawaii. Daneben betreut sie interkulturelle Projekte in Holland, Israel und Chile. Lehraufträge führten sie für längere Zeit in den Mittleren Osten, nach Afrika, Europa und Neuseeland.
6. Gastfreundschaft hier und dort
In Heißklima-Kulturen werden über die Gastfreundschaft Beziehungen geknüpft. Man sagt: „Ich bewirte dich, und dann können wir zum Geschäftlichen kommen.“ Das muss nicht gleich die große Vertrautheit sein, aber es werden dennoch zwischenmenschliche Beziehungen gepflegt.
Gastfreundschaft, das hat viel mit Essen und Trinken zu tun, und sie spielt sich in südlichen Gefilden zumeist in den eigenen vier Wänden ab.1 In den Vereinigten Staaten dagegen lädt man Geschäftspartner eher zum Essen in ein Restaurant ein, und man führt Gäste gern aus. Das aber würde man in Heißklima-Kulturen nicht als Gastlichkeit empfinden. Es reicht als Geste der Zuwendung nicht aus. Lädt man dagegen jemanden in sein Haus ein, bedeutet dies: „Ich will mit dir/Ihnen auf einer ganz persönlichen Ebene Kontakt aufnehmen.“
Aber auch im Alltagsleben spielt Gastfreundschaft eine große Rolle, selbst wenn es häufig nur um die kleinen Gesten geht – die gereichte Tasse Kaffee oder die Einladung, am Familientisch Platz zu nehmen und mitzuessen. Und wenn man bei jemandem „vorbeigeht“, erwartet man nicht die „Extrawurst“ oder ein aufgeräumtes Haus. Zur Gastfreundschaft im Süden gehört Spontaneität. Man hat etwas zu essen, wenn jemand vorbeischaut und Hunger hat.
Als ich zum ersten Mal nach Chile fuhr, freute ich mich schon auf die sprichwörtliche Gastfreundschaft im Land und erwartete, in die Familien eingeladen zu werden. Doch der erste Monat verging, und es geschah nicht viel, obwohl es eine Kleinstadt war, in der sich die meisten Leute kannten. Ich war völlig frustriert. Tagsüber hatte ich viel Kontakt mit Menschen, das war nett. Aber ich hatte mir eigentlich vorgestellt, auch auf privater Ebene am Leben der anderen teilhaben zu können.
Als ich eines Tages meinem Mentor Ricardo mein Leid klagte, lachte er und sagte: „Sarah, die Leute sind schon ein bisschen vergrätzt, weil du dich nie blicken lässt. Du hockst abends zu Hause, als wolltest du von niemandem etwas wissen. Man spricht hier keine Einladungen aus. Du kommst einfach.“
„Aber wie soll ich zu jemand gehen, den ich kaum kenne?“, fragte ich.
„Man tut’s hier eben. Nur bei ganz förmlichen Gelegenheiten gibt es Einladungen. Sonst ist man spontan.“
„Und was ist, wenn die Leute zu tun haben und in Ruhe gelassen werden wollen? Wie weiß ich denn, dass ich genehm bin?“
„Sarah, du hast es immer noch nicht begriffen. Wenn du vorbeigehst, hältst du niemanden von der Arbeit ab. Sie kochen einfach weiter, spielen mit den Kindern oder lassen sich nicht dabei stören, den Garten zu sprengen. Du fügst dich einfach in das ein, was gerade im Gange ist. Sie werden nicht alles stehen und liegen lassen, um mit dir im Wohnzimmer zu plaudern.“
Und auf meine Frage, was denn sei, wenn nun wirklich einer mal allein sein wolle, antwortete Ricardo: „In unserer Kultur steht der Kontakt zu anderen Menschen immer an erster Stelle, und danach kommen erst die eigenen Befindlichkeiten. Für ein bisschen Zeit allein würden wir niemals unsere Gastfreundschaft vernachlässigen.“
Darauf machte ich die Erfahrung, dass er Recht gehabt hatte. Bald ging ich einfach bei Leuten vorbei – und sie freuten sich riesig.
Gastfreundschaft auf Reisen
Da Gastfreundschaft in der Heißklima-Zone weitgehend spontan ist, kommt niemand auf den Gedanken, bei unverhofftem Besuch zu sagen: „Ach, darauf sind wir jetzt gar nicht eingerichtet, aber wir haben eine nette Pension ganz in der Nähe.“ Lässt sich jemand unerwartet blicken, so weiß er ja, dass man nicht mit ihm rechnet, und er nimmt alle Unzulänglichkeiten in Kauf. Eine Matratze auf dem Fußboden reicht denen vollkommen aus, die unangemeldet bei jemand an der Tür klingeln. Viel wichtiger ist dem oder der Betreffenden, bei Menschen unterzukommen, die sie kennen und denen sie vertrauen können.
In den Heißklima-Kulturen heißt Gastfreundschaft die umfassende Bewirtung eines Gastes. Der Gastgeber übernimmt wie selbstverständlich die Verantwortung dafür, dass sich der Besucher rundum wohl fühlt. Es wird beherbergt, reichlich zu essen aufgetischt und für Zerstreuung gesorgt. Wer unter dem Dach eines anderen nächtigt, dem soll es an nichts fehlen.
Diese Grundeinstellung kann zu peinlichen Missverständnissen führen, wenn ein „Südländer“ Nordamerika oder Nordeuropa besucht. In einer individualistischen Gesellschaft tendieren wir eher dazu, auch dem Gast die Verantwortung für seine Belange zu überlassen. Man mutet dem nicht eingeladenen Besucher unter Umständen auch zu, für seine Unterkunft selber zu sorgen.
Zu den schockierenden Erlebnissen eines Gastes aus dem Süden gehört wohl, unerwartet gezwungen zu sein, für den eigenen Lebensunterhalt finanziell aufzukommen. Das fängt schon am Flughafen an, wo er für den Gepäckhandwagen bezahlen muss. (In vielen südlichen Ländern gibt es diese Wagen umsonst, oder es stehen Gepäckträger bereit, die man nach Vermögen entlohnen kann.) Für das Flugticket hat man das Geld zusammenbekommen, weil auch Verwandte und Freunde Beiträge geleistet haben. Und sobald die Leute im Flugzeug sitzen, glauben sie, von nun an umsorgter Gast zu sein. Das kostenlose Essen während des Fluges unterstützt diese Vermutung zunächst. Doch ihre Gastgeber in Nordamerika oder Nordeuropa kommen gar nicht auf die Idee, sich als allumfassende Versorger ihrer Gäste zu sehen.
Bei einem Ausflug zum Strand gehen die Gäste wie selbstverständlich davon aus, dass ihr Gastgeber jedes kalte Getränk bezahlt. Doch im Norden erwartet man, dass Gäste ihre Sonderwünsche aus eigener Tasche bezahlen. Was für eine peinliche Situation, wenn der Gastgeber sein Getränk bezahlt und weggeht, während der Verkäufer die Hand aufhält, um den Rest zu kassieren! Die Gäste aber haben womöglich gar kein Geld dabei.
Sagt einer in der Heißklima-Zone: „Kommt, lasst uns schnell einen Hamburger essen“, so lautet die unausgesprochene Ergänzung: „... und ihr seid natürlich eingeladen.“ Im Norden gilt dieses Angebot keineswegs automatisch. Wäre dies dem Gast aus dem Süden bewusst gewesen, so hätte er sich auf den Vorschlag zum Essengehen gar nicht erst eingelassen – womöglich aus purem Geldmangel. Wer also in ein Land der Kaltklima-Zone reist, sollte sich in jedem Fall eine Geldreserve für eventuelle Unkosten einstecken, denn damit erspart er sich so manch peinliche Situation. Wer mag schon gern dem konsternierten Gastgeber beichten, man habe kein Geld in der Tasche! Und wir aus dem nördlichen Kulturraum sollten uns angewöhnen, stets eine Geldreserve dabeizuhaben, wenn wir Gäste aus einer Heißklima-Kultur erwarten.
Das sind einfache Regeln, die aber dafür sorgen, dass wir in einer immer kleiner werdenden Welt reibungsloser miteinander auskommen.
Gastfreundschaft hier und dort
Merkhilfen zum Thema
Heißklima-Kultur
• Gastfreundschaft ist spontan. Einladungen gelten unausgesprochen.
• Im Zentrum steht die Gemeinschaft (selbst bei geschäftlichen Begegnungen).
• Um Gastfreundschaft zu pflegen, werden die eigenen vier Wände bevorzugt.
• Der Gastgeber kümmert sich um alle Bedürfnisse des Gastes. Der Gast muss für nichts finanziell aufkommen.
• Gastgeschenke werden erwartet.
• Für Essen und Trinken wird auch auswärts bezahlt.
• Wer auf der Durchreise ist, wird hereingebeten und bewirtet.
Kaltklima-Kultur
• Gastlichkeit wird sehr ernst genommen und deshalb gründlich geplant.
• Spontane Besuche sind normalerweise nicht üblich. Der Gastgeber braucht Zeit zum Vorbereiten.
• Für alles, was bei der Einladung nicht ausdrücklich abgesprochen ist, muss der Gast selber sorgen.
• Der Gast muss für Anfahrt und Rückreise selber sorgen und finanziell aufkommen. Das gilt auch für spontan entschiedene Restaurantbesuche – es sei denn, der Gastgeber bekundet ausdrücklich, seine Gäste einzuladen.
• Besuch wird nicht als Alltäglichkeit empfunden, und so wendet sich der Gastgeber seinen Gästen mit besonderer Aufmerksamkeit zu.
1 Eine Ausnahme in der Heißklima-Zone ist China, wo man Gäste eher zum Essengehen ausführt, als sie zu Hause zu bewirten. Das mag an den beengten Wohnverhältnissen liegen. Außerdem verlangt chinesisches Essen viel Vorbereitung, sodass man es vorzieht, auswärts zu speisen.