Die Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet dieses Buch
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Erste Auflage 2016
© Größenwahn Verlag Frankfurt am Main 2016
www.groessenwahn-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-95771-102-1
e-book ISBN: 978-3-95771-103-8
Erzählungen, Geheimnisse und Rezepte
Geleitwort |
Peter Feldmann |
Willkommen in Frankfurt am Main |
Vorwort |
Susanne Konrad |
Stadtteilgesichter |
Eschersheim |
Sylvia Schopf |
Straßen und Namen erzählen Geschichte(n) |
Niederrad |
Claus-Peter Leonhardt |
Der Kinderspielplatz am Haardtwaldtplatz |
Oberrad |
Joachim Durrang |
Oberrad-Idyll |
Nieder-Eschbach |
Gerda Jäger |
Fliederfieber |
Altstadt |
Hakan Akcit |
Schulter an Schulter |
Rödelheim |
Astrid Keim |
Juli im Herbst |
Ostend |
Doris Lerche |
Der Osthafen, die Zeit und ich |
Praunheim |
Tamara Labas-Primorac |
wachsende weiden am nidda-fluss |
Eckenheim |
Behjat Mehdizadeh |
Willkommen |
Goldstein |
Barbara Höhfeld |
Ort der Siedlungen |
Nordend |
Sevastos P. Sampsounis |
Die Farbe Rosa |
Harheim |
Dagmar Wendler Margot Schäfer |
Aus dem Frankfurter Norden Harheimer Limerick |
Griesheim |
Andreas Arnakis |
Der Seelenverkäufer am Mainufer |
Bahnhofsviertel |
Carsten Nagels |
Rote Liebe |
Bergen-Enkheim |
Hanne Kulessa |
Eine Buchhandlung verloren |
Dornbusch |
Susanne Konrad |
Dort, wo die Dornenbüsche wachsen |
Unterliederbach |
Maria Regina Kaiser |
Emma, verloren |
Westend |
Monika Carbe |
Ein Spaziergang |
Zeilsheim |
Reha Horn |
Ausländerfest |
Schwanheim |
Jörg Engelhardt |
Fern göttlisch Geschmäckelsche! |
Berkersheim |
Tamara Labas-Primorac |
idyll in rot |
Riederwald |
Bruni Marx |
»Wir kommen aus dem Negerdörfchen« |
Niederursel |
Gertrude Kapellen |
Carmen aus Niederursel |
Heddernheim |
Oliver Ramonat |
Auf der römische Seite des Lebens |
Höchst |
Edgar Weick |
Warum die Frankfurter neidisch auf Höchst sind |
Innenstadt |
Petra Pfeuffer |
Nichts hören, nichts sehen und nichts sagen … |
Kalbach |
Susanne Konrad |
Eingeplackte und Co |
Sossenheim |
Volkhard Brandes |
Im Abseits |
Riedberg |
Gerda Jäger |
Eine Aufzählung |
Seckbach |
Ulrike Ladnar |
Wo fließt der Seckbach? |
Sachsenhausen |
Monika Carbe |
Vom Goetheturm springen |
Frankfurter Berg |
Jan-Erik Grebe |
Zerfallene Häuser |
Bockenheim |
Norbert Saßmannshausen |
Immer quer |
Nieder-Erlenbach |
Sylvia Schopf |
Nosferatu von Nieder-Erlenbach |
Sindlingen |
Mario Gesiarz |
Und vor allem: weit weg von der Stadt! |
Fechenheim |
Michael Bloeck |
Ein Muss |
Flughafen |
Edit Engelmann |
Wenn einer eine Reise tut … |
Gutleutviertel |
Anette John |
Wo die guten Leute wohnen |
Hausen |
Bernhard Bauser |
Draußen und drinnen |
Preungesheim |
Petra Breitkreuz |
Eine Liebe auf den zweiten Blick |
Ginnheim |
Tamara Labas-Primorac |
@home |
Bonames |
Jeannette Faure |
Bonames, Burkina Faso, Barock und Backzutaten |
Gallus |
Claudia Brendler |
Nicht-Orte |
Bornheim |
Claus-Peter Leonhardt |
Der Flaneur |
Nied |
Safiye Can |
Das Frankfurt am Main-Gedicht |
Nachwort |
Olaf Cunitz & Nargess Eskandari-Grünberg |
Heimat beginnt im Stadtteil |
Anmerkungen |
||
Rezeptregister |
||
Biographisches |
Dieses Buch ist all denen gewidmet,
die hinschauen und hinhören.
Denen, die Verschiedenartigkeit respektieren
und dabei Einzigartigkeit entdecken.
Susanne Konrad
IMPRESSUM
Frankfurter Einladung
Herausgeberin
Susanne Konrad
Seitengestaltung
Größenwahn Verlag Frankfurt am Main
Schriften
Constantia & Lucida Calligrafy
Covergestaltung
Marti O´Sigma
Coverbild & Grafiken
Marti O´Sigma
Lektorat
August-Paul Sonnemann
Größenwahn Verlag Frankfurt am Main
September 2016
ISBN: 978-3-95771-102-1
e-book-ISBN: 978-3-95771-103-8
Das Gesicht unserer Stadt wird durch eine Vielzahl unterschiedlicher Facetten geprägt, die sich zu einem großen Ganzen ergänzen. Frankfurt am Main ist als ein Finanz- und Wirtschaftszentrum Global Player, ebenso wie die Stadt Heimat uriger Apfelweingemütlichkeit ist. Hier trifft Tradition auf Moderne, Handel auf Kultur und Geschäftigkeit auf Beschaulichkeit. Das Zusammenspiel idyllischer Fachwerkarchitektur mit modernen Hochhauskomplexen ist sichtbares Zeichen dafür, dass Frankfurt eine Stadt der Gegensätze ist, die sich hier auf reizvolle Art und Weise ergänzen. Dieses Spannungsfeld schafft das Lebensgefühl einer bunten und schillernden Stadt, welche mit ihren ungleichen Stadtteilen dem öffentlichen Leben unterschiedlichste Plattformen bietet.
In Frankfurt leben Menschen aus rund 180 Nationen friedlich zusammen. Ihre Kulturen bereichern unsere Stadt. Faszinierend finde ich auch die Kommunikationsvielfalt. Kaum eine Sprache in der Welt, die neben Deutsch und dem „Frankfurter Hessisch“ nicht auch in Frankfurt gesprochen wird. Die Vielfalt in unserer Stadt ist unsere Stärke und eine Herausforderung, bei der wir täglich voneinander lernen. Dies betrifft alle Lebensbereiche: Arbeit, Bildung, Gesundheit, Jugend und Alter, Kultur, Freizeit und auch die Verwaltung. Integrations- und Diversitätspolitik ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die der Lebenswirklichkeit gerecht werden muss.
Durch meine Arbeit als Oberbürgermeister lerne ich die facettenreichen Strukturen der Stadtteile noch intensiver kennen und schätzen. Eine besondere Beziehung besitze ich zu Bonames, da ich dort den Großteil meines Lebens verbracht habe. Der Stadtteil ist vielfältig und gemischt. Es gibt romantische Stellen an der Nidda und im alten Ortskern, großzügige Bauten, wunderschöne kleine Familienhäuser, klassische Siedlungsstrukturen und viel Natur.
Obwohl die Stadt ständig im Wandel ist, zeigt jeder Stadtteil seinen eigenen Charakter und erhält seinen individuellen Charme. Beeindruckt bin ich von der Verbundenheit, welche sich in der Ergänzung aller Stadtteilbilder zu einer gemeinsamen Stadt Frankfurt am Main ergibt. Es ist das Verdienst der Frankfurterinnen und Frankfurter, deren Lebensgefühl von Toleranz und Weltoffenheit geprägt ist, dass man in unserer Stadt schnell heimisch wird. Hier gibt es Raum für unterschiedlichste Lebensentwürfe und Vorstellungen. In den urigen Gassen, mondänen Straßen, imposanten Alleen und repräsentativen Plätzen im gesamten Stadtgebiet findet das Zusammenleben statt. In diesem öffentlichen Raum spiegelt sich die Urbanität der Stadt wider.
Ich freue mich sehr, dass uns mit diesem Buchprojekt tiefere Einblicke in die Frankfurter Stadtteile möglich sind. Die Idee ist phantastisch, Autorinnen und Autoren mit ihren Stadtteil-Geschichten zu Wort kommen zu lassen.
Seien Sie neugierig auf diesen Erfahrungsschatz. Er zeigt uns die Pluralität, die Frankfurt zu bieten hat. Ich wünsche Ihnen spannende Momente, neue Einblicke und überraschende Erkenntnisse beim Lesen dieses Buches.
Peter Feldmann
Oberbürgermeister
der Stadt Frankfurt am Main
Juni 2016
Auslöser für dieses Projekt war, dass ich von November 2014 bis März 2016 »Stadtteilhistorikerin« bei der Stiftung Polytechnische Gesellschaft in Frankfurt war. Mit einem einmaligen Stipendium versehen, können engagierte Bürgerinnen und Bürger interessanten Forschungsvorhaben zu einem Stadtteil ihrer Wahl nachgehen. Die Arbeit wird durch Seminare und informelle Treffen begleitet. Der Projektkoordinator, Dr. Oliver Ramonat, empfahl mir das Motiv »Stadtteilidentität«.
Genau das ist das Thema dieser Anthologie. 39 Autorinnen und Autoren haben die Identität von 43 Stadtteilen und 2 Siedlungen ans Licht gebracht: in Form von Gedichten und Erzählungen, literarischen Essays und ortskundlichen Betrachtungen. Dabei war mir wichtig, jeweils diejenigen anzufragen, die einen emotionalen Ortsbezug zum Stadtteil haben: ob sie dort wohnen, gewohnt haben oder auf eine andere Weise ein Verhältnis zu »ihrem« Stadtteil gefunden haben. Denn diese gefühlte Beziehung macht die Stadteilidentität lebendig. Nur, wer sich auskennt, kann das Wesen des Stadtteils wirklich erfassen. Der unterschiedliche Charakter der einzelnen Frankfurter Stadtteile kommt dadurch plastisch zum Ausdruck.
Dabei ist der Blick des Autors, der Autorin subjektiv. Das Ich bringt sich ein. Und so sind die Anknüpfungspunkte der Verfasserinnen und Verfasser an ihren »Stoff« so verschiedenartig wie die entstandenen Textgenres.
Die Stadt Frankfurt am Main fördert das Recht auf Vielfalt. Im Hinblick auf die Interkulturalität ist die Stadt schon lange dafür bekannt. Aber auch auf Stadtteilheterogenität trifft dies zu. Jeder Stadtteil sollte in seiner Art bewahrt, gefördert und entwickelt werden.
Um diese Parallele zu verdeutlichen, bat ich engagierte Politikerinnen und Politiker, die sich für Frankfurt einsetzen, um begleitende Gedanken. Herrn Oberbürgermeister Peter Feldmann danke ich für sein Geleitwort und Frau Integrationsdezernentin Dr. Nargess Eskandari-Grünberg und Herrn Bürgermeister und Planungsdezernent Olaf Cunitz für eine gemeinsam erstellte Analyse zur Stadtteildiversität in Frankfurt, die als Nachwort im Buch zu finden ist. Eine positive Bindung an die unmittelbare Wohnumgebung fördert das Wohlbefinden – und die Friedfertigkeit.
Die Stadtteile zu stärken, ist Ziel dieses Buchs.
Susanne Konrad
Herausgeberin
Frankfurt am Main
Juli 2016
Wenn Nomen ein Omen,
dann Eschersheim ein Heim für Eschen?
Fragt Mensch und macht sich auf die Suche
… Hinter den Ulmen
… Auf der Lindenhöhe
… Am grünen Graben
… An der Nachtweide und Am Gabelacker
Beim Birkholz
nah an der Nusszeil
und Hinter den Eichenbäumen
… Viel Baum, viel Holz, viel Grün
auch bei den langen Hecken am Weg
am Langheckenweg
und dann … Am Lindenbaum
Welch’ Linden-Prachtstück! –
fünf Meter dick und zwanzig Meter hoch
einst kleine Linde
gepflanzt vor 300 und Jahren mehr
nun mächtig groß
genießt er Schutz
der alte Baum
als »Denkmal der Natur«
Doch bleibt die Frage nach dem Heim der Eschen.
Ein Blick in die Geschichte hilft!
Es war kein Baum.
Es war Herrn Enscos Heim (ansehnlich soll’s Gehöft gewesen sein)
Enscriresheim – draus wurde Eischersheim
und schließlich schrieb man’s Eschersheim.
Zufrieden zieht der Mensch nun weiter
nach Kirch- und Ziegenhain
über Allendorf und Amöneburg
nach Waldeck und Wolfshagen
Doch halt! Was machen diese Orte
aus Hessens Norden hier in Eschersheim?
Mensch stutzt und wieder kommt die Antwort
aus vergangenen Zeiten.
Hier herrschte einst die Grafschaft Hessen-Kassel.
Und da! Na klar! Die Grafenstraße
und etwas weiter grüßt
Landgraf-Philip nebst Landgraf-Wilhelm.
Mensch zieht den Hut.
Dann zieht er weiter
trifft Anne Frank und Ludwig Richter
den Maler-Künstler-Lehrer.
Sein Name prangt an Schulens Pforte
wie auch der von Wichern, dem Johann Hinrich.
Doch wer war Victor Gollancz?*
Grübelt Mensch.
Und Rhaban Fröhlich?
Nur ein lustiger Name?!
Dann also weiter bis zum Lachweg.
Gut versteckt am Brunnen auf dem Platze
wo man den Weißen Stein vergeblich sucht
entdeckt Mensch nun
des Herkules von Eschersheim
gusseiserne Gestalt
(Geschenk von Herrn Kommerzienrate Kleinschmidt).
Das gut gebaute Mannsbild
Held antiker Zeiten
steht lässig, die Keule auf der Schulter liegend
blickt von seinem Sockel
--- Und wohin?
Mensch folgt dem Götterblick
erspäht die Asphaltschneise
die trennend
unerbittlich
schneidend
viel befahren
und mittendrin
unüberwindbar
strenge Stränge
die Gleise sind – für U von 1 bis 3 und 8.
Da ist die Zeit sich treu geblieben
denn just an selber Stelle
zog einst
die erste Straßenbahn der Stadt
mit Zug vom Pferde.
Doch schon bald
statt klappernd Huf mit Dampf betrieben
bewegte sich die Straßenbahn
hinaus ins Dörfchen Eschersheim
das damals ward zum Liebling
bei Frankfurts wohlgestand’nen Bürgern.
Gern ließ man sich hier nieder.
So klein, so fein und frei von Industrien
im Grünen, ja! Da wohnt sich’s gut.
Mit Zwinkern und mit Scherzen
»Charlottenburg von Frankfurt«
hat man’s auch genannt.
Das war zu jenen längst vergang’nen Zeiten
da’s Schwimmbad »Strandbad« hieß
und man ein eigen Wasserwerk betrieb
von dem geblieben nur Am Lindenbaum
der alte Wasserturm
rapunzelgleich
mit wucht’ger Schieferhaube.
Ach, denkt sich Mensch
Was waren das für Zeiten!
Und heute?
Da baden Augen
vom Frühling bis zum Sommer
in birkenhell und lindenzart
und in platanentiefengrün.
Ist’s Ende Juni weht der Duft
der blühend Linden durch die Straßen.
Und manche Tage
umgibt des Himmels wolkengrau
das schiefergraue Dach des Wasserturms.
Ist’s höchste Eisenbahn – mit S und U
und radelt’s sich gemütlich am Niddaufer
vorbei an Wiesen, Feldern und dem Freibad.
Ist’s Fronleichnam mischt sich
ungewöhnlich Sing-Gesang
ins Amseln-Meisen-Zwitschern
weil Gläubige vom »Eschersheimer Dom«
durch Straßen ziehen.
Es ist der Lauf der Zeit:
Nichts bleibt wie’s war.
Wo einst ein mächtig’ Zweiter-Weltkrieg-Bunker
da wachsen Eigenheime
und leere Stille herrscht wo einst
der Sound der »Batschkapp« war zuhaus’.
Ein letzter Blick schweift in die Ferne:
am Horizont – gleich einem Schutzschild
reckt sich der Taunus mit dem Feldberg in die Höh’
andererseits ragt Frankfurt’s Hochhaus-Skyline
Und zwischendrin …
… liegt …
Eschersheim!
* Victor Gollancz: ein britisch-jüdisch-sozialdemokratischer Verleger, Humanist und Kämpfer für die Menschenrechte.
Er hält den Schädel in die Höhe. Ich bemerkte es nicht sofort, da der lange Knochen in meinen Händen alle Sinne fesselt. Als ich zu Jürgen blicke, grinst der wie ein zweites Gesicht neben dem Erdfarbenen mit seinen hohlen Augen. Ich halte meinen Fund hoch. Die Schätze werden zur Seite geräumt und wir graben weiter. Leise dringt der Lärm des Spielplatzes durch das Gebüsch. Was sollen wir rutschen? Wir haben die Welt der Toten entdeckt.
Damals waren wir sieben oder acht Jahre alt. Mein bester Freund war im nächsten Jahr tot, Fehldiagnose, Durchbruch des Blinddarms. Ab dann war sein Platz neben mir in der Salzmann-Schule leer. Ein erster Verlust, dem viele folgen sollten. Sie betrafen Menschen, die näher waren, bis zu … das wäre eine andere Geschichte – Ich will von Niederrad erzählen.
Die beiden Jungs wussten nicht, worauf der Kinderspielplatz am Haardtwaldtplatz gebaut war. Nachkriegslösungen der 1950er Jahre. Die Straßenbahnlinie 1 fuhr dort ab, uns war klar, von Niederrad kann nur diese Bahn fahren. Frankfurt war uns fern, und dass seit der Anbindung der Bahn hierher im Jahr 1914 die Linie 14 gefahren war, und dass diese Tradition wieder aufgenommen werden würde, überstieg unseren Horizont. Heutzutage fährt die Linie 15 nur noch Dribbdebach bis zum Südbahnhof.
Wir waren in Niederrad, aber wir wussten es nicht.
Nahe war auch der Main, den wir gut kannten. Bis zum Ufer war Wildnis, ungezügelte Schutthaufen mit Wildwuchs. Noch waren Uferstraße und Bebauung des Mainfelds fern. Auch die Galopp-Rennbahn war unser Spielfeld. In den ersten Jahren seines Studiums verkaufte Vater dort Wettscheine, naseweis reichte ich noch nicht bis zum Schalter, musste zurücktreten, um die Person hinter dem Schalter sehen zu können, wie er Geldscheine einnahm und Bons herausreichte. Später, als Architekt, erlebte ich ihn, wie er die Freigelände des Zoos gestaltete. Monster waren mir nie die Löwen, es waren die Bagger, vor denen ich floh.
Der Stadtwald zog sich hinter der alten Rennbahn, auf der einen Seite nach Louisa, auf der anderen Seite zum Weinberg-Park. Die große Villa der Kaufleute stand noch. Am Zaun entlang kam man zum Stadion, zum Schwimmen oder ins Waldstadion zum Fußball. Dahinter lag die Eisbahn, wo wir Schlittschuh liefen. Packendes Eishockey, zu dem wir durch den Wald schlichen und über den Zaun auf die Tribüne gelangten. Die Eintracht spielte in der Oberliga und ich wusste nicht viel darüber. Die Begeisterung, mit den Jungs durch den Wald zu laufen, und die spannenden Kämpfe auf dem Eis fesselten mich. Niederrad wurde Sportstadt. Als der Vertrag von Versailles die Schützen vertrieben hatte, baute man stattdessen auf 44 Hektar Sportstätten.
Die Jungs waren unterwegs. Zum Spielplatz über die Bruchfeldstraße, dann weiter rüber – heute sage ich nach Westen – lagen Wiesenflächen, die einige Jahre später die Firmenzentralen von Weltkonzernen in der Bürostadt Niederrad aufnehmen sollten. Als Jungs fuhren wir dort oder am Oberforsthaus, an Wochenenden früh schon, in den riesigen Stadtwald. Die Autobahnen waren noch schmal. Alles war Wald und wir konnten bis zum Flughafen gelangen, einige Male bis ans Rollfeld. Am Flughafen vorbei blieb das Grün. Tiere beobachten. Füchse, Rehwild, eine reiche Vogelwelt. Insekten auf Baumstümpfen, den Kampf der Hirschkäfer. Bis Darmstadt war das unsere Wildnis, in denen unsere Baumhütten standen und Abenteuer lagen. Unsere Wege berührten selten Straßen oder Siedlungen.
Als Vater weg war, die Freunde andere waren und das Gagern mein Ziel wurde, begann Niederrad unwichtiger zu werden. Täglich 10 Kilometer in beide Richtungen am Main entlang, hin und wieder zurück. Einige Freunde waren Arztsöhne, wir spielten in der Uniklinik und den an ihr anschließenden Villen. Auch die Uniklinik liegt größtenteils in Niederrad, was mir unwichtig war.
Mein Leben änderte sich merklos. Das Zuhause war oftmals leer. Fuhr ich durch den Torbogen des Frauenhofs, erfüllte ein würziger Geruch die Luft. Die Firma Lacroix hatte auf dem Gelände des alten Hofgutes Frauenhof seine Produktionsstätte für köstliche Suppen und Gerichte, die ich nicht kannte. Zuhause wartete schmalere Kost.
Wer Niederrad erfassen will, findet Geschichten über Geschichten ab dem Jahr 1151. 800 Jahre vor meiner Geburt wurde der Wald dort gerodet. Um eine Verwechslung mit den Rodungen oberhalb des Mains vorzubeugen, nannte man die oberen Ober- und die unteren Nieder-Roden, eben Ober- und Niederrad. Lange Zeit besiedelten nur wenige Häuser die sumpfigen Niederungen des Mains. Anfangs wohnten vielleicht 25 Leute hier. Main-Altarme kreuzten sich, »die« Bach mündete. Ein kleiner Hügel schützte vor Hochwasser. Landwirtschaft wurde nie betrieben. Der Ort war Spekulationsobjekt für Fürsten und den Deutschorden. Sie teilten sich den Besitz über Jahrhunderte. Auch Frankfurt wollte das Gelände. Doch die Ausdehnung der Stadt verhinderte der Adel. Die Freie Stadt war zu mächtig, wurde immer eingekreist. Bis heute ist das so, und es ist töricht. Das ist ein anderes Kapitel der Stadtgeschichte. Die Niederräder hatten keine Rechte, nicht einmal einen Friedhof. Seit 1592 waren sie Leibeigene. Bis in das Jahr 1818 blieben sie unfrei.
Der Friedhof wurde erst in den späten 1660er Jahren im Rödenacker nach einer Seuche gebaut. Er schloss an das Bruchfeld am südwestlichen Ortsende. Das wurde unser Abenteuerspielplatz in den 1960er Jahren.
Niederrad war ein Ort, der, wie viele westliche Stadtteile, die vom Frankfurter Rat nicht gewollten Einrichtungen aufnahm. Die Ratsherren waren borniert, verhinderten in der Freien Reichsstadt Ansiedlungen von Industriebetrieben. Das Denken der Zünfte dominierte. Dünkel herrschte. Das schadete der Entwicklung der Stadt, und wirkt bis heute. Das Umland gedieh und litt, weil es immer wieder Schauplatz von Schlachten und Spekulationen wurde. Es wurde verkauft und gewonnen.
Für Niederräder war diese Zeit oftmals tödlich. 1552 war das Dorf niedergebrannt worden, als Truppen die Stadt Frankfurt angegriffen hatten. Der kleine Ort lag günstig für Truppenaufmarsch, daher wiederholten sich die Katastrophen in den nächsten Jahrhunderten. Die Lage im Sumpfgebiet förderte Krankheit. Wohlstand konnte so nicht entstehen.
Zwar war Niederrad schon im Jahr 1569 in das Eigentum von Frankfurt geraten. Frankfurt hatte einen Anteil an den Rechten gegen die Burg und das Dorf Rödelheim eingetauscht. Der andere Eigentümer war weiterhin der Deutschorden. Frankfurt verlor das Dorf wieder. Die Preußen übernahmen die Herrschaft. Erst im Jahr 1900 gelang der Stadt, nach langen Geheimverhandlungen, die Eingemeindung des Dorfes.
Die Leute lebten durch alle Krisenzeiten ihr Leben. Niederrad wurde im 18. Jahrhundert die Wäscherei für die reichen Bürger Frankfurts. Die große und die kleine Bach aus den sandigen Böden der südlichen Wälder war weich. Die Frauen wuschen die Wäsche und trugen sie auf den Köpfen nach Frankfurt zurück. Die Haare waren hochgebunden, darum wurde ein Holzkringel gelegt. So hielt das Tablett auf dem Kopf und sie wanderten rüber, – Afrika am Main? Nein, die Zeiten der Vorindustrie sind näher, als wir meinen.
Die Männer hatten schon länger eine andere Beschäftigung. Viele waren Hasenhaarschneider. Aus Flandern und Frankreich war das Handwerk Ende des 18. Jahrhunderts hierhergekommen. Aus den zu Bündeln geformten Ballen wurden Hüte. Die Hutmacherei war ein großer Industriezweig, und Niederrad die wichtigste Produktionsstätte für den Rohstoff. Die flandrischen Leute hatten sich teilweise hier niedergelassen. Die Rohware kam aus Russland, Sibirien wohl. Anfang der Woche wurden die Felle der Hasen und später Kaninchen ausgegeben, deren Haar am Wochenende eingesammelt wurde.
Das Dorf hatte zu dieser Zeit zwei große Straßen, die Kelsterbacher und die Frankfurter, die heute Schwanheimer heißt. Mit der Gründung der Rennbahn 1865 winkelte sich die Schwarzwaldstraße ins Feld. Frankfurt war Hauptstadt des Deutschen Bundes. Das forderte standesgemäße Einrichtungen für den Fürstentag. Die Rennbahn wurde zum Erfolg.
In den späten 1870er Jahren zählte die Einwohnerliste knapp 2500 Personen. Über 100 Wäscherinnen gingen ihrem Gewerbe nach. Als 1866 Preußen die Stadt Frankfurt eingenommen hatte, und Wehrpflichtige ausgehoben wurden, sagten die zehn Niederräder Männer bei der Berufsbezeichnung »Haarschneider«. Dem Stabsarzt platzte der Kragen und er brüllte: »Wieviel Frisöre gibt es denn in Niederrad?«
Die Entwicklung Niederrads weist immer wieder überraschende Wendungen auf. Viele Spuren sind nicht mehr aufzufinden, wie es den Jungs am Rand des Haardtwaldt-Spielplatzes gelang.
1912 wurde Niederrad Sitz der ersten deutschen Flugzeugfabrik. August Euler – Nachkomme des Mathematikers Leonhard Euler – hatte bei Darmstadt den ersten deutschen Flugplatz gegründet. Das war 1908. Im Jahr 1912 wurden die Flächen zu klein und er kaufte von der Stadt Frankfurt Gelände bei Niederrad. Darauf entstanden fünf große Werkhallen und Nebengebäude, in denen unter anderem die ersten Postflugzeuge »Gelber Hund« gefertigt wurden.
Auch in diesem Fall brach der Versailler Vertrag die Entwicklung. Das Werk wurde demontiert. Auf seinen Flächen entstanden Teile des »Neue Frankfurt«, die Goldstein-Siedlung.
Niederrad birgt auch aus den 1920er Jahren einige der Architektur-Denkmäler. Die Bruchfeldstraße aufwärts ziert Zickzackhausen, eine luftige Wohnanlage mit Gärten. Am anderen Ende finden sich die Bauten der Psychiatrischen und Orthopädischen Kliniken, an denen Martin Elsässer mitgestaltete, der zudem die Großmarkthalle entworfen hatte. Diese Kliniken waren vor dem Faschismus Zentren moderner Medizin und knüpften nach 1945 daran an.
So wie die Jungs am Spielplatz gruben, öffnete mir die Uniklinik neue Möglichkeiten für Abenteuer. Das wäre eine neue Geschichte. Niederrad hat noch viele versteckte Seiten und auch in Zukunft wird es Sportstadt bleiben.
Gärten wanken an die
Häuser heran
Erdbeeren blühen
Im Obstladen kullern
Kirschen über den Boden
Bäume wehen im Gesang
des Flusses der vorüberströmt
als Verirrter
Blüten wehen über
die Straße
Menschen blicken aus Fenstern
in ihren Pupillen spiegelt sich die tanzende Wolke
›Frankfotter Grie Soß‹
Zutaten:
1 Päck. Frankfurter Grüne Soße Kräuter, (Petersilie, Schnittlauch, Sauerampfer, Borretsch, Kresse, Kerbel und Pimpinelle), 400 g saure Sahne, 1 EL Schmand, 1 EL Crème fraîche, 1 EL Zitronensaft, 1 TL Sahnemeerrettich, 1 TL Senf, 1 Prise Zucker, Salz, Pfeffer
Zubereitung:
Kräuter waschen, abtropfen, mit dem Wiegemesser kleinschneiden und in eine große Schüssel geben. Saure Sahne, Schmand, Crème fraîche, Zitronensaft, Sahnemeerrettich, Senf, Zucker, Salz und Pfeffer dazugeben und alles glattrühren. Grüne Soße im Kühlschrank ziehen lassen.
Servieren Sie die Grüne Soße mit heißen Pellkartoffeln und hartgekochten Eiern.
Info:
Traditionell wird Grüne Soße am Gründonnerstag zubereitet. Man kann sie auch zu gebratenem Fisch, Schnitzel, Spargeln, Gratins oder Tafelspitz reichen.
Nachdem die Buschwindröschen im nahen Pfingstwäldchen nahezu verblüht sind, erlebe ich zum vierten Mal die Blüte der Japanischen Kirschen in meiner unmittelbaren Umgebung. Um im Blütenmeer zu steigen und zu fallen, fahre ich nun nicht mehr an die ehemalige Börse im Zentrum, dort, wo sich Bulle und Bär »Gute Nacht« sagen. Geradewegs um die Ecke, im Unteren Kirchwiesenweg, berausche ich mich an den sich bauschenden winzigen Tüllröckchen. Eine kurze Zeit der rosa Pracht, nachdem die Magnolien, ebenfalls allgegenwärtig, in diesem Jahr bereits grün eingekleidet sind. Doch Auge und Nase können sich schon bald am Flieder erfreuen.
blauer chiffon weht
uns um die nase
hüllen und
jasminworte fallen
sanft
in die frühlingssaumseligkeit
An den östlichen Ausläufern des Taunus gelegen, war Nieder Eschbach bis 1972 eine selbstständige Gemeinde, die sich, wenn man den Berichten Glauben schenken darf, nicht von Frankfurt einverleiben lassen wollte. Charakteristisches Zeichen für eine gewisse Eigenständigkeit ist sicherlich die französische Partnerstadt Deuille la Barre, eine Gemeinde etwa 15 km nordwestlich von Paris.
Der nördliche Frankfurter Stadtteil ist in eine malerische Landschaft eingebettet und am nordöstlichen Rand vom Eschbach durchflossen, einem je nach Regenmenge munteren bis reißenden Bach. Die Atmosphäre ist eher dörflich, städtisches Flair sucht man vergeblich. Ein großer Vorteil Nieder Eschbachs ist der Anschluss an das U-Bahnnetz. In gut zwanzig Minuten gelangt man an die Frankfurter Hauptwache.
Seit 2011 lebe ich unweit des alten Ortskerns in Feldrandnähe. Es ist das reizvolle Eschbachtal, das mich für die Lage des Ortes einnimmt. Für viele heimische Tiere und Pflanzen bietet es einen perfekten Lebensraum. Darüber hinaus lädt es ein, zu Spaziergängen und Beobachtungen. Der Grüngürtel Frankfurt mit dem Hölderlinpfad ist nicht weit und kann gut in Bonames vom alten Flugplatz aus erreicht werden. Gewiss wird es schon den einen oder anderen Dichter auf Hölderlins Pfad verschlagen haben, und es ist naheliegend, wenn dort beim Wandern neue Poesie entstanden ist.
Wer mit der Natur im Rhythmus lebt, kann so manches Entfalten und Vergehen beobachten. Diese Naturbilder als Sprachbilder zu verdichten, kann Ziel und Trachten sein. Sie zeugen vom Leben und taugen auch im digitalen Zeitalter immer noch als Metaphern oder Allegorien.
Hier ist man nahe an der Natur und an der Landwirtschaft. Überschaubar, denn die Felder sind nicht endlos und der Wald ist ein Wäldchen. Wer jedoch als Fremder im Frühling über die Rapsfelder Richtung Skyline schaut, reibt sich die Augen. Vielleicht, weil der Blütenstaub reizt, zwanzig Fahrminuten vom Bankenviertel entfernt, vielleicht aber auch, weil die Bürotürme seltsam fremd über dem Gelb aufragen und gar nicht mehr so imposant wirken.
es dämmert
am feldrand
huschen fledermäuse
der mond
sichelt kühlgelb
über dem Raps
die luft raubt
mir den atem
mit ihrem duftgemisch
Wer offenen Auges durch die Felder läuft, sieht, wie der Salat sprießt und später im Jahr die Kohlköpfe rund und fest werden. Erfreut sich an Streuobstwiesen, insbesondere an dem bewaldeten Höhenzug, der sich Pfingstwäldchen nennt. Der Name rührt daher, dass früher das Vieh zu Pfingsten feierlich aus den Ställen auf die Weiden getrieben wurde. Ja, und man begegnet hier tatsächlich noch Rindern, Jungbullen oder auch Mutterkühen mit Kälbern auf den saftigen Wiesen. Oder man sieht einen Reiher, der durch die Wiese am Bach stakst, um Mäuse zu fangen. Wer den Kopf in den Nacken legt, sieht Rotmilane und Bussarde, die ihre Kreise ziehen. Auch schon mal einen Falken, der rüttelnd über der Aussaat steht.
Auf meinen ausgedehnten Spaziergängen, oft in Begleitung eines Vierbeiners, habe ich auch schon manche Kuriosität entdeckt. Dazu zählen unter anderem ein »Bücher-Tauschbaum« und ein »Halloweenbaum«. Der Halloweenbaum hatte sich mit weißen Folien, die vom Feld hochgeweht waren, geschmückt. Sichtbar wurde dies, als der Baum die Blätter verlor.
Unter einer Eiche im Pfingstwäldchen liegen immer mal wieder Bücher. Inzwischen, auf mein Betreiben hin, in Plastiktüten verpackt, als Schutz gegen Schmutz und Nässe. Genaueres habe ich bisher dazu nicht in Erfahrung bringen können. Aber es ist schön, wenn man nicht immer alles gleich erfährt. So bleibt die Neugierde lebendig.
Herr P. hatte nie genug Zeit. Immer war er in Eile, immer hetzten ihn Termine von einem Ort zum nächsten. Überhaupt konnte es Herrn P. nie schnell genug im Leben gehen. Wenn er auf der Autobahn fuhr, raste er die linke Spur entlang und regte sich über die langsam fahrenden Autos vor ihm auf. Wenn er ein wichtiges Telefonat führen wollte und die Sekretärin seines Gesprächspartners eine halbe Ewigkeit brauchte, bis sie seinen Anruf weiterleitete, war er immer kurz davor, in den Hörer zu fluchen. Selbst die studentische Aushilfskraft im Starbucks nervte ihn, da sie geschlagene fünf Minuten dafür benötigte, um seinen Espresso zuzubereiten. In solchen Momenten platze ihm fast der Kragen. Denn Herr P. war ein wichtiger Mann. Als stellvertretender Filialleiter einer großen Bank in Frankfurt am Main konnte er sich solche Unzulässigkeiten nicht leisten. Er hasste es, unpünktlich zu sein, und erwartete dieselbe Disziplin von allen Menschen, die er in seinem Alltag antraf. Eine glänzende Karriere war ihm gewiss. Schon bald würde er den Posten seines Filialleiters übernehmen, der kurz vor der Pensionierung stand. Herr P. wollte kurz vor seiner Beförderung keine Fehler begehen, die seiner Karriere hätten schaden können. Wohin er auch blickte, glaubte er Neid in den Augen seiner Kollegen zu erkennen, die ihm gar nichts gönnen wollten.
An einem warmen Junitag wollte es der Zufall, dass Herr P. seine Mittagspause im Freien verbrachte. Grund hierfür war die auffällig hoch ausgefallene Handyrechnung vom Mai und als er wütend auf dem Weg zur nächsten Filiale seines Mobilfunkanbieters war, geriet er am Römerberg ungewollt in eine Demonstration. Zunächst bemerkte er nicht, dass es sich bei dem Gedränge vor ihm um die Teilnehmer einer Demonstration handelte. Er sah nicht die vielen bunten Plakate und Fahnen, die die Demonstranten in der Luft schwenkten. Er übersah auch die vielen Polizisten, die mit mürrischem Blick und abseits der Szenerie die Menschenmenge beobachteten. Er war tief in Gedanken versunken und zu sehr damit beschäftigt sich im Geiste die Worte zurechtzulegen, die er diesem Wucherer von Händler an den Kopf werfen wollte. Doch als die Menschen um ihn herum plötzlich Parolen riefen und lautstark applaudierten, bemerkte Herr P. zum ersten Mal, dass er sich nicht in einer alltäglichen Situation befand. Angepeitscht von einem bebrillten jungen Mann, der mit einem Lautsprecher in der Hand, wild gestikulierend eine Rede hielt, riefen die Menschen laut und abwechselnd: »Tayyip istifa!« und »Faşizme karşı omuz omuza!«
Herr P. schaute verdutzt um sich und sah die vielen Menschen, die sich versammelt hatten, um gegen irgendetwas oder irgendwen zu protestieren. Es dauerte nicht lange und er begriff, dass es sich bei der Demonstration um die Proteste gegen die türkische Regierung und den Ministerpräsidenten Erdoğan handelte. Herr P. hatte schon aus den Zeitungen von den Unruhen in der Türkei erfahren. Und auch wenn er sich nicht sonderlich für Politik interessierte, so ließen ihn die Geschehnisse in der Türkei nicht kalt, denn seine Herkunft verband ihn mit diesem Land. Auch wenn er der Sprache kaum mächtig war und das Land seit seiner Kindheit nicht besucht hatte, verfolgte er als Kind türkischer Einwanderer gelegentlich die türkischen Medien. Trotz seiner eingeschränkten Sprachkenntnisse wusste er, was diese Parolen bedeuteten. »Tayyip, tritt zurück!« und »Schulter an Schulter gegen den Faschismus!« riefen die Menschen.
Herr P. blieb stehen. Die Neugier hatte ihn gepackt. Die angeheizte Atmosphäre, die Parolen, die bunten Fahnen, die vielen Menschen: All das fesselte ihn und er war nicht mehr in der Lage, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Er ließ seinen Blick über den Platz schweifen und sein geübtes Auge verriet ihm, dass sich etwa 800 Menschen versammelt hatten. Mit Zahlen kannte er sich gut aus. Er befand sich inmitten einer buntgemischten Menge. Menschen aus allen Altersgruppen waren anwesend: Schüler, Studenten, Hausfrauen und Mütter, junge zornige Männer, elegant gekleidete Frauen, Väter, die ihre Jüngsten auf den Schultern trugen, aber auch Türken der ersten Generation, ältere Frauen mit Kopftüchern und Männer mit Schnauzbart und ergrautem Haar. Hier und da herrschte hektisches Treiben, in Zweiergruppen bahnten sich junge Menschen mit einem Klemmbrett in der Hand ihren Weg durch die Menge und sprachen gezielt Demonstranten an, um sie zu überreden, einer Partei beizutreten. »Wir sind Mustafa Kemals Soldaten. Wir sind für den Laizismus und gegen das islamistische Regime der AKP!«, betonten sie immer wieder. Auch Herrn P. sprachen sie an, doch er winkte ab. Weder wollte er Mitglied einer Partei sein, noch der Soldat von irgendjemandem.
Vor dem Rathaus stand ein provisorisches Rednerpult, auf dem verschiedene Redner abwechselnd zu Wort kamen. Eine junge Frau ergriff das Wort und mit Entschlossenheit in der Stimme sprach sie zur Menge. »Ich glaube im Namen aller hier anwesenden Frauen zu sprechen, wenn ich sage, dass wir Frauen es leid sind, zu Gebärmaschinen degradiert zu werden. Wir sind es leid, dass Männer über unsere Körper bestimmen wollen. Sie legen uns nahe, mindestens drei Kinder zum Wohle des Vaterlandes zu gebären. Sie wollen bestimmen, ob und wann wir abtreiben dürfen. Sie maßen sich an, uns als Sünderin zu beschimpfen, wenn wir Shorts oder Röcke tragen. Und wenn wir schwanger sind, dürfen wir nicht mal mehr das Haus verlassen, denn das wäre unsittlich und eine Provokation für jeden tugendhaften Mann auf der Straße …« Pfiffe und laute Buh-Rufe unterbrachen ihre Rede. »Tayyip, tritt zurück!« forderten die Menschen und immer lauter riefen sie: »Überall ist Taksim, überall ist Widerstand!«
Die explosive Stimmung elektrisierte Herrn P. und zog ihn weiter in seinen Bann. Er sah eine Entschlossenheit in den Gesichtern der Menschen, die ihn tief beeindruckte. Die Gesichter wirkten angespannt, zornig funkelten ihre Augen, wenn sie mit hochgestreckter und geballter Faust zum gemeinsamen Skandieren der Parolen ansetzten. Doch sobald sie die ersten Worte riefen, wich die Anspannung in den Gesichtern einer überwältigenden Freude, die Augen glänzten vor Glück und ein berauschtes Lächeln spiegelte die Ekstase wider, in der sich alle Anwesenden befanden. Die Menschen standen eng beieinander, applaudierten zusammen, Fremde nickten sich zu. Man bot sich Zigaretten an, tauschte Nummern aus und in den kurzen Redepausen wurde heftig über die weiteren Schritte diskutiert.
»Wir müssen die Weltgemeinschaft auf die Missstände in der Türkei aufmerksam machen!«, rief eine junge Studentin. »Wir müssen darüber schreiben, die Menschen informieren!«, pflichtete ein Exilschriftsteller bei. »Wir müssen weiter demonstrieren!«, jubelte ein Alt-Achtundsechziger. »Wir müssen kämpfen!«, brüllte ein zorniger, junger Mann.
Herr P. spürte, wie sein Herz im Rhythmus der Masse schlug. Er war in eine ihm sonst fremde Welt eingetaucht. All die Menschen um ihn herum hatten ein gemeinsames Ziel vor Augen. Sie alle hatten sich versammelt, weil derselbe Gedanke sie antrieb: der Widerstand gegen das autokratische Regime in der Türkei. Hier ging es nicht um Macht oder um die Propaganda einer politischen Partei. Die Menschen waren nicht aus purem Eigennutz erschienen oder um sich selbst darzustellen. Sie machten sich Sorgen um die Menschen in ihrer Heimat und wollten sie moralisch unterstützen. Sie waren wütend auf den Ministerpräsidenten Erdoğan und wollten, dass die Welt ihre Wut sah. Jeder Knüppel, der auf einen Demonstranten in der Türkei einschlug, traf auch sie. Die Verletzten waren ihre Brüder und Schwestern, jeder Tote ihr ganz persönlicher Verlust. Jede Gasbombe, die auf den Taksim-Platz fiel, verätzte auch ihre Lungen. Und ihre Lungen wollten atmen, genauso wie es die Menschen in der Türkei tun wollten: frei atmen, die Freiheit einatmen, tief und ohne Schmerzen, eine Luft ohne Gas und Repressionen.
Herr P. blickte in authentische Gesichter. Die Menschen hier fühlten aufrichtig. Hier sah er keine Verlogenheit und Neid wie er ihn sonst bei seinen Freunden und Arbeitskollegen empfand. Obwohl er niemanden kannte, fühlte er sich aufgenommen und empfand Geborgenheit. Eine ältere Frau vor ihm drehte sich zum Gerechtigkeitsbrunnen hin und sah zufällig zu ihm. Sie lächelten sich zu. Herrn P. pochte das Herz. Für einen Moment schloss er die Augen und spürte, wie ihm die Last des Alltags von den Schultern fiel. In diesem Augenblick kümmerte ihn seine Arbeit nicht mehr. Seine Karriere war ihm gleichgültig und der Konkurrenzkampf zuwider. Die Wut auf seinen Mobilfunkanbieter empfand er als lächerlich, die mürrisch blickenden Polizisten belustigten ihn und er schwor sich, sich nie wieder über die studentische Aushilfskraft im Starbucks aufzuregen.
Herr P. atmete ruhig aus und öffnete die Augen. Mittlerweile hielt die alte Frau vor ihm ein Plakat hoch. Er blickte unmittelbar in das Gesicht eines jungen Mannes, das auf dem Plakat abgebildet war. »Ethem Sarısülük«, las er, »ermordet am 12. Juni 2013«. Herr P. hatte darüber in den Zeitungen gelesen. Eine Polizeikugel hatte diesen jungen Mann getroffen und er verstarb noch an Ort und Stelle. Er dürfte nur einige Jahre jünger als ich gewesen sein, dachte er und sah sich das Foto genauer an. Das Gesicht des jungen Mannes strahlte Selbstbewusstsein aus. Er wirkte zielstrebig, und seine Augen waren zusammengekniffen, so als wenn er sein Ziel in der Ferne anvisieren würde. Herrn P. imponierte der entschlossene Ausdruck im Gesicht von Ethem Sarısülük. Er wurde ermordet, dachte Herr. P. Ohne Skrupel, einfach so ermordet.
Das ganze Leben hätte er noch vor sich gehabt, wenn er nicht einer Polizeikugel zum Opfer gefallen wäre. Genau wie die Menschen auf dem Römerberg in Frankfurt wollte Ethem Sarısülük damals in Ankara nur demonstrieren. Was hätte noch alles aus dem jungen Mann werden können? Ein Arzt, der Leben rettet. Ein Politiker, der das Land gestaltet. Oder ein Dichter, ein Mann des Volkes? Vater von zwei Kindern?