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Najem Wali

Im Kopf des Terrors

Vom Töten mit und ohne Gott

Aus dem Arabischen übersetzt
von Markus Lemke

Aus der Reihe »UNRUHE BEWAHREN«

Residenz Verlag

Unruhe bewahren – Frühlingsvorlesung & Herbstvorlesung.
Eine Veranstaltung der Akademie Graz in Kooperation mit dem Literaturhaus Graz und DIE PRESSE.

Danke für die Unterstützung an das Literaturhaus Graz und das Hans-Peter Porsche TraumWerk – wo Träume wahr werden …

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Die Frühjahrsvorlesung zum Thema »Im Kopf des Terrors – Wieso tötet der Mensch?« fand von 06. bis 07.04.2016 im Literaturhaus Graz sowie am 08.04.2016 im Gymnasium der Ursulinen Graz statt.

Der arabische Originaltitel lautet
»Fi ra's al-irhab. Al-qatl ma'a au bidun Allah«.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb. de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2016 Residenz Verlag GmbH
Salzburg – Wien

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks
und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Redaktion: Harald Klauhs, Astrid Kury
Wissenschaftliche Beratung: Thomas Macho, Peter Strasser
Lektorat: Jessica Beer
Umschlaggestaltung: Kurt Dornig
Grafische Gestaltung, Satz: Ekke Wolf, typic.at
Gesamtherstellung: CPI Moravia Books

ISBN 978-3-7017-3402-3

Inhalt

Einleitung

I. Töten aus persönlichen Gründen oder aus Überzeugung?

II. Über das Morden ohne Gott, oder: Wenn es Gott nicht gäbe, wäre alles erlaubt

III. Zurück zu den Ursprüngen des Terrors: westwärts und ostwärts

Schlussbetrachtung

Einleitung

Vor zweieinhalb Jahren, im Frühjahr 2014 also, sprengten sich in der irakischen Hauptstadt Bagdad vier Selbstmordattentäter in die Luft. Die Überraschung, mit der die Medien noch am selben Tag aufzuwarten hatten, war aber, dass die vier, alle zwischen Anfang und Mitte zwanzig, aus Deutschland stammten und deutsche Staatsbürger waren. Und mehr noch: Sie waren nicht bloß im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft, sondern hatten sogar deutsche Väter und Mütter, sie waren mithin – einer später erfolgten Klassifizierung nach – »biologische« Deutsche ohne »Migrationshintergrund«, so die in offiziellen Verlautbarungen und von Experten (oh ja, so viele Experten gibt es heutzutage!) derzeit benutzte Bezeichnung für Kinder von Zuwanderern.

Das war der Zeitpunkt, zu dem eine ganze Reihe von Menschen im Irak von Verwunderung erfasst wurden, unter ihnen auch meine Schwester, die in einem der Außenbezirke von Bagdad wohnt. Wie sollte sie, die drei Kinder hat, von denen das älteste in diesem Jahr an die Universität gekommen ist, und die davon träumt, ihren Kindern ein Studium in Europa zu ermöglichen – wie sollte sie auch verstehen können, dass dieses Europa, das für sie immer ein Leuchtturm des Wissens und der Aufgeklärtheit war, vier junge Selbstmordattentäter losgeschickt hat, um mit ihren Autobomben eine möglichst große Anzahl von Irakern zu töten? Und dies nur aufgrund der schiitischen Glaubensrichtung dieser Menschen?

Es falle ihr schwer zu begreifen, was geschehen sei, sagte sie mir bei einem Telefongespräch. »Kannst du mir das erklären, du, der du seit drei Jahrzehnten in Deutschland lebst?« »Ich verstehe es auch nicht«, antwortete ich, um ihr nicht zu sagen, was ich in eben jenem Augenblick dachte, jedoch für mich behielt. Denn ich hätte ihr gesagt: »Die haben das aus Langeweile gemacht.« Doch ich verkniff es mir, behielt es für mich, denn sicher hätte sie meine Antwort als Scherz aufgefasst. Und als nichts Anderes.

Was damals passiert ist, war nur die Ouvertüre zu dem, was schon bald traurige Alltäglichkeit werden würde. Denn seit dem 9. Juni 2014, dem Tag, an dem der IS die Stadt Mossul erobert und etwas errichtet hat, was am 29. Juni fälschlich als Kalifat des »Islamischen Staates« bezeichnet wird, mit einem ihrer Führer, dem Iraker Ibrahim Awwad Samirani, besser bekannt als Abu Bakr al-Bagdadi, als selbst ernanntem Kalifen, ist der Anblick »biologisch« ausländischer Selbstmordattentäter ein vertrauter geworden. Parallel zur Einwanderung hunderter junger Männer und Frauen aus muslimischen Familien kamen damals dutzende junge Männer und Frauen europäischer Herkunft ins Land, um gegen die »Ungläubigen« zu kämpfen und diese zu töten, junge Männer und Frauen, von denen einige erst kurz vor ihrer Reise zum Islam gefunden hatten, andere noch nicht einmal genug Zeit gehabt hatten, das fünfmal am Tag zu verrichtende Gebet zu erlernen – eine der fünf Säulen des Islam, deren Befolgung verpflichtend für jeden Muslim ist. Ja, die meisten dieser »internationalen« Gotteskrieger dürften in ihrem Leben noch nicht einmal in einer Moschee gewesen sein und ihr Wissen über den Islam haben sie nur aus dem Internet bezogen.

In den zwei Jahren, die seit der Eroberung Mossuls durch den IS vergangen sind, ist die Zahl der europäischen Terroristen angewachsen und mit ihr die der Terroranschläge, es scheint ein Wettstreit stattzufinden zwischen den Terroristen islamischer Herkunft und ihren »bio-europäischen« Kameraden. Richtig ist, dass beide Gruppen gleichzeitig entstanden, gewachsen sind und mindestens eine gemeinsame allgemeine Unterweisung erhalten haben. Das zumindest versucht uns die offizielle Politik der europäischen Staaten weiszumachen. Richtig ist auch, dass beide Gruppierungen ein gemeinsames Ziel teilen, nämlich die Tötung und Vernichtung einer möglichst großen Anzahl von »Ungläubigen«, also all jener, die andere Ansichten oder eine andere Auslegung des Glaubens vertreten, seien es nun Zivilisten oder Militärs, all jene, die man des Abfalls vom wahren Glauben, des Polytheismus und der Heuchelei bezichtigen kann, weshalb ihr Blut zu vergießen ist und ihre Frauen gefangen zu nehmen sind. Dennoch unterscheiden sich die Beweggründe der beiden Gruppierungen, in Terror und Mord Zuflucht zu suchen.

Unterdessen hat parallel dazu eine gegenläufige Abwanderung in Richtung Europa eingesetzt: Die Zahl der jungen Migranten, die aus Gebieten stammen, in die der IS vorgestoßen ist, oder aus daran angrenzenden Regionen, welche die Bedrohung durch den IS spüren, ist in den letzten zwei Jahren markant angestiegen. Gar nicht zu reden von der Flucht etlicher schiitischer Kämpfer, die der sogenannten schiitischen »Volksmobilisierung« (al-Haschd ash-sha’abi) angehörten. Die meisten dieser jungen Männer haben resigniert, sie haben in der Provinz al-Anbar und in Mossul an den Brennpunkten gekämpft, an den gefährlichsten Frontabschnitten, einerseits wissend, dass sie von den Bewohnern, für deren Befreiung sie angetreten waren, gehasst wurden, und andererseits gezwungen, die Korruptheit und Käuflichkeit der eigenen militärischen und politischen Führung mitzuerleben, während sie selbst über Monate keinen Sold erhielten.

Eines müssen wir erkennen: Wir stehen vor einem Modell, das mit zwei konträren Phänomenen aufzuwarten scheint, einer Wanderbewegung aus dem Norden, dem reichen Westeuropa, in die Kriegs- und Krisenregionen, und im Gegenzug einer Abwanderung aus den Krisenregionen, aus dem armen, verwüsteten und perspektivlosen Süden in Richtung Norden, in das reiche Europa. Oder wenn wir die Sprache der Religionen bemühen: eine Migration junger Frauen und Männer, die mehrheitlich christlich erzogen sind – wobei es keine Rolle spielt, ob sie tatsächlich christlicher oder muslimischer Herkunft sind, da in Europa das allgemeine Klima, die Schulen und die tagtäglichen sozialen Kontakte insgesamt christlich geprägt sind –, und auf der anderen Seite eine Abwanderung junger Frauen und Männer, die islamisch erzogen worden sind, wobei es auch hier unerheblich ist, ob es sich um Schiiten aus dem Irak oder Sunniten aus Syrien oder gar Christen oder Angehörige anderer religiöser Minderheiten handelt, da das allgemeine Klima, die Erziehung, die Schule, die Alltagskontakte, alles, was sich außerhalb des häuslichen Umfelds der Familie abspielt, einen islamischen Stempel trägt und sich die jeweiligen Lebenswirklichkeiten voneinander nur der Form nach unterscheiden. Die einen machen sich auf den Weg, um an Krieg und Morden teilzuhaben, und die anderen migrieren auf der Suche nach Arbeit und einem freien, sicheren Zufluchtsort. Was auch der Dialektik des Lebens entspricht: Tod und Leben sind zwei einander unvereinbar gegenüberstehende Pole.

Da mein Interesse in diesem Essay jenen gelten soll, die den Tod produzieren, und nicht jenen, die vor Tod, Hunger und Zerstörung fliehen, werden die nachfolgenden drei Abschnitte versuchen, den Terror selbst und seine mannigfaltigen Gesichter zu erforschen und zu untersuchen, seine Motive und seine Forderungen. Oder mit einem Wort: Wir werden eine Reise in den Kopf des Terrors unternehmen, sofern der Terror denn einen solchen hat, und dies gleichermaßen in der Literatur wie im wirklichen Leben.

Richtig ist, dass der Terror stets ein einziges Ergebnis zeitigt: den Tod. Doch es wäre falsch zu denken, dass wir eine Deutung des Terrors liefern könnten, ohne auf seine vielfältigen Gesichter zu sprechen zu kommen, auf seine verschiedenen Wesenszüge. Denn der Terror ist so alt wie die Menschheit, so vielfältig wie der Mensch und die Orte, an denen er lebt, und seine Gleichsetzung mit einer einzigen Seite, sei es dem Islam, dem Christentum oder dem Judentum, ist bloß eine Maske der Berichterstattung über den jeweils konkreten Terrorakt. Wollten wir uns einen kleinen Scherz erlauben, ließe sich sagen, dass Präsident Bush Junior, jener Bush Junior mit dem abstoßenden, gelangweilten Gesichtsausdruck, nicht in einem einzigen Punkt Recht hatte. Nicht in einem einzigen! Abgesehen von seiner bösartigen Dummheit, die ihn von der »Achse des Bösen« sprechen ließ, in der er fünf Staaten in einen Hut warf: den »sunnitischen Irak Saddam Husseins«, das »sunnitische Libyen Muammar Gaddafis«, den »schiitischen Ayatollahstaat Iran«, das »sunnitische Afghanistan der Taliban« und das »buddhistische, konfuzianische Nordkorea unter der Diktatur Kim Il-Sungs«. Eine erstaunliche, sonderbare Mischung, die Sunniten, Schiiten und Buddhisten in eins setzt!

»Erzähl nie nur eine Geschichte, sonst kentert das Kanu«, lautet eine alte Indianerweisheit, überliefert von dem amerikanischen Schriftsteller und Weltenbürger Ernest Hemingway, der den Indianern als Junge in Begleitung seines Vaters auf ihren Streifzügen durch die Wälder des Fox River begegnete, wie Hans-Jürgen Balmes in seinem Nachwort zu Hemingways Roman Wem die Stunde schlägt berichtet1.

Wir hören von einem Terroranschlag und glauben, dies sei ein Ereignis, das uns zutiefst überraschen müsste, wir suchen nach einer Erklärung dafür, ohne daran zu denken, dass das, was sich soeben ereignet hat, nicht neu ist. Wir sehen das jetzige, sichtbare Gesicht des Terrors und wollen nicht in den Spiegel schauen, wollen nicht wissen, dass der Terror so alt wie der Mensch ist, dass er überall zu finden ist, dass seine Viren in der Luft schweben und es nur eine Frage der Zeit ist, bis er uns erreicht, uns treffen muss, da er uns umgibt wie unsere Atemluft. Und wenn wir den Kopf in den Sand stecken oder all jenen glauben, die nicht einen Tag ohne Geschrei auskommen – ich meine jenes Heer von Politikern und Experten, jene Könige des Pöbels und des Hasses, bei denen jedes Wort, das über ihre Lippen kommt, ein Samenkorn des Gifts ist –, dann erkennen wir nicht, dass die vergiftete Gefühllosigkeit, mit der sie ihre Parolen verbreiten, eine Ergänzung eben jenes Terrors ist, der wie ein Gespenst durch die Welt zieht und an unsere Türen klopft. Manch einer denkt auch, es genüge, wenn er dem Beispiel Blaise Pascals folgt, der schon wusste: »Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen«, und in seinen eigenen vier Wänden Zuflucht sucht, um seine Haut zu retten und ungeschoren davon zu kommen. Andere wieder beruhigen sich, indem sie sagen, solange der Terror deutlich sichtbar ist und ein bekanntes Gesicht trägt – unserer Tage das des Islam –, muss man sich mit anderen Geschichten nicht befassen, sondern kann sich mit einer Geschichte begnügen.

Doch wir müssen uns an die alte Weisheit erinnern, die die Indianer wie eine Warnung hüteten, damit das Boot in uns nicht kentert. Denn im Versuch, von unserer Welt auch nur ein Bisschen zu retten, soll hier mehr als nur eine Geschichte des Terrors erzählt werden.

I. Töten aus persönlichen Gründen oder aus Überzeugung?

Herostrat zwischen Ephesos und Paris

Als es am 18. November 2015, fünf Tage nach den Anschlägen von Paris und gleich nach der Verlautbarung der französischen Behörden, hieß, der mutmaßliche Drahtzieher der Anschläge, ein Belgier mit marokkanischen Wurzeln, sei bei den Polizeirazzien im Pariser Vorort Saint-Denis getötet worden, fühlte ich mich stark an Herostrat erinnert. Doch nicht in erster Linie an den altgriechischen Brandstifter Herostratos, der im vierten Jahrhundert vor Christi lebte und durch die Zerstörung des Tempels von Ephesos, eines der sieben Weltwunder der Antike, zu unsterblicher Berühmtheit gelangen wollte, sondern ich musste unwillkürlich an jene Erzählung gleichen Titels des französischen Existentialisten Jean-Paul Sartre denken, eine der fünf in dem Band Le Mur (1939) versammelten Novellen.

Die Erzählung, die erstmals 1950 in deutscher Übersetzung erschien2 und die ich ursprünglich Anfang der siebziger Jahre auf Arabisch gelesen hatte3, handelt von Paul Hilbert, einem kleinen, unverheirateten Angestellten, der in einer Handelsfirma arbeitet und allein in einer Pariser Wohnung im 6. Stock eines allem Anschein nach neu errichteten Wohnhauses lebt. Wobei die Höhe hier von Bedeutung ist, denn die Erzählung setzt auf dem Balkon der Wohnung ein. »Die Menschen muss man von oben sehen«4 – mit diesem Satz beginnt der Held der Erzählung seine Geschichte und er vermittelt uns, wie diese Höhe, in der er sich befindet, ihn in den Stand versetzt, Menschen und Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, was ihm ein Gefühl der Überlegenheit gibt. »Was ist nun, genaugenommen, meine Überlegenheit über den Menschen? Meine erhöhte Position, das ist alles: ich habe mich über das Menschliche in mir selbst erhoben und betrachte es. Deshalb liebe ich die Türme von Notre-Dame, die Plattformen des Eiffelturms, Sacré-Cœur und meine sechste Etage in der Rue Delambre. Sie sind ausgezeichnete Symbole.« (50) Wäre es ihm nur gegeben, würde er ein Leben auf dem Balkon vorziehen: »Auf dem Balkon einer sechsten Etage – dort hätte ich mein ganzes Leben zubringen sollen.« (50)

Diese symbolische Höhe lässt ihn eine moralische Überlegenheit über die Menschen empfinden, und wenn er gezwungen ist, hinunter auf die Straße zu gehen, also aus seinem Turm herabzusteigen, etwa um sich zur Arbeit ins Büro zu begeben, meint er zu ersticken, da es ihm, wenn er sich auf gleicher Höhe mit den anderen Menschen bewegt, schwerer fällt, diese als Ameisen zu betrachten, die sich »halb kriechend« fortbewegen. Er ist sich sicher, dass die Menschen seine Feinde sind (auch wenn sie dies nicht wissen), so wie er auch sicher ist, dass sie einander lieben, zusammenhalten und sogar ihm hier und da helfen würden, weil sie ihn für ihresgleichen halten würden. Aber wenn sie auch nur ansatzweise von seinen Fehlern wüssten, würden sie ihn verprügeln wollen, was sie später tatsächlich auch tun.

Damit Paul Hilbert sich dem Rest der Menschen weiterhin vollkommen überlegen fühlen kann, erwirbt er eines Tages einen Revolver: »Von diesem Standpunkt aus gesehen ging alles besser von dem Tage an.« (51) Denn Hilbert zufolge fühlt man sich stark, »wenn man ununterbrochen etwas bei sich trägt, was explodieren und knallen kann«. Und so fängt er eines Tages an, den Revolver in seiner Hosentasche bei sich zu tragen, wenn er sich auf seine Spaziergänge auf den Boulevards von Paris macht. Hat er anfangs und auch später zuweilen noch das Gefühl, der Revolver sei wie ein Krebs, der an seiner Hose zieht und sich kalt an seinen Oberschenkel legt, so spürt er mit der Zeit mehr und mehr, wie der Revolver beginnt, sich an seinem Körper zu erwärmen, bis Hilbert den Zwang empfindet, von Zeit zu Zeit nach dem »Gegenstand« zu tasten, wozu er öffentliche Bäder und Bedürfnisanstalten aufsucht. Nicht etwa, um zu urinieren, wie andere meinen könnten, sondern um die Waffe zu inspizieren, sie in die Hand zu nehmen und ihren kantigen Kolben zu betrachten, Millimeter für Millimeter. Und eines Abends, genauer gesagt an einem ersten Samstag im Monat, wie uns Paul Hilbert wissen lässt, kommt ihm schließlich der Gedanke, damit auf Menschen zu schießen.

An eben jenem kalten Januarabend macht sich Hilbert auf, um wie gewöhnlich nach Léa zu suchen, einer Prostituierten, die auf der Rue Montparnasse vor einem der Hotels zu stehen pflegt. Aber seine Suche bleibt erfolglos, vielleicht ist sie krank. Doch ihre Abwesenheit verschafft ihm Gelegenheit, einen langgehegten Wunsch in die Tat umzusetzen und eine andere Prostituierte mitzunehmen, eine beleibte Schwarze. Paul Hilberts Verhältnis zu Frauen ist gestört, es kann nicht dem entsprechen, was er sich wünscht. Bei Frauen spürt er keine Wärme und der intime Verkehr mit ihnen lässt ihn befürchten, »bestohlen worden zu sein«. »Man steigt drüber, schön«, beschreibt Hilbert derb den Geschlechtsakt, »aber sie verschlingen dir mit ihrem großen, behaarten Mund den Unterleib, und nach allem, was ich gehört habe, sind sie es, die bei diesem Tauschgeschäft bei weitem besser abschneiden«. (51) Richtig ist, dass er von keinem Menschen etwas verlangt, aber geben will er auch nichts. »Oder ich hätte eine kalte und gläubige Frau gebraucht, die mich mit Abscheu ertragen hätte.« (51) Es ist diese gestörte oder neurotische Beziehung, die ihn an jedem ersten Samstag im Monat mit der Prostituierten Léa auf ein Zimmer im Hotel Duquesne gehen lässt, und es ist dasselbe gestörte Verhältnis zu Frauen, das ihn Léas Abwesenheit nutzen lässt, um diesmal die beleibte schwarze Prostituierte anzusprechen, die er zuvor noch nie in der Dunkelheit der Rue d’Odessa hat stehen sehen. Die Frau ist »schon etwas reif, aber fett und rund« (52), doch gerade bei fülligeren Frauen empfindet Hilbert weniger Ekel, im Gegenteil, ihnen ist er gewogener, da sie, wie er sagt, »wenn sie ausgezogen sind, nackter wirken als andere«. (52) Außerdem regt diese Prostituierte seine Fantasie stärker an, da sie ihn an die Frau des Feldwebels erinnert, der im Haus gegenüber von seinem wohnt. Diese pflegt sich am offenen Fenster anzuziehen, wenn ihr Gatte abwesend ist, und Hilbert hat bislang vergeblich darauf gelauert, sie einmal nackt zu sehen.

Das gestörte Verhältnis Paul Hilberts zu Frauen offenbart sich uns ein weiteres Mal, wenn wir ihn in einem Zimmer des Hotels Stella mit der Prostituierten namens Renée sehen. Irrtümlicherweise denkt Renée, ihr neuer Kunde unterscheide sich nicht von allen anderen, auch wenn seine Wünsche sonderbar sind, da er weder mit ihr schlafen noch sein Glied in ihren Mund einführen will. Alles was er verlangt, ist, dass sie sich entkleidet und im Zimmer vor ihm auf und ab geht, um sich dann auf einen Stuhl setzen und ihre Beine zu spreizen. Doch als er beim Anblick ihrer Vulva in hysterisches Lachen ausbricht, steht Renée auf und sagt ihm, er sei ein dreckiger Kerl. Und als sein Lachen andauert, nimmt sie ihre Kleider und ist schon in Begriff, das Zimmer zu verlassen, ohne ihre Bezahlung erhalten zu haben, doch genau in diesem Augenblick richtet Hilbert seinen Revolver auf sie und verlangt erneut von ihr, im Zimmer auf und ab zu gehen, zu »exerzieren«, bis er in seine Hose ejakuliert.

Und genau an diesem Tag kommt Hilbert die Idee, auf die Straße zu gehen und wahllos auf Menschen zu schießen. Vier Tage lang beschäftigt ihn dieser Gedanke, ja tatsächlich unternimmt er einiges, das davon Zeugnis ablegt, dass sein Entschluss bereits gefasst ist. So fängt er an, auf einem Schießstand im Wald von Denfert-Rochereau den Gebrauch seiner Waffe zu üben. Dort schießt er auf Scheiben und tröstet sich über seine mageren Ergebnisse mit der Erkenntnis hinweg, Menschen würden, zumal aus kürzester Entfernung, später ein bequemeres Ziel bieten. Dann beginnt er, Werbung in eigener Sache zu machen, zum Beispiel am Montagmorgen im Büro seiner Firma, wo er sich den Kollegen gegenüber betont liebenswürdig gibt, als seien auch sie menschliche Zielscheiben, denen er sich mit größter Sorgfalt nähert. Doch als er hört, wie sich die Kollegen über Charles Lindberg unterhalten, den Helden, der mit seinem Flugzeug gerade den Atlantik überflogen hat, widerspricht er ihnen und sagt, er liebe nur schwarze Helden – schwarz im Sinne schwarzer Magie etwa –, was einen seiner Kollegen mit Namen Lemercier dazu bringt zu erwidern, dann sei er eben ein Anarchist. Doch Hilbert entgegnet ruhig, er sei mitnichten ein Anarchist, denn »die Anarchisten lieben die Menschen auf ihre Art«. Worauf Lemercier feststellt: »Also ein Verrückter.« Noch ehe die Situation eskaliert, greift ein anderer Kollege namens Massé ein, ein Mann, dem Hilbert eine höhere Bildung attestiert, und sagt: »Ich kenne Ihren Helden. Er heißt Herostrat. Er wollte berühmt werden und fand nichts Besseres als den Tempel von Ephesus, eines der sieben Weltwunder, niederzubrennen.« Was Hilbert sogleich zu der Frage bewegt: »Und wie hieß der Erbauer dieses Tempels?« (55) Massé muss eingestehen, dass er es nicht weiß, ja, dass er sogar glaubt, niemand kenne seinen Namen. »Wirklich? Und den Namen von Herostrat haben Sie behalten? Sie sehen selbst, er hatte gar nicht so falsch gerechnet.«

So endet die Unterhaltung im Büro, doch es ist die Erwähnung des antiken Brandstifters Herostratos, die Paul Hilbert letztendlich den Entschluss fassen lässt, das Feuer auf Menschen zu eröffnen. Den Namen Herostratos hatte er vor jenem Montagmorgen noch nie gehört, doch dessen Geschichte fasziniert ihn. Denn schließlich ist dieser Brandstifter schon seit mehr als zweitausend Jahren tot, seine Tat aber leuchtet noch immer wie ein schwarzer Diamant. Anfangs jagt Hilbert der Gedanke, sein eigenes Schicksal werde kurz und tragisch sein, Angst ein, doch mit der Zeit gewöhnt er sich daran. Ja, wenn er auf die Straße tritt, fühlt er in seinem Körper eine merkwürdige Gewalt, da er seinen Revolver bei sich trägt, »dieses Ding, das explodiert und knallt«. Doch die Explosion wird nicht aus der Waffe kommen, sondern aus ihm – Paul Hilbert – selbst. Dieses neue Gefühl, das von ihm Besitz ergriffen hat, sagt ihm, dass er selbst »der Rasse der Revolver, der Granaten und Bomben« angehört. »Ich selbst würde eines Tages, am Ende meines dunklen Lebens, explodieren und die Welt wie ein Magnesiumblitz mit einer heftigen und kurzen Flamme erhellen.« (56) In jenen Tagen hat er jede Nacht denselben Traum, nämlich ein Anarchist zu sein, der sich am Weg des Zaren mit einer Zeitbombe in der Hand versteckt hält. »Zur vorgesehenen Stunde erfolgte die Wagenauffahrt, die Bombe explodierte, und wir flogen vor den Augen der Menge in die Luft, ich, der Zar und drei goldüberladene Offiziere.« (56)

Hilbert geht nun ganze Wochen hindurch nicht mehr ins Büro, er fängt stattdessen an, auf den Boulevards zu spazieren, mitten unter seinen künftigen Opfern, oder er schließt sich in seinem Zimmer ein und schmiedet an seinem Plan. Anfang Oktober wird er entlassen. Und erst jetzt, da er arbeitslos ist, wird sein Traum Wirklichkeit werden. Die freie Zeit, die seine Beschäftigungslosigkeit ihm beschert, nutzt er, um einen Brief zu entwerfen, von dem er hundertzwei Kopien anfertigt, die er an berühmte Autoren schickt, um sie darüber zu informieren, was er vorhat: »Sicher sind Sie neugierig, nehme ich an, zu erfahren, wie ein Mensch so aussieht, der die Menschen nicht liebt. Nun – so einer bin ich, und ich liebe sie so wenig, dass ich sogleich ein halbes Dutzend von ihnen töten werde. Vielleicht werden Sie sich fragen: warum nur ein halbes Dutzend? Mein Revolver fasst nur sechs Patronen.«

Und auf die Frage, warum er dies tun wolle, antwortet Paul Hilbert, er könne die Menschen einfach nicht lieben. Und er hoffe, die anderen würden ihn verstehen, denn schließlich habe er alles unternommen, um die Menschen zu lieben, sei aber in seinem Bemühen gescheitert. Zumindest ist es das, was er behauptet, oder der Punkt, an dem er meint, zu sein. Die Zeitspanne, die ihm noch bis zur Umsetzung seines Vorhabens bleibe, betrage nur mehr einen einzigen Tag, denn schon in den morgigen Zeitungen werde man lesen können, »dass ein gewisser Paul Hilbert in einem Tobsuchtsanfall fünf Passanten auf dem Boulevard Edgar-Quinet niedergeschossen hat«. (58) Doch Hilbert versichert voller Zufriedenheit, er sei nicht »tobsüchtig« sondern im Gegenteil »sehr ruhig«. Aber weiß ein Mörder, dass er bei der Verübung seines Verbrechens »ruhig« sein wird? Dass er kaltblütig töten wird?