Marlen Schachinger, Martiniloben

© 2016, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten.

 

 

Wir bedanken uns für die finanzielle Unterstützung bei:

Land Niederösterreich, Stadt Wien und Land Oberösterreich

 

 

Lektorat: Nadine Kube

Cover und Satz: Jürgen Schütz

Coverbild: © esdras700 – fotolia.com

EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer

ISBN: 978-3-90306-43-9

 

Printausgabe: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen

ISBN: 978-3-902711-58-8

 

 

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Marlen Schachinger

wurde 1970 geboren und lebt in Niederösterreich. Sie veröffentlichte mehrere Romane sowie Prosa, Lyrik und Essays in nationalen und internationalen Literaturzeitschriften und ist Herausgeberin mehrerer Anthologien, zuletzt des Erzählbands übergrenzen (Septime 2015). Sie hält die künstlerische Leitung des Instituts für Narrative Kunst Niederösterreich und ist Dozentin ebenda sowie an der Abteilung für Vergleichende Literaturwissenschaft in Wien. 



Marlen Schachinger fand bereits mit ihrem Debüt im Jahr 2000 Beachtung bei Literaturkritik wie Kolleg/innen. Seither machte sie sich einen Namen dadurch, dass jedes Werk in einer gänzlich anderen Textur gewoben ist als vorhergehende oder nachfolgende. Dennoch besteht eine Gemeinsamkeit: Schachingers Erzähluniversen sind organische Körper, gekennzeichnet durch ihre Sprachkunst. Manchmal weist ihr erzählendes Darstellen den Charakter einer harten Kaskade auf, kein Wort zu viel; manchmal gleicht es eher dem poetischen Gewucher einer Passiflora oder dem Spiel eines Kaleidoskops. Augen-Blicke und Begebenheiten – mit feinen oder groben Strichen – zu zeichnen ist ihr relevant, das Erzählte wertend zu kommentieren interessiert sie hingegen nicht: Möge sich jede und jeder selbst ein Bild und Gedanken machen. Daher braucht die Lektüre ihrer Werke Zeit und Aufmerksamkeit. Keinesfalls sind es Konsumationsromane, die man in wenigen Happen verschlingt, verdaut und ausscheidet. Sie selbst sagt: »Literatur ist nährendes Lebens-Mittel, eine Notwendigkeit, um zu sein und der Welt in Reflexion zu begegnen.« 

Die Genauigkeit ihrer Sprache ist es, die ein aufmerksames Hinhören und -sehen erzwingt, weil sie eine Präsenz entwickelt, der man sich nicht zu entziehen vermag. Diese dichte Bildflut prägt ihre Prosa, welche im Zusammenspiel mit ihrer Kunst der Komposition von einer Vorliebe für rhythmische Strukturen, Zahlen und Formen erzählt. Wenig erstaunlich sind daher auch die vielen Auszeichnungen und Preise, die sie für ihr bisheriges Schaffen bereits erhielt.



2016 erscheint ihr erster Roman bei Septime: Martiniloben.

 

Klappentext

Mona will der kalten Anonymität, dem aggressiven Gegeneinander und dem permanenten Stress in der Stadt entfliehen. Sie zieht in ein Dorf an der Landesgrenze, wo sie sich Ruhe und ein solidarisches Miteinander erhofft.

Fortan pendelt sie zwischen beiden Lebenswelten und stellt fest, dass diese sich im Innersten ähneln. Das Dorf entpuppt sich als ebensolche Hölle wie die Stadt – nur mit einer anderen Dynamik: Mikrokosmos einer Gesellschaft, deren Klima durch Unsicherheit und Ängste dominiert ist, die einen radikalen Egozentrismus und rechte Tendenzen hervorrufen.

Der vermeintlich erstarkte Gemeinschaftssinn äußert sich in manipulativer Sozialkontrolle: Fremdes wird kritisch beäugt, kommentiert und im Zweifel – ausgeschlossen. Als Mona sich für die im Dorf untergebrachten Flüchtlinge einsetzt, erfährt sie Missgunst und Ausgrenzung am eigenen Leib.

 

Durch Gerüchte genährt und Hetze geschürt, kippt die Stimmung

im Dorf in Übergriffigkeit. Zum Martiniloben, dem Fest des Jahres, dem großen ländlichen Sauf- und Fressgelage, eskaliert die Situation.

 

»Hass ist ein verstohlen schleichendes Gift, das in der Angst wirkt.«

 

Ländliche Idylle – mehr Schein als Sein: Mona, ehrgeizige Doktorin der Philosophie, die an der Uni um ihre Professorenstelle kämpft und in ihrem Dorf um die politische Moral, muss lernen, dass ihr Engagement hüben wie drüben Ablehnung hervorruft.

Als wäre das nicht genug, folgt ihr die eigene Vergangenheit wie ein Schatten und greift in ihr gegenwärtiges Leben ein. Sie fühlt sich zunehmend fremdbestimmt und isoliert am Rande der Gemeinschaft.

Private wie berufliche Sorgen und Streitigkeiten bringen Mona in Bedrängnis – nach und nach bekommt sie es mit der Angst zu tun.

 

Derweil verdichtet sich im städtischen Raum die Problematik: Die Fronten zwischen Arm und Reich verhärten sich, Gewaltexzesse und Unruhen sind an der Tagesordnung, die Gesellschaft kollabiert, die Politik ist hilflos. Wer kann, flieht aufs Land und bunkert sich ein.

Zu Martini prallen beide Lebenswelten aufeinander: Das sich bedroht sehende dörfliche Kollektiv holt zum Befreiungsschlag aus, um sich aller Irritationen zu entledigen – denn hier am Ende der Welt hat alles seine eigenen Gesetze.

 

 


 

Marlen Schachinger

Martiniloben

Roman

 

 

 

 

 

»das dorf ist eine versammlung von netten menschen,

die untereinander alle verfeindet sind«

Friedrich Achleitner

 

 

 

 

 

Prolog I

 

 

 

 

 

›Martinus ist einer, der Krieg führet wider Sünden und Laster, einer, der da reizet und fordert den Teufel zum Neid; nicht um der Bosheit, sondern um seines seligen Lebens willen, denn der Geist solle sein der Herr, das Fleisch der Knecht‹, berichtet Severus Sulpicius über Martini Leben.

Geboren ward Martinus, auf jeden Fall zuvor; und dies geschah, so ist es dokumentiert, zu Pannonien, in der Stadt Savaria, die heute auf den Rufnamen Szombathely hört – so sie will. Schließlich befindet sie sich in Ungarn; nach gegenwärtigem Ermessen, welches bekanntlich im Hinblick auf Landesgrenzen niemals in Stein gemeißelt ist.

Erzogen wurde Martinus jedoch zu Pavia in Italien, wo sein Vater der Ritterschaft Meister war – und das heute zwei Stadtumfahrungen besitzt, Autostrada 53 und 54; keine davon kostenpflichtig zu nutzen, denn fern sollen sie bleiben: ›die lärmenden Fremden, die nichts außer Ärger mit sich bringen, schicken die Söhne als Vorhut, sie kommen daher und machen sich breit, holen alsbald und sicherlich Väter, Mütter, Frauen, Kinder nach – nein, besser, sie ziehen durch, führen anderswo ihre Geschäfte, ihre Kriege …‹

Denn das sollten die Söhne für ihre Väter, so lautete auch einst schon das Gebot des Kaisers. Und daher geschah es, dass Martinus im 15. Jahr Ritterschaft an sich zu nehmen hatte, was den Vater mit geschwellter Brust auf und ab stolzieren ließ, während Martinus wehklagte; hatte er doch nie solch ein Verlangen gehabt. Tosen und Töten lagen nicht in seiner Natur, die eine aufmerksame war, eine asketische: Was brauche der Mensch? Ein Dach über dem Kopf, eine Bettstatt, um ihm Ruhe zu gewähren, und einen Topf, in dem es sich rühren lasse. Keiner könne schließlich auf mehreren Matratzen zugleich seinen Frieden finden. Und das lag nicht an Wanzen oder Kälte – ja, solche Winter waren es damals, bittere, und wer von ihrer Ranküne nur Frostbeulen davontrug, durfte sich glücklich schätzen.

Am Stadttor zu Amiens war es, dass Martinus und die anderen Equites, eingehüllt in ihre Mantelumhänge, die zur Hälfte ihr Eigen, zur Hälfte dasjenige des Kaisers waren, auf einen jener unzähligen enervierenden Bettler trafen, welche über das Schicksal lamentierten. Solches darf zumindest angenommen werden, denn wo auch immer man ihnen begegnet, verständliche Sprache beherrschen sie kaum je, weshalb sie jedem Vernunftbegabten ein Ärgernis sind; mäßig bekleidet obendrein, die Handflächen hochgereckt. So stehen sie stets im Wege, ungeachtet all derer, die an ihnen vorbeieilen – ob nun zu Pferde oder zu Fuß; motorisierte Fuhrwerke denken wir aufgrund der Verhältnisse der Zeit aus unserem Bild. Dafür fügen wir rechts und links der Tore, welche ein jeder zu passieren hat, der in die Stadt will, eine Mauer ein. Solche kennen wir ja in heutigen Zeiten, allerorts schreiten die Bauarbeiten voran, nur den NATO-Draht, den wir so gerne zur Abwehr auf unsere Betonwände setzen, den gab es damals nicht, am Stadttor zu Amiens:

Ein Bettler, viele Ritter, und Letztere wandten die Köpfe rasch ab, weniger der Augen als vielmehr der Nasen wegen, hoffend, dass der Wind nicht drehe; des Mannes Elend wollte keiner riechen. Martinus hingegen, in Waffen, im roten Mantel – zur Hälfte nur sein Eigentum, zur Hälfte des Kaisers –, sah den Mann an und hielt inne, griff nach seinem Schwert und teilte entzwei, um zu geben, was ihm gehörte, ungeachtet der Spottköpfe, die um ihn waren. Wahrhaft lächerlich sah er nun aus, mit diesem ausgefransten Fetzen über der einen Schulter, sagten die einen. An anderen Lippen nagte schlechtes Gewissen, weshalb sie sich rechtschaffen erzürnten: Jeder sei sich schließlich selbst der Nächste, und Martinus nähre bloß die Misere, um sich einen Heiligenschein zu pinseln. Deshalb – oder vielmehr dem zum Trotz – wuchs die Legende und machte Martinus berühmt.

Im Jahr 356 quittierte er in der Nähe von Worms den Militärdienst, weil sich seine Vorstellung eines erfüllten Lebens nicht mit dem Abschlachten anderer verbinden ließ. Ein Drückeberger sei er, spie man ihm vor die Füße, und daher schrieb Martinus an den Kaiser:

»Wenn du meinst, ich sei ein Feigling, so will ich morgen ohne Waffen auf den Feind zugehen.«

Der Kaiser winkte gnädig ab. Und Widersacher zur Genüge würde Martinus bald anderswo zu gewärtigen haben – unter denjenigen nämlich, die später einmal Soutanen und kirchliches Ornat trügen. Denn das Volk drängte, Martinus solle ihr Bischof werden. Die Vorbehalte des Klerus konnten seine Wahl ebenso wenig verhindern wie Martinus’ Versuch, sich durch Verbergen im Gänsestall zu entziehen. Hätte der junge Mann einen Biologieunterricht genossen oder aus anderer Quelle mehr über das Wesen der Tiere allgemein und dasjenige dieses Federviehs im Besonderen gewusst, hätte er sich für den Kriegsgott Mars interessiert oder die Wachtiere der Stadt Rom, wäre ihm die Unsinnigkeit seines Fluchtortes sicherlich bewusst gewesen. Ihr empörtes Schnattern über den Eindringling tat allen Martinus’ Anwesenheit kund.

Wen also sollte es wundern, dass diese Verräter seither zu seinem Gedenken auf den Speisekarten landen? Und wenn schon ein Schlachtfest, so doch bitte am Hauptzinstag: zwei Gänse mit einem Hieb, könnte man sagen. An jenem Tag begann nicht nur das neue Wirtschaftsjahr, auch die Löhne hatten ausbezahlt zu werden, Pachtverträge wurden geschlossen, Steuern beglichen – und wer Knecht oder Magd war und den Dienstherrn wechseln wollte, konnte nun die Gelegenheit ergreifen und gehen; oder bis Lichtmeß ausharren, komme, was wolle. ›St. Martin ist ein harter Mann / für den, der nicht bezahlen kann‹, reimte der Volksmund, der kaum je um Antworten verlegen ist. Nun da alles bezahlt und beglichen war, warf man einen Blick in den Speicher: Hart waren diese Tage außerdem für diejenigen, die abzuwägen hatten, ob sich darin ausreichend Winterfutter befand. Wozu einer Gans beim Verhungern zusehen? Besser, es wärmte einem ihr weniges Fleisch die Knochen. Und so kam vor Beginn der Fasten- und Adventszeit das Schlachtermesser zum Einsatz. Sicher war sicher. Askese in Martinus’ Nachfolge? Damit könnte man gut bis drei Minuten vor dem Tod warten. Ebenso hielt man es schließlich mit der eigenen Sündhaftigkeit. Weshalb auch nicht, wenn einem doch die Kirche Ablass einräumte, kraft der Binde- und Lösegewalt Jesu Christi, damit der Vater der Barmherzigkeit gnädigen Erlass der für Sünden geschuldeten zeitlichen Strafen gewähre.

So war es nur natürlich, dass die Menschen angesichts der drohenden sechswöchigen Entzugs- und Fastenzeit entschieden, sich selbst zuvor noch einmal so richtig und zu Recht Fülle zu gönnen: dem Wanst Entwicklungshilfe leisten und der Leber ausgiebig Arbeit verschaffen, um der kommenden Entbehrung vorzubeugen. Das Leben wollte schließlich gefeiert werden! Und die Traubenernte sowieso. Vor den ernsten Fasttagen war höchste Zeit für eine letzte dreitägige Opulenz mit Pomp und Gloria: Martiniloben.

 

Lesgänse liegen bereit, all den tatkräftigen Händen zum Dank, die zuvor bei der Weinlese Gesellschaft leisteten und die nun – ebenso eifrig – nach dem besten Stück im Fleisch wühlen; gefüllt mit Maronen-Apfel-Mandelsplitter, in Preiselbeeren getunkt. Wer zu lange zaudert, schaut durch Finger, die sollen vor Fett triefen – hastig die Kuppen rechter Hand abgeleckt, linker Hand das nächste Stück hurtig gespießt, auf den Teller, ein weiterer Happen den Schlund hinab, da säbelt das Messer schon wieder, und großzügig der Wein. Er ist es, weswegen man doch zusammenkommt: um seinen Charakter zu prüfen, noch ein Gläschen, noch ein wenig Fleisch, mehr, mehr, von den Lippen das Fett, im Mund läuft einem das Wasser, ein weiteres Glas Wein, ein wenig Fleisch dazu, und gut ist er, der junge, fein ist er, der Junker, spritzig und leicht – oh, diese Frische im Bouquet, noch ein Glas, und dieses angenehme Aroma, weißer Pfeffer, Tabak gar, durchaus, ein wenig Zitrus auch, noch ein Glas, die Frische ist’s am Gaumen, die besticht, was für ein Fest, was für ein Essen, und der Junker soll den eigenen Namen tragen, Ehre sei dem, der die Fasttage mit dem umwerfendsten Delirium beginnt, gesegnet derjenige, dem eingeschenkt wird …

 

 

 

 

 

»Seit die Welt ein Dorf ist, gibt es das Dorf nicht mehr.«

Dominika Meindl

 

 

 

 

 

Prolog II

 

 

 

 

 

Starrer Novembernebel, oben in den Weinbergen. Trotzdem hatte sich das gesamte Dorf versammelt. Man feierte ein würdiges Begräbnis – eine schöne Leich’, wie man nachher hügelauf und hügelab erzählen würde, ja, für die sang sogar der Kirchenchor: ›Es mög’ dein Leib in Frieden ruh’n, zum Friedhof draußt, da kommt er nun.‹

Zwischen den Gräbern kroch die Kälte aus der Erde, drang unter Hosenbeine, legte sich auf Nylonstrümpfe. Der schlichte Sarg wurde in das Erdloch hinabgelassen. Keine Kränze zierten das Grab. Man trug Schwarz und in den Händen eine gelbe Nelke. Wer bettlägerig und somit entschuldigt war, für den brachte ein anderer eine zweite Blume zu Grabe. So hatte das Dorf es beschlossen, so wurde es gemacht. Sie alle fanden sich allmählich in Ruhe und Frieden ein, und ihr Atem fügte sich in den Nebel.

Die gelbe Nelke, Blume der Verachtung, hatte die alte Dorfgärtnerin für alles, was man am Friedhof zurücklassen wollte, ausgesucht, 364 gelbe Nelken. Für dieses Grab sollte es keine weißen Lilien, keine roten Rosen geben; und ganz sicher keine Callas, keine Chrysanthemen.

Der Jagdverein stand in Montur bereit, Gewehre geschultert. Laub raschelte im Wind, sonst herrschte Schweigen – bis der Kirchenchor das nächste Lied anstimmte: ›Ihr habt gekämpfet, ihr habt gelitten‹, und die Chormitglieder sahen den Dorfbewohnern ins Gesicht, ›ihr habt getragen viel Leid und Schmerz‹. Es war eindeutig, dass diese Zeile vor allem einer galt. Nahe dem Grab stand sie, ihr Blick starr auf den weißen Sarg in der Grube, ein Kind an ihren Körper geschmiegt.

Das Dorf wusste, man war schuldig geworden, weil man erst an diesem Novembertag, die Wangen gerötet vor Kälte, zusammengerückt war; dennoch würde kein Finger auf einen in ihren eigenen Reihen weisen. Die schwarz gekleideten Gestalten um das Grab zeigten verbissene Gesichter; wie auch der Pfarrer, der jetzt sprach: »Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.«

364 gelbe Nelken folgten. Schon machte sich der Totengräber hastig ans Werk: Woran keiner mehr denken wollte, sollte hier, am Rand des Friedhofs, verscharrt sein. Gnädig hatte man dieses Eck dem Unglauben gewährt. Der Totengräber schnaufte ob der gefrorenen Erde. Man stand und sah ihm zu. Sicher wollte man sich sein, dass die schöne Leich unter der Erde bliebe und keiner fürderhin Namen nennen würde.

»Geschafft«, sagte der Totengräber alsbald, trat mit seinen schwarzen Stiefeln den Erdhügel fest. Die Jäger und die Bürgerwehr blickten einander ins Gesicht und folgten seinem Beispiel. Zustimmend nickte der Bürgermeister, der Kirchenchor intonierte: ›Du wirst den Tod in uns wandeln in Licht, dem Leben gibst du ein neues Gesicht …‹ So sangen die Chormitglieder in den Rücken der Menschen, die sich mittlerweile auf den Weg machten, zögerlich zuerst, bald immer frohgemuter ausschreitend; allen voran Pfarrer, Bürgermeister. Die Frau und das Kind hingegen blieben, bis die Sänger ihre Münder schlossen.

Im Pfarrhof hatte man aufgetischt. Bald war ein Lachen zu hören, eine sichtliche Erleichterung brach sich Bahn, mit jedem Tropfen Alkohol nahm sie zu: So, wie es war, konnte es gutgeheißen werden. Die Frau und das Kind wurden gedrängt mitzukommen, ein letztes Mal, um der Toten und des guten Willens willen, den hätten doch auch sie zu zeigen, vergeben und vergessen, kein Finger sollte Schuld zuweisen, kein Mund sprechen.

Die Winzer im Dorf hatten sich nicht lumpen lassen, randvoll wurde allen eingeschenkt, auch der Frau. »Ausgestanden ist es, aus und vorbei. Du aber, du gehörst zu uns. Daran wird sich nichts ändern«, sagte man ihr in diesen oder anderen Worten und sah das Kind nicht an. »Wir müssen doch zusammenhalten«, sagte man und nötigte die Frau zum Essen, Kekse, die man hierzulande ›Krapferl‹ nannte, weil man wusste, dass sie Süßes mochte. Und die Dorfärztin kam, schenkte ihr Wein nach: »Ich habe für euch eine Kur beantragt. Höhenluft braucht ihr. An den Semmering; ein bisschen Distanz zu allem, bevor ihr wirklich aufbrecht, wohin auch immer – damit du aufhörst, dich verrückt zu machen.«

Ja, mischte sich der Bürgermeister ein, der neben die Ärztin getreten war, sie müsse sich erholen, nun, da es überstanden sei; das fänden alle hier im Dorf, und das Dorf sah zu ihnen herüber und nickte: Sie solle sich ausruhen. Eine Auszeit, die habe sie sich verdient, sie müsse an die Zukunft denken, nach vorne schauen. Und schweigen. Das Kind – sah man lieber nicht an. Und am Rand des Friedhofs lag ein Mensch im Sarg, unter feucht-schwerer Erde begraben. Keiner aus dem Dorf trauerte, obgleich man Bescheid wusste …

 

 

 

I

 

Freitag, 29. September

 

 

 

Am 29. Dezember, einen Tag, nachdem der Herzinfarkt der Winzerin Marie, eine Schönheit einst, beschlossen worden war, öffnete sich das grüne Tor gemächlich, und ›die schöne Marie‹ wurde, verborgen in einem schwarzen Transportsarg, mit den Füßen zuerst herausgetragen …

 

 

53°20’06.00’’ Nord, 6°15’36.00’’ West

 

… da einer von hinten gegen Monas Kehlkopf drückte, kein Einatmen, sie taumelte, drohte zu stürzen, tastete sich zur nächsten Bank, Iveagh Gardens, Dublin, sagte sie sich, als würden jene drei Wörter für Boden sorgen, und den Kopf an die hohe Steinwand hinter sich gelehnt, keiner würde sie so attackieren können. Bloß ein Schwindel, nicht verwunderlich, sie hatte das Mittagessen ausgelassen, um der Kongressgesellschaft zu fliehen, all der Enge, welche ihr die Ruhe nahm.

Ihrem Sitzplatz gegenüber spie ein Wasserfall unregelmäßig seine Fontänen. Mona öffnete die Hand. Kurz davor hatte sie eine volle Blüte gehoben, um daran zu riechen. Bevor sie jedoch den Duft einsaugen konnte, zerfiel die Rose, entblätterte sich in ihre Hand, sie hatte die Finger um die fragilen Häute geschlossen, ihre Sonnenwärme umfassend, war weitergegangen, bis diese Attacke – nein: Unwohlsein, korrigierte sie sich sogleich –, ja, ein bizarrer Schwindelanfall sie auf diese Bank zwang. Mona sah dem Wind zu, wie er die samtenen Blätter auf und davon trug, ins Wasser, dessen Wellenbewegungen sie hin und her warfen, das Spritzen und Sprühen der Fontäne ließ ihnen keinen Frieden – bis das Wasser versiegte. Grundlos.

Der Brunnen hörte schlicht zu speien auf, zu atmen, und Mona hielt wie er die Luft an, als plötzlich eine einzige Fontäne mit dem typischen Stolpern hochschoss – und Monas Herz raste. Kein Grund sich aufzuregen, sie wisse doch, wie Brunnenpumpen funktionieren, und sie hatte ins Wasser gestarrt, ins Trübe, das erneut im Schweigen versunken war, bis – ein Pfiff! Hastig drehte sie den Kopf, die abrupte Bewegung verursachte stechenden Schmerz, sodass ihr Tränen kamen – die Augen schließen, den Blick senken: Pflastersteine, vom Regen an den Rändern glattgeschliffen, wie am Trottoir rund um den Trevi-Brunnen, Rom, Emil und sie, eine Münze in der Hand, Glassplitter überall am Boden, verzerrte Bilder, aus den Schatten kamen sie, eine Flut flüchtiger Elemente, kaum zu erhaschen, zuerst vor allem in den Nächten, um sich bald in die Textur der Tage zu weben, sie sei bloß überarbeitet, das sei alles, sagte sie sich, Emils gestrige Telephonworte wiederholend, ›du bist bloß überarbeitet‹, deshalb kommen die Erinnerungsschwaden, die dir den Atem nehmen, aus allen Ecken, erzählte Worte ohne Sprechgesicht, vernommene Worte, vermengt mit einem kleinen Ausschnitt Welt, in jenem Moment wahrgenommen, ›bald bist du wieder daheim‹, und er hatte sie nach ihrer Lektüre gefragt, ein Krimi, Die Kellerkatze und der Tod, ob das denn klug sei, sie nicht außerdem aufrege? Doch Mona hatte seine Besorgnis fortgelacht. Wer Drohbriefe erhalte, werde sich wohl kaum eines Kriminalromans wegen ängstigen.

Sie wollte einzig nach Hause. Nicht Emils wegen. Sie hatte eher den Verdacht, dass ihr Partner durchaus froh war, sie für eine Woche los zu sein. Es hatte auch nichts mit Ingar zu tun, der sich an diesem Morgen verlegen dafür entschuldigt hatte, was in der vergangenen Nacht geschehen war, es sei nicht seine Art; eigentlich. Nein, er könne sich selbst nicht erklären, was mit ihm los gewesen sei. Sie hatte abgewunken und ihn an ihren Tisch gebeten. Auf einer der Morgenzeitungen prangte das Wort ›Sex-Terror‹ in roten Lettern als Aufmacher; damit ließ sich sicherlich der Umsatz erhöhen. Eine andere Zeitung, deren Schlagzeile Mona ihm übersetzte, fragte, ob ›unsere Frauen‹ wohl bald ›so‹ aussähen, daneben das Bild einer mit einer Burka Verschleierten, weil Männer es einfordern könnten, um Übergriffen zu wehren – die Wahrheit liege doch immer in den Schatten, kein Schwarz, kein Weiß, sagte sie zu Ingar, und er erzählte, kurz innehaltend, um einzuräumen, er sei sich unsicher, in welchem muslimischen Land es geschehen sei, dass sich die Männer den verordneten Tschador ihrer Frauen überzogen, um Gegenposition zu beziehen: Auch dieser Stein gehöre ins Mosaik, selbst wenn ihn viele nicht darin sehen wollen, und Mona stimmte ihm zu, erkundigte sich, ob er es auch einmal erprobt habe. Irritiert sah Ingar sie an. Mona erzählte, wie sie vor Jahren gemeinsam mit zwei Studentinnen einen solchen Selbstversuch unternommen habe: Einen Tag und eine Nacht waren sie im Tschador durch die Stadt spaziert, um zu erleben, was es bedeuten könnte, so gekleidet durch eine mitteleuropäische Metropole zu gehen – falls ihre Hauptstadt diese Bezeichnung überhaupt verdiente; wie eine Frau die sie umgebende Welt empfand, hüllte sie sich ein, war sie visuell als Individuum nicht existent. Sie hatte gestaunt, da sie sich unter dieser Tarnkappe einerseits geborgen gefühlt, sich andererseits gefragt hatte, wer beständige Unsichtbarkeit wünschen könnte, und Mona sah kurz zu Ingar hinüber, der erneut rot geworden war. Stand ihm nicht schlecht, und Mona goss ihm und sich Kaffee nach. Die Situation, erzählte sie, sei gekippt, als ein Mann die kleine Gruppe aus zwei Studentinnen und ihr unflätig anpöbelte, über den sie im Gegenzug mit aggressiver Zunge herfiel. Sandsack und Selbstverteidigung, lautete ihr Schlusscredo, seien ihr lieber, und Mona stimmte in Ingars Lachen ein, während sie den gebeizten Lachs großzügig in die Meerrettichsauce tunkte, was er aufgrund seiner Vorliebe für Senf-Dill als Beigabe irritierend fand.

Was bei alldem final herauskommen solle, sie habe keine Ahnung, und Mona, erneut ernst, wies mit der Fingerkuppe auf das Zeitungsblatt. Sie sprach von der auffallenden Polizeipräsenz in ihrem Land, die ihr kein Gefühl der Sicherheit vermittle, ihre Schusswaffen, Schlagstöcke, allzeit griffbereit, im Gegenteil, sie habe den Verdacht, die würden einzig eingesetzt, um die Angst zu schüren. Ingar stimmte ihr zu, räumte dennoch ein, man habe sie ernst zu nehmen. Exemplarisch begann er die heutigen Nachrichten anzuführen, eine Todesliste von Europa bis zum arabischen Raum, es sei doch nicht verwunderlich, dass sich im Gegenzug Sorge um das eigene Wohl breitmache. Verwunderlich nicht, aber bedenklich, fügte Mona hinzu, und der Neid, der so geschürt werde, die Egomanie treibe Blüten, und unter dem Deckmäntelchen der ›Angst‹ verborgen, seien eine Menge Schürhaken am Werk, zumindest in ihrem Land, denen es gelegen käme, würde eine Feuersbrunst wüten, sie hätten es doch immer gewusst … Auf einmal scheine es allen legitim, dass man ›Pfefferspray für jedermann‹ verteile oder Maschendrahtzäune ums Haus ziehe, zwei Meter hoch, damit ›die-da‹, die Flüchtlinge, sicher nicht aufs Grundstück kämen, und der Müll, der zuvor seit eh und je vom Wind herangetrieben worden sei, wurde nun einer böswilligen Absicht der neuen Nachbarn zugeschrieben, natürlich, was könne man von ›solchen‹ sonst erwarten?

Und Mona erzählte von eifrig verbreiteten Gerüchten, einer von Angst dominierten Abwehr, die jederzeit in Hass zu kippen bereit war. Gerade eben, bevor Ingar in den Frühstücksraum gekommen sei, habe sie eine Nachricht von Salma erhalten, einer der Asylsuchenden in ihrem Dorf. Ihr Nachbar Hans habe in seinem selbstkonstruierten Verbrennungsofen nicht nur Herbstlaub und Astwerk angezündet, ›zufällig‹ wohl diese Metalltonne just unter die Fenster des Flüchtlingshauses geschoben und obendrauf Restmüll geworfen. Übel riechende Dämpfe schmelzenden Kunststoffs seien durch die Ritzen zwischen Rahmen und Fenster in Salmas Zimmer gezogen, die Kinder seien durch den Rauch verängstigt. Salmas Angst hatte Mona nichts als beruhigende Sätze entgegenzustellen gehabt, wissend, dass Worte gegen die Schatten der Vergangenheit keine Waffe waren. Und sie müsse, bevor die Vorträge begännen, diesen Hans anrufen, der bei einer Debatte im Dorfzentrum ganz ruhig gesagt hatte: Statt Geld in die Renovierung des Flüchtlingshauses zu stecken, sollte man Gleise nach Auschwitz legen, verbrennen, diese Plage, ausräuchern. Es graue ihr wahrlich vor diesem Telephonat. Den Flüchtlingen hingegen hatte man bei ihrer Ankunft im Dorf sogleich eine dämliche Broschüre zu ›Dos & Don’ts im Lande‹ überreicht, damit ›die-da‹ gleich im Willkommen lernen würden, brave Bürger zu sein; die Regeln galten mal wieder nur für Bestimmte, alle anderen bogen sich Gesetze und Vereinbarungen.

Und Mona hatte auf ihren Teller gestarrt, übel war ihr plötzlich geworden, die Serviette auf die Lippen gepresst, hatte sie den Frühstücksraum des Hotels verlassen, Ingars Frage, ob er ihr helfen könne, ignorierend.

Oben in ihrem Zimmer hatte sie Hans’ Nummer gewählt und ihn in Salmas Namen gebeten, die Tonne in Zukunft zumindest etwas weiter abzurücken. Da hatte er sie angeblafft, das gehe sie gar nichts an – oder seien ›die-da‹ zu blöd, um zum Hörer zu greifen? Hätten die Herrschaften ihre tollen Smartphones nur zum Spielen? Glücksspiele wohl. Nichts anderes seien sie ja, Glücksritter eben! Was das koste, den Bürger nämlich, den Steuerzahler – er hatte Mona nach einem kurzen Hinweis auf die gemeindeübliche Abfallpolitik nicht einmal zu Wort kommen lassen. ›Dann zeig mich doch an. Wir werden schon sehen, wem man glaubt, euch Dahergelaufenen oder mir!‹, und er hatte aufgelegt.

 

Dorthin wollte sie zurück? Ihre Hand knetete noch immer den schmerzenden Nacken, das Schulterblatt. Sie sah ins trübe Bassin des Brunnens, in dem verschwamm, was ihr einst sicher erschienen war, die schöne Mär eines vereinten Europas – auf und davon. Gestern Nacht, als die Bilder des Anschlags über die Bildschirme geflimmert waren, hatte sie das Wort ›Verlust‹ ausgesprochen, dennoch die Trauer hinabgewürgt, weil sie ihr angesichts des nicht nachvollziehbaren Grauens, das jene Menschen erlebt hatten, fehl am Platz vorkam.

Nein, ihr Schwindelanfall war keiner gewesen, der einzig niedrigem Blutdruck oder sinkendem Blutzucker zuzuschreiben wäre, es gab auch niemanden, der sie hinterrücks würgte, keinesfalls war das ausgelassene Mittagessen schuld oder die Kongressgesellschaft, nicht einmal Ingar, der vergangene Nacht seine Panik mit ihrem Körper auslöschen wollte. Als sie aus dem Lift gestiegen waren, die Bilder der Attentatsreihe in Brüssel noch im Gedächtnis, hatte er ihren Arm genommen, sie zurückgehalten, er ertrage das Alleinsein jetzt nicht, ob sie bitte …? Und er hatte sie auf den Hals geküsst. Ja, sie hatte ihn verstanden, natürlich hatte sie ihn verstanden – und dennoch zurückgewiesen. Nicht um seiner Frau oder seinetwillen; sie kannte Signe nicht, seine Gattin hatte für sie keinerlei Realität, und Ingar war ihr auf Anhieb sympathisch gewesen. Mehr als das. Feingliedrig, groß und blauäugig zu hellem Teint und dunklem Haar, ein schöner Mann mit Manieren – trotz seines Barts; es ging auch nicht um die Moral der anderen, die war Mona seit jeher schnurz, nein, es war komplizierter – und einfacher zugleich. Ruhig hatte sie Ingar von Emil erzählt, gerne könne er noch auf ein Glas mitkommen, sie könnten sich einen Film ansehen, mehr sei nicht drin. Er war rot geworden, hatte sich hastig abgewandt und war dem Flur zu seinem Zimmer gefolgt, den Kopf gesenkt.

Es war viel mehr, ihre Lebenssituation in einem Land, in welchem es brodelte. Dabei war die Gegenwart im Dorf im Vergleich zu jener in den Städten noch beinahe entspannt, selbst wenn es immer wieder hochkochte und Mona den Eindruck vermittelte, ihre Reden klängen wie eine alte Schallplatte, deren Nadel an einer Stelle jedes Mal aufs Neue zurücksprang, um sich zu wiederholen, ›Fakt ist‹ und ›tatsächlich verhält es sich so‹, sie konnte es nicht mehr hören. Durchaus kreativ waren die Menschen, ging es darum, Gerede und Gerüchte zum Brodeln zu bringen, und manche hielten das Feuer bewusst in Gang. Gerhard war so einer; daran änderte auch seine schöne weiße Weste nichts, auf die er durchaus Acht zu geben wusste. Wie man sich denn bitte sicher sein könne, wollte er vor kurzem wissen, dass unter den Bewohnern des Flüchtlingshauses nicht auch ein paar fanatische Muslime wären, IS-Anhänger, Terroristen? Gar nicht, hatte sie ihm geantwortet und hinzugefügt, es scheine ihr jedoch sehr unwahrscheinlich, dass sich ›solche‹ ausgerechnet das verschlafenste Kaff des ganzen Landes aussuchen würden. Gerade von dort, hatte Gerhard entgegnet, ließe sich ein Anschlag am einfachsten organisieren. Er wolle nur warnen. Seine Heimat lasse er sich nicht zerstören, schon gar nicht von Dahergelaufenen – oder von Mona. Und sie hatte gekontert: ›Korrigier mich, falls ich mich irre: Derjenige, der mit der Schrotflinte seine Ehefrau hinrichtete, weil sie mit einem anderen getanzt hatte, das war doch ein Freund von dir, einer aus der ›Heimat‹. Oder etwa nicht?‹ Daraufhin hatte sich Gerhard umgedreht; kommentarlos war er gegangen.

Dennoch wollte sie heim, sehnte sich nach ihrem Zuhause, als böte ihr der alte Hof Schutz, trotzdem hatte sie zuerst in Salzburg noch einen Vortrag zu überstehen, alsdann eine Institutskonferenz in Wien, sie hatte zu arbeiten, um Geld nach Hause zu bringen, einen netten, kleinen Zusammenbruch konnte sie sich nicht leisten.

 

48º10’39’’ Nord, 16º23’22’’ Ost

 

Zwei Stunden des Wartens, sie sah den roten Rücklichtern des verpassten Zuges nach, wie diese im Nebel verschwanden, zwei vermaledeite Stunden, weil es ihr nicht gelungen war, den Studentenvertreter rechtzeitig loszuwerden, der sie nicht nur mit seiner penetrant wiederholten Anrede ›Frau Dr. Dr. Monika Mühlberger‹ genervt hatte, sondern obendrein damit, dass der förmlichen Namensnennung keine relevanten Inhalte gefolgt waren. Und sie hatte es nicht bloß zugelassen, sondern überdies forciert, indem sie ihm damit ins Wort gefallen war, sie lege weder auf ihren Titel noch auf ihren verhassten Vornamen Wert, ›Professor Mühlberger‹ reiche durchaus, um der Höflichkeit Genüge zu tun …

Sie fror mehr, als sie in Dublin unter herbstlichen Temperaturen gelitten hatte. An feuchtkalten Abenden wie heute war diese Jahreszeit einzig hinter Glas schön, dachte Mona, vom Bahnsteig in die überfüllte Halle zurückkehrend. In der Auslage einer Boutique sah sie gespiegelt, dass ihr kurzer Rock hochgeglitten war, verstohlen zog sie an seinem Saum. Menschen warteten in Gruppen, hockten am Boden, Rucksäcke und Plastiktüten an sich gerafft, Männer, Frauen, Kinder, ein Absperrband begrenzte die ihnen zur Verfügung stehende Fläche. Auf dessen anderer Seite standen Polizisten. Ein Junge hüpfte von Bodenfliese zu Bodenfliese, ein Uniformierter lächelte. Mona dachte an Fatimas Sohn Nuri, kaum älter als dieser Kleine. Eine Polizistin meckerte halblaut in Richtung ihres Kollegen:

»Bis er hinfällt, dann haben wir den Salat. Wehe, wenn einer von euch zu dem Zwerg rennt und den wieder auf die Füße stellt … «

Mona erinnerte sich an die Bilder, die vor Wochen durch das Internet zirkuliert waren: ›Uniformierter schikaniert Frau mit Kind im Arm, die wehrlos auf den Bahngleisen liegt.‹ Mit Häme wurde der Polizist überschüttet, als ›Nazischwein‹ beschimpft. Wer es bis dahin nicht kapiert hatte, wusste es danach: Selbst Photos können lügen – und Kurzfilme, die den Anfang und das Ende einer Episode ausblenden, ebenso; nichts war, wie es auf den ersten Blick schien. Seither, in ihrer Wahrnehmung der Welt verunsichert, prüfte Mona ihre Urteile noch aufmerksamer, auch diejenigen ihrer ›Freunde‹. Manche äußerten auf einmal irritierende Ansichten oder wechselten in ihrer Einstellung zu den Ereignissen von einer Front zur anderen.

»Eine Durchsage der ÖBB: Wir ersuchen alle Reisenden um erhöhte Vorsicht. Bitte haben Sie Acht auf Ihren Kinderwagen und Ihr Gepäck und lassen Sie diese keinesfalls unbeaufsichtigt! Dear passengers, we …« Auch diese Durchsagen waren vor wenigen Wochen noch unbekannt gewesen, schienen der gegenwärtigen Situation im Land geschuldet, und Mona hatte den Verdacht, sie schürten einzig die aufgeheizte Stimmung, gossen Öl ins Feuer, nein, sie hatte keine Angst, nicht vor diesen Menschen, die alles verloren hatten, Sprache, Familie und Freunde, ihr Zuhause, um hier mit wenigen Habseligkeiten zu stranden – und selbst dieser Begriff erweckte den Anschein des Hohns. Oh, sie musste Emil Bescheid sagen, wieder einmal: Zug versäumt, versagt, und sie zog ihr Mobiltelephon aus der Manteltasche, schrieb »Süßer« – und hielt inne, starrte auf die Anrede, hinter der ihr der blinkende Cursor Morsezeichen sandte, als stellte selbst er die Frage: War Emil das denn? Vor ihrer Abreise hatte er sie angesehen, als sei er erleichtert; danach kaum ein Wort. Buchstabe für Buchstabe löschte Mona die getippte Liebkosung.

»Du … Zug vom Haupt- zum Regionalbahnhof verpasst, nächste S-Bahn hinaus erst in zwei Stunden, komme daher in L. um 21:56 an, Kuss …«

Die blonde Polizistin blickte auffordernd zu ihr herüber, fächerte ihre Finger im Handschuh auf, als verscheuche sie ein lästiges Insekt. Der Kollege neben ihr lockerte seinen Kragen, Schweißperlen standen ihm auf der Stirn:

»Weitergehen!«

Neuerdings war verdächtig, wer innehielt und sich umsah, ein Mobiltelephon in der Hand. Wie konnte man so leben? Unter ständiger Beobachtung, permanent lauernd auf Gefahren, real oder eingebildet? Mona verbarg das Telephon in der Manteltasche, bog ums Eck.

Zwei Stunden, was fing man bloß an, wurden einem überraschend zwei Stunden geschenkt? Sie könnte der kleinen Rana etwas mitbringen, irgendeine Kleinigkeit. Sie dachte an das Photo, welches Salma ihr heute von ihrer Tochter gesandt hatte, ›Rana denkt‹ war darunter gestanden, und Mona lachte in der Erinnerung daran auf, sanft hatte ihr Zeigefinger über das Gesicht des Mädchens mit den großen Augen gestrichen. Alles schien diese Kleine wahrzunehmen, jede winzige Schönheit, jeden minimalen Bruch in der Komposition einer Welt, die Rana mit Vorliebe in harmonischem Grün sah, und Salma hatte erzählt, dass dem immer schon so gewesen sei, auch vor ihrer Flucht aus Syrien. Die Kleine saß und sah nirgendwohin, um wenig später einen erstaunlichen Satz von sich zu geben. Es war ihr Vater gewesen, der jede Unterbrechung dieser Zustände verhindert, sie mit ›Pst! Rana denkt‹ bezeichnet hatte. Bevor die ISIS ihn hinrichtete – und Rana es anhören musste. Sie würde der Kleinen etwas mitbringen, etwas zum Zeichnen, zum Basteln, und Mona lächelte, das Gemälde Ranas über ihrem Schreibtisch vor Augen, ein Porträt, rechts Salma, mittig Rana, links Mona, und alle in Grün, ihren Kater Rouk haltend, der sich längelang ausstreckte, darüber die drei Gesichter, Wange an Wange.

Ein Orientierungsplan, Mona trat an die Tafel, studierte die Ebenen, die aufgelisteten Geschäfte – »Buch & Mehr«, zweite Etage, Mitte, Süd. Sie zerrte den Koffer auf die Rolltreppe, zwei junge Männer überholten sie, plaudernd und lachend, blieben wenige Stufen oberhalb von ihr stehen. Der eine drehte sich um, starrte sie unverhohlen an, mit einem Blick, der Mona nackt zurückließ. Sie begann zu schwitzen, wusste nicht, wohin sie schauen sollte, seinen Augen war kein Entkommen, und sie wünschte, der Mantel wäre länger, sehnte sich nach einem Schal, dick und schwer, nicht dieses dünne Fähnchen, sie wollte sich wegdrehen, fortgehen – dass Augen wie klebrige Honigfinger nach einem greifen, einen beschmutzt zurücklassen können … Mona wandte den Kopf zur Wand, das Haar glitt über ihre Schulter nach vorn, mit den fallenden Strähnen kam die Erinnerung an die absolute Auslöschung im Tschador. Sie schwieg und sagte sich, dass dieser junge Mann jedes Abwehren aller Wahrscheinlichkeit nach nicht verstehen, ihre Stimme womöglich als Aufforderung zur Kontaktaufnahme interpretieren oder ihr, gekränkt, mit Aggression begegnen würde – und wusste zugleich, es war nur eine Ausrede vor sich selbst, ein gut zurechtgelegtes Argumentationssammelsurium ohne Substanz. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie seine Zunge auffordernd seine Oberlippe entlangfuhr, sein Freund, größer als er, kommentierte etwas, kurz, knapp, bellend, dann schwang sich der Große über die Balustrade auf die abwärtsgleitende Seite der Rolltreppe. Das Gepolter klang bedrohlich – nicht hinsehen, die Handtasche festhalten, reglos stehen bleiben. Nach einem weiteren Blick auf Mona sprang der Zweite wie sein Freund zuvor auf die andere Seite. Sie atmete aus; wie dumm diese Ängstlichkeit doch war. Im selben Moment die gleiche Geräuschkulisse nochmals, hinter ihr, hastig drehte sich der Kopf. Nebeneinander standen sie, lässig an den Handlauf gelehnt, grinsten sie an, kaum drei Stufen unter ihrem Koffer, freier Blick auf Monas Rücken, Po; denen ist nicht zu trauen, die haben nur eines im Sinn – werden sie nicht, selbst wenn sie kichern, und der eine schon sein Mobiltelephon filmbereit, der andere hüpft auf die gegenüberliegende Rolltreppenseite, kommt beinahe zu Fall, stolpert, fängt sich, lacht, aus dem Bild, Videoaufnahme beendet. Alles, wahrlich alles hinterlässt Spuren in der eigenen Wahrnehmung der Welt, jedes betrachtete Photo, jedes gehässige Wort, das man hört, selbst wenn man ihm keinen Glauben schenkt, jede Schlagzeile: Sie sickern ins Gedächtnis, breiten sich aus, prägen unser Sein. Wie bei dem Photo, missinterpretiert, weil es ins Weltbild passte, das einem davor monatelang eingebläut worden war: Der ungarische Grenzpolizist hatte ein ›Nazischwein‹ zu sein, und der ›ewig geile Muslim‹ vergriff sich an jeder europäischen Frau, und das Wissen, dass all diese Stereotypen kaum Wahrheiten aufwiesen und sie sich selbst fremd in diesem ängstlichen Verhalten war, änderte nichts. Bald würde sie sich ebenso hysterisch gebärden wie manche ihrer Studentinnen oder Freundinnen, und Mona, wütend über die zuvor aufgeflammte Angst, zerrte hastig an ihrem Trolley, fing sein Schlingern mit ihrem Knie auf und sehnte sich nach einer Zigarette.

Wenige Schritte entfernt ein Laden, Reiseproviant. Wenn schon der Rauch wegen Emil gebannt war, könnte sie sich doch zumindest Süßes gönnen. Sie ging die Regale entlang, Kekse, Mohnbeugerl, Zimtschnecke, Schokolade – die Hand bereits danach ausgestreckt – fünfhundertfünfundsiebzig Joule, ganze Tafel: eintausendsiebenhundertfünfundzwanzig Joule. Sie entschied sich dagegen, griff nach der Wasserflasche auf der anderen Seite, den Koffer in den nächsten Gang gehievt, ohne die Vorweihnachtspyramide zu rammen, bald würde der Nikolo den Osterhasen überholen. Neongelb leuchtete ein Superangebot: Räucherlachs. Um Punkt null Uhr liefe er auf und davon, daher verkaufe man ihn um sechzig Prozent reduziert. Lieber luxuriöser Unsinn für den Kater als Speckpolster für sie.

Als sie den Laden verließ, war erneut die Durchsage zu hören, welche Reisende um erhöhte Vorsicht bat – und Mona ertappte sich dabei, wie sie zum dritten Mal einen kontrollierenden Blick in Richtung Laptoptasche und Trolley warf, den Arm fest auf die Schultertasche gepresst, »… haben Sie Acht auf Ihren Kinderwagen …«, und Mona wollte schreien, dass sie doch gar keinen mit sich führe, verdammt nochmal, niemals einen benötigen werde. Manipulation, das alles ist Manipulation, permanent sagt man uns, dass wir Angst haben müssen, schürt sie und schnürt uns die Kehle zu, um sich dann darüber zu ›wundern‹, was in und mit diesem Land geschieht, und vom Plakat gegenüber grinste der Bundespräsident: ›Wir müssen zusammenhalten.‹ Dahinter eine Berglandschaft. Oh, es wäre gut, anderswo zu sein, im Hochgebirge oder zumindest zu Hause. Einer rempelte Mona im Vorbeieilen an, ein alter Mann, seinen Rucksack fest umklammernd, keine Entschuldigung. Der Mann hatte intensiv nach Tabak gerochen, sie nahm einen Schluck aus der Wasserflasche, lieber die Bitterkeit hinabspülen. »Buch & Mehr« leuchtete pink am Ende des Ganges, auch hier, in der oberen Etage, reihten sich Wartende an der Wand hockend auf, ohne Absperrung und Polizei, weshalb auch immer. Sie würden im Stadtbild verbleiben, bis wieder ein Sonderzug Richtung Deutschland fuhr, Zielort ihrer Flucht, und wie bei jeder Flucht, dachte Mona, hatte ihr Sehnsuchtsort eher Traumcharakter, geprägt durch mangelnde Ortskenntnis, ebenso wie Unbestimmtheit: vielleicht heute, vielleicht morgen, vielleicht nie. Mona kam bei diesem Wort stets Lindenbergs ›nach Pankow‹ in den Sinn. Als österreichischer Jugendlicher wurde es ihr einst zur Stadt Bangkok, bis sie erstmals am U-Bahn-Plan in Berlin das geschriebene Wort las. Von ›Pankow‹ zum Fluss ›Panke‹ bedurfte es nur einer Eingabe ins Internet: Jedem sein Bild der Welt, und die Realität ist eine andere Sache. Diese konnte auch darin bestehen, dass man – kaum in Richtung Sehnsuchtsort abgereist – sich als unzustellbares Paket erneut hier wiederfand, möglicherweise sogar weiter im Osten: Der Empfänger, der zuvor nach einem gerufen hatte, ›wir schaffen das‹, hat keinerlei Interesse mehr.

Drei Frauen kamen, mit Suppentopf und Thermoskannen bewaffnet, Einwegteller wurden aus Rucksäcken gefischt, die Wartenden kannten den Ablauf bereits, alles ging ruhig seinen Gang, als wären öffentliche Speisungen Alltag. Ob all diese freundlich helfenden Hände ihr ausgesandtes Signal bedachten? ›Bleibt, hier ist es gar nicht so schlecht.‹ Vermutlich nicht.

Ebenso wenig würden sie im Blick behalten, dass ihr Gutmenschentum naturgemäß ein Ablaufdatum hätte, welches ausschließlich in der eigenen Belastbarkeit lag und sich keinen Deut darum scherte, was für einen Grundtenor man zuvor angestimmt hatte, selig ob eines plötzlich erwachten Mitgefühls: Man war noch dazu in der Lage und gelebte Solidarität doch so schön!

Sie erlebten es ja gerade in der Stadt wie im Dorf: Keine zwei Wochen hatte es gedauert, bis die erste im Verein das Handtuch geworfen hatte. Ihre Begründung lief darauf hinaus, sie störe sich an der mangelnden Unterwerfung der Asylsuchenden in die vorgegebene Rolle des unmündigen Flüchtlings, der sich auf Knien für jede Gabe zu bedanken habe, und sei sie eine Maßregelung, oder vielmehr: dann erst recht. Dabei, und das ärgerte Mona am allermeisten, hatte sie selbst einige Tage lang wider alle Vernunft an die real existierende Wahrheit eines solidarischen Miteinanders geglaubt, an die Utopie solch einer Welt, und als diese an der Realität zerbrach, ›das vereinte Europa‹ sich in Neid, Angst, Hetze auflöste, ätzte sie, vor allem sich selbst verhöhnend: Wäre es wahrhaftig um ein solidarisches Miteinander gegangen, hätte man vor Jahren bereits Obdachlosigkeit und Armut besiegt. Ihre Studenten wiesen sie darauf hin, sie teilten jene Ansicht nicht, ›schuldlos in Not‹ sei der Grundtenor des neuen Miteinanders.

Den Schuldlosen also gelte alle Empathie? Ansonsten solle sich weiterhin im Jeder-gegen-jeden das eigene Ich der Nächste sein? Oh, sie nervte dieses zelebrierte Miteinander in seiner Scheinheiligkeit. All das geschehe ausschließlich, weil in der Stadt heute ein Miteinander en vogue war; morgen wäre es nicht mehr hip und schick und in, ließe sich nicht weiter quer durch alle sozialen Medien als Heiligenattitüde feiern, morgen wäre wieder alltäglicher Egoismus im Kuchenkampf angesagt.

Verständnislos hatten die Studierenden sie angestarrt; sie wollten doch bloß gute Menschen sein; zumindest jene Gruppe, die in der Debatte bislang das Wort geführt hatte, bevor Uwe erklärte, es sei an der Zeit, der ›RAF‹ zu neuem Leben zu verhelfen. Eine halblaute Wortmeldung, die Mona nur zu Ohren kam, da Tobias ihm beipflichtete und sarkastisch anmerkte, dieses Mal werde man nicht den Fehler begehen, einzig ›Gewalt gegen Sachen‹ als legitimes Mittel des politischen Protestes zu sehen, vielmehr tue es Not, bei den Köpfen zu beginnen und sich zu den Füßen vorzuarbeiten. Die Debatte, welche sich hieraus entspann, erschreckte Mona nicht einzig ob der extremen Positionierungen. Sie wies darauf hin, die extreme Linke, die wir gerne mit verharmlosendem Blick betrachten, weil wir uns sonst den Konsequenzen ihres anarchistischen Denkens stellen müssten, habe keine Gegenposition anzubieten, denn worin liege die Differenz zwischen Brandstiftung und Brandstiftung, Mord und Mord, in brauner oder roter Farbe? Die extremen Linken könnten sich mit ›Die Neue Rechte‹ hinsichtlich Intoleranz und Gewaltbereitschaft durchaus die Hand reichen. Doch ihr Einwand ging im Tumult unter, welchen vor allem die ›Guten‹ mit ihrer naiven Haltung schürten, es schaukelte sich auf, bis die Studierenden einander verhöhnten, ins Wort fielen, Parolen brüllten, die Fäuste erhoben, Uwe schmetterte die »Internationale«. Als eine Wasserflasche flog, knallte Mona den Schuber mit Kants Schriften aufs Lehrpult; endlich Stille. Dass durch diese Maßnahme ausgerechnet sein ›kategorischer Imperativ‹ ein beschädigtes Eck davon trug, schien ihr bezeichnend zu sein. ›Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde‹, begann Mona, trug vor und war sich dennoch dessen bewusst, dass die zugeknöpften Mienen und Geister ihr gegenüber, ungeachtet der Gruppierungen, denen sie sich zurechneten, keinen Überlegungen zur Ethik oder einer Infragestellung ihrer Denkhaltungen zugänglich waren. So wie jene Frau, die ihr nun den Rücken zuwandte, hastig den Suppentopf schloss – hier gebe es nichts zu sehen, weitergehen, ausschließlich ›schuldlos in Not‹, und der schwarze Müllsack wurde durchgereicht.

Nein, solidarisches Miteinander war eine schöne Mär, nichts weiter, eine Einlullgeschichte für brave Bürgerkinder; und kein Schwarz, kein Weiß. Selbst im Film noir habe man begriffen, dass die Wahrheit in den Schatten liege, hatte Mona damals ihren Studenten gesagt. Wie auch hier, zwischen den Bildern und den Zeilen, am Eingang des Ladens, wo Zeitungen, arabisch, fremdsprachig-europäisch, deutsch, in einem Ständer feilgeboten wurden: Auf den Titelseiten prangte noch die Anschlagsserie, Brüssel, hundertneunundsechzig Tote waren es mittlerweile, das Selbstmordattentat im TGV letzte Woche thematisierte bloß ein Blatt. Mona schritt die Reihen mit den Zeitschriften ab, von Country House bis Psychologie heute; sie alle dünsteten ein Neobiedermeier aus, dass Mona übel wurde: ›Vorwärts zurück.‹ Auf der anderen Seite des Ganges standen Bücher aus der Rubrik ›Lebenshilfe‹, die in Monas Augen primär zu einem verhalfen: sich zu erleichtern. Um neun Euro neunundneunzig, zugunsten des Bankkontos anderer. Außerdem gab es keines mit dem Titel Solidarisches Miteinander. Dafür ein mehrfarbiger Faserschreiber, in dessen Körper ein Fesselballon langsam nach oben, nach unten schweben konnte. Fünf Schattierungen Grün, Rana würde ihn lieben. Und für die anderen: Herzen, Schmetterlinge, Vogelschwarm; Raketen, Züge, Flieger blieben tabu.

Neben der Kassa lag ein Stapel, kirschrot das Cover, Die Kellerkatze und der Tod