Kleine Sammlung phantastischer Geschichten
e Medusenblut 3
06/2016
Erstveröffentlichung als Paperback Medusenblut 13 05/2002
© 2016 bei Christian von Aster,
Vorwort bei Dr. Helbling
Umschlagillustration: Schwarwel
Edition Medusenblut, Leipzig
http://www.medusenblut.de.
ISBN 978-3-935901-32-1 (e-book)
ISBN 978-3-935901-11-6 (Paperback)
Christian von Aster, geboren 1973, studierte Germanistik und Kunst, um sich schließlich - ohne Abschluss - Bühne, Film und Schreiben zuzuwenden. Dabei bewegt er sich quer durch alle mehr oder weniger phantastischen Genres und schreibt Fantasy, Horror, Märchen, SF, Grotesken und Schubladenfernes.
Er wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet – u.a. dem Seraph für Der letzte Schattenschnitzer - und war Mitglied der Berliner Lesebühne Das StirnhirnhinterZimmer. Seine Lesungen sind ein Event.
Mehr unter http://www.vonaster.de
KLAPPENTEXT:
Dieses Buch führt eine steinerne Treppe hinab, in die verzweigt zwielichtigen Katakomben eines Antiquitätengeschäftes, und schließlich durch neun sinistre Erzählungen, in denen die Schattenseiten der Vorstellung sich finsteres Fleisch auf ihre Knochen wachsen lassen.
Am Ende stehen neun grundverschiedene Geschichten, in deren dunklen Winkeln die Hoffnung sich erhängt hat, und wo zu ihren kalten Füßen eine Wahrheit wuchert, die niemand anders als der Wahnsinn selbst an seiner schartigen Brust gesäugt hat.
„Aber kommen Sie nur, ich gehe voran…“
»Die Hölle ist ein Ort voller Geschichten,
die man eigentlich nicht hören will.«
VILLAIN DU BOAZ
Ich hasse Horrorfilme.
Bleiche Hausflure, kreischende Türen, und dann diese Vollidioten, die mit unbeirrbarer Naivität in ihr Unglück traben … Die Monster sind okay. Aber Jodie Foster als FBI-Beamtin, die ohne Backup in den Keller eines mutmaßlichen Serienmörders reinspaziert – vergiss es. Und für die Freunde des Genres zählt sowas noch nicht mal zum richtigen Horror.
Meine Vorstellung von unerträglicher Folter: Jemand, der mich wie Malcolm McDowell in Clockwork Orange an einen extra präparierten Stuhl fesselt und mich zwingt, Nightmare on Elmstreet in voller Länge anzuschauen. Nach maximal zehn Minuten hab ich alles gestanden, was man von mir hören will, und noch viel, viel mehr. Nennt mich einen Schisser. Ist mir doch egal!
Ach ja. Und was hab ich dann in einem Vorwort zu einem Buch zu suchen, dessen Held sich so arglos und blöd wie nur irgendeine amerikanische Screamqueen in die gigantischen hinteren Hallen eines kleinen Trödelladens locken lässt, in ein Labyrinth voller Geschichten und Dämonen, aus dem er garantiert nie mehr herausfinden wird?
Ganz einfach: Auch ich bin käuflich. Vierhunderttausend steuerfreie Euro für eine zweiseitige Labereinleitung – da sag ich nicht nein. »In your dreams!«, hör ich grad’ den Aster-Mann brüllen, von Berlin bis nach Hamburg hört man ihn, aber gib’s zu, Christian, war ein schöner Traum. Einer jedenfalls, aus dem man unbeschadet wieder erwacht. Einer, bei dem sich nicht zum Beispiel rausstellt, dass du zu der abartigen Kreatur geworden bist, die du in einem Anfall von christlicher Menschenliebe mit nach Hause genommen hast. Oder schlimmer noch, dass du selbst nur das Geschöpf in den Träumen eines anderen bist, und deine ganzen Mühen um das sogenannte Leben für die Katz. Kurzum, kein Traum aus der Fabulierschublade des – wie wurde er neulich im Internet genannt? – »Underground-Kult-Autors« Christian von Aster, der ganz ohne Frage viele, viele Plots für Filme liefern könnte, in die ich mich nie reintrauen würde.
Nun, noch gehört er uns, den Schissern dieser Welt, die eine intelligent gemachte Gruselgeschichte so sehr lieben, wie sie die Machenschaften der Hollywood-Angstmaschinerie fürchten. Und natürlich auch euch, die ihr mit all dem kein Problem habt. Aber uns noch ein bisschen mehr. Weil, die nackte Wahrheit ist doch, dass wir mit diesen neumodischen Technologien einfach nicht richtig klarkommen. Tonfilm und all das. Websters Pandämonium dagegen bietet uns den lustvollen, bombastischen, rückwärtsgewandten Zugang zu jenen kultivierten Höllenvisionen, die uns rocken, ohne dass wir uns gleich per Hechtsprung hinters Sofa verziehen müssen. Wo wir uns am Ende mal wieder sagen können: Mein Gott, wie schön, ich lebe noch!
Und he! Es gibt da drin auch ein paar ziemlich coole Monster.
Dr. Helbling
Ein Ladenschild, schwankend die kühle Morgenluft ertastend. Von Zeit zu Zeit windet sich ein schmaler Nebelstreif von der Straße bis zu ihm hinauf, um die gusseiserne Kette, und streicht sacht über die rostigen Lettern. WEBSTER’S ANTIQUE. Die Buchstaben scheinen einander zu umschleichen, zu belauern und werden dann doch nur vom Rost gefressen.
Die Auslagen sind voll von Tand und Trödel. Schmuck, Statuetten, Kästen und Schatullen. Nichts, das nicht auf den ersten Blick als wertlos erkannt werden würde. Innen an den Scheiben bindet sich der Staub zu Eisblumen, die knisternd in den Winkeln der matten Fenster erblühen.
Unmöglich in den Laden selbst zu blicken.
Schwarzes Tuch beendet unwillkürlich die Welt der Auslagen, hält den Betrachter inmitten seelenlosen Kitsches gefangen, und unverwandt verspürt man das unbestimmte Verlangen herauszufinden, was dieser morsche Laden sonst zu bieten hat.
Die Ladentür - man hätte ein Knarren, ein Quietschen zumindest, erwartet - öffnet sich lautlos. Stattdessen gebiert eine Ladenglocke ein stimmloses, helles Geräusch, auf welches das Dunkel gewartet zu haben scheint und es bereits im nächsten Moment verschluckt.
Kaum ist die Glocke verstummt und hat die Tür ihr Schloss gefunden, dringen spärliche Lichtstrahlen von der Straße durch die Spalte zwischen den dunklen Vorhängen in den Laden hinein, auf denen leise der Staub dem Boden entgegentanzt. Wie zufällig trifft ein solcher Strahl die Ladenglocke.
Es sind sieben Schellen, aus Messing gehämmert und offenbar asiatischen Ursprungs. Um jede von ihnen windet sich ein Drache, dessen Blick zur Tür gerichtet scheint. Unwillkürlich geht man einen Schritt zur Seite und stößt an ein Schränkchen aus bleichem Holz, das sich dem Dunkel des Raumes entgegenstemmt.
Einige der blanken Lichterklingen liegen auf knorrigen Spazierstöcken, lassen einen Säbel in einer rostigen Tonne erkennen und treffen dahinter auf eine zerbeulte Rüstung, die das Licht trotzig an die bleiche Wand zurückwirft.
Es ist unangenehm kühl im Raum.
Ein Rauschen.
Durch einen Vorhang in der gegenüberliegenden Wand schleicht sich unruhiges Licht in das Innere des Ladens und beendet den zaghaften Tanz der Lichterklingen. Mit einem Mal scheint es wärmer.
Wenn sich die Gestalt - die mit einer kleinen Laterne in der Hand hinter jenem Vorhang hervortritt - nicht bewegte, man würde sie gewiss für einen Teil des Inventars halten, einen geschnitzten asiatischen Götzen oder die letzte Vision eines Besessenen.
Der hagere Mann trägt eine graue Hose, schwarze Hosenträger schneiden, seine schmale Brust betonend, in den Stoff des weißen Hemdes. Schatten zittern in der Höhlung seiner eingefallenen Wangen und irrlichtgleich tanzt der Schein der Laterne um die riesigen Gläser seiner Brille. Das Erstaunen ob des Erscheinens jener seltsamen Gestalt ist noch nicht einmal vorüber, als der Unbekannte einen zu sich hinüber winkt, sich umwendet und wieder hinter seinem Vorhang verschwindet.
Ihm folgend - die eigene Neugier leugnen zu wollen, wäre sinnlos - schreitet man eine schmale steinerne Treppe hinab, die nur schwer begehbar ist, da sie hier und da mit Moos bewachsen, an manchen Stellen feucht, schmal und ohne Geländer ist. Das Licht der kleinen Laterne bebt in der feuchten Luft, und weiter unten lässt ihr Schein ein Gewölbe erahnen, dessen Ausmaße weit größer sein müssen als die des Ladens darüber.
Langsam gewöhnen sich die Augen an das spärliche Licht, als der Unbekannte zu sprechen anhebt: »Mein Laden. Bin Webster.« Er nickt kurz über seine Schulter und steigt dann weiter die nicht enden wollende Treppe hinab.
Bald darauf erreicht er den Treppenabsatz, dreht sich um und wartet.
Das Licht der Laterne sucht die Züge seines Gesichtes, findet sie, verliert sie wieder und erlaubt dann doch keinen Schluss auf sein Alter. Von den Seiten seines schmalen Kopfes sprießen die wirren Reste einer Frisur, und der rechte Bügel seiner Brille ist derart verbogen, dass er halb von seinem Kopf abstehend wie ein blecherner Wurm auf der Flucht aussieht.
Lächelnd rückt Webster die schlierigen Augengläser zurecht und hüstelt: »Habe Sie gleich als einen Freund des Besonderen erkannt. Sie wollen nicht besitzen, nein, wollen erkennen, verstehen, die Grenzen erfahren! Tatsächlich ähneln Sie mir da sogar ein wenig!« Er kratzt sich an der knochigen Nase und scheint auf eine Reaktion zu warten. Als diese nicht erfolgt, fährt er mit gesenkter Stimme fort: »Manche Leute sammeln Briefmarken«, sagt er. Und leiser werdend: »Nun, ich sammle auch …«
Er dreht sich auf dem Absatz um, geht einige Schritte und bleibt an einer kleinen Kommode stehen, auf der man im Schein seiner Laterne Kerzen und ein Kästchen ausmachen kann.
»Mein erstes Stück. Moment …« Webster entzündet einige Kerzen auf der Kommode, öffnet, nachdem er die Laterne abgestellt hat, vorsichtig die schwarze Schatulle und beginnt über den offenen Kasten gebeugt wieder zu sprechen: »Ist gut für den Einstieg, werden sehen, eine einfache kleine Geschichte, Liebe und so. Sie werden da keine Probleme haben mitzukommen.«
Webster lächelt, wendet sich einem ganz zu und beginnt von einigen angebrannten Blättern abzulesen:
Ich war jung.
Und den Fluch der Jugend in der Brust, begann ich im sechzehnten Sommer meines Lebens zu lieben. Monique Piret war ihr Name und sie besuchte das katholische Mädcheninternat am Ende meines Heimatortes.
In meiner frisch ersprossenen, liebestollen Torheit erschien mir allein schon ihr Blick wie eine Verheißung, das sonderbare Grün unter ihren Wimpern sponn sich um jedes meiner Glieder, als ob es niemals mehr ablassen wollte von mir. Ihr Körper war mir wie der lockende Ruf alter Götter.
Auch dass ich getauft war i`m Namen unseres Herrn, ließ mich jenen lasterhaften Ruf nicht überhören.
In meiner Lüsternheit jedoch lag ich allein und wand mich, meine Ohren tosend vor Sehnsucht, in feucht geschwitzten Kissen, die mir ausnahmslos und einzig ihr Gesicht zu tragen schienen.
Als ich wenig später zum ersten Mal von diesen meinen Gefühlen sprach, tat ich es zu meinem Vater. Meine Mutter war lange schon tot, und wäre es nach ihm gegangen, dann wäre sie besser noch vor meiner Geburt gestorben. Er sprach niemals gut von ihr. Die Liebe schien ihm immer etwas Fremdes geblieben zu sein. Doch außer ihm war da niemand, den ich hätte fragen können.
Mein Vater war ein weiser alter Mann, der vieles schon gesehen hatte in seinem Leben, und er ließ mich nicht lange in dem Glauben, dass es gut war zu lieben.
Wäre ich nicht liebend bis in die brodelnde Tiefe meiner selbst gewesen, ich hätte ihm geglaubt. Ich war an seiner Seite aufgewachsen, und er war mir Mentor und Freund gewesen. Bis zu diesen Tagen hatte meine Liebe ganz ihm gehört und einen anderen Namen getragen. Immer schon hatten wir zusammengestanden, gemeinsam gegen den Rest der Welt. Im Dorf sah niemand uns gerne. Ob mir auch niemals klar geworden war, weshalb man meinen Vater dort wie einen Aussätzigen behandelte. Damit aber hatten wir uns abgefunden. Mein Vater, der Aussätzige, und ich, eines Aussätzigen Kind. Die Zeit hatte uns zusammengeschweißt, und mit den Jahren waren wir zu Reisenden in den Gedanken des anderen geworden.
Womöglich war das der Grund, vielleicht war es aber auch Eifersucht, die ihn sagen machte, dass es besser für mich wäre, von diesem Weibe abzulassen.
Aber wahrscheinlich handelte es sich doch um etwas ganz anderes …
Er war ein abergläubischer Mann, der Bücher hätte schreiben können über das, was zu tun und was zu lassen war, um geradlinig auf dem Pfad des Schicksals voranzuschreiten. Und selbstverständlich schenkte ich bis dahin, seinen Worten Glauben und Folgsamkeit. In eine Schule war ich nie gegangen, war in diesem Haus aufgewachsen, hatte vor seiner Türe Holz geschlagen und dahinter Koppeln gebaut. Dies war meine Welt gewesen, das Wort des Vaters mein Gesetz und sein Aberglaube meine Religion.
Und kaum, dass dieses – ihr – Gesicht, auf seinem Weg zum Markt, inmitten raschelnder Nonnengewänder, an unserem Haus vorübergeschwebt war, hatte diese Welt sich plötzlich und wie von selbst zerbrochen.
Ich begann, öfter durch das Dorf zu eilen, das Internat zu umlauern, und wusste die Welt plötzlich größer als das Haus und den Garten meiner Kindheit.
Ich lauschte an grob gefugten Mauern, hinter denen man Psalme betete und fromme Lieder sang, und bald schon hörte ich von Gesetzen, die nicht die meines Vaters waren. Im Dienst an ihren Glauben beobachtete ich jene Menschen und wusste bald auch um eine andere Religion als den Aberglauben meines Vaters.
Ich hatte jene Gläubigen auch zuvor schon gesehen, hatte mein Vater mich doch, auch wenn er sie sonst zu meiden pflegte, gleich nach meiner Geburt von einem ihrer Priester taufen lassen.
Seither aber war ich nicht ein einziges Mal in einer Kirche gewesen, hatte nie wieder den frommen Schluss des Gebetes vernommen, der zwischen den Quadern der Klosterschule hindurch nun beinahe täglich an mein lauschendes Ohr drang.
Doch bald schon wollte mein Vater mir, bei all dem Unmut, den er angesichts meiner aufkeimenden Liebe empfand, den Umgang mit ihr verbieten. Er sagte, dass diese Menschen meist heimlich dunkles Denken brüten, von dem sie niemals sprächen, und sie darum nicht gut waren für einen anständigen Burschen wie mich, und er klopfte mir auf die Schulter, so wie er es immer getan hatte, damit ich seinen Worten folgte.
Das aber war gewesen, als ich noch die Farben seines Glaubens getragen hatte.
Nun nicht mehr.
Ich würde selbst entscheiden, was gut für mich war.
Und ich entschied mich gegen ihn.
Bald schaffte ich es gar, sie zu treffen. Für einige Momente, im hinteren Garten der Klosterschule, waren wir unter uns. Ich hatte mich über die Mauer hinein geschlichen und Monique kurz hinter dem Tor abgefangen.
Und dort standen wir uns gegenüber.
Verwundert fragte sie, wer ich denn sei, lachte und dabei leuchteten ihre Augen hell auf, beinahe als ob ich sie in Brand gesetzt hätte. Und dann kamen zeternd bereits die barmherzigen Schwestern herbeigesprungen und rissen sie fort.
Doch ihr sich zwischen raschelnden Nonnentrachten allmählich entfernendes Lachen war mir fast Gewissheit, dass auch sie etwas für mich empfand.
Kaum nachdem die Nonnen Monique fortgeschleppt hatten, war auch schon der Gärtner erschienen und hatte mich davongetrieben.
Das Erlebte ließ mich allerdings nicht los, und so fand ich auf meiner gezielten Suche schon bald weitere Möglichkeiten auf das Grundstück zu kommen.
Die Mauer, die das Gelände umgab, war gewiss zwei Meter hoch und schwer zu erklimmen, wobei sich eine schmale Regenrinne an ihrer Oberkante entlangwand und an jeder Ecke ein bis zum Boden hinab reichendes Rohr angebracht war, durch welches das Regenwasser abfloss. Auf der Ostseite stand das Kloster besser zur Mauer, und das Rohr dort war hervorragend zum Klettern geeignet.
Einen weiteren Weg bot die niedrige Gartenpforte im südlichen Teil der Mauer. Der Gärtner, Baptiste, ein alter Mann aus dem Ort, kam jeden Morgen durch eben dieses Tor und verließ das Gelände abends auf demselben Weg. Wie ich bald erfuhr, war der alte Baptiste der Süße von Beerenschnaps recht zugetan. Und als ich ihn eine Woche lang beobachtet hatte, konnte ich mir sicher sein, dass er das Kloster jeden zweiten Abend alles andere als nüchtern verließ und dabei häufig das Tor abzuschließen vergaß.
Die letzte Möglichkeit, die Mauer zu überwinden, war der Fluss, der durch zwei Gitter im unteren Teil der Mauer im Westen hinein- und im Osten hinausfloss. Diese Öffnungen waren halb mit glatthäutigem Schlinggewächs zugewachsen, die Mauer strotzte vor Moos und Algen, und die Gitterstäbe waren mit den Jahren derart schwach geworden, dass ich sie mit der ersten Anstrengung entweder zerbrechen oder aus ihrer Verankerung reißen konnte.
Die Blicke meines Vaters wurden während dieser Zeit zunehmend misstrauischer, und wurden es zurecht. Ich widersetzte mich seinen Anordnungen und dachte nicht einmal daran, diese Frau zu vergessen!
Er ahnte es wohl, zumal ich inzwischen beinahe jede Nacht unterwegs war. Zwar sagte er nichts, doch in seinen Augen sah ich eine seltsame Art von Traurigkeit reifen.
Bald begann er, nachts die Türen und Fenster mit schweren Schlössern zu versperren, aber ich kannte dieses Haus seit sechzehn Jahren, es war mir beinahe wie eine Vertraute. Dass die Dachpfannen im hinteren Teil des Dachbodens seit dem großen Sturm locker saßen, wusste ich jedenfalls schon lange, während mein Vater es nicht einmal ahnte.
Und so gelang es mir von Zeit zu Zeit, während mein Vater schlief, mich über das Dach hinaus und über meine geheimen Pfade bis hinter die Mauer und an die Klosterschule heran zu schleichen.
Sie jedoch zu finden, oder gar bis zu ihr vorzudringen, geschweige denn sie zu berühren, was mir ein allzu tiefer Wunsch in diesen Tagen war, war ein anderes, ungleich schwerer zu erreichendes Ziel.
Meist sah ich sie von anderen umgeben. Selbst wenn sie ihren Abendspaziergang durch die Gärten machten, waren sie wenigstens zu viert. Hätte ich mich in jenen Momenten ihr, dann hätte ich mich zugleich auch drei anderen zu erkennen gegeben.
Nicht zuletzt aus diesem Grund wartete ich ab und verbarg mich in den verqueren Schatten, die das Kloster über seine Gärten warf und die mir bald zu guten Freunden geworden waren.
Eines Tages dann, da ich mich frühmorgens zurück nach Hause schlich, schwante mir nichts Gutes: In den Fenstern der Hütte brannte Licht.
Allen meinen Mut nahm ich zusammen und trat ein, mich dem Gericht meines Vaters zu stellen. Weiß Gott, wie gern ich noch mehr des Mutes besessen hätte. Doch das Donnerwetter, welches ich erwartet hatte, blieb aus.
Mein Vater stand nicht tobend mit einem Prügel hinter der Tür, sondern saß in sich zusammengesunken am Tisch. Es ging ihm augenscheinlich sehr schlecht und außerdem schien er geweint zu haben.
»Ich wusste, dass es so weit kommen würde.« Er begann einen leisen Monolog, aber ich wusste, für wen seine Worte bestimmt waren. »Ich habe versucht, ihn zu warnen, er hat nicht gehört.« Er machte eine kleine Pause, in der er laut aufschluchzte. »Ich habe versucht, ihn einzusperren; es hat nichts genützt.«
Er seufzte und wischte seine Tränen fort.
Dann blickte er langsam auf und mir ins Gesicht. »Und was sagst du dazu, mein Sohn?«
Ich schluckte, spürte den Ärger in der Luft förmlich flirren. »Ich liebe sie, Vater.«
Er lachte in derselben leisen Tonlage, in der er eben noch gesprochen hatte. »Liebe …«
»Ja, Liebe. Erinnere dich, du weißt, was es heißt, zu lieben, erinnere dich an Mutter. Du musst sie geliebt haben. Ich weiß, du hast nie davon gesprochen, aber du musst. Erinnere dich doch. Ich bitte dich, Vater!«
Für einen Moment glaubte ich zu sehen, wie ihm von neuem Tränen in die Augen stiegen. Dann aber sprang er plötzlich auf und schleuderte brüllend den Tisch zur Seite. Er schrie mich an, und es waren keine Worte, nur ein heiseres Brüllen, das sein Gesicht entstellte und dabei jede Wut in sich zu tragen schien.
Gott, ich erkannte ihn kaum wieder.
»Sprich nicht von ihr! Nicht von ihr! Ich habe es versucht, habe mir gedacht, dass es anders wäre bei ihr und lange, lange ging es gut«, er zögerte kurz, schluckte Wut und Tränen hinab, »aber am Ende ist sie nichts anderes gewesen als deine neue Freundin! Nichts anderes!« Er schnappte nach Luft, derart heftig, dass ich beinahe fürchtete, sein Herz könnte jeden Augenblick stehen bleiben. Er aber tobte weiter: »Ein Flittchen, ein grausames Flittchen, nichts anderes!«
»Schweig, Vater, ich will das nicht hören. Du weißt nicht einmal, wer sie ist.«
»Ah, du willst es nicht hören? Sie machen uns kaputt, das ist immer so gewesen, und immer, immer wird es so bleiben! Immer! Hörst du?«
»Ich glaube dir kein Wort.«
»Willst also nicht einmal mehr deinem Vater glauben, was?
Du törichtes Kind. Was verstehst du schon davon? Nichts! Wo Frauen sind, da sind auch Teufel und Dämonen nicht fern! Aber du, du willst ja nichts davon hören.«
Was war das für ein wirres Zeug?
Frauen, Teufel und Dämonen. Wollte er mich jetzt etwa eine Moral lehren, an die er nie zuvor geglaubt hatte? Oder meinte er gar, Monique selbst sei ein Dämon?
Wie auch immer er all das sah, ich war nicht bereit, mir diesen Unsinn auch nur einen Moment länger anzuhören.
»Ich gehe nach oben.«
Wie ich das sagte, spürte ich in mir eine übermächtige Wut keimen und fürchtete schon, mich im nächsten Moment nicht mehr unter Kontrolle zu haben, weshalb ich mich eilig nach der Treppe wandte.
Mein Vater aber griff nach meiner Schulter und riss mich mit einem Ruck wieder herum. »Kaputtmachen wird sie dich, kaputtmachen und zerstören! Immer ist es so gewesen, mit deinem Urgroßvater, deinem Großvater, und beinahe hätten sie es auch mit mir getan! Lass die Finger von den Frauen, sie sind alle, alle gleich! Es gibt keine wirkliche Liebe, das musst du mir glauben!«
Und obwohl er diese Worte mit einer derartigen Eindringlichkeit sprach, dass ich jetzt beinahe geneigt war, ihm zu glauben, war doch inzwischen meine Wut weit größer als das Zutrauen zu seinen Worten. Er durfte nicht so sprechen, nicht von ihr! Nicht von dem, was zwischen uns war!
Seit ich sie liebte, fühlte ich mich wie ein neuer Mensch, war erfüllt wie von einem neuen und größeren Leben, und er, er wollte es, wollte sie in den Schmutz ziehen, mit allen anderen Frauen, die unser Blut jemals durchkreuzt hatten.
Niemals!