eBook, Juli 2016
Erstausgabe
Copyright © 2009 by Theodor Boder Verlag, CH-4322 Mumpf
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Boris Braun
Lektorat: Olaf Knechten
ISBN 978-3-905802-66-5
www.boderverlag.ch
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Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Dreaming of Babylon
A Private Eye Novel 1942
Copyright © 1977 by Richard Brautigan
First published by Delacorte Press/Seymour Lawrence, New York 1977
Published by Arrangement with Ianthe Brautigan Swensen
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Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
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Die Übersetzerin dankt der Kunststiftung NRW und dem EÜK Straelen für die freundliche Unterstützung.
Richard Brautigan, geboren am 30. Januar 1935 in Tacoma, Washington, wurde mit seinen ersten Gedichten und dem Werk „Forellenfischen in Amerika“ zu einer Art Ikone der Hippiegeneration.
In den späten siebziger Jahren konnte er jedoch an seine frühen Erfolge nicht mehr anknüpfen.
Er starb 1984 in Bolinas, Kalifornien.
Dies ist für Helen Brann
in Liebe von Richard
Vielleicht ein Grund, warum ich nie
ein besonders guter Privatdetektiv war:
Ich mag viel zu gern
von Babylon träumen ...
Der zweite Januar 1942 brachte einige gute und einige schlechte Nachrichten.
Zuerst die guten: Ich fand heraus, dass ich nicht kv war und im Zweiten Weltkrieg nicht Soldat spielen musste. Als vaterlandsloser Geselle fühlte ich mich deswegen nicht, denn ich hatte meinen Zweiten Weltkrieg bereits vor fünf Jahren in Spanien ausgefochten, was ein paar Einschusslöcher in meinem Arsch hinlänglich bewiesen.
Ich werde nie begreifen, wieso ich in den Arsch geschossen wurde. Als Kriegsanekdote war das jedenfalls nicht zu gebrauchen. Die Leute verehren dich nicht als Held, wenn du ihnen sagst, dass du in den Arsch geschossen wurdest. Sie nehmen dich nicht ernst, aber das war überhaupt nicht mein Problem. Der Krieg, der für den Rest Amerikas gerade anfing, war für mich schon vorbei.
Nun die schlechten Nachrichten: Ich hatte keine Kugeln für meine Waffe. Ich hatte gerade einen Fall gekriegt, für den ich die Waffe brauchte, aber mein Pulver hatte ich gerade verschossen. Die Auftraggeber, die ich später am Tag zum ersten Mal treffen würde, wollten, dass ich mit einer Waffe käme, und mir war klar, dass denen nicht unbedingt eine leere Waffe vorschwebte.
Was sollte ich anfangen?
Ich nannte nicht einen Cent mein Eigen, und mein Kredit in San Francisco war keinen Vierteldollar wert. Ich hatte mein Büro im September aufgeben müssen, obwohl es nur acht Dollar im Monat gekostet hatte, und jetzt operierte ich einfach aus dem Münztelefon im Eingangsflur der billigen Mietskaserne auf Nob Hill, in der ich wohnte, wo ich zwei Monate mit der Miete in Verzug war. Ich konnte nicht mal dreißig Dollar monatlich auftreiben.
Meine Hauswirtin war für mich eine größere Bedrohung als die Japaner. Alle warteten darauf, dass die Japaner in San Francisco auftauchen und anfangen würden, mit den Kabelbahnen die Hügel rauf und runter zu fahren, aber glauben Sie mir, ich hätte es mit einer Division von denen aufgenommen, um mir meine Hauswirtin vom Hals zu schaffen.
„Wo zum Teufel ist meine Miete, Sie Niete!“, brüllte sie mir immer von oben auf der Treppe zu, wo ihre Wohnung lag. Sie trug immer einen weiten Bademantel, der einen Körper bedeckte, mit dem sie den ersten Preis in einem Schönheitswettbewerb für Zementblöcke geholt hätte.
„Das Land ist im Krieg, und Sie bezahlen nicht mal die gottverdammte Miete!“
Gegen ihr Organ hörte sich Pearl Harbor wie ein Schlafliedchen an.
„Morgen“, log ich sie dann immer an.
„Verarschen kann ich mich selber“, brüllte sie dann immer zurück.
Sie war um die sechzig und je fünf Mal verheiratet gewesen und Witwe geworden: die Glückspilze! Auf diese Weise war sie in den Besitz des Mietshauses gelangt. Einer von denen hatte es ihr vermacht. Gott hatte ihm einen Gefallen getan, als ER in einer Regennacht den Wagen auf den Eisenbahngleisen unmittelbar vor Merced zum Stehen brachte. Er war Handelsvertreter gewesen: Bürsten. Nachdem der Zug auf seinen Wagen geprallt war, konnte man nicht mehr sehen, wo er aufhörte und die Bürsten anfingen. Vermutlich haben sie ihn mit einigen seiner Bürsten im Sarg begraben, weil sie dachten, sie seien Teile von ihm.
In jenen längst vergangenen Tagen, als ich noch Miete zahlte, war sie sehr freundlich zu mir und lud mich immer zu Kaffee und Donuts in ihre Wohnung ein. Sie erzählte liebend gern von ihren verstorbenen Gatten, besonders von einem, der Klempner gewesen war. Sie erzählte gern, wie gut er Badeöfen reparieren konnte. Die anderen vier Gatten blieben immer verschwommen, wenn sie von ihnen erzählte. Es war, als ob sich die Ehen in trüben Aquarien abgespielt hätten. Selbst der vom Zug erfasste Gatte war ihr kaum einen Kommentar wert, doch sie konnte nicht genug von dem Kerl erzählen, der so gut Badeöfen reparieren konnte. Ihren Ofen hatte er wohl auch ziemlich gekonnt repariert.
Der Kaffee, den sie servierte, war immer sehr dünn, und die Donuts etwas altbacken, denn sie kaufte Zeug vom Vortag in einer Bäckerei ein paar Blocks weit weg in der California Street.
Ich hatte mit ihr Kaffee getrunken, weil ich sowieso nicht viel zu tun gehabt hatte. Die Geschäfte liefen damals genauso schlecht wie jetzt, bis auf den Fall, der gerade reingekommen war, aber ich hatte etwas Geld gespart, das ich für einen Autounfall aus einem Gerichtsvergleich gekriegt hatte, darum konnte ich noch meine Miete zahlen, obwohl ich ein paar Monate vorher mein Büro aufgegeben hatte.
Im April 1941 hatte ich meine Sekretärin ziehen lassen müssen. Das ging mir sehr gegen den Strich. Ich hatte die fünf Monate, die sie für mich arbeitete, immer versucht, sie rumzukriegen. Sie war freundlich, aber ich kam mit ihr kaum bis zur ersten Base. Wir knutschten ein bisschen im Büro herum, aber das war’s auch schon.
Nachdem ich sie hatte ziehen lassen müssen, schickte sie mich in die Wüste.
Eines Abends rief ich sie an, und ihr telefonischer Laufpass lautete in etwa so: „... und abgesehen davon, dass Sie nicht gut küssen, sind Sie auch ein lausiger Detektiv. Sie sollten sich in einer anderen Branche versuchen. Hotelpage wäre der ideale Beruf für Sie.“
KLICK
Na, denn ...
Sie hatte sowieso einen fetten Arsch. Ich hatte sie nur eingestellt, weil sie bereit gewesen war, für das niedrigste Gehalt diesseits von Chinatown zu arbeiten.
Im Juli verkaufte ich meinen Wagen.
Jedenfalls war ich hier ohne Patronen für meine Waffe und ohne Geld, welche zu besorgen und ohne Kredit und irgendwas, was ich noch verpfänden konnte. So hockte ich nun in meiner billigen kleinen Wohnung in der Leavenworth Street in San Francisco und dachte darüber nach, als der Hunger plötzlich meinen Magen attackierte wie Joe Louis. Drei hübsche rechte Haken in meinen Bauch, und ich war unterwegs zum Kühlschrank.
Das war ein großer Fehler.
Ich warf einen Blick hinein, und dann schlug ich schnell die Tür zu, weil der Urwald von drinnen nach draußen wollte. Ich weiß gar nicht, wie Menschen so leben können wie ich. Meine Wohnung ist so verdreckt, dass ich kürzlich alle Fünfundsiebzigwattbirnen durch Fünfundzwanzigwatter ersetzt habe, damit ich es nicht mehr mit ansehen musste. Das war Luxus, aber ich musste es tun. Zum Glück hatte die Wohnung keine Fenster, sonst wäre ich wirklich in Schwierigkeiten gewesen.
Meine Wohnung war so düster, dass sie aussah wie der Schatten einer Wohnung. Ob ich immer so gelebt habe? Ich meine, ich muss eine Mutter gehabt haben, jemanden, der mich aufgefordert hat, zu putzen, auf mich zu achten, meine Socken zu wechseln. Hab ich ja auch, aber ich war wohl etwas langsam als Kind und hab’s nicht kapiert. Es musste einen Grund geben.
Ich stand da neben dem Kühlschrank und überlegte, was ich tun sollte, als mir eine prima Idee kam. Was hätte ich denn zu verlieren? Ich hatte kein Geld für Kugeln, und ich hatte Hunger. Ich brauchte etwas zu essen.
Ich ging nach oben zur Wohnung meiner Wirtin.
Ich klingelte an der Tür.
Das wäre das Letzte, was sie von mir erwarten würde, denn ich hatte mich jetzt einen Monat lang redlich bemüht, mich ihr wie ein Aal zu entwinden, dennoch hatte ich mich immer in ihrem Netz aus Flüchen verfangen.
Als sie an die Tür kam, konnte sie nicht glauben, dass ich da stand. Sie guckte, als stünde ihr Türknauf unter Strom. Sie war tatsächlich sprachlos. Das nutzte ich aus.
„Heureka!“, brüllte ich ihr ins Gesicht. „Ich kann die Miete zahlen! Ich kann das Haus kaufen! Wie viel wollen Sie dafür haben? Zwanzigtausend in bar! Meine Schäfchen sind im Trockenen! Öl! Öl!“
Sie war so perplex, dass sie mich in die Wohnung winkte und auf einen Stuhl zeigte, auf dem ich Platz nehmen sollte. Sie hatte immer noch kein Wort gesagt. Ich war wirklich am Überlaufen. Ich konnte mir selbst kaum glauben.
Ich betrat die Wohnung.
„Öl! Öl!“, rief ich immer wieder, und dann fing ich an, Bewegungen zu machen wie Öl, das aus dem Boden sprudelt. Ich verwandelte mich vor ihren Augen in eine Ölquelle.
Ich nahm Platz.
Sie setzte sich mir gegenüber.
Ihr Mund war immer noch zugeklebt.
„Mein Onkel hat Öl auf Rhode Island entdeckt!“, brüllte ich sie an. „Ich besitze die Hälfte davon. Ich bin reich. Zwanzigtausend in bar für diesen Scheißhaufen, den Sie Mietshaus nennen! Fünfundzwanzigtausend!“, schrie ich. „Ich will Sie heiraten und eine ganze Familie von kleinen Mietshäusern großziehen! Ich will, dass unsere Heiratsurkunde auf ein „ALLES-BELEGT-Schild“ gedruckt wird!“
Es klappte.
Sie glaubte mir.
Fünf Minuten später hielt ich eine Tasse sehr dünnen Kaffees in der Hand und mümmelte einen altbackenen Donut, und sie erzählte mir, wie sehr sie sich für mich freute. Ich sagte ihr, dass ich ihr nächste Woche das Mietshaus abkaufen würde, wenn die erste Million Dollar meiner Öltantiemen einträfe.
Als ich ihre Wohnung verließ, mit gedämpftem Hunger und der Zusicherung auf eine weitere Woche Dach über dem Kopf, schüttelte sie mir die Hand und sagte: „Sie sind ein braver Junge. Öl auf Rhode Island.“
„Stimmt“, sagte ich. „Bei Hartford.“
Ich war drauf und dran, sie um fünf Dollar zu bitten, damit ich Kugeln für meine Waffe kaufen konnte, aber ich fand es besser, die Quelle nicht weiter anzuzapfen.
Haha.
Witz kapiert?
Ha! Auf dem Weg nach unten in meine Wohnung träumte ich schon wieder von Babylon. Ich durfte auf keinen Fall von Babylon träumen, während ich gerade dabei war, verschiedene Dinge zu regeln. Wenn ich mit Babylon anfinge, würden Stunden vergehen, ohne dass ich es merkte.
Ich konnte mich in meiner Wohnung hinsetzen, und plötzlich wäre es Mitternacht, und ich hätte nicht mehr die Kraft, mein Leben wieder in den Griff zu kriegen, wofür ich umgehend Kugeln für meine Waffe brauchte.
Das fehlte mir jetzt gerade noch, dass ich anfing, von Babylon zu träumen.
Ich musste Babylon ein Weilchen verdrängen, lange genug, um Kugeln zu besorgen. Ich machte eine heroische Anstrengung, als ich die Treppe des muffigen, versifften, einer Gruft ähnelnden, stinkigen Mietshauses runterging, um vor mir Babylon vom Leib zu halten.
Es stand ein paar Sekunden lang auf Messers Schneide, und dann verschwamm Babylon wieder in den Schatten, von mir weg.
Ich war ein bisschen traurig.
Ich wollte Babylon nicht lassen.
Ich ging in meine Wohnung und holte meine Waffe. Dieses Ding sollte ich irgendwann mal reinigen, dachte ich, als ich es in meine Manteltasche steckte. Außerdem sollte ich mir wohl ein Schulterholster besorgen. Das hätte so was Authentisches und würde mir vielleicht mehr Fälle einbringen.
Als ich meine Wohnung verließ, um in San Francisco Kugeln aufzutreiben, stand meine Wirtin oben auf der Treppe und wartete schon auf mich.
O Gott, dachte ich. Sie ist zur Vernunft gekommen. Ich erwartete, dass eine ellenlange Fluchtirade meine Ohren bombardieren und mich wieder in die Hölle auf Erden zurückbringen würde, doch nichts da. Sie stand da einfach nur und beobachtete mich, wie ich mit einem starren Lächeln im Gesicht das Haus verlassen wollte.
Gerade als ich die Haustür öffnete, sagte sie etwas. Sie klang fast wie ein Kind. „Wieso denn keine Ölquellen in Oklahoma?“, fragte sie. „In Oklahoma gibt es massenhaft Öl.“
„Zu dicht an Texas“, sagte ich. „Unter dem Highway fließt Salzwasser.“
Da war sie aber baff.
Es kam keine Erwiderung.
Sie sah aus wie Alice im Wunderland.
Geld für den Kauf von Kugeln würde ich nirgendwo auftreiben, darum beschloss ich, dorthin zu gehen, wo es immer Kugeln gibt: auf eine Polizeiwache.
Ich ging zum Polizeipräsidium in der Kearny Street, um einen Kriminalbeamten aufzusuchen, mit dem ich früher mal dick befreundet gewesen war, mal sehen, ob ich von ihm ein paar Kugeln borgen könnte.
Vielleicht würde er mir sechs Stück leihen, bis ich meinen Klienten getroffen und einen Vorschuss erhalten hätte. Den sollte ich vor einem Rundfunksender in der Powell Street treffen. Jetzt war es 14 Uhr. Und mir blieben noch vier Stunden, um Kugeln zu beschaffen. Ich hatte nicht den leisesten Schimmer, wer meine Auftraggeber waren oder was sie von mir wollten, außer dass ich sie um sechs vor dem Sender treffen sollte, und sie mir dann eröffnen würden, was zu tun wäre, und ich würde versuchen, einen Vorschuss zu kriegen.
Dann würde ich meiner Wirtin ein paar Dollar geben und ihr sagen, dass ein Panzerwagen mir die Millionen Dollar bringen würde, die in einem Kaktusnebel bei Phoenix, Arizona, verloren gegangen waren, aber sie sollte sich keine Sorgen machen, denn der Nebel würde sich jetzt garantiert jeden Tag lichten, und dann käme das Geld.
Falls sie mich fragen sollte, was denn ein Kaktusnebel sei, würde ich ihr sagen, es sei die schlimmste Nebelart, denn er habe spitze Stacheln. Da sei es sehr gefährlich, sich darin zu bewegen. Besser, man bleibe, wo man gerade sei und warte einfach ab, bis er sich verzogen habe.
Die Millionen Dollar warten darauf, dass sich der Nebel lichtet.
Der Fußmarsch zum Polizeipräsidium war ein Klacks für mich. Ich hatte mich daran gewöhnt, in San Francisco zu Fuß zu laufen, und kam gut voran.
1941 hatte ich mit einem Wagen angefangen und jetzt, ein Jahr später, war ich hier völlig auf meine Füße angewiesen. Das Leben hat seine Höhen und Tiefen. Mit meinem Leben konnte es von jetzt an nur bergauf gehen. Denn tiefer gesunken als ich war nur ein Toter.
Es war ein kalter, windiger Tag in San Francisco, aber der Spaziergang von Nob Hill hinunter zum Polizeipräsidium tat mir gut.
Ich fing an, an Babylon zu denken, als ich mich Chinatown näherte, aber ich konnte die Markise in meinem Kopf gerade noch rechtzeitig runterziehen. Ich sah Chinesenkinder auf der Straße spielen. Ich versuchte herauszufinden, was für ein Spiel das war. Indem ich mich auf die Kinder konzentrierte, konnte ich vermeiden, dass mich Babylon wie ein Güterzug überrollte.
Immer wenn ich versuchte, etwas zu erledigen, und Babylon auf mich zu kam, versuchte ich, mich auf alles zu konzentrieren, was es von mir fernhalten würde. Das war immer sehr schwer, denn ich träume wirklich gern von Babylon und habe dort eine wunderschöne Freundin. Es ist schwer zuzugeben, aber ich mag sie mehr als echte Mädchen. Ich hatte schon immer ein Mädchen kennenlernen wollen, das mich so sehr interessierte wie meine Freundin in Babylon.
Ich weiß nicht recht.
Vielleicht irgendwann einmal.
Vielleicht auch nie.
Nach dem chinesischen Kinderspiel dachte ich an meinen Freund, den Kriminalbeamten, um Babylon in Schach zu halten. Es war ein Sergeant namens Rink. Er war ein knallharter Cop. Vermutlich hielt er den Weltrekord im Knallhartsein. Er hatte einen Schlag ins Gesicht perfektioniert, der einen genauen Handabdruck darin hinterließ wie ein vorübergehendes Brandzeichen. Der Schlag war nur eine freundliche Begrüßung von Sergeant Rink verglichen mit dem, wie sich die Dinge entwickelten, wenn man sich nicht sehr, sehr kooperativ zeigte.
Ich hatte Rink 1936 kennengelernt, als wir beide in den Polizeidienst wollten. Damals waren wir dicke Freunde. Wir könnten jetzt beide bei der Polizei sein und gemeinsam Mordfälle aufklären, wenn ich nur die Abschlussprüfung geschafft hätte. Obwohl mein Ergebnis knapp war. Nur fünf Punkte fehlten mir, um Cop zu werden.
Von Babylon zu träumen hatte mir geschadet. Ich wäre auch ein guter Cop geworden. Hätte ich bloß aufhören können, von Babylon zu träumen. Babylon hat mir so viel Freude bereitet und war doch gleichzeitig ein Fluch.
Ich habe die letzten zwanzig Fragen der Prüfung nicht beantwortet. Darum bin ich durchgefallen. Ich habe da gesessen und von Babylon geträumt, während alle anderen die Fragen beantworteten und Polizisten wurden.
Von außen war mir das Polizeipräsidium eigentlich immer schnuppe. Es ist ein riesiger, gruftartiger, düsterer Bau, und drinnen riecht es immer nach verrottetem Marmor.
Ich weiß nicht recht.
Vielleicht liegt’s an mir.
Vermutlich.
Aber eins ist doch interessant: Ich bin mindestens schon ein paar hundert Mal im Polizeipräsidium gewesen, und wenn ich da bin, denke ich nie an Babylon, also erfüllt es für mich einen gewissen Zweck.
Ich nahm den Aufzug zum vierten Stock und fand meinen Freund, den Kriminalbeamten, an seinem Schreibtisch im Morddezernat. Mein Freund ist fast genau so, wie er aussieht: ein knallharter Cop, der sich für die Aufklärung von Mordfällen interessiert. Das Einzige, was ihm noch lieber ist als ein schöner saftiger Mord, ist ein Sirloin-Steak, das unter einem Haufen Zwiebeln erstickt. Er war Anfang dreißig und wie ein Dodge-Transporter gebaut.
Als Erstes fiel mir sein Schulterholster ins Auge, in dem lässig eine hübsche .38er Police Special ruhte. Besonders die sechs Kugeln darin hatten es mir angetan. Gern hätte ich alle sechs gehabt, aber dann gab ich mich mit dreien zufrieden.
Sergeant Rink überprüfte sehr eingehend einen Brieföffner.
Er sah hoch.
„Welch eine Augenweide!“, bemerkte er.
„Wozu brauchst du denn einen Brieföffner?“, stieg ich darauf ein. „Lesen ist ja bekanntlich nicht gerade deine Stärke.“
„Verkaufst du immer noch Schmuddelbilder?“, fragte er lächelnd. „Liebesgrüße aus Mexiko? Die für Hundeliebhaber?“
„Nein. Die wurden von zu vielen Cops nachgefragt. Die haben mir alles abgekauft.“
Das Privatdetektivgeschäft war 1940 während der Weltausstellung auf Treasure Island sehr schlecht gelaufen, darum hatte ich mir ein Zubrot durch den Verkauf einiger „Kunst“-Fotos an Touristen verdient.
Sergeant Rink zog mich immer gern damit auf.
Ich habe in meinem Leben vieles getan, auf das ich nicht stolz bin, aber das Schlimmste war, dass ich so arm geworden war, wie ich war.
„Das ist eine Mordwaffe“, sagte Rink und ließ den Brieföffner auf den Schreibtisch fallen. „Er wurde erst heute Morgen im Rücken einer Prostituierten gefunden. Keine Indizien. Nur ihre Leiche in einem Eingang und dies hier.“
„Der Mörder war verwirrt“, sagte ich. „Irgendwer hätte ihn in einen Schreibwarenladen bringen und auf den Unterschied zwischen einem Briefumschlag und einer Hure hinweisen sollen.“
„Junge, Junge“, sagte Rink kopfschüttelnd.
Er hob den Brieföffner wieder auf.
Er drehte ihn sehr langsam in seiner Hand. Ihm beim Spielen mit einer Mordwaffe zuzusehen, brachte mich den Kugeln für meine Waffe kein Stück näher.
„Was willst du denn?“, fragte er und starrte auf den Brieföffner, ohne mich eines Blicks zu würdigen. „Als ich dir das letzte Mal einen Dollar gepumpt habe, war endgültig Schluss damit, was willst du also? Was kann ich für dich tun, außer dir den Weg zur Golden Gate Bridge zu erklären und ein paar Tipps, wie man springt? Wieso gibst du nicht diese alberne Vorstellung auf, dass du ein Privatdetektiv bist, suchst dir eine Lohnarbeit und rückst mir von der Pelle? Es ist Krieg. Die brauchen jeden. Es muss was geben, das du tun kannst.“
„Ich brauche deine Hilfe“, sagte ich.
„Ach du liebe Scheiße“, sagte er und sah endlich hoch. Er legte den Brieföffner hin, griff in die Tasche und zog eine Hand voll Kleingeld heraus. Ganz behutsam pickte er einen Vierteldollar, zwei Dimes und einen Nickel heraus. Er legte sie auf den Schreibtisch und schob sie mir rüber.
„Da!“, sagte er. „Letztes Jahr stand dein Kurs auf fünf Dollar, dann bist du auf einen gefallen. Jetzt bist du ein Fünfundsiebzigcenter. Such dir um Gottes willen einen Job. Es muss doch etwas geben, was du tun kannst. Eins weiß ich sicher: Detektivarbeit ist es nicht. Nicht viele Leute wollen einen Detektiv anheuern, der nur eine Socke trägt. Die könnte man sicher an einer Hand abzählen.“
Ich hatte gehofft, dass er es nicht merken würde, aber nein! Morgens beim Anziehen hatte ich Babylon im Kopf gehabt und nicht gemerkt, dass ich nur eine Socke trug, bis ich den Fuß ins Polizeipräsidium setzte.
Ich wollte Rink sagen, dass ich die fünfundsiebzig Cent nicht brauchte, ja eigentlich schon, aber was ich wirklich wollte, waren Kugeln für meine Waffe.
Ich versuchte, die Lage zu eruieren.
Meine Möglichkeiten waren beschränkt.
Ich konnte die fünfundsiebzig Cent nehmen und mir einen Vorsprung verschaffen, oder ich konnte sagen: Nein, ich will das Geld nicht. Ich will Kugeln für meine Waffe.
Wenn ich die fünfundsiebzig Cent einstecken würde und ihn dann um die Kugeln bäte, würde er vielleicht wirklich in die Luft gehen. Ich musste sehr vorsichtig sein, denn wie ich schon bemerkt habe: Er war ein Freund von mir. Sie können sich vorstellen, wie die Leute waren, die mich nicht leiden konnten.
Ich beäugte die fünfundsiebzig Cent auf dem Schreibtisch.
Dann fiel mir ein Kleinkrimineller aus meinem Bekanntenkreis ein, der in North Beach wohnte. Ich erinnerte mich, dass er mal eine Waffe besessen hatte. Vielleicht hatte er die noch, und ich könnte ihm ein paar Kugeln für meine Waffe abkaufen.
Ich steckte die fünfundsiebzig Cent ein.
„Danke“, sagte ich.
Rink seufzte.
„Beweg deinen Arsch“, sagte er. „Wenn ich dich das nächste Mal sehe, will ich einen Mann in Lohn und Brot vor mir haben, der darauf brennt, seinem alten Kumpel Rink dreiundachtzig Dollar und fünfundsiebzig Cent zurückzuzahlen. Wenn ich aber so was wie jetzt vor mir sehe, bist du dran wegen Rumstreunens, und ich sorge dafür, dass du dreißig Tage kriegst. Reiß dich zusammen und hau ab!“
Ich ließ ihn weiter mit dem Brieföffner spielen.
Vielleicht brächte ihn das auf eine Spur, die den Mord an der Prostituierten aufklären würde.
Und vielleicht könnte er sich den auch in den Arsch stecken.