Carola Wegerle

Die Irak-Mission

Claires Einsatz

Roman

 


 

Impressum

© 2016 Carola Wegerle

ISBN: 978-3-95616-503-0

Auch als Taschenbuch erhältlich unter ISBN 978-3-96136-059-8

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Coverbild: © Pixabay
Carola Wegerle, Tsingtauer Straße 71, 81827 München
www.Autorin-Carola-Wegerle.de

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten!

2. Auflage © 2019

 

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80335 München
Kreittmayrstr. 26
www.cc-live.net


 

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MEIN DANK

HINTERGRUND

 

 


 

WIDMUNG

Für alle, die ihr Leben riskieren, um anderen zu helfen.


1

 

Die Wunde ist nicht tief, doch die Blutung kaum zu stillen. Claire entfernt vier kleine Granatsplitter aus dem Oberarm eines Kindes – Alltag für die Ärzte bei diesem Einsatz im Golfkrieg. Konzentriert führt sie das Skalpell, Verlängerung ihrer Hand, ihres Gedankens, tupft behutsam Jod auf das verletzte Gewebe.

Der Junge ist zwölf oder dreizehn Jahre alt. Er gibt keinen Laut von sich, beißt sich nur die Lippen blutig. Aus dunklen Augen blickt er die Ärztin an, verwirrt und ein wenig trotzig – eine stumme Bitte um Hilfe. Claire würde ihm gern über das Haar streichen, das Kind an sich drücken, es trösten. Doch sie weiß, dass das seine arabische „Mannesehre“ beleidigt hätte. Sie seufzt. Kinder werden schnell erwachsen in diesem Land.

Die Flasche mit dem Jod ist leer. „Ich bin gleich wieder da“, sagt sie und legt dem Jungen beruhigend die Hand auf die Schulter. Sie richtet sich auf, reibt ihren schmerzenden Rücken. Seit Wochen ist sie im Einsatz, pausenlos versorgt sie verwundete GIs, irakische Soldaten, verletzte Frauen und Kinder. Was für ein Land, denkt sie, in dem der Krieg Kindern seine Brandeisen aufdrückt, erbarmungslos, unauslöschlich.

Sie steht in dem kleinen Zelt, das ihre Medikamente vor Licht und Staub schützt, füllt das Jod ab. Kühlung spenden die leichten Stoffbahnen nicht, doch schenken sie ihr ein paar Augenblicke der Ruhe, bevor sie erneut in das Stöhnen und die Schreie der Verletzten eintauchen wird. Das Jod sieht wie Blut aus, gegen das Bild kann sie sich nicht wehren.

Ein Schatten färbt das Rot dunkler. Daniel steht im Zelt, Blutspritzer auf dem Kittel, Sand in den Haaren, lächelnd. Er ist der zweite Arzt im Team. Claires ganzer Körper lächelt zurück, über ihre Finger rinnt etwas Jod, ein Karton mit Verbandmaterial gleitet aus Daniels Hand und prallt dumpf auf den staubigen Boden. Beider Herzschlag beschleunigt sich, findet zu synchronem Rhythmus, ihr Atem hörbar trotz des unablässigen Rauschens der Wüste. Sie tauschen kein Wort, dafür einen Kuss – flüchtig, ein Versprechen, dann eilt Daniel wieder nach draußen zu seinen Patienten. Einen Lidschlag lang schließt Claire die Augen. Nur einen Moment – Stille, nur ganz kurz …

Sie schraubt den Jodcontainer zu, greift nach dem Fläschchen und tritt entschlossen aus der schützenden Haut des Zeltes ins grelle Mittagslicht.

Die Druckwelle reißt Claire von den Füßen, bevor das ohrenbetäubende Geräusch in ihr Bewusstsein dringt, das sie zu einem namenlosen Atom schrumpfen lässt. Fäuste aus Stahl drücken ihren Brustkorb zusammen, lassen ihre Augen aus den Höhlen treten. Sand spritzt trichterförmig auf. Explosionen jagen sich. Blitze spalten die Luft, zerreißen den Frieden so mühelos, als wäre er aus Papier. In wenigen Sekunden verwandelt sich das Camp, dieser dem Krieg mühsam abgetrotzte Ort, in Chaos, Urzeitbersten mit scharlachrotem Schlund. Die Patienten schreien auf – springen, rutschen, robben aus den Feldbetten, versuchen, sich in Sicherheit zu bringen. Claire taumelt gegen eine Zeltstange, die nachgibt, umklammert sie, wird von ihr zu Boden gerissen. Die Erde vibriert. Reiter galoppieren auf sie zu, ein Automotor heult auf, ein zweiter, dritter. Stimmen, gellende, zornige, befehlende, hacken sich in die Panikschreie der Patienten. Die Zeltbahn folgt der Stange und begräbt Claire unter sich. Verzweifelt versucht die Ärztin, sich zu befreien. Ihre Haut brennt. Die Luft brennt.

„Urkuhm!“, hört sie und Schüsse und wieder: „Urkuhm!“ – werft sie ins Feuer! –, die Dschihad-Losung islamistischer Terroristen gegen Ungläubige. Claire zerrt an der Plane, tritt wie ein Taucher, der sich gegen Krakenarme wehrt, um sich, doch das steife Leinen hat sich fest um sie gewickelt. In hartem Rhythmus peitschen die Schüsse durch das Krankenlager. „La ’ilaha illa allah! A:sch al-mudschaheddin!“ – Im Namen Allahs! Es leben die Gotteskrieger! –, schreien die Angreifer in blindem Zorn, während sie ihre Kugeln abfeuern, in die Zelte, auf die Betten, in die Luft und auf die Menschen. Schriller klingen die Schreie der Patienten, der Krankenschwestern, die doch selbst Araberinnen sind, bis sie in einer nicht endenwollenden Salve von Schüssen verstummen. Wie ein Maulwurf gräbt sich Claire frei, atemlos, endlich kann sie sehen, was vor sich geht. Das Lager ist zerstört. Brandbomben haben die Zelte in flammende Fahnen verwandelt. Claires Patienten, die Schwestern, die GIs, die sie bewachen sollten, liegen wie Bündel schmutziger Lumpen auf dem ockergelben Grund. Zwei der selbsternannten Gotteskrieger haben Daniel erfasst und zerren ihn zu einem Sandhügel, vor dem ein alter Militärjeep steht.

„Nein!“, will Claire schreien. „Nein!“ Doch zwingend wie eine Gefäßklemme presst sich eine Hand auf ihren Mund, ein magerer Arm drückt sie entschlossen zu Boden. Sie blickt auf die Wunde, aus der sie ein paar Minuten zuvor vier Granatsplitter entfernt hat. Warum hat sie ihn nicht gefragt, wie er heißt? Stumm kämpft sie gegen ihn, gegen sein Gewicht, er ist doch nur ein Kind, sie muss sich befreien, muss Daniel helfen. Sie bäumt sich auf, er drückt sie nieder und immer seine Hand auf ihrem Mund, wenn sie ihn nur beißen könnte. Sie keucht, sie boxt, sie spürt, wie seine Kraft nachlässt, kein Wunder bei seinem Blutverlust, sie blickt zu Daniel, „nein!!!“, will sie schreien, zerrt an der Hand des Jungen auf ihrem Mund – „Daniel!!!“

Die Hand bleibt wie eine Teufelsklaue. Stählern.

Claire sieht jetzt nur noch Feuer, Feuer, das zum Himmel wächst und alles verzehrt.

 

 

2

 

„’n Wurm, akut!“ Grelles Neonlicht fällt um 4.30 Uhr in den dunklen Ruheraum auf der dritten Etage der Städtischen Kliniken, Abteilung Innere Medizin. Die Silhouette einer kräftigen Schwester füllt den Türrahmen beinahe vollständig.

Claire fährt hoch, mit verklebten Haaren und schweißnasser Stirn. Sie springt von der schmalen Liege und schlüpft in ihre weißen Jeans. „Ich fass es nicht“, schimpft sie, „wieso toben diese Blinddärme immer dann, wenn ich schlafe!“

Mit einem leichten Zucken ihrer Mundwinkel geht die Schwester auf Claires halbherzigen Scherz ein. Sie blickt der Chirurgin prüfend ins Gesicht. Claires Lächeln erstirbt.

Seit sie einmal laut geschrien hat, als sie träumte – immer den gleichen Traum –, scheinen zumindest alle Schwestern Bescheid zu wissen, ärgert sich Claire. Die Kriegsheimkehrerin mit der Macke …

Sie schüttelt diesen Gedanken ab. Jetzt wird sie einen Blinddarm entfernen, einen Wurm, wie es im Krankenhausjargon heißt. Das macht sie im Übrigen nicht ungern.

 

Einige tausend Kilometer entfernt blinzelt ein Junge ins erste Morgenlicht. Er wäscht sich das Gesicht über einer verrosteten Emailschüssel, die vor seiner Baracke steht. „Asso!“, ruft eines der Kinder, die aus der Wellblechhütte gegenüber kriechen. „Habt ihr noch Brot?“ Asso setzt seine Brille auf, die an zwei Stellen mit Heftpflaster geklebt ist. Er schüttelt den Kopf. Auch ihm knurrt der Magen.

„Helft mir Feuer machen“, fordert Umed, ein kräftiger Junge, die jüngeren Kinder auf. Eine Krücke ersetzt ihm das zweite Bein. Asso nickt. Fröstelnd reibt er die Hände aneinander. Mit seinen feinen Gesichtszügen könnte er auch vor einem Konzertflügel stehen, gekämmt und mit einem weißen Kragen. Doch er lebt in einem Barackenlager in den kurdischen Bergen, deren runde Kuppen Mäntel aus Schnee tragen.

 

Zur gleichen Zeit – früh am Morgen – wird auf dem Militärflughafen von Bagdad ein C-130-Hercules-Transportflugzeug startklar gemacht: Jeder Handgriff des gut geschulten Bodenpersonals sitzt. Die beiden Piloten Will und Marc unterziehen ihre Maschine einem gewissenhaften Outside-Check. Zwei erfahrene Mechaniker assistieren ihnen. Die sorgfältige Kontrolle ist bei ihrem bevorstehenden Flug besonders wichtig, denn sie befördern Riesenmengen an Munition und Sprengstoff.

Im Frachtraum des Flugzeugs stapeln sich Hunderte von Kisten mit rotem Dynamite-Aufdruck, andere, auf denen Dangerous Goods steht, und viele Paletten mit Metallhydridspeichern, zylindrischen Druckbehältern, die Wasserstoff enthalten. Das Gas dient zur Herstellung von Brennstoffzellen, deren Strom Kampf- und Aufklärungsdrohnen zum Einsatz bringen soll. Spezialisten für die sachgerechte Beladung, die Loader, fahren weitere 30 Paletten, auf denen sich Sauerstoffflaschen türmen, dicht an die Laderampe.

Heftiger Wind lässt ihre Augen tränen. Wüstenwind, heiß und trocken und so staubig, dass man kaum Luft bekommt.

Chris, einer der beiden Mechaniker, scherzt hustend: „Und denkt dran: Keine Zigaretten, kein’ Pott, sonst gebt ihr ’n sexy Feuerball in den Wolken ab.“

Ein netter Witz. Die Piloten und das Bodenpersonal lachen – eine Spur zu laut, zu angestrengt. Es hilft ihnen gegen die Beklommenheit, die sie empfinden und die bei jedem Einsatz, den sie in diesem Land fliegen, auf beunruhigende Weise zunimmt, statt sich durch Gewohnheit auf die leichte Nervosität zu reduzieren, die für eine gute Konzentration notwendig ist.

Die Loader sichern die letzten Paletten durch eloxierte Stahlhebel.

„Ihr habt genug Dynamit an Bord, um ein ganzes Gebirge

zu zerbröseln“, feixt Chris. Er steckt die Sicherungsstifte.

„Geheim wär der Einsatz dann wirklich nicht mehr.“

Marc, der Copilot aus Texas, kontert, indem er einen bekannten Werbespot imitiert: „Smoking’s suicide!“

Auch Will, der Pilot, bemüht sich, Angst und Zweifel nicht aufkommen zu lassen. Grinsend fügt er hinzu: „Suzie dürfte ich nicht mit ’ner Zigarette kommen, die schmeißt mich glatt raus. Anbrüllen würd sie mich, bis ihr die Stimme kippt.“ Seine Zähne blitzen im schwarzen Gesicht, als er sich die Szene vorstellt. „Zigaretten kommen bei ihr gleich nach dem Teufel – oder vielleicht sind sie für sie der Teufel, keine Ahnung.“ Unter dem Gelächter der Männer steigt er ins Cockpit der Maschine, die vor einem Tag noch in Nevada stand, ausrangiert, jetzt aber für geeignet befunden wurde, unter einem Mantel grauer Tarnfarbe bei diesem geheimen Einsatz mitzuspielen. Man hat sie natürlich generalüberholt.

Eine kalte Klammer presst sein Herz zusammen. Er kennt sie. Schon seit einigen Wochen ist sie da, diese Klammer, die ihm die Leichtigkeit des Lebens nimmt. Da ist es am besten, an seine drei Jungen zu denken, wie sie Baseball spielen, aus Leibeskräften johlen und wie Bälle in die Höhe springen, wenn sie einen Treffer gelandet haben.

„Suzie?“, fragt Chris den Copiloten und grinst anzüglich.

„Seine Frau“, lacht Marc und steigt zu Will ins Cockpit. Dort lesen die beiden Piloten ihre Take-off-Checklist.

„Flaps –“, fragt Will routinemäßig.

„Twenty-five“, erwidert Marc.

„Flight controls –“

Die beiden Piloten ahnen nicht, dass auch sorgfältigst geprüftes Material eigenen Gesetzmäßigkeiten unterliegen kann. Einer Bestimmung, würden Indianer sagen, in deren Vorstellung Gegenstände lebendig sind oder zumindest von einem Geist erfüllt sein können, der sie zu Wesen mit einem eigenen Willen macht. Als der Frachtraum geschlossen wird, löst sich kaum merklich ein Sicherungsstift aus einem der Stahlhebel. Die kleine Kugel am anderen Ende des Pins ist in die Bohrung gerutscht, die so minimal ausgeschlagen war, dass sie der aufwendigen Materialprüfung entgangen ist. Der Stift fällt heraus.

„Checked“, antwortet Marc.

„Strobes –“

„On.“

„Take-off checklist complete“, schließt Will die Routineprüfung ab.

Daraufhin erteilt der Tower die Starterlaubnis. „Hercules 3570 – clear for take-off, runway two-four.“

Das Flugzeug hebt ab und verliert sich schnell in östlicher Richtung in den Wolken.

 

Claire setzt den letzten Stich an der Wunde über dem Blinddarm ihres Patienten, eines fünfjährigen Kindes. Erleichtert nimmt ihr eine OP-Schwester die Nadel ab. Die Operation war alles andere als ein Routineeingriff, eine Kette von Komplikationen forderte von allen höchste Konzentration. Ärzte und Schwestern sind erschöpft. Claires älterer Kollege, Dr. Allmender, nickt anerkennend: „Gute Arbeit, Frau Doktor.“

Todmüde streift sich Claire die Handschuhe ab und wird vor Freude über das Lob rot. Sie ist gern Chirurgin. Warum sie diesen Fachbereich gewählt hat, weiß sie nicht. Aber wenn sie operiert, vergisst sie die Welt um sich, ist erfüllt vom Bewusstsein, dass sie am richtigen Ort ist, das Richtige tut.

Wie jung sie noch wirkt, denkt ihr Kollege, der Mitte sechzig ist. Auch er rettet gern Leben. „Im Kongo wäre es jetzt tot, bei den Komplikationen“, sinniert er. Claire schluckt. Nein, an die Bedingungen in Entwicklungsländern möchte sie in diesem Augenblick nicht denken. An Behelfslazarette, Operationen ohne Narkosemittel, an Unterernährung, Schmerzen, Dreck und – Gewalt. Claire bricht der Schweiß aus. Sie weiß, wenn sie so übermüdet ist wie jetzt, ist sie den Bildern des brennenden Camps in der Wüste hilflos ausgeliefert. Sie wird heute eine Valium nehmen, damit sie ohne Träume schlafen kann. In drei Stunden, dann ist ihr Nachtdienst zu Ende.

 

Die Kinder in den kurdischen Bergen haben in einer alten Öltonne Feuer entfacht. Darüber wärmen sie sich die Hände. Viele Tonnen müssen an diesem grauen Morgen Wärme spenden, denn Hunderte, Tausende, Zehntausende von Kindern frieren in dieser Welt ohne Erwachsene, ohne Zuhause, ohne jede Struktur – verloren. Nur dürftigste Hilfe erreicht sie von außen. Das alte Regime war nicht an ihrem Überleben interessiert, und das neue fühlt sich für die Kriegswaisen nicht verantwortlich, ist zudem überfordert von ihrer überwältigenden Anzahl. Niemand fühlt sich für sie zuständig, niemand hat recherchiert, wie viele Kindercamps während der Kriegswirren entstanden sind und wie viele Kinder darin leben. Mutigen kurdischen Journalisten, die von über hunderttausend Kindern sprechen, wird im Ausland kein Glauben geschenkt. Allein in Assos Lager leben so viele Kinder wie in einer europäischen Kleinstadt.

 

„Scheißwetter“, flucht Marc. Die Piloten haben mit starken Turbulenzen zu kämpfen. Will überprüft noch einmal die Einstellungen des Autopiloten.

Marc schiebt sich ein Kaugummi in den Mund, das beruhigt ihn, besonders das mit Zimt-Flavour.

Im Frachtraum spielt der pinlose Stahlhebel, der die Palette im hinteren Frachtraum sichern sollte und dieser Aufgabe überdrüssig ist, Schicksal: Er öffnet sich.

Die befreite Palette knallt mit Wucht gegen die Wasserstoffbehälter.

Will knirscht mit den Zähnen. Die verschiedenen Luftschichten kämpfen jetzt heftig miteinander. Das Flugzeug sackt immer wieder in Luftlöcher. Entspannend wird dieser Flug nicht, stellt er missgelaunt fest. Er schaltet den Autopiloten aus. Mit festem Griff packt er das Steuerhorn, fühlt sich durch den kleinen Muskelaufwand weniger machtlos.

Währenddessen rammt die Palette mit den Sauerstoffflaschen in stetem Wechsel die Frachtraumwand und die Behälter mit dem Wasserstoff. Stoß um Stoß drückt ihre scharfe Kante das Ventil des Druckbehälters ein, der in der untersten Reihe am äußersten Rand liegt. Mit einer solchen Gewalteinwirkung haben die Hersteller der Ventile nicht gerechnet. Ein winziges Leck entsteht, eine kaum messbare Menge des Gases strömt aus.

Der Fall ins nächste Luftloch schleudert die ungesicherte Palette so hart gegen die Wasserstoffbehälter, dass in einer Sauerstoffflasche ein haarfeiner Riss entsteht. Als hätten sie auf diese Gelegenheit gewartet, gehen die beiden chemischen Stoffe eine chemische Mesalliance ein: Sie vermischen sich.

Marc setzt die Kopfhörer ab, blickt nach hinten.

„Kam das aus dem Frachtraum?“ Will wendet erstaunt den Kopf. Marc steht auf.

„Ich seh mal nach.“

Der Frachtraum ist dunkel. Marc schaltet eine Lampe an, die sich dicht über dem Boden an einer Seitenwand befindet. Die Maschine liegt in diesem Moment so still in der Luft, als steuere sie ein sonniges Ferienziel an. Alle Paletten stehen daher wieder regungslos an ihrem Platz.

Das Gasgemisch ist geruchlos. Marc kann es nicht riechen. Er kann auch nicht hören, wie das Gas ausströmt. Die Maschine ist zu laut. Mit großer Umsicht beginnt er, die Verankerungen zu überprüfen. Die ersten sechsundzwanzig sind vollkommen in Ordnung.

Marcs Rücken fühlt sich plötzlich eiskalt an. Auch seine Beine … Als ob alles in ihm eng würde. Er ringt nach Luft. Langsam verlässt er den Frachtraum, sucht an den Wänden Halt. Die Lampe schaltet er nicht aus. Er vergisst es einfach.

 

Die Hercules kämpft sich jetzt wieder durch labile Luftschichten. Die Piloten blicken konzentriert in die grauen Wolken. Ernstlich beunruhigt sind sie nicht, auch wenn sie die Wirbelschleppen als reichlich nervtötend empfinden. Sie können mit diesen Bedingungen umgehen. Eigentlich. Theoretisch. Dennoch sind beide an diesem Morgen angespannt.

„Noch neun Tage“, überspielt Marc sein wachsendes Unbehagen, „dann ess ich Steaks, morgens, mittags …“

Will lacht.

„… und abends. Wir haben die besten in Texas.“

Will zieht die Maschine steil nach oben, zu dicht sind die Wolken.

„Es wird Zeit, dass ich heimkomme. Ich weiß grad nicht, ob ich noch ’ne Freundin habe …“

„Helen?“, versucht Will sich zu erinnern und schaltet wieder auf Autopilot. So oft ist er noch nicht mit Marc geflogen, dass er bezüglich des Namens sicher wäre.

„Macie“, klärt ihn Marc auf. „Entweder sie hat ihr Handy verloren oder sie treibt’s mit ’nem andern.“

Nach dem Komplikationsblinddarm hat Claire fast ununterbrochen operiert: Ein Notfall nach dem anderen wurde an diesem Morgen eingeliefert. Wie immer bei Vollmond, denkt Claire. Diese Beobachtung darf sie ihren analytisch-naturwissenschaftlich denkenden Kollegen gegenüber natürlich nicht äußern, wenn sie von ihnen ernst genommen werden will. Und daran liegt ihr viel. In zwei Monaten möchte sie ihre Facharzt-Prüfung ablegen – sehr früh für ihr Alter, doch sie traut es sich zu. Der Chefarzt hat ihr bereits signalisiert, dass ihre Chancen nicht schlecht stehen. Dann darf sie endlich allein operieren. Jetzt, als Assistenz- und angehende Fachärztin, ist ihr das nur im Team gestattet, und sie muss sich bei der Arbeit von ihren ausnahmslos männlichen Kollegen viel Schulmeisterei anhören. Aber fachlich ist sie gut, das spürt sie, und hin und wieder wird es ihr sogar mit knappen Worten bestätigt, was nach den hierarchischen Regeln der Städtischen Kliniken nahezu an ein Wunder grenzt. Vor allem Dr. Allmender scheint eine Schwäche für die Geschicklichkeit zu haben, mit der sie schneidet und näht, ihre entschlossene Sicherheit, wie er es oft nennt. Er lässt sie fast alle Eingriffe operieren und hält sich assistierend im Hintergrund. Dafür ist ihm Claire sehr dankbar. Sie lernt gern, liebt Herausforderungen, will Erfahrungen sammeln, alle Seiten ihres Berufes kennenlernen.

„Schlafen Sie gut“, verabschiedet sich Dr. Allmender. Er hat es eilig, nach Hause zu kommen, OP-Haube und Kittel hat er schon abgelegt.

„Erst in zwei Stunden“, erwidert Claire heiter. Ihre Schicht ist noch nicht zu Ende. Der Arzt zuckt bedauernd die Schultern, winkt ihr kurz zu – und stößt beinahe mit dem Rollbett zusammen, auf dem die nächste Patientin in den Operationssaal geschoben wird. Das kleine Mädchen ist sehr blass. Es atmet schwer. Mit fiebrig glänzenden Augen starrt es auf Claires grüne OP-Haube. Neugierig greift die Chirurgin zum Krankenblatt, das am Fußende des fahrbaren Bettes angebracht ist, während der Anästhesist die Narkose vorbereitet. Das Mädchen ist nicht Claires Patientin, für die Operation ist Dr. Schäfftner vorgesehen. Doch nach einem kurzen Blick auf das Narkotikum, das der Anästhesist gewählt hat, sagt sie entschlossen: „Halt, kein Ampicillin.“ Der Anästhesist wirft ihr einen überraschten Blick zu, fährt jedoch in seinen Vorbereitungen fort, ohne auf ihren Einwurf zu reagieren. Claire schnappt nach Luft. „Die Patientin reagiert allergisch darauf, ich versteh nicht, warum das nicht in der Kurve steht.“ Sie deutet auf das Krankenblatt, das in der Alltagssprache der Ärzte „Kurve“ heißt.

„Überlassen Sie das Dr. Schäfftner“, mischt sich die OP-Schwester ein, eine zähe 46-Jährige mit grauem Kurzhaarschnitt, der Claires Engagement ein Dorn im Auge ist.

Er operiert das Mädchen.“ Die Begeisterung der jungen Ärztin für ihren Beruf interpretiert sie als anmaßend, eine Bedrohung für ihre festgefügte Klinikordnung.

Claire schluckt, setzt an, ihr die Allergie des Mädchens zu erklären, aber im gleichen Augenblick legt der Anästhesist, der beide ignoriert, bereits die Kanüle. Claire ist fassungslos. Sie alle wollen doch Menschen helfen. Leben retten. Keine – Machtspiele …

Sie spürt eine Feuerkugel in ihrem Bauch, sehr heiß. Die nach oben steigt, ihr Herz mit Klarheit und ihre Hände mit kalter Präzision erfüllt. Sie reißt dem Anästhesisten die Kanüle aus der Hand. „Das Mädchen ist bei mir auf der Station“, versucht sie, ihre Handlung zu rechtfertigen, als sie in das versteinerte Gesicht des Kollegen blickt.

In diesem Augenblick betritt der diensthabende Chirurg, Dr. Schäfftner, den Operationssaal. Er zieht die Augenbrauen hoch, mustert Claire, als wäre sie ein ekelerregendes Insekt, das auf unerklärliche Weise in sein Territorium eingedrungen ist. Die Operationsschwester versucht, die Situation zu entschärfen. Sie nimmt Claire die Kanüle aus der Hand. Dabei hätte sie es belassen können. Doch auch sie liebt Machtspiele über alles. „Das ist ein Krankenhaus, kein Einsatz in der Dritten Welt! Auch wenn Sie bald Fachärztin sind.“ Sie nutzt die Gelegenheit, sich bei den beiden Ärzten beliebt zu machen, mit Freude. Was sie im Gegensatz zu den Stationsschwestern nicht weiß, ist, dass sie mit diesem Satz Claires verletzlichste Stelle getroffen hat.

Die junge Ärztin beißt sich auf die Lippen. Sie sagt leise:

„Da will ich auch nie wieder hin.“

Dr. Schäfftner lässt sich mit unbewegtem Gesicht in seinen Kittel helfen. „Wenn Sie jetzt freundlicherweise meinen OP verlassen würden.“

Das kranke Mädchen blickt Claire flehend an. Claire dreht sich um und verlässt den Raum. In ihrem Rücken brennt der Blick des Kindes.

 

 

3

 

Im Lager der kurdischen Waisen gibt es kein Kompetenzgerangel. Die Kinder haben nicht das geringste Interesse daran. Sie sind zu müde, zu hungrig und im Herzen zu leer, um sich über Dinge aufzuregen, die geschehen und die sie nicht ändern können. Sie sind froh, dass Umed, der 14-Jährige mit dem Holzbein, ihnen Anweisungen erteilt: Die Mädchen sollen Wasser holen oder auf die Babys aufpassen und die Jungen in der Umgebung nach verwertbarem Abfall suchen, den sie zu Geld machen können. Keiner widerspricht ihm. Teilnahmslos machen sich die Kinder auf den Weg. Asso wird von einem Fünfjährigen begleitet, dem der Rotz aus der Nase läuft. Ein paar feste Koordinaten mehr in ihrem Leben – das ist ihr größter Wunsch. Dennoch verdrängen sie die Frage, ob dieses Barackenlager nur eine vorübergehende Situation oder ihre Zukunft ist. Sie müssen sie verdrängen, wenn sie überleben wollen.

 

Sehr feste Koordinaten dagegen haben die Piloten, die den stürmischen Witterungsbedingungen eine geballte Ladung Selbstbeherrschung entgegensetzen müssen. „Das ist ja wie im Autoscooter auf ’ner Achterbahn.“ Marc schnallt den Gurt ein wenig fester. „Mit 14 mochte ich das ja.“

„Gibt einem ’nen Kick“, bestätigt Will lachend und wieder eine Spur zu laut. Routiniert betätigt er einige Schalter, drückt einen Knopf, legt zwei Hebel um. „Ich muss noch 17 Wochen aushalten, bis ich heimkann“, seufzt er. „Billie, mein Kleinster, ist schon ganz –“ Ein lautes Geräusch unterbricht ihn. Es klingt wie ein Knall. Cargo Fire Warning Lights leuchten auf, ein durchdringendes Warnsignal ertönt. „Frachtraumfeuer“, wundert sich Will. „Marc, geh nach hinten und sieh nach, ob das eine verdammte Fehlwarnung ist.“ Marc hat seinen Gurt bereits gelöst.

Die unbefestigte Palette ist quer durch den Frachtraum gerutscht und hat nicht nur die Wasserstoffpaletten, sondern auch die Lampe gerammt. Der Kurzschluss entzündete die Gase fast augenblicklich.

Der Knallgas-Explosion folgte eine beeindruckende Stichflamme, die durch den ausströmenden Sauerstoff zusätzliche Nahrung erhielt und bereits am Holz der Paletten leckt.

Marc bricht der Schweiß aus. Er stürzt zurück ins Cockpit.

»Will«, keucht er, »der halbe Frachtraum steht in Flammen.“

„Verdammt!“ Will drückt einen roten Knopf, um die Funkstelle zu verständigen. „Cargo fire – start procedure!“

Marc eilt wieder in den Frachtraum, reißt einen Feuerlöscher von der Wand und richtet ihn auf den Brand. Ohne Erfolg – das blassgrüne Feuer breitet sich schnell aus. Die zehnfache Menge der stinkenden grauen Substanz in seinen Händen würde nicht ausreichen, die wild lodernden Flammen zu löschen, die sich entschlossen den Kisten mit dem Dynamit nähern. Der Rauch ist schwarz und undurchdringlich geworden.

Ein schwerer Schlag erschüttert das Flugzeug. Marc lässt den Feuerlöscher fallen und rettet sich ins Cockpit. Er wirft sich in seinen Sitz, greift nach seinem Gurt, kreidebleich und mit staubtrockenem Mund. Es war keinen Moment zu früh. Die Explosion reißt über die Hälfte des Flugzeughecks weg. Das Cockpit vibriert wie bei einem Erdbeben, der Autopilot wird herausgeschleudert. Will kämpft mit dem tanzenden Steuerhorn, versucht, das schlingernde Flugzeug unter Kontrolle zu bringen. „Verdammt, ich kann die Kiste kaum halten!“

Marc funkt: „Mayday! Mayday! Mayday! Declaring emergency! Fire onboard! We have a fire onboard! Mayday! Mayday! Mayday!“

Die Funkstelle reagiert sofort: „Roger, Hercules 3570, emergency is copied. Report your position, repeat, report your position!“

Schwarzer Qualm dringt ins Cockpit, zäh und dicht. Die Piloten setzen ihre Sauerstoffmasken auf, ihre Stimmen klingen jetzt gepresst und nach Metall. Marc versucht, ihre Position durchzugeben: „Hercules 3570, position 25 miles east of …“

Will unterbricht ihn, Panik in der Stimme: „Das Höhenruder klemmt! Das Seitenruder auch! Verfluchte Kiste!!!“

Das Flugzeug verliert rapide an Höhe.

 

 

4

 

In diesem Augenblick operiert Claire eine Lungenembolie, sammeln die kurdischen Kinder Müll und kämpft sich ein alter Lastwagen die Berge hinauf. Ihre Gipfel sind weiß verhüllt. Am Steuer sitzt Azad, 17 Jahre alt, neben ihm seine Mutter. Gulala Tavani wirkt zuversichtlich. Sie ist überzeugt davon, dass sie das Richtige tut.

„Hast du ihre Augen gesehen?“, fragt sie ihren Sohn. Azad nickt. „So müde“, fährt seine Mutter nachdenklich fort, „wie alte Menschen, die nichts mehr zum Staunen bringt.“ Die Begegnung mit den Kindern des kleinen Camps, das sie an diesem Morgen aufsuchten, hat sie sehr berührt.

Azad weicht einem Schlagloch aus.

Gulala seufzt. „Die paar Decken und das Brot, das Sayyid Al-Bakr gestern nicht verkauft hat – was ist das schon.“

„Und Pullover, Äpfel, Gurken, Medizin …“ Azad ist stolz auf die Sammelaktion, die er mit seinen Mitschülern organisiert hat.

„Das ist – nichts“, fällt ihm seine Mutter ins Wort. Ihre Stimme klingt bitter. „Dein Vater könnte etwas für die Kinder tun, jetzt, wo er Offizier des irakischen Militärs ist. Aber für ihn zählt nur eins: die Unabhängigkeit Kurdistans! Seit wir verheiratet sind …“

Ihr Blick tastet die Berghänge ab, ohne etwas zu fokussieren. Azad kennt den Grund für den tiefsitzenden Groll seiner Mutter, der in vielen Jahren gewachsen ist: Sein Vater und

sie – verstehen sich nicht. Das erfüllt ihn mit Traurigkeit. Er wünschte, es wäre anders. Er liebt seine Mutter, will, dass sie glücklich ist. Aber er ist jung, er hat sich auf diesen Ausflug gefreut, für ihn ist es ein Abenteuer. Das lässt er sich nicht nehmen. Sanft versucht er, seine Mutter von ihren quälenden Gedanken abzulenken. „Mama, sind das wirklich hunderttausend Kinder? Das ist viel!“

„Vermutlich noch viel mehr.“

Wie krieg ich sie nur aus diesem Blues?, fragt sich Azad.

„Und niemand fühlt sich verantwortlich für sie!“ Gulalas Bitterkeit ist offenem Zorn gewichen, übergangslos im Bruchteil einer Sekunde. Ihr Sohn ist von dem raschen Stimmungswechsel seiner Mutter leicht überfordert. Sein Blick schweift zu den Berggipfeln, während er den alten Lastwagen an erheblichen Straßenschäden vorbeisteuert. Über den Bergen geht die Sonne auf. Die sanften Gipfel leuchten wie verzaubert. Azad und Gulala schweigen. Lange Zeit. Fühlen sich auf besondere Weise miteinander verbunden. Beide kosten dieses Gefühl aus.

Azad bricht das Schweigen als Erster. „Steigen Klagen zum Ohr des Mächtigen auf, Klagen, die kaum gesungen, Gestalt geworden?“, rezitiert er auf Deutsch.

Gulala wirft ihm einen schnellen Blick zu – eine Mutter, die offen genug ist, über ihr Kind zu staunen. „Das ist aber nicht von dir!“, lacht sie.

„Nein“, grinst Azad. „Sagen leben im Frost und verkünden Kindern, Kindeskindern, dass Klagen für die Ohren des Mächtigen nur Sagen sind.“

„Das ist über fünfhundert Jahre alt“, sagt Gulala nachdenklich. „Dass es das auf Deutsch gibt!“ Sie genießt es, mit Azad

deutsch zu sprechen. Es ist ihr Geheimnis, wenn sie allein sind. Sonst spricht niemand, den sie kennen, deutsch. Für alle anderen Kurden ist es ein Geschenk, eine große Gnade und ihr verdammtes Recht, endlich wieder kurdisch sprechen zu dürfen nach all den Jahren der Unterdrückung, in denen nur Arabisch erlaubt war.

„Warst du in Deutschland glücklich?“, fragt Azad. Gulala schweigt. Ihre Heimat ist Kurdistan. Aber in Deutschland war sie frei – frei, erfüllt von ihrer Arbeit, nicht ausschließlich definiert als Ehefrau und Mutter. In Bonn war sie junge Frau, Reisende, Studentin, später Journalistin, sie war – sie selbst. Mehr als hier in Kurdistan. Oder vielleicht … einfach auf andere Weise als hier.

 

Die Frage nach Glück stellt sich für Asso, den kurdischen Waisenjungen, in diesem Augenblick nicht, obgleich er es in bescheidenem Maß empfindet. In einem verminten Feld hat er ein Stück Kupferrohr entdeckt, das er sehr vorsichtig unter einem Stacheldraht hervorzieht. Das rote Blech bedeutet Geld für ihn, Geld für Medizin. Das Baby seiner Schwester ist krank. Lana ist erst 14, doch kurz nach dem Krieg haben arabische Soldaten sie vergewaltigt. Viele Babys weinen in Assos Lager, das wie ein Geschwür um die Müllhalde eines zerstörten Dorfes gewachsen ist.

 

Nach Glück fragen auch Will und Marc nicht, eher nach der Existenz Gottes. Das hecklose Flugzeug sinkt viel schneller, als sie es in allen Flugsimulationen durchgespielt haben. Beide Tragflächen brennen. Dass er nicht mehr Herr über sein Steuerhorn ist, hat Will noch nie erlebt. „Ich kann sie nicht halten! – Scheiße, ich kann sie nicht halten! Verdammt!“ Mit „sie“ meint er sein Flugzeug, das er in unzähligen Einsätzen geflogen hat und so gut zu kennen glaubte.

Marc funkt, sein Leben hängt davon ab, monoton und beschwörend: „We’re goin’ down! Hercules 3570 is going down!! We’re goin’ down …!!“

Die Funkstelle versucht, Kontakt mit ihm aufzunehmen:

„Hercules 3570 – what is your position, Hercules 3570 – what is your position …?!“

Der Funker erhält keine Antwort. Stattdessen verschwindet das Flugzeug einfach von seinem Radarschirm.

Auch in Bagdad blickt man auf leere Monitore. Niemand sagt ein Wort. Dann gibt der kommandierende Offizier den Befehl: „Schickt die Alert-Staffel los!“ Seine Suchflugzeuge werden die Hercules finden. Sie müssen sie finden. Er hofft es inständig. Die Tower-Mitarbeiter erledigen ihre Aufgaben unter höchster Anspannung, und nicht wenige beten – zumindest innerlich.

 

In den Bergen verteilen Gulala und Azad inzwischen Decken, Kleidung und Nahrungsmittel an Kinder, die in einem kleineren Camp aus Wellblechhütten leben. Es ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Freude der Kinder über dieses Nötigste zum Überleben bricht beinahe Gulalas Herz und bringt ihre Gedanken zum Jagen.

Sie muss sich etwas einfallen lassen, um effektiver und nachhaltiger zu helfen, als Journalistin stehen ihr doch einige Möglichkeiten offen, schon lange schreibt sie im privaten Untergrund, denn ihr Mann würde es ihr sofort untersagen. Sie wird Kontakt mit dem Spiegel aufnehmen, dem deutschen Magazin, das ihr damals in Bonn ein so attraktives Angebot gemacht hat. Es hat schon einmal einen Beitrag von ihr veröffentlicht, natürlich nicht unter ihrem Namen. Das Magazin wird ihr helfen, die Weltöffentlichkeit auf das Elend dieser vergessenen Kinder aufmerksam zu machen. Saddam Hussein ist gestürzt, jetzt darf Hilfe ganz öffentlich geleistet werden. Sie muss die Menschen im Ausland nur dafür interessieren. Außer ihr hält das in ihrem eigenen Land ja wohl niemand für notwendig.

Motorenlärm schreckt sie aus ihren rebellischen Gedanken, dicht über ihnen – ein ungewohntes Geräusch in dieser verlassenen Gegend. Angestrengt blickt sie in den Himmel. Das Flugzeug scheint sich unmittelbar über den tief treibenden Wolken zu befinden. Der Lärm schwillt an. Erschrocken flüchten die Kinder in ihre Baracken. Azad reibt sich besorgt die Stirn.

 

Will stöhnt auf: „God! Oh God!“

„No!!“, schreit Marc in größter Panik. „No!!!“

Einen Sekundenbruchteil lang wechseln sie einen entsetzten Blick. Dann begegnet jeder sich selbst, nüchtern plötzlich, nackt, sieht noch einmal sein Leben in rasender Folge Revue passieren, bevor er sich einer höheren Macht beugen muss.

Die Funkstelle bemüht sich verzweifelt, das Flugzeug zu orten: „Hercules 3570 – do you read? Hercules 3570 …!!!“

Im Tower starren vier amerikanische Soldaten auf ihre Radarschirme, hilflos, blockiert angesichts der Sinnlosigkeit jedes weiteren Handelns, jeder Bewegung, jeder Entscheidung. Der kommandierende Offizier erteilt keinen Befehl mehr.

„Oh God“, stammelt er und reibt sich mit der Hand über das Kinn. Niemand sagt etwas. Sie können nichts mehr tun.

Die Explosion ist gewaltig. Der Tank der Hercules war voll. Knallgas, Dynamit und eine Tonne Munition fackeln in einem gigantischen Feuerwerk noch in der Luft ab.

 

Asso lässt sein Kupferrohr fallen. Seine Augen weiten sich. Wie gelähmt starren auch die anderen Kinder auf das Flugzeug, das wie ein feuerspeiender Dämon die Wolken durchbricht.

 

Einen Kilometer entfernt blicken sich Gulala und ihr Sohn verwirrt an. Sie spüren, wie die Erde bebt.

 

Assos Barackenlager wird unter brennenden Flugzeugtrümmern begraben. Der Lärm der Detonationen überdeckt die Schreie der Kinder.

 

Gulala und Azad stürzen zu ihrem Lastwagen. Feuer und Qualm weisen ihnen den Weg.

 

Die Baracken existieren nicht mehr, nur Schreie, Weinen, Hilferufe, blutende Körper überall. Das Lager ist zu einem flammenden Inferno geworden, das Hunderte von Todesopfern fordert.

 

Azad bringt den Lastwagen zum Stehen. Mechanisch zieht er die Handbremse, starrt fassungslos auf die Katastrophe, versucht zu begreifen. Mit langsamen Bewegungen steigen beide aus, Astronauten im Weltraum, orientierungslos, suchen Halt am Auto, dann aneinander, ohne den Blick von dem Bild des Schreckens lösen zu können – den Mund geöffnet zu einem stummen Schrei. Azad zerrt sein Telefon aus der Jackentasche, muss es aber seiner Mutter reichen, weil seine Finger unkontrolliert zittern. Bevor sie Hilfe ruft, fotografiert Gulala mit ebenso wackligen Händen das Blutbad mit der Handy-Kamera.

 

 

5

 

In einem weitläufigen Foyer des Außenministeriums in Washington flehen von eindrucksvollen Plakaten dunkle Kinderaugen um Hilfe. Sie werben für eine große Spendenaktion, eine Kampagne für die „vergessenen kurdischen Kinder“. Ihre Schutzherrin ist eine Staatssekretärin des amerikanischen Außenministeriums. Sie steht vor einem Rednerpult, der Saal ist stimmungsvoll erleuchtet. Ihre Zuhörer sind in der Mehrzahl Frauen, Angehörige des gehobenen Bürgertums.

Die Staatssekretärin ist Ende dreißig, schlank und durchtrainiert, und ihrem strahlenden Lächeln gelingt es fast immer, zwei Eigenschaften zu verbergen, die, wie sie meint, niemanden etwas angehen: ihre ausgeprägte Fähigkeit, tiefen Genuss zu empfinden, wenn sie auf irgendeine Weise Macht ausüben oder Einfluss nehmen kann, und ihre Traurigkeit darüber, dass sie trotz blendenden Aussehens keinen Mann für sich interessieren kann, eine Traurigkeit, die sie als aufreibend empfindet und die sie auslaugt, wenn sie sich fünf Minuten lang einmal nicht beschäftigt. Macht und Venus scheinen zwei Pole zu sein, die sich abstoßen. Macht kann sie sich verschaffen, einen Mann nicht, also konzentriert sie sich lieber auf ihren Beruf und lässt zu, dass er auch ihr Privatleben ausfüllt. Beim Anblick der rührenden Kindergesichter auf den Plakaten kann sie sich allerdings einiger sentimentaler Gedanken nicht erwehren. Im Blitzlichtgewitter der Rednertribüne verschafft ihr dieser Hauch von Gefühlstiefe zusätzliche Pluspunkte.

„Wie viele es sind, wissen wir nicht“, vertraut sie ihrem Publikum an. „Diese Kinder sind ganz auf sich gestellt. Es gibt keine Erwachsenen in den Barackenlagern. Die Kinder lebten in intakten Familien und besuchten ausgezeichnete Schulen, denn das Bildungssystem in Kurdistan war hervorragend. Doch eines Tages beschloss Saddam Hussein, der Diktator, das Volk der Kurden auszulöschen. Er bombardierte ihre Städte im Norden des Irak mit Giftgas, ließ Männer und junge Mütter, die Mütter der Kinder, zu Tausenden erschießen, er zwang die Kurden, ihre Städte und Dörfer zu verlassen. Hunderttausende waren in den 80erund 90er-Jahren auf der Flucht. Diese Kinder …“ Sie gönnt den Plakaten einen langen Blick, zwingt ihr Publikum dadurch, sich dem stummen Flehen der Kinderaugen ebenfalls zu stellen.

 

Warum ist sie so unzufrieden? Claire ärgert sich über sich selbst. Sie ist doch glücklich in ihrem Beruf. Sie hat eine nette Wohnung. Blumen fehlen zwar, und meistens ist der Kühlschrank leer, und Zeit, Gäste zu empfangen, hat sie auch nicht. Sie ist eben eine engagierte Chirurgin, rechtfertigt sie sich vor sich selbst. Anderen zu helfen ist ihr wichtiger als Kaffeekränzchen. Darauf zu verzichten ist ihr gutes Recht als Ärztin. Sie möchte etwas Sinnvolles tun in ihrem Leben. Das darf sie ja auch an den Städtischen Kliniken. Aber warum vergisst sie das – ihren Lebensinhalt, ihre tiefste innere Motivation, die Quelle ihrer Kraft – gerade dort so oft? Im sterilen Gefüge starrer Krankenhausrichtlinien scheint kein Platz für verantwortungsbewusste Ärzte zu sein, für die der hippokratische Eid über persönlicher Bedürfnisbefriedigung steht. Für Ärzte, die in ihren Patienten Menschen sehen, die sich vertrauensvoll an sie, die Heilerin, wenden, wenn sie Schmerzen haben. Sie möchte sich dieses Vertrauens gern würdig erweisen, die Erwartung der Kranken nach bestem Gewissen erfüllen. Manchmal fühlt sie sich wie eine Katze auf dem heißen Blechdach, unwohl in ihrer Haut, ihrer Claire-Haut, die sie mit acht Jahren schwören ließ, Ärztin zu werden. Damals starb ihr Vater bei einem Verkehrsunfall. Er verblutete, weil er keine medizinische Versorgung erhielt, jedenfalls nicht rechtzeitig. Es gibt zu wenige Ärzte, glaubte Claire noch während ihres Studiums. Dann musste sie erfahren, dass es vor allem zu wenige Stellen für Ärzte an Krankenhäusern gab und die Kredite zu belastend waren, um eine eigene Praxis eröffnen zu können. Als Chirurgin kann sie sowieso nur an einem Krankenhaus arbeiten, innerhalb fester Rahmenbedingungen von Zuständigkeiten, Verordnungen, Dienstvorschriften. Zu Beginn hat sie das nicht gestört, sie hat sie erlernt wie alles andere, was für ihren Beruf von Belang ist, hat sich diesen Gesetzmäßigkeiten unterworfen, ohne sie zu hinterfragen. Doch seit sie Assistenzärztin und angehende Fachärztin ist, mit 32 Jahren mehr Berufs- und Lebenserfahrung hat und immer klarer erkennt, wie wenig streng eingehaltene Vorschriften den einzelnen Menschen berücksichtigen, wächst ihre Unzufriedenheit.

Warum hat sich der Anästhesist nicht einfach bei ihr bedankt, dass sie ihn auf die Ampicillin-Unverträglichkeit des Mädchens aufmerksam machte? Warum haben die OP-Schwester und Dr. Schäfftner sie wie jemanden behandelt, der sich wichtig machen wollte? Sicher, es war nicht ihre Aufgabe. Sie hätte gleich nach Dr. Allmender den OP verlassen und in ihrem Ruheraum auf den nächsten Notfall warten müssen. Aber die Ampicillin-Allergie nicht zu erwähnen, wäre doch eine unverantwortliche Unterlassung gewesen!

Wieso kocht denn jeder hier sein eigenes Süppchen, lässt den anderen nicht in die Karten sehen und ziehen nicht alle am gleichen Strang, um kranken Menschen so gut wie möglich zu helfen? Claire muss lachen. Zumindest innerlich. Schon die Anzahl an Redewendungen, die ihr zu diesem Thema einfallen, lässt darauf schließen, dass diese Unarten nicht nur bei Ärzten verbreitet, sondern häufige menschliche Schwächen sind. Trotzdem: Sie ist auch ein Mensch und bestimmt nicht ohne Schwächen, aber sie möchte lieber mit anderen zusammenarbeiten, wenn es um ärztliche Maßnahmen geht, als gegen sie.

Und sonst?, fragt sie sich.

Wann sollte sie sonst mit jemandem „zusammenarbeiten“? Was für ein blöder Gedanke. Sie ist gern mit anderen zusammen.

Nur …

Ihre Mutter lebt mit dem Mann, den sie kurz nach Claires Studienbeginn kennenlernte, in Schweden. Wenn sie sie dort besucht, ist sie Gast. Kommt ihre Mutter nach Deutschland, wohnt sie in dem kleinen Appartement, das sie nicht verkaufen möchte, um den Kontakt zu ihren deutschen Bekannten nicht zu verlieren. Beide haben dann so wenig Zeit füreinander, dass sie die kostbaren Stunden, in denen sie zusammen sind, einträchtig genießen und alles, was Streitpotenzial bieten könnte, hartnäckig und konsequent vermeiden. Freundinnen? Einige der Kollegen sind ganz nett, und die meisten Schwestern findet Claire sehr in Ordnung. Sie fröstelt plötzlich. Nein, sie hat keine Freundin. Während der sechs Jahre, die sie an dieser Klinik arbeitet, fehlten ihr Zeit und Energie, um Beziehungen außerhalb ihres beruflichen Umfelds zu pflegen. Sie hat auch keinen Mann, keine Familie. Nicht mal einen Freund. Seit Daniel …

Claire reißt das Fenster des Ruheraums auf, hat plötzlich das Gefühl zu ersticken. Nein, Sex hat sie auch nicht. Seit sie vor zwei Jahren aus dem Golfkrieg zurückkam, hat sie sich in ihre Arbeit gestürzt, sich in ihrem Beruf vergraben. Hat zugelassen, dass die Ärztin Claire die Frau Claire, die Freundin Claire, die fröhliche, die wütende, die neugierige und die traurige Claire fast vollständig vereinnahmte. Vielleicht aus Schwäche, vielleicht aus Feigheit. Ihrer Wut und ihrer Trauer wird sie sich später stellen. Wenn sie mehr Kraft – und mehr Abstand – zu allem hat. Sie hat es ja versucht. Vier Wochen lang hat sie die Bilder des Todes und der Gewalt zugelassen und ist daran beinahe zugrunde gegangen, trotz der psychologischen Betreuung, die man ihr damals verordnete. Sie hat geweint, geschrien und getobt. Dann wachte sie eines Morgens auf, blass und leer und im Herzen so kalt, dass sie energisch einen Schlussstrich unter den Film ihrer Kriegserinnerungen zog. Sie duschte, zog sich an, kaufte sich ein Croissant und meldete sich im Krankenhaus zurück. Bestand darauf, sofort eingesetzt zu werden. Ein Croissant, denkt Claire, ich hab einfach nur Hunger. Sie kramt nach ihren Ingwerkeksen, die ihr schon oft geholfen haben, den langen Nachtdienst zu überstehen, der sich ja meistens an einen ebenso langen Krankenhaustag anschloss. Ich bin doch glücklich hier, denkt sie beim dritten Keks, bevor ihr die Augen zufallen.