Über das Buch

Aus ihrem Blog in The Guardian teilt eine der witzigsten und scharfsinnigsten Autorinnen der englischen Sprache ihre Beobachtungen im Plauderton mit uns – über die Finessen der Recherche, das Verfassen und Veröffentlichen von Prosa, über Signierstunden, Workshops und Schreibblockaden. Daneben enthält dieser Band Essays über Aspekte des Schreibhandwerks und das Transkript von Words, Kennedys weltweit gefeierter One-Woman-

A. L. Kennedy

Schreiben

Blogs & Essays

Aus dem Englischen
von Ingo Herzke

Carl Hanser Verlag

Die englische Originalausgabe erschien 2013
unter dem Titel On Writing
bei Jonathan Cape in London.

Die Auswahl der Texte für die deutsche Übersetzung wurde in Absprache mit der Autorin getroffen.

ISBN 978-3-446-25423-7

© A. L. Kennedy 2013

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München 2016

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München

Foto: © Kevin Low (www.kevinlow.net)

Satz: Angelika Kudella, Köln

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de.

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Inhalt

Vorwort

Blog

Charakter stärken

Lebenszeichen

Words. Eine Solo-Performance

Vorwort

Die Blogeinträge, die den größten Teil dieses Buches bilden, wurden mit mehreren Absichten verfasst. Ich hatte vor, regelmäßig kurze Texte zu schreiben, die Schreibenden vielleicht in irgendeiner Weise nützlich sind. Ich wollte Tipps zum Schreibhandwerk geben, ganz allgemeine Hilfestellung bieten sowie Aspekte des Autorenlebens in den Blick nehmen. Ich bin ziemlich sicher, dass dieses Vorgehen mir mehr geholfen hat als irgendwem sonst, doch Menschen, die erst kürzlich mit dem Schreiben angefangen haben, fanden freundliche Worte über den Inhalt. Ich wollte außerdem den Lesern etwas Anregendes bieten, die nicht selbst schreiben wollen, sich aber für den Schreibprozess interessieren. Und ich wollte die positive Rolle beleuchten, die die Kunst im Allgemeinen und das Schreiben und Lesen im Besonderen in jedem Leben spielen können. Wenn der Ton einiger Texte übermäßig leicht und locker ausgefallen ist, kann ich zur Erklärung nur sagen, dass ich damit Lesende und Schreibende in einer Zeit aufheitern wollte, in der das Schreiben – und künstlerische Betätigung überhaupt – unter Druck zu stehen und zugleich ziemlich zwecklos scheinen mag. Außerdem weiß ich, dass sogar Menschen, die gerne schreiben und dies auch ohne Zwang tun können, gelegentlich etwas zum Lachen brauchen. Ich hoffte, unterhaltsam zu sein.

Die Blogeinträge erscheinen hier größtenteils in unveränderter Form, abgesehen von kleineren redaktionellen Eingriffen und Ergänzungen, um den Kontext zu vermitteln. Sie umspannen einen Zeitraum von etwas mehr als drei Jahren – von der Fertigstellung einer Kurzgeschichtensammlung über das Schreiben und Veröffentlichen eines Romans bis hin zur Arbeit am nächsten Erzählungsband. Den Blog führe ich zwar weiterhin, doch es schien mir irgendwie passend, mit einer Geschichtensammlung anzufangen und mit der nächsten aufzuhören. Das Buch umfasst auch eine längere Phase gesundheitlicher Probleme im Jahr 2011, in der mir die Möglichkeit, Blogtexte zu schreiben, ein großer Trost und eine Art Beweis war, dass ich zumindest noch halbwegs funktionierte. Während ich dies schreibe, bin ich wohlauf und fest entschlossen, die schlecht beratenen Zeitpläne, unguten Arbeitsgewohnheiten und kleineren Wehwehchen nicht zu vergessen, die sich wie ein roter Faden durch das Buch ziehen. Ich sollte besser auf mich aufpassen. Ich werde es wahrscheinlich nicht tun.

Auf die Blogeinträge folgen zwei Essays über handwerkliche Fragen des Schreibens – über die Entwicklung fiktiver Charaktere und das Finden und Erhalten einer eigenen literarischen Stimme –, die sich vor allem an Autoren richten.

Der letzte Text ist eine schriftliche Fassung des Bühnenprogramms Words. Eine Solo-Performance über Schreiben und Sprache, mit dem ich seit einigen Jahren in mehreren Ländern und auf unterschiedlichen Festivals aufgetreten bin. Der Zeitraum, den dieses Buch umfasst, entspricht tatsächlich ziemlich genau der Lebensdauer dieses Programms, das ich inzwischen ausgemustert habe – ich habe es allerdings schon einige Male ausgemustert, und es will sich offenbar nicht ganz aus dem Rampenlicht drängen lassen. Ich hatte nicht unbedingt damit gerechnet, dass die Bühnendarstellung meiner beruflichen Leidenschaften eine so positive und ermutigende Erfahrung sein würde, und ich bin allen Zuschauern dankbar, die zu den Vorstellungen gekommen sind. Es gibt verschiedene Aufnahmen des Programms, und es ist eine offizielle Audioversion geplant, doch herrscht auch eine gewisse Nachfrage nach der schriftlichen Fassung. Die Bühnenshow sollte eigentlich spontan klingen, soweit ich Spontaneität eben simulieren konnte, es liest sich also nicht wie ein geradliniges Prosastück.

Mir ist bewusst, dass bestimmte Themen und wichtige Impulse im Laufe dieser Materialsammlung immer wieder auftauchen: Tschechow, Shakespeare, Liebe, mein Großvater, die Zusammenarbeit mit anderen Autoren, die Bedeutung kreativer Tätigkeit, die Wichtigkeit der Selbsterhaltung und Achtsamkeit, meine Unfähigkeit, mich längere Zeit von Zügen fernzuhalten. Zu meiner Verteidigung möchte ich anführen, dass ich glaube, manche dieser Punkte sind es wert, wiederholt zu werden, und dass ich froh bin, dass meine Inspirationen sich mit einer gewissen Regelmäßigkeit durch mein Leben und Arbeiten ziehen.

Zum Schluss möchte ich noch den Lesern des Blogs – und auch all denen, die mir auf Twitter folgen – für ihre Unterstützung danken, und für die Gemeinschaft des Wortes, die sie offenbar im Lauf der Zeit gebildet haben. Mein Dank gilt außerdem den Studierenden und Lehrenden des Warwick Writing Programme für ihre stete Anregung, meinem Agenten Antony Harwood und meinem Lektor Robin Robertson für ihre kontinuierliche Unterstützung. Ich sehe mich außerstande, meine Dankbarkeit für die Rolle, die das Lesen und Schreiben in meinem Leben gespielt haben und immer noch spielen, angemessen auszudrücken.

A. L. Kennedy

Blog

1

Wieder auf Achse … Irgendjemand – ich bin im Augenblick zu müde, um mich zu erinnern – hat mich mal als Der kleine Vagabund der Literatur beschrieben. Ich rette zwar viel weniger Waisen als der kluge Schäferhund aus der Fernsehserie (tatsächlich kein einziges), und mir fehlt auch der lebhafte Charme des zottelohrigen Originals, doch ich verstehe gerade ganz gut, wie es gemeint war. Natürlich habe ich in Wirklichkeit ein Zuhause. Ich weiß, dass es Möbel, Konservendosen und Kleidungsstücke (wahrscheinlich in Schwarz) enthält, die ich womöglich noch nie getragen habe. Ich weiß außerdem, dass ich dort eigentlich nicht wohne. Weniger Grübeln also über die Nachbarn, dafür mehr Grübeln über die Frage, warum so viele Bed and Breakfasts von ehemaligen Polizisten betrieben werden. Einerseits sind ihre Rettungskompetenzen im Notfall bestimmt hervorragend, andererseits werden sie offensichtlich vom unwiderstehlichen Drang getrieben, Menschen nachts in winzige Räume mit unzureichender sanitärer Ausstattung zu sperren. Als ich mit dem Schreiben anfing, hat mir niemand verraten, dass es so weit kommen würde.

Aber ich versuche, andere Menschen zu warnen, dass es dazu kommen wird – darum meine gelegentlichen Besuche bei den Studenten für Kreatives Schreiben an der Warwick University. Sie wollen schreiben, sind voller Fleiß und Elan, haben sich alle weiterentwickelt, seit ich zuletzt etwas von ihnen gelesen habe, und dennoch … dennoch wäre es unfair, ihnen vorzuenthalten, wie schrecklich ihre Zukunft aussehen könnte. Wenn sie keinen Erfolg haben, werden sie durch eine Weltwirtschaftskrise taumeln, ausgestattet mit einer Qualifikation, die nirgends verlangt wird, einem Schreibdämon, der an ihnen nagt und nach Ausdruck schreit, und einer behutsam geschulten Empfindsamkeit, die ihnen ihre Lage nur umso schlimmer erscheinen lässt – und all das, ohne dass es irgendjemanden auch nur einen Deut interessieren würde. Und wenn sie Erfolg haben, können sie womöglich trotzdem nicht davon leben, werden mehr unterwegs sein als ein Drogenkurier, werden emotional so davon beansprucht sein, dass ganze Beziehungen vollkommen an ihnen vorbeigehen, werden sich mit Medienanfragen herumschlagen müssen, die sie nicht einmal ansatzweise verstehen wollen, und wahrscheinlich viel zu viel Schwarz tragen (ja, es macht schlank, aber der Unisex-Richard III.-Look ist nicht immer der passende. Glauben Sie mir – das hat mich Erfahrung schmerzhaft gelehrt).

Natürlich glaube ich nicht, dass sich irgendjemand von meinen überspannten und wahnhaften Tiraden abschrecken lässt. Wenn ein Mensch schreiben will, lässt er sich nur davon abhalten, wenn man ihn bis zu einem gewissen Grad umbringt. Nichts geht über die rasende Freude um drei Uhr morgens, wenn Satz Nummer fünfzehn endlich einwilligt, das zu tun, was man von ihm erwartet, und nie hat es sich so heldenhaft angefühlt, Striche und Kringel auf einen Computerbildschirm zu tippen – selbst wenn es nur darum geht, dass der leitende Orthopädiechirurg, der gerade im Entsorgungsraum die Oberschwester verführt, nicht unglaubhaft gelenkig wirkt und auch noch gleichzeitig Erinnerungen an den Sommernachmittag mit deren komischem Onkel weckt … Und wenn Sie glauben, tatsächlich etwas Gutes zu tun, andere Menschen als sich selbst zu erfreuen – sie weniger einsam, lebendiger, kultivierter zu machen –, na, dann werden Sie das nicht einfach so aufgeben und stattdessen basteln, lange Spaziergänge unternehmen und ein ruhiges Leben führen. Darum haben auch so viele Regimes und Staatsoberhäupter entdeckt, dass es nur einen Weg gibt, den Ausstoß von Schriftstellern einzuschränken – nämlich sie buchstäblich umzubringen. Mögen alle Engel und Gnadenbringer meine Studierenden – und übrigens auch mich selbst – vor Derartigem bewahren. Es ist durchaus möglich, dass wir uns ungerecht behandelt fühlen – das tun Schriftsteller oft –, doch für Gefangene einer Gesellschaft, die unbedingt ihre eigene Zunge fressen will, geht es uns wahrscheinlich noch ziemlich gut.

Und ich versuche, die Verlagsbranche gar nicht erst zu erwähnen – diese Legionen von Leuten mit Namen wie Miffy, Muffy oder Tufty: Gibt es da eigentlich irgendjemanden, der kein Weihnachtswichtel ist? – oder die Tatsache, dass es mit der gesamten Buchbranche bergab geht, seit hierzulande die Buchpreisbindung abgeschafft wurde. Länder, die Wert auf eine nennenswerte Nationalliteratur legen, haben diesen Weg nicht beschritten, wir hingegen müssen mit dem klarkommen, was wir haben: also Sonderrabatte, Grabbeltische und mehr stupides Glotzen, als man es von einer Kaninchenmeute erwarten würde, die auf einer Formel-1-Rennstrecke festsitzt. Seltsamerweise könnte diese Trostlosigkeit für künstlerisch veranlagte Menschen sogar hilfreich sein. Ich begann meine schlingernde Laufbahn während der Thatcher-Ära, als die Arbeitslosigkeit so hoch war, dass ein nichtanständiger Beruf auch nicht viel alberner erschien als, sagen wir mal, der Gedanke an die Anstellung bei einer Bank. Und heute, da so viele von uns davon träumen, Banker mit Ohrfeigen links und rechts über die Hauptstraße zu jagen, und es mal wieder keine sicheren Arbeitsplätze gibt, dürften angehende Autoren den Eindruck gewinnen, dass sie nichts zu verlieren haben, wenn sie den Sprung ins Schreiben wagen. Ich gebe zu, dass ich eher zu Extremen neige, doch es ist sicher ganz allgemein besser, die Grenzen und Ränder seines Lebens selbst auszuloten und vielleicht auch ein bisschen zu verschieben, als sich in gewohnheitsmäßiger Abstumpfung einzurichten.

Und manchmal gehört zu diesen Grenzen vielleicht, den ganzen Tag in einem geborgten Büro die Manuskripte anderer Menschen zu lesen (viel weniger verstörend als die eigenen) und danach in einem extrem sicheren Schlafzimmer ein Stück umschreiben zu wollen, während man von Red Bull, Diätdrinks und Eisentabletten lebt. Damit sind, glaube ich, alle Nahrungsgruppen abgedeckt. Nächste Woche kommt ein Fotograf (wieso ich dazu ja gesagt habe – keine Ahnung; in der Welt existieren bereits reichlich Belege dafür, dass ich ein idiotisches, Grimassen schneidendes Pferdegesicht habe), ich muss noch mehr umschreiben, mir die Zusammenfassung von etwas ausdenken, das es noch gar nicht gibt und wahrscheinlich nie geben wird, eine einstündige Bühnenshow über das Schreiben auswendig lernen und versuchen zu vergessen, dass ich Schlaf brauche. Vorwärts.

2

Ab und zu denke ich darüber nach, was Schriftsteller eigentlich inspiriert – oder Menschen überhaupt. Von uns tippendem Volk wird offensichtlich erwartet, dass wir in Workshops wachsen und gedeihen. Und die Menschen, die solche Workshops anbieten, verdienen natürlich Geld damit, sie als notwendig zu verkaufen. Ich selbst habe – da ich nicht besonders gesellig bin – die wenigen Workshops, an denen ich in jüngeren Jahren teilnahm, kaum genossen, außer als Gelegenheit, Menschen kennenzulernen, die ich mir nicht vorher selbst ausgedacht hatte, und als Erinnerung daran, dass es im Kopf anderer Menschen gelegentlich noch viel bizarrer aussieht, als ich vermuten würde. Als Lehrende kommt es mir oft so vor, als sollten bei solchen Workshops alle Beteiligten vor allem das Gefühl bekommen, etwas erreicht zu haben, und dabei einer Tätigkeit nachgehen, die fast genau nicht Schreiben ist. Workshops füllen Stunden, vielleicht sogar den Stundenplan: und vielleicht kann man dort auch ein bisschen flirten, wenn man sich mit jemandem von der schreibenden Zunft einlassen will. Unausgewogene Workshops können ganz schnell in eine furchtbare Vorstellung umschlagen, bei der die verbal Blinden die kreativ Tauben führen, künstlerische Einschüchterung und willkürliche Regelsetzung inklusive. Und wenn sie übermäßig dominant geleitet werden, bieten sie dem Tutor schlicht die Gelegenheit, etwas zu tun, was eigentlich eher mit Körperflüssigkeiten und DVDs zu tun hat und in den eigenen vier Wänden praktiziert werden sollte.

Aber was bringt Sie/mich/sonst jemanden dazu, sofort zu Tastatur/Notizbuch/Handrücken und schmierigem Kugelschreiber greifen zu wollen? Es gibt die Option, allein im schwarzen Rollkragenpullover in der Ecke eines Cafés zu sitzen, aber außerhalb gewisser toleranter Bohemekreise könnte solches Verhalten eher verächtliches Schnauben bei Passanten hervorrufen, vielleicht auch ein gemurmeltes »Blender«, begleitet von harmlosen Attacken – und das ist auch durchaus verständlich. Wenn Sie Glück und schon Bücher veröffentlicht haben und besser smalltalken können als ich, könnten Sie über das Angebot stolpern, vorübergehend ein leeres Ferienhaus, eine toskanische Villa, eine Künstlerkolonie oder das teilweise renovierte Vulkankrater-Hauptquartier eines Bond-Bösewichts zu beziehen, um sich dort mit ihrer Muse einzurichten und ernsthaft kreativ zu werden –, doch wenn Sie noch einen richtigen Job oder Freunde, Familie, Geliebte haben oder Wert auf ihre geistige Gesundheit legen, dann ist extreme geographische Isolation vielleicht nicht das Richtige für Sie. (Obwohl mir selbst die meisten Bestandteile eines »richtigen Lebens« abgehen, hätte sogar ich Hemmungen, mich an einem pittoresken Ort weit ab von konventioneller polizeilicher Kontrolle festsetzen zu lassen und auf diese Weise gezwungen zu sein, mit der kreativen Verzweiflung anderer Menschen klarzukommen, mit reizbaren Bildhauern, den Schrecken gemeinsamer Abendessen und womöglich verpflichtenden Soireen mit Lady Tabitha und ihrer ganz seltenen Lama-Art. Es ist schon schwer genug, in meinem Wohnzimmer ungestört zu tippen.)

Ich kann nicht für andere sprechen, aber für mich eröffnen sich interessantere Wege und Bereiche der Inspiration, wenn ich mich gedanklich verpflichte, alles inspirierend zu finden. Das bedeutet, meine Umgebung muss sich gar nicht ändern, aber meine geistige Haltung zweifellos schon. Und richtig billig ist es auch. Ich will gar nicht behaupten, dass die praktische Umsetzung immer perfekt funktioniert, aber wenn ich meinem Leben mit einer Art interessiertem Enthusiasmus begegne, dann wird es mir Inspiration bieten (klingt abscheulich nach Selbsthilfebuch, oder? Aber ich betone noch einmal: billig und bequem).

Um mal ein praktisches Beispiel einzuwerfen – der untadelige Herr und ausgezeichnete Innenausstatter, der das Badezimmer meiner Mutter gestrichen hat, ist nebenbei Falkner. Daher war es gar nicht besonders schwierig oder kompliziert für mich, diese Woche eine kurze Begegnung mit einem, wie sich herausstellte, eleganten und hochintelligenten Wüstenbussard zu arrangieren. Der Bussard konnte gar nicht anders als faszinierend zu sein, selbst wenn er es versucht hätte, indem er zum Beispiel einen Anorak getragen oder so getan hätte, als sei er eine Stockente. Ich habe keine Ahnung, ob und wann ich Herrn Bussard verwenden werde, doch er hat sicher irgendwas in mir angestoßen, was später etwas anderes anstoßen wird, und ganz nebenbei war es einfach toll, ihn zu treffen. Machen Sie sich bewusst, dass die Option Alles inspirierend finden die praktische und selbst für genussfeindliche Calvinisten akzeptable Nebenwirkung hat, Ihnen solcherlei Vergnügen aus rein beruflichen Gründen zu verschaffen. Die Begegnung mit Herrn Bussard ist eigentlich kein Vergnügen – sondern Arbeit. Außerdem kann ich allen Studierenden, wenn ich ihnen das nächste Mal was über das Schreiben erzählen soll, davon berichten, wie wachsam und flexibel und beweglich Kopf und Körper eines Bussards sind, und nebenbei erwähnen, dass ihre Augen genau die tödliche Fokussierung besitzen, die man von einem Killer erwarten würde. So ein Konzentrationsniveau wäre auch für einen Autor nicht das Schlechteste.

Und wo wir gerade von Fokus und scharfen Augen reden, am Freitag konnte ich mich zu meiner großen Freude aufmachen und das neue Vielleicht-Porträt von Shakespeare anschauen. Auch wenn ich vor allem deshalb Schriftstellerin werden wollte, weil ich schon als Kind jeden Sommer praktisch in Shakespeare badete, wusste ich nicht genau, was ich davon haben würde, sein Gesicht zu sehen (wenn es denn sein Gesicht ist), da er ja trotzdem tot bleibt und für Plaudereien nicht zur Verfügung steht. Aber es war doch eine Reise wert, zumindest um zu sehen, was passiert – und womöglich zu entdecken, für welche Art von Mann ich ihn aufgrund seiner Worte unwillkürlich gehalten hatte. Tatsächlich wirkt das Porträt, das schon als Bild allein ästhetisch befriedigend ist, eigentümlich überzeugend – die großen traurigen, klugen Augen, die sexy Lippen, das eigenartig hochtoupierte Haar, das eine katastrophale Stirnglatze verbirgt. Die Gesamtwirkung deckt sich bemerkenswert gut mit dem Shakespeare, den ich mir im Kopf zusammengesetzt habe. Wer er auch sein mag, er sieht intelligent, auf interessante Weise waghalsig und äußerst lebendig aus. Und um auf unser Thema zurückzukommen – soweit wir überhaupt eins haben –: Äußerst lebendig zu sein ist eine ganz reelle Möglichkeit für einen Menschen, der das Schreiben als Vorwand dafür nutzen will, sein eigenes Leben aufmerksam zu beobachten.

Augenblicklich sitze ich wieder im Zug, auf dem Heimweg, und in meinem Kopf ruckeln sich zwei Inspirationsstummelchen zurecht und stoßen dabei aneinander. Ich habe eine bessere Vorstellung von Shakespeare in Fleisch und Blut: Jemand, der mehr und zugleich weniger ist als seine Worte (wie auch immer er ausgesehen haben mag); und eine eigentümliche Mahnung an Risiko und Gefahr in seinem Schreiben, einen neuen Blick auf diese große, dunkle Schwelle. Außerdem eine neue Dankbarkeit dafür, dass es andere Menschen vor mir gab, die geschrieben und mir so erlaubt haben, selbst eine (wenn auch sehr bescheidene) Schriftstellerin zu sein – einen Beruf zu haben, da ich anderweitig nicht erwerbsfähig bin. Und dank des Wüstenbussards bekommt A lover’s eyes will gaze an eagle blind / Wer liebt, des Auge schaut den Adler blind einen ganz neuen Kick. Und morgen darf ich etwas Majestätisches und Brauchbares im Waschen und Bügeln schmutziger Kleider einer Reisewoche entdecken. Na ja, wenn ich das hinbekäme, wäre ich tatsächlich eine majestätische und brauchbare Autorin. So tue ich eben, was ich kann. Vorwärts.

3

Der Beschluss, die Schweinegrippe offiziell nicht mehr als Epidemie, sondern als Pandemie zu beschreiben, ist für Wortdrechsler wie mich natürlich interessant. Bei Epidemie denkt man an leichenübersäte Straßen, Pestfriedhöfe und eine Krankheit, die in Küchenschränken und Atemluft lauert. Pandemie klingt viel schlimmer, dreht sich aber eher um Geographie als um Todeszahlen – obwohl es auch um Zahlen geht. Daher schwächt sich die anfängliche Reaktion auf Pandemie – die etwa so lautet: »Ooh, Nelly, soll das heißen, wir müssen alle sterben? Ich muss sofort meine Kinder laminieren« – rasch ab zu: »Ach so, es husten bloß ein paar Leute in verschiedenen Ländern … na gut … Dann kann ich also immer noch aus Spaß ältere Damen anniesen? Und an Türklinken lecken?«

Medizinische Fachsprache ist oft eine Herausforderung – ein Wort, das heute gern als Kürzel für »Sollte dieses Problem Sie nicht umbringen, tun wir es« benutzt wird. Ich weiß noch genau, dass ich die letzten Minuten meines Großvaters um eine halbe Stunde verpasst habe, weil ich nicht in der Lage war, die Worte ziemlich schlecht als könnte jeden Augenblick sterben zu interpretieren. Wobei es mir keinesfalls an Bewunderung für Menschen mangelt, die an den meisten Arbeitstagen anderen sagen (oder indirekt andeuten) müssen, dass jemand, der diesen Menschen sehr viel bedeutet, in Kürze sein weltliches Dasein beenden wird. Sehen Sie? Nicht so leicht, über den Tod zu reden. Fällt schwer zu sagen – »Sie ist tot. Er hat schon zu verwesen begonnen. Ihr Verdauungstrakt fängt schon an, sich selbst zu verdauen – so wie es Ihrer auch irgendwann tun wird – es sei denn, Sie stürzen in einen aktiven Vulkan oder leben auf andere höchst ungewöhnliche Weise ab. Ach ja, und versuchen Sie nicht allzu tief und kraftvoll einzuatmen, wenn Sie am Krematorium vorbeigehen.«

Inzwischen naht drohend der August, weshalb mein Regisseur und ich die Solo-Show über das Schreiben für einen Abend im Centre for Contemporary Arts in Glasgow wieder aufpoliert haben. Wir hatten ein sehr angenehmes und dankbares Publikum, auch wenn der Raum heiß genug war, um Blei verdampfen zu lassen, was womöglich dazu führen wird, dass wir mal alle gesundheitlich eingeschränkt sein werden. Zum ersten Mal habe ich Words in einem ähnlichen Setting wie in Edinburgh und ohne Mikro auf die Bühne gebracht – es gab also jede Menge zu bedenken und viel zu genießen. Mich fasziniert die vorübergehende Arbeit an meiner leiblichen Stimme (um mich hörbar und klanglich flexibel zu machen), weil sie allmählich auch Einfluss auf meine Stimme auf dem Papier hat.

Ich war immer dafür, dass Schriftsteller mit ihren Stimmen arbeiten. Wir sind zwar meist schüchterne und flüchtige Wesen, in der persönlichen Begegnung bestenfalls anstrengend und im Gespräch abschweifend, doch angesichts dringender finanzieller Notwendigkeiten lesen wir irgendwann fast unvermeidlich aus unseren Werken vor. Dabei stehen wir oft an Orten, die mit Bedacht so konstruiert sind, dass Sprachveranstaltungen unmöglich und alle Beteiligten rasch entnervt sind. Es ist laut, die Sicht auf die Bühne ist grauenhaft, die Mikrophone funktionieren nicht, im Foyer toben Wildschweine … Sie müssen einfach hinnehmen, dass nichts glatt laufen wird. Gleichzeitig sind Sie als Autor oder Autorin gehalten, die Veranstaltung den anwesenden Damen und Herren (ich bringe meine Versionen des Erwachsenenlebens nur ungern Kindern zu Gehör, damit sie nicht verzagen und wie in der Blechtrommel das Wachstum einstellen) so angenehm wie möglich zu machen. Womöglich hat Ihr Publikum sogar Eintritt bezahlt, um die Lesung über sich ergehen zu lassen.

Den Zuhörern gefallen zu wollen ist nicht bloß Höflichkeit – es ist auch ungemein praktisch. Wer als Schriftsteller die Erfahrung macht, dass seine Worte von anderen genossen werden und er Fremde zum Lachen oder Hmmmm-Sagen oder Seufzen oder Weinen oder Klatschen bringen kann, oder dazu, dass sie – etwas beängstigend – mit geschlossenen Augen dasitzen wie in tiefer Konzentration oder schlafend oder tot, der gewinnt mehr Vertrauen in die Kraft seiner Worte und in den gewählten Weg. Es ist ein Gegengewicht zu dem ganzen Allein-mit-erfundenen-Fremden-herumspielen-um-echte-Fremde-zu-unterhalten, das ein Leben an der Tastatur mit sich bringt. Natürlich kann eine gute Leseperformance zum Teil kaschieren, dass das Geschriebene Schrott ist – doch das eigentliche Ziel sollte sein, dass die Vorbereitung einen womöglich dazu anhält, die eigenen Worte neu zu bewerten und zu verbessern, sie durch den Wunsch, andere zu berühren, größer zu machen und sie schließlich durch den Vortrag zu unterstützen.

Und wenn sich das jetzt alles anhört, als hätten wir zügigen Schritts die Zone der klebrig begeisterten und schrankenlosen Selbstliebe betreten, dann denken wir mal an die dunkle Seite der Gleichung: Der ungelenke junge Autor zittert hinter einem wackeligen Lesepult, seine Hände beben, Manuskriptseiten flattern zu Boden, werden eingefangen und in falscher Reihenfolge wieder zusammengelegt. Eine quälende Pause entsteht, ehe seine erstickte Stimme durch die Verzerrung der PA-Anlage stolpert und aus einem Strom herrlich glänzender Worte ein betäubendes Rinnsal allgemeiner Scham und Langeweile macht. Zehn Minuten wandeln sich in ein unerträgliches und lähmendes Menschenalter, an dessen Ende der Autor gebeugt von der Bühne schlurft, begleitet von einem einsamen Klatschen, und feierlich gelobt, nie wieder ein Wort zu schreiben.

Und das wollen wir doch nicht. Vorwärts.

4

Workshops – ich habe sie beiläufig schon in diesem Blog erwähnt, aber im Augenblick muss ich oft an sie denken. Inzwischen werden solche Sachen immer häufiger Meisterklassen genannt, was beeindruckender und wichtiger klingt, irgendwie so, als könnte man dabei in einem luftlosen Hotelkonferenzraum einer niederen Gottheit begegnen. Ich leite schon eine ganze Weile Workshops – und jetzt Meisterklassen – in Fiktionalem Schreiben; wie lange genau, werde ich für mich behalten, damit ich nicht allzu runzlig erscheine und weil mir klar wird, welche ungeheure Dreistigkeit ich in den ersten zehn Jahren besaß, dass ich überhaupt irgendwem irgendwas erzählen wollte. Andererseits ist das eine bewährte Verdienstmöglichkeit für angehende Schriftsteller: Workshops für Menschen zu geben, die noch nicht schreiben können, während man selbst noch nicht schreiben kann. Und dabei können wir Menschen begegnen – keinen Figuren, die sich unserem Willen unbedingt widersetzen möchten, sondern echten, lebendigen Menschen – und lernen und über Zusammenfassungen nachdenken und dem Schreibprozess anderer ganz nah sein und sehen, wie wundervoll das ist, wie ein Mensch aufleuchten kann, wenn alles gut läuft und der Groschen fällt und so weiter …

Sehr, sehr selten stelle ich irgendetwas mit einer Gruppe fremder Menschen und einer Flipchart an, es sei denn, ich selbst darf die köstlichen Dämpfe der dicken Filzstifte einatmen und trage nominell die Verantwortung. Aber erst heute Abend habe ich mit einem Freund über eine einst von mir besuchte Meisterklasse geredet, die mich dazu veranlasste, meine eigenen Workshopmethoden neu zu bewerten, und mich außerdem nach dem Bösen fragen ließ, das auf dem Grund des menschlichen Herzens schlummern kann.

Bedenken wir zunächst, welche grässlichen Versuchungen ein Workshopszenario bereithält. Da stehen Sie allein vor einem Raum voller weitgehend oder vollkommen willfähriger Menschen, die sich Ihrer Hilfe anvertrauen, die womöglich von Neugier auf das Schriftstellerleben und vom rührenden Glauben beseelt sind, dass es eine goldene Regel gibt, die alles gut werden lässt und einen sofortigen Wendepunkt in ihrer vermeintlichen Berufung herbeiführen wird. Die Macht des Workshopleiters kann riesig sein, da das Schreiben eine so intime Beschäftigung ist. Natürlich ist die Zahl der Betroffenen klein, doch die Gelegenheiten für Ungerechtigkeit und Korrumpierung sind erschreckend vielfältig: Ideen können verspottet, Schwächlinge schikaniert werden, müde oder ängstliche Teilnehmer können den Mentor ermutigen, endlos über sich selbst zu schwafeln, und ihm die giftigste Verherrlichung zuteilwerden lassen. Nervöse und selbstkritische Menschen (und viele gute Schriftsteller sind oft beides) sprechen vielleicht Bedürfnisse nicht aus, die daher unbefriedigt bleiben, oder Probleme nicht an, die daher unbehandelt weiterschwären. Vielleicht haben die Teilnehmer keinen Schimmer, was sie erwarten dürfen, und können darum mit allem möglichen Unsinn abgespeist werden. Selbst mit den besten Absichten dürfte es schwerfallen, jemandem geistige Vorgänge nutzbringend zu beschreiben, der nicht zumindest ein klein wenig wie man selbst denkt. Und selbst abgesehen von all diesen intellektuellen und spirituellen Fallstricken, wie man sie nennen könnte, gibt es noch die Möglichkeit technischen Versagens, die zeitlichen Beschränkungen und Einwirkungen höherer Gewalt – ich habe zum Beispiel mal einen Workshop geleitet, bei dem einer Teilnehmerin eine Spitzmaus das Bein hinaufkrabbelte. Zur allgemeinen Betroffenheit – sogar von Seiten der Beininhaberin – ging die Sache für die Spitzmaus böse aus.

Wenn alle Interaktionen auf gegenseitigem Respekt und menschlichem Mitgefühl basieren, und wenn der Veranstaltungsort nicht von vornherein tückisch und hinderlich ist, kann sich aus so einer Werkstatt für eine Gruppe interessierter Personen die Chance ergeben, etwas gemeinsam auf inspirierende Weise zu erforschen und mit Gewinn nach Hause zu gehen. Doch unmittelbar daneben liegt immer ein übles und womöglich einladendes Minenfeld menschlichen Verhaltens, so wie Sinn oft dicht an Irrsinn grenzt.

Wer meine Workshops besucht hat, bleibt meist in Kontakt (im positiven Sinne, nicht als Stalker), und ich denke, die Reaktionen sind im Großen und Ganzen positiv, doch es gab auch Sitzungen, in denen ich müde und ein bisschen schnippisch war, oder einfach nur schnippisch. Ich habe dem Drängen von Leuten nachgegeben, die sich nur vor der anstehenden Aufgabe drücken wollten, und ohne vernünftigen Grund über mich selbst geplaudert. Ich habe Experimente angestellt, die nicht funktioniert haben. Es hat auf jeden Fall Menschen gegeben, denen ich nicht geholfen habe, oder zumindest nicht genug. Und das macht mich unzufrieden.

Doch dann denke ich an Diese Meisterklasse, die ich selbst mal besucht habe – diese eitrigen zwei Tage in Gesellschaft eines Mannes, dem ich gleich auf den ersten Blick einen Schraubenzieher ins Gesicht rammen wollte. (Mein Tai-Chi-Lehrer war im Gegensatz dazu ein glänzendes und überzeugendes Zeugnis seiner eigenen Fähigkeiten, noch bevor er überhaupt angefangen hatte, mir etwas beizubringen. Und dann wurde er sogar noch besser.) In dieser Meisterklasse kauerten meine Mitleidenden und ich auf Stühlen und versuchten uns einzubilden, dass wir mitschreiben wollten, während unser Meister die Hosen herunterließ und einen lauwarmen Strahl narzisstischer Wut, Frauenfeindlichkeit, selbstherrlichen Gefasels und GEBRÜLLS über uns strömen ließ. Schon zur Mittagszeit des ersten Tages verabscheuten wir ihn alle. Am Mittag des zweiten Tages versuchte ich verzweifelt, mich an meinen inneren Glücksort zurückzuziehen, doch der Zutritt war mir verwehrt, denn alles Schöne, was mir in den Sinn kam, jeder reizende Mensch, der mir einfiel, wurde sofort besudelt durch die Berührung mit einer anscheinend endlosen Folge von Tiraden, erniedrigenden Übungen und traurigen kleinen Einblicken in eine Welt furchtbarer Enttäuschungen und großer Angst. Haben Sie schon mal etwas völlig Neues ausprobiert, während Wildfremde Ihnen dabei zusahen? Na, dann versuchen Sie es mal, während ein echter, lebender Soziopath Ihnen nassfeuchte Kommentare in den Nacken brüllt. Ja genau, geht viel leichter.

Es gab anscheinend keine Möglichkeit, das Geschehen abzublocken. Selbst meine erstaunlichsten und abseitigsten pornographischen Phantasien trauten sich nicht ans Licht, und ich kann es ihnen nicht verdenken. Mein immer noch feuchter Nacken war in Schockstarre, und ein immer stärker werdender Krampf zwang meinen Kopf nach hinten, nur damit meine Augen diese wandelnde Hautverschwendung – und das ist noch freundlich ausgedrückt – nicht mehr anschauen mussten, wie sie mit ihren geisteskranken Vorzeigeobjekten und sperrigen Konzepten hantierte. Irgendwann verursachte es mir unerträgliche Schmerzen, etwas anderes als die Decke anzustarren. Eine Teilnehmerin wurde bis an den Rand der Tränen zusammengeschrien, als unsere Mitwirkungsbereitschaft in negative Bereiche abstürzte. Es herrschte dumpfes, brütendes Schweigen. Unser Anführer lief auf und ab, trat um sich, schwitzte und röhrte. Nachdem uns unsere Wertlosigkeit vor Augen geführt worden war – wenn auch von einem Menschen mit sehr eigentümlichen Charakterschwächen –, waren wir verletzt und verwirrt. Außerdem unerträglich gelangweilt und vom schieren Unsinn betäubt, seltsam unfähig, die Veranstaltung zu verlassen oder einen geraden Satz zu bilden. In den Ecken des Seminarraums rückten wir zusammen, kamen uns näher, umarmten uns, unterdrückten Wellen der Wut und der Depression und Kicheranfälle. Plötzlich verstand ich das Stanford-Prison-Experiment viel besser.

Selbst heute noch kann ich aufrichtig schreiben, dass ich vielleicht nicht tieftraurig wäre, wenn der betreffende Herr nackt und gefesselt auf irgendeinem Parkplatz gefunden würde, nach einer Reihe unerfreulicher Begegnungen mit ganz und gar unhöflichen Rockergangs. Und einem Elch.

Aber ich habe von dieser Meisterklasse viel gelernt. Ich erkannte, was geschieht, wenn alles, was ich falsch machen könnte, tatsächlich falsch gemacht wird – wie durch und durch schrecklich das werden würde. Ich begriff ganz neu, wie sehr so eine widerliche Reihe gefühlloser Workshopübergriffe in mir den dringenden Wunsch wecken würde, mich zu waschen, und dass sie womöglich genau das zerstören oder jedenfalls schwer beschädigen könnte, was ich tun wollte und mit großem Genuss tun würde. Immer wenn ich merke, dass ich selbst oder ein Workshop aus dem Gleis zu geraten drohen, fällt es mir jetzt automatisch ein: Ooh nein, ich höre den Reißverschluss aufgehen … die Meisterklasse droht. Vorwärts.

5

Dieser Text bezieht sich auf die Recherche zum Roman Das Blaue Buch und all die Menschen, denen am Ende des Buches gedankt wird.

Den Stuhlder Stuhl