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Als sich Erika und Helmut Simon aus Nürnberg am 19. September 1991 zu einer Bergtour in die Ötztaler Alpen aufmachen, ahnen sie noch nicht, welches außergewöhnliche Ereignis ihnen bevorsteht. Der Fund, den sie an diesem Tag machen werden, wird das Leben des Ehepaars auf den Kopf stellen – und es in kürzester Zeit zu einer weltweiten Berühmtheit bringen: Der per Zufall gefundene Leichnam, zunächst als verunglückter Wanderer oder Bergsteiger interpretiert, gilt heute als eine der ältesten und bekanntesten Mumien. Sie fasziniert Menschen auf der ganzen Welt und liefert immer wieder neue Erkenntnisse zum Leben und Sterben unserer Vorfahren.
Viele Namen wurden der männlichen Mumie im Laufe der Jahre gegeben, vom »Mann vom Hauslabjoch« über »Homo tyrolensis« bis hin zum vermeintlich komischen »Frozen Fritz«. Durchgesetzt haben sich die neutraleren Bezeichnungen »Mann aus dem Eis« und – für den internationalen, englischsprachigen Raum – »Iceman«. Am bekanntesten ist er aber wohl unter seinem Spitznamen, der ihn zugleich vom unangenehmen Beigeschmack eines mumifizierten Leichenfundes befreit: Der österreichische Journalist Karl Wendl kombinierte kurzerhand den Fundort Ötztal mit »Yeti« zu »Ötzi«.
Anfang 2003, fast zwölf Jahre nach seiner Auffindung, kam ich zum ersten Mal mit Ötzi in Kontakt. Schon viele wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse waren damals um ihn errungen worden, und mindestens genauso viele mysteriöse Geschichten rankten sich um seinen Tod, von möglichen Wiedergeburten bis hin zu dem unvermeidlichen Fluch der Mumie. Auch mich hatte diese Faszination sehr früh gepackt – und sie hatte mich dazu getrieben, die Anthropologie als Hauptfach in meinem Biologiestudium zu wählen. Anthropologen beschäftigen sich unter anderem mit menschlichen Überresten, also mit historischen Skelettfunden und eben auch mit Mumien. Die Gespräche mit dem damaligen Dozenten in München, Franz Parsche, der später auch mein Betreuer und Mentor werden sollte, taten ihr Übriges. Er erzählte von Ausgrabungen in Ägypten, an denen er teilgenommen hatte, und vom unmittelbaren Kontakt mit den einbalsamierten Verstorbenen sowie deren beeindruckenden Grabanlagen und erzeugte damit in mir den unabdingbaren Wunsch, in diese Welt einzutauchen: Ich wollte selbst Mumienforscher werden. Nun ist Mumienforschung oder »Mumiologie« kein eigenständiges Fach. Aber ich nutzte jede noch so kleine Gelegenheit, die sich mir im Rahmen meines Studiums bot, um mich mit Mumien zu befassen. Meine Leidenschaft sollte mich um die halbe Welt führen. Südamerikanische Mumienfunde untersuchte ich in der Diplomarbeit, anschließend ging es nach Ägypten, wo ich bei Grabungen des Deutschen Archäologischen Instituts in Kairo erste Erfahrungen in der Untersuchung von altägyptischen Mumien sammeln wollte. Die Zusammenarbeit mit den Archäologen vor Ort und die Einblicke in die Grabstrukturen, die Grabbeigaben, die religiösen Hintergründe der Bestattungen und die Bedeutung der Mumifizierung machten mir bald klar, wie wichtig eine fachübergreifende Kooperation mit anderen Experten ist, um die Funde in ihrer gesamten Bedeutung zu erfassen. Doch es sollte noch einige Jahre dauern, bis es mich vom heißen Wüstensand in die kühlen Ötztaler Alpen zog.
2003, nach Jahren der Beschäftigung mit ägyptischen Mumien, brachte mich nun also der Zufall mit Eduard Egarter-Vigl zusammen. Egarter-Vigl hatte keine geringere Aufgabe zu bewältigen, als Ötzis Leichnam zu konservieren und die wissenschaftlichen Untersuchungen an ihm zu koordinieren. Ötzi war unterdessen umgezogen, von Innsbruck nach Bozen. Im eigens gegründeten Südtiroler Archäologiemuseum installierte man ein komplexes und ausgetüfteltes Konservierungssystem, das dem Mann aus dem Eis bis heute die gewissermaßen gewohnte Umgebung bietet – und nicht nur das: die kühle und feuchte Atmosphäre garantiert, dass auch zukünftige Forschergenerationen ihre Freude an der Mumie haben werden und auch noch unsere Ur-Enkel durch das kleine Fenster gebannt auf die Mumie werden blicken können.
Über »Ötzis Leibarzt«, wie Egarter-Vigl gerne genannt wurde, kamen wir an eine kleine Gewebeprobe von der rechten Hand der Gletschermumie. An ebendieser Stelle zwischen Daumen und Zeigefinger klaffte eine tiefe Wunde, die man bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht entdeckt hatte. Mag sein, dass man sie bis dahin als einen einfachen Riss abgetan hatte, bei der Bergung der Mumie entstanden oder dem Trocknungsprozess zuzuschreiben. Ohne Zweifel: das Hauptaugenmerk lag bis dato auf dem Rumpf der Mumie, weniger auf den Extremitäten oder gar den Händen. Dazu kam, dass man erst knapp zwei Jahre zuvor eine Pfeilspitze im Körper gefunden hatte. Die etablierte Theorie zu Ötzis Ableben war mit diesem Überraschungsfund natürlich dahin, war man doch bis dahin der Meinung gewesen, der Mann aus dem Eis wäre nach einem beschwerlichen Aufstieg, und, möglicherweise vom Weg abgekommen, aus Erschöpfung eingeschlafen und schließlich erfroren. Die 2001 durch den Bozner Radiologen Paul Gostner entdeckte Pfeilspitze legte aber nun einen gewaltsamen Tod nahe: Pfeilschuss in den Rücken.
Diese Vermutung sollte nun also durch weitere Indizien gestützt werden – und da kommt die Handverletzung ins Spiel, die wir zu untersuchen hatten. Handelte es sich um eine frische Wunde oder möglicherweise doch um eine ältere Schnittverletzung? Kurz: Konnte, ja musste man die Wunde mit Ötzis Ableben in Verbindung bringen?
Was folgte, war eine etwas aufwendige Prozedur: Wir ließen das Gewebestück aus der Handwunde zunächst aufquellen – ein von uns mitentwickeltes Verfahren. Anschließend legten wir die Probe unter das Mikroskop, um sie histologisch, sprich feingeweblich, zu analysieren. Mit Hilfe verschiedener Färbeverfahren und nanotechnologischer Methoden konnten wir schlussendlich den Nachweis erbringen, dass die Handwunde nicht frisch war, sondern dass Ötzi sie bereits mindestens drei bis vier Tage vor dem Ableben erlitten haben musste. Eine wichtige Erkenntnis, zweifellos. Anlass zu Enttäuschung gab es mit diesem Ergebnis keineswegs! Spekulationen waren nun Tür und Tor geöffnet: War der Gletschermann womöglich einige Tage vor seinem Tod in einen Konflikt involviert gewesen, der ihn dazu veranlasst hatte, sich ins Hochgebirge zurückzuziehen? Ein wahrer Krimi tat sich vor dem inneren Auge auf, und so schlug die Meldung um die Handverletzung nicht allein in der Wissenschaft, sondern auch in der Öffentlichkeit hohe Wellen. Auch mir wurde zu diesem Zeitpunkt zum ersten Mal die wahre Bedeutung der Gletschermumie bewusst.
Ötzi ist ein seltener Glücksfund, die älteste bekannte Mumie Europas, eine der wenigen Eis- oder Gletschermumien überhaupt, auf natürlichem Weg mumifiziert und nur durch den Umstand erhalten geblieben, dass sie durch eine Felsrinne vor den zerstörerischen Kräften der Gletscherbewegungen geschützt war. Im Gegensatz zum alten Ägypten oder auch einigen Kulturen in Südamerika gab es im europäischen Raum keine lang zurückreichende Tradition der Mumifizierung. Erst in der Neuzeit entwickelte sich ein vergleichbares Phänomen in Südeuropa und im Besonderen in Sizilien, als man erkannte, dass es aufgrund des günstigen trockenen und warmen Klimas im Milieu von Grüften und Katakomben zu einem Erhalt der Körper kommen konnte. Besonders beeindruckende Beispiele finden sich in den Katakomben der Kapuzinergruft in Palermo, in der etwa 1800 Mumien in Särgen und Nischen liegen oder an Wänden hängen; sie wurden überwiegend auf natürlichem Wege mumifiziert oder in den letzten 50 bis 100 Jahren vor Schließung der ungewöhnlichen Grabstätte mit Hilfe von Schwermetalllösungen und später durch die Verwendung einer noch heute gebräuchlichen formalinhaltigen Lösung konserviert.
Wir machten uns nun also auf die Suche nach weiteren Belegen für gewalttätige Konflikte, die Ötzis Tod vorausgegangen waren. Bald sollten wir den Nachweis dafür erbringen, dass die Pfeilschussverletzung tatsächlich tödlich war (die Eintrittsstelle am Rücken wies keinerlei Anzeichen einer Heilungsreaktion auf!). Auch diesen Erfolgen mag man es zu verdanken haben, dass auf Initiative des Konservierungsbeauftragten und der Verantwortlichen der europäischen Akademie (EURAC) in Bozen und mit tatkräftiger Unterstützung der Provinz Bozen und der lokalen Sparkassenstiftung letztlich ein eigenes Forschungsinstitut gegründet wurde. Es sollte die Forschung rund um den Ötzi koordinieren und neue Forschungsansätze entwickeln – ein Gewinn für die Mumienforschung und auch mein persönlicher Glücksfall. Ich wurde der Leiter des Instituts für Mumienforschung. Nach vielen Jahren war ich also am Ziel, war hauptamtlicher Mumienforscher und dazu noch für eine der außergewöhnlichsten und interessantesten Mumien, die es überhaupt gibt, zuständig. Weiterhin untersuchte ich aber auch andere Mumienfunde, aus verschiedenen Kulturen und Zeitstellungen: von den großen ägyptischen Pharaonen Tutanchamun und Ramses III., deren verwandtschaftliche Beziehungen, Krankheiten und Todesursachen ich erforschte, bis hin zur wohl bekanntesten Mumie aus den Katakomben Palermos, die im Alter von nur zwei Jahren verstorbene und außergewöhnlich gut erhaltene Rosalia Lombardo.
Die wohl schönste Mumie der Welt: die im Alter von nur zwei Jahren verstorbene Rosalia Lombardo. Palermo, Sizilien.
Im Juli 2007 ging es in Bozen los – und endlich bekam ich Gelegenheit, Ötzi persönlich gegenüberzutreten. Im Sicherheitsbereich des Südtiroler Archäologiemuseums liegt der Zutritt zur Kühlkammer des Mannes aus dem Eis, in der alle Untersuchungen und die regelmäßigen Konservierungsbehandlungen und Inspektionen durchgeführt werden. Es ist zugleich der Raum, in den die Besucher durch ein kleines Fenster auf die Mumie blicken. Zunächst hüllt man sich in OP-Kleidung mitsamt Kopfbedeckung, Mundschutz und sterilen Handschuhen, ehe man den Raum über eine Schleuse betritt. Die sterile Kleidung dient ausschließlich dem Schutz der Mumie vor Verunreinigung durch Keime, Pilzsporen und andere biologische Spuren. Die kalte, etwas steril wirkende Atmosphäre des Kühlbereichs tut der Faszination, die Ötzi ausstrahlt, keinen Abbruch: Als ich den Raum 2007 zum ersten Mal betrat, war ich geradezu elektrisiert vom Erscheinungsbild der Mumie, die ich schon so oft auf Bildern, in Zeitschriften und Fernsehdokumentationen gesehen hatte. Ötzi unterscheidet sich stark von den anderen Mumien, denen ich bis dahin begegnet war. Man erkennt sofort den unglaublich guten Erhaltungszustand, trotz der Beschädigungen im Bereich der linken Hüfte, und man erahnt, wie elastisch und weich seine Körperoberfläche im nicht gefrorenen Zustand noch sein musste – ganz anders als bei den durch Salz ausgetrockneten ägyptischen Mumien oder bei den auf natürlichem Weg getrockneten Kirchen- und Gruftmumien.
Die Körperhaltung ist ungewöhnlich: Der linke Arm liegt quer über dem Körper und steht unterhalb des Kinns zur Seite hin ab; der rechte Arm ist leicht abgewinkelt, und die Finger sind so gekrümmt, als hielten sie etwas in der Hand. Diese Körperhaltung manifestiert geradezu den mittlerweile bewiesenen unnatürlichen Tod: Der Moment des Todes, gebannt für die Ewigkeit. Über 5000 Jahre hat Ötzi infolge der natürlichen Mumifizierung in den Bergen überdauert. Die Oberlippe ist nach oben gedrückt und die Augen fehlen, was der Mumie einen etwas leeren Gesichtsausdruck, aber gleichzeitig auch etwas Geheimnisvolles verleiht. Denn unmittelbar beginnt man sich zu fragen: Wer war dieser Mann aus dem Eis, der vor so langer Zeit in dieser Gegend gelebt hat? Wie waren seine Lebensbedingungen, hatte er eine Familie, war er ein Anführer oder ein einfacher Schäfer, und warum und von wem wurde er getötet?
Ich machte es mir zur Aufgabe, mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden nach Antworten auf diese Fragen zu suchen – wohl wissend, dass wir vielerorts an Grenzen stoßen würden und dass manches für immer im ewigen Eis verborgen bleiben würde. Wie ausgereift unsere Untersuchungsmethoden auch werden: Wir werden wohl nie erfahren, wie Ötzis Charakter war, wie er gefühlt und gedacht hat, ob er an etwas geglaubt hat und wie er sich das Jenseits vorgestellt hat. Nichtsdestotrotz ist man sich als Mumienforscher darüber im Klaren, dass man vor sich einen Menschen liegen hat, der einmal gelebt, geliebt und gelitten hat. Auch wenn man das im täglichen Umgang mit Mumien natürlich ausblendet und sich auf die wissenschaftliche Arbeit konzentriert, garantiert dieses Bewusstsein einen würdevollen und respektvollen Umgang mit den konservierten Toten. Daher prüfen wir bis heute in jedem Fall genau, ob Fragestellung und Durchführbarkeit einer Studie die Entnahme einer Gewebeprobe, sei sie auch noch so winzig, rechtfertigen. Dabei ist der würdevolle Umgang mit dem Toten freilich nur ein Aspekt. Ötzi ist für uns heute ein wichtiger Zeuge seiner Zeit, der Erhalt der Mumie steht daher an oberster Stelle, denn: Auch nachfolgende Forschergenerationen sollen ihm noch viele Geheimnisse entlocken.
Mittwoch, 18. September 1991: Erika und Helmut Simon sind im Südtiroler Hochgebirge unterwegs und steigen auf den prominenten Gipfel des Similaun. In der Similaunhütte freunden sich die beiden mit einem österreichischen Ehepaar an. Man fasst den Plan, am Folgetag gemeinsam die Finailspitze zu erklimmen.
Donnerstag, 19. September 1991: Der am Vorabend gefasste Plan wird von bestem Bergwetter begrüßt, und so starten die vier munter ihre Tour. Beim Abstieg trennen sich ihre Wege, und das Ehepaar Simon macht sich auf den Rückweg zur Similaunhütte, um von dort zum Vernagter Stausee, dem Ausgangspunkt ihrer Bergtour, abzusteigen – allerdings nicht auf der üblichen Route.
13.30 Uhr: Die beiden stoßen auf ein aus dem Eis ragendes Gebilde. Erst auf den zweiten Blick erkennen sie darin einen menschlichen Körper. Ihre Theorie: ein vermutlich erst kürzlich durch unglückliche Umstände ums Leben gekommener
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