Tödliche Illusionen

Krimi

Helmut Orpel


ISBN: 978-3-95428-655-3
1. Auflage 2016
© 2016 Wellhöfer Verlag, Mannheim

Titelgestaltung: Uwe Schnieders, Fa. Pixelhall, Mühlhausen unter Verwendung eines Luftbildes von Thommy Mardo, Mannheim

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Alle Personen und Handlungen aus „Tödliche Illusionen“ sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit wirklichen Personen oder tatsächlichen Ereignissen sind nicht ­beabsichtigt und somit rein zufällig.
Das vorliegende Buch einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlages unzulässig.

Inhalt

1

Die Rheinpromenade ist an einem Samstagnachmittag im Frühling normalerweise von Spaziergängern überfüllt. Vom Uferweg aus hat man einen freien Blick auf die Rheinbiegung und kann die Lastkähne beobachten, die hier, auf der größten Wasserstraße Europas, ihre Güter in beide Himmelsrichtungen verteilen. Schiffe von über 3.000 Kubikmetern Laderaum sind hier keine Seltenheit.

An jenem Samstagnachmittag im April gab es fast keine Spaziergänger auf dem Uferweg am Rhein. Die meisten hatten sich in ihre Wohnungen zurückgezogen und ihre Heizungen angemacht. Es war kalt und regnerisch. Schon seit Wochen war die Temperatur eingebrochen und der Frühling, der im März so hoffnungsvoll begonnen hatte, war rasch zu Ende gegangen.

Riesige Pfützen hatten sich auf dem Sandweg gebildet und die Bänke, die an sonnigen Tagen so frequentiert waren, standen verwaist und traurig am Wegesrand.

Regengrau war der Himmel schon während des ganzen Tages gewesen. Immer wieder gingen Schauer nieder, heftig und kalt. Es regnete sich für eine Weile ein. Nach einer halben Stunde ließ der Niederschlag nach, um dann, nach einer etwa halbstündigen Pause, erneut loszubrechen.

Mitten auf dem Weg verlief eine Furche, die sich nach und nach mit Wasser füllte. Diese Spur stammte eindeutig von einem Fahrrad, dessen Fahrer hier vermutlich gestürzt war. Aber weder von einem Rad noch von dessen Fahrer war weit und breit etwas zu sehen. Es war nur die Spur, die hier plötzlich endete. Eine Rinne, die sich mit Wasser füllte.

Der Regen ließ nach und das Ehepaar Jaeschke aus den ufernahen Wohnblocks machte sich bereit, ihren Hund Joschi Gassi zu führen. Jeden Nachmittag musste er raus und wenn es nur für eine halbe Stunde war. Heute konnte man den Hund sogar von der Leine lassen. Heute würde niemand schreien: „Hunde gehören an die Leine“, wie das sonst immer der Fall war, wenn sich die Spaziergänger durch die große Dogge bedroht fühlten. Sie gingen den Fußweg zum Rheinpark hinunter und ließen den Hund los. Joschi genoss es, loszulaufen und imaginäre Spielkameraden zu jagen. Jaeschkes wussten: Es konnte nichts passieren, Joschi parierte. Ein Pfiff mit der Hundepfeife und er war bei Fuß. Das Ehepaar ging langsam dem tollenden Hund hinterher.

 

Sie unterhielten sich über den Besuch der Tochter, der jetzt eine Woche zurücklag. Sie war mit einem neuen Freund gekommen, den Jaeschkes sympathisch fanden. „Nicht so ein Streber wie der Letzte“, lachte Jaeschke und verbarg seine Freude darüber nicht, dass er sich mit dem neuen Partner seiner Tochter besser verstand.

Sie waren noch nicht auf dem Uferweg, da hielt Jaeschke plötzlich inne. „Wo ist der Hund?“, fragte er halblaut und blieb stehen. Er pfiff mehrmals mit der Hundepfeife, aber Joschi blieb verschwunden. Sie gingen ein kleines Stück zurück bis zu der Stelle, an der sie Joschi losgelassen hatten. Nichts war zu sehen. Jaeschke pfiff mehrfach. Nichts rührte sich in dem Gestrüpp, das sich parallel zum Flussufer an der Wiese entlangzog. Jaeschke lief ein paar Meter weiter. Hier wurde das Gestrüpp dichter und versperrte die Sicht. Frau Jaeschke wartete am Wegrand. „Wohin ist dieser verdammte Köter verschwunden? Sonst ist er doch immer so folgsam.“

Herr Jaeschke ging ein paar Meter weiter, bis sich die Hecke öffnete und den Blick auf eine kleine Lichtung zwischen dem Gestrüpp freigab. Dort sah er seinen Hund stehen und fühlte sich erleichtert. Aber warum gehorchte er nicht? Er stand vor etwas und schnupperte daran herum. Jaeschke konnte nicht sehen, was es war. Er musste erst ein paar Schritte weitergehen. Dann erblickte er es. Ein männlicher Leichnam lag vom Regen durchnässt auf dem Boden. Ein Schuss hatte den Kopf getroffen, aber die Gesichtszüge waren noch kenntlich geblieben. Jaeschke kannte den Mann. Stadtrat Rehberger. Er zuckte zusammen und staunte mit offenem Mund.

2

Der Tote am Rhein war Jürgen Bauers erster Fall. Er wohnte nun noch keine zwei Monate in Mannheim, als er zum Tatort gerufen wurde. Passanten hatten den Toten gefunden. Sie waren mit dem Hund noch rausgegangen, nachdem es aufgehört hatte zu regnen. Bis zu diesem Zeitpunkt kannte Bauer diese Ecke Mannheims nur von der großen Wandkarte her, die bei ihm im Büro hing. Ein grüner Flecken, der sich bis zur Rheinbiegung hin ausdehnte.

Kommissarin Anette Schreiber, seine neue Kollegin, hatte ihm vorgeschwärmt, wie schön es dort sei. Am Wochenende sei sie öfter mit der Familie zum Grillen dort.

 

Der Tote lag noch im Gestrüpp, als Bauer am Tatort ankam. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er fassungslos in den regengrauen Abendhimmel. Der Tod hatte ihn überrascht, hatte ihn ganz plötzlich aus dem Leben herausgerissen.

Dies war nicht der erste Tote, den Bauer gesehen hatte. In Hamburg, wo er seine erste Dienstzeit verbracht hatte, stand Mord im Milieu auf der Tagesordnung. Aber dieser Tote hier entstammte mit Sicherheit nicht dem Milieu. Das sah Bauer der Leiche an. Ein unauffälliger Mann, zwischen 55 und 60.

Er könnte sein Vater gewesen sein. Die Kleidung, die er trug, leger. Er könnte sich sportlich betätig haben. Kein Jogger, eher ein Radfahrer. Aber wo war das Fahrrad? Die Spurensicherung hatte Fahrradspuren entdeckt, aber am Fundort der Leiche war kein Fahrrad zu sehen.

Bauer ging zu den Leuten, die die Leiche gefunden hatten. Ein biederes, älteres Ehepaar mit Hund.

„Wir kennen den Mann“, sagte die Frau entschieden. „Das ist Stadtrat Rehberger. Über ihn steht oft etwas in der Zeitung.“ Bauer schrieb den Namen in seinen Notizblock. „Gustav Rehberger“, ergänzte der Mann, der Bauer beim Schreiben beobachtete. „Ich habe ihn sogar gewählt. Er war noch einer der wenigen Politiker, die Wort gehalten haben. Die anderen machen nur Versprechungen, die sie dann nicht halten. Das haben wir schon oft erlebt. Aber Rehberger war anders. Er stand zu seinem Wort.“

Einige Polizisten kamen auf die Gruppe um Bauer zu. „Wir haben ein Fahrrad in der Uferböschung gefunden“, berichtete der Streifenpolizist, der als Erster bei Bauer ankam. „Das Rad hat noch nicht lange dort gelegen. Es zeigt keinerlei Spuren von Rost. Vielleicht hat es dem Mann gehört.“

 

Der Polizist blickte den Toten an. Auch er kannte ihn und er bestätigte die Angaben der Zeugen.

„Stadtrat Rehberger setzte sich für die kleinen Leute ein. Jede Woche stand etwas über ihn in der Zeitung. Oft auch Negatives. Ich glaube, die von der Presse mochten ihn nicht besonders“, ergänzte der Polizist. „Er galt als Quertreiber.“

‚Dann hatte er sicher auch viele Feinde‘, ging es Bauer durch den Kopf. Er steckte den Notizblock in die Manteltasche. Viel Neues würde er von den Zeugen jetzt nicht mehr erfahren. Er hatte ihre Adresse und die Telefonnummer aufgeschrieben und sich von ihnen verabschiedet.

Ein toter Stadtrat, der sich unbeliebt gemacht hat. Er würde Presseartikel wälzen müssen, um herauszufinden, wem er möglicherweise auf die Füße getreten ist. „Aber“, so hatte er während seiner ersten Dienstjahre gelernt, „man soll sich von Vorurteilen möglichst freihalten, möglichst den ganzen Menschen erfassen, die unzähligen Facetten, die ein Menschenleben ausmachen, es bestimmen.“

Vor ihm stand eine große Aufgabe. Sein erster großer Fall, seit er den Dienst in Mannheim angetreten hatte. Er ging zu seinem Wagen, den er etwas oberhalb der Fundstelle, auf einem Waldparkplatz abgestellt hatte.

Kommissar Bauer war stolz auf seinen neuen Renault, den er sich in der letzten Woche gekauft hatte. Es war sein erster Neuwagen. Bis dahin hatte er sich nur gebrauchte Autos leisten können, aber das würde jetzt anders werden.

Er fuhr auf den Hof des Polizeipräsidiums, das am Rande der Innenstadt von Mannheim lag. Das Gebäude stammte aus der Gründerzeit. Der Terrazzofußboden zog sich durchs ganze Haus, durch die weiten, verschlungenen Gänge und über sämtliche Stockwerke hinweg. Noch war Bauer mit dem Gebäude nicht so vertraut, dass er sich überall zurechtfand und in der ersten Woche hatte er sich ein paar Mal verlaufen. Bauer ging über mehrere Treppen, von denen zwei in die Tiefe und drei wieder heraufführten, in einen Raum im zweiten Stock. „Mordkommission“ stand an der Tür und die Nummer 202. Das war seine Abteilung.

Er teilte sich sein Zimmer mit Anette Schreiber. Ihr Schreibtisch stand näher am Fenster als seiner und war ordentlich aufgeräumt. Seine Ablage hatte sich in den paar Wochen, in denen er nun hier Dienst tat, ziemlich gefüllt. Er sollte sich mal einige Stunden Zeit nehmen, um die Schriftstücke sorgfältig abzuheften, sonst würde unweigerlich Chaos entstehen. Er setzte sich an den Schreibtisch und schaltete den Computer ein.

 

An diesem regnerischen Samstagnachmittag im April waren wenige Beamte im Dienst. Außer dem Pförtner hatte Bauer nur drei Kollegen auf den Gängen getroffen. Bauer gab den Namen „Rehberger“ in den Computer ein und erhielt über Google gleich eine ganze Menge Informationen.

‚Wirklich ein sehr engagierter Stadtrat‘, dachte der Polizist. Vor allem im Sozialbereich war er sehr aktiv gewesen. Und er hatte in seiner Fraktion zu den wenigen Gegnern des Regionalflughafens gehört. Obwohl dieser Regionalflughafen, der mitten in der Stadt lag, vielen Anwohnern ein Ärgernis war, gab es unter den Lokalpolitikern nur wenige, die sich gegen diesen aussprachen. Aber lag hierin ein Mordmotiv?

 

Bauer überlegte, ob er Anette anrufen und ihr von dem Mord an dem Stadtrat berichten sollte. Bisher hatte er zu ihr einen ziemlichen Abstand verspürt, obwohl er sich in den ersten Tagen ihrer Bekanntschaft sehr um ihre Aufmerksamkeit bemüht hatte. Sie kam wie er aus Norddeutschland. Anfangs hatte er gehofft, in ihr eine verwandte Seele zu finden. Aber je länger sie in der ersten Zeit zusammengearbeitet hatten, desto deutlicher wurde ihr Abstand. Anette wirkte nach außen hin spröde. Bisweilen konnte sie auch grob sein. Mehrmals hatte sie Zeugen angeschrien, die widersprüchliche Angaben machten.

‚Aber, was weiß ich schon von ihr‘, fragte er sich.

Bei den gemeinsamen Kantinenbesuchen hatte er nicht viel über sie erfahren können. Sie war verheiratet und hatte drei Kinder. Ihr Mann arbeitete als Konstrukteur bei der Daimler AG.

‚Sollte er am Wochenende ihr Privatleben stören oder wäre es besser, bis Montag zu warten?‘ Er überlegte lange. ‚Die Kriminaltechniker werden sowieso noch bis Montag brauchen, um alle vorhandenen Spuren auszuwerten‘, tröstete er sich und legte den Hörer, den er gerade aufgenommen hatte, dann doch wieder auf die Gabel zurück.

Aber auf jeden Fall würde er jetzt die Angehörigen des Mordopfers verständigen müssen. Zu den Angehörigen – er wusste mittlerweile, es gab eine Frau und auch Kinder – wollte er nicht alleine fahren. Wieder dachte er an Anette. Er nahm den Telefonhörer in die Hand.

‚Anette ist nicht einfühlsamer als ich‘, überlegte er. Die Szene mit den Zeugen beschäftigte ihn immer noch. Er legte den Hörer abermals zurück und entschloss sich, den Beamten des Streifendienstes mitzunehmen, den er am Tatort kennengelernt hatte.

Kommissar Bauer rief die Zentrale an und ließ sich die Nummer des Kollegen geben. Scheck hieß er. ‚Scheck, ein merkwürdiger Name‘, ging es ihm durch den Kopf.

3

Der Beamte tat in der Nähe des Rheinparks, wo man Rehbergers Leiche gefunden hatte, seinen Dienst. Bauer verabredete mit Scheck, dass er ihn abholen würde und beide dann zusammen der Witwe des Ermordeten die Nachricht überbringen wollten.

Ein schwerer Gang. Bauer spürte durchs Telefon, wie gern sich Scheck vor dieser Aufgabe gedrückt hätte. Aber die Nachricht der Witwe zu überbringen, war ihm nicht nur aus dienstlichen Gründen Verpflichtung, bemerkte Bauer. Scheck hatte Respekt und Hochachtung vor Rehberger. Keine halbe Stunde später stand Bauer mit seinem Renault vor dem Polizeirevier am Rheinpark. Scheck hatte bereits draußen gewartet und stieg rasch in den Wagen ein.

 

Er dirigierte Bauer in einen Vorort von Mannheim, den der Kommissar bis dahin noch nicht wahrgenommen hatte. Dieser Ort glich einem idyllischen Dorf, weit weg von der Großstadt und doch waren es nur knapp fünfzehn Minuten bis zum Zentrum von Mannheim, einer Stadt mit über 300.000 Einwohnern. Der Kern jenes Dorfes bestand aus Fachwerkhäusern, die sich am Neckar entlangzogen, der einige Kilometer weiter nördlich in den Rhein mündete.

In der Ortsmitte parkte Bauer auf Anweisung Schecks den Wagen. Sie gingen zu Fuß zum Haus, das Scheck gut zu kennen schien. Er klingelte. Drinnen hörte man Stimmen. Eine ältere Frau öffnete. Sie hatte eine Kittelschürze an, wie sie Bauer von seiner Großmutter her kannte.

Bauer atmete durch. Er war froh, dass Scheck mitgekommen war, und überließ ihm gern die Initiative. Während seiner Ausbildung hatte er Kurse besucht, bei denen es darum ging, wie sich ein Polizist in einer solchen Situation angemessen zu verhalten hatte. Wie vermittelt man einer Person, die mitten im Leben steht und auf die Heimkehr ihres geliebten Mannes wartet, dessen Tod? Wie sagt man so etwas, ohne zusätzlich Schmerz zu bewirken oder banal zu erscheinen. Scheck schluckte und ergriff das Wort.

 

„Frau Rehberger, wir müssen Ihnen eine traurige Nachricht überbringen, Ihr Mann ist tot. Wir haben ihn heute gefunden.

Frau Rehberger wurde blass und griff hinter sich nach einem Stuhl. Aber da war kein Stuhl. Scheck fasste rasch ihren Arm. Im Hintergrund hörten sie das Geschrei kleiner Kinder, die sich um ein Spielzeug stritten. „Gustav tot, tot“, flüsterte sie entkräftet und blickte die beiden Polizisten an, so als könnten die den furchtbaren Gehalt dieser Nachricht entkräften.

 

Die Polizisten und Frau Rehberger saßen sich schweigend im Wohnzimmer gegenüber. Der Regen trommelte gegen die Fensterscheiben. Bauer hatte das Gefühl für die Zeit verloren.

„Hatte er einen Unfall?“, fragte Frau Rehberger schließlich in die Stille hinein.

„Nein, es sieht nach einem Gewaltverbrechen aus. Ihr Mann ist offensichtlich ermordet worden“, schaltete sich Bauer ein. Die Frau schaute sie nun noch ungläubiger an.

„Ein Verbrechen? Jemand hat Gustav umgebracht?“

Frau Rehberger schüttelte fassungslos den Kopf.

„Wo wurde er gefunden und wann?“, wollte sie wissen.

„Heute Nachmittag, von Spaziergängern im Rheinpark ist er gefunden worden. Wir wissen noch nicht, wann er umgebracht wurde. Die Untersuchungen dauern noch an. Es waren wenig Leute im Park, wegen des Regens.“

„Wann kann ich ihn sehen?“, war die nächste Frage von Frau Rehberger.

 

„Sie müssen den Leichnam Ihres Mannes identifizieren“, erinnerte Scheck.

„Das hat bis Montag Zeit“, sagte Bauer.

„Dann wird der Leichnam sicher bald zur Beisetzung freigegeben“, fügte er noch hinzu, um jener weiteren Frage, welche die Witwe wohl als nächstes stellen würde, zuvorzukommen.

„Dürfen wir Ihnen ein paar Fragen stellen? Es tut mir leid, aber jede Minute ist wichtig, um den Mörder zu fassen. Ich kann aber auch morgen ...“, leitete Bauer das weitere Gespräch ein.

Frau Rehberger war eine starke Frau, die sich vom Schicksal nicht so leicht unterkriegen ließ und dass der Mörder ihres Mannes gefasst würde, lag natürlich auch in ihrem Interesse.

„Fragen Sie nur“, lud sie ein. „Wenn ich helfen kann.“

Bauer holte seinen Notizblock aus der Jackentasche.

 

„Wissen Sie, wo Ihr Mann am Samstag gewesen ist?“, begann er die Befragung.

„Ich weiß es nicht“, antwortete die Frau. „Er war sehr eigenbrötlerisch und brauchte seine Rückzugswinkel, sonst war er total unglücklich. Wie Sie sicher wissen, war mein Mann seit einigen Jahren Stadtrat. Seine Aufgaben nahm er sehr ernst und schimpfte immer über Leute, die sich wählen ließen und sich danach um nichts mehr kümmerten.“

 

Sie zerknüllte das Taschentuch, das sie in der Hand hielt, und unterdrückte die Tränen.

„Gustav wollte immer alles ganz genau wissen. Er verbrachte viel Zeit damit, städtische Baumaßnahmen genau zu beobachten. Dadurch hat er sich auch in seiner eigenen Partei ziemlich viele Feinde gemacht. Er wusste zu viel.“

Bauer machte sich Notizen. So langsam entstand ein Bild in seinem Kopf. Ein unabhängiger, detailverliebter Kommunalpolitiker, der auf eigene Faust Nachforschungen anstellt und sich nicht einfach der Parteidisziplin unterordnet, das war als Mordmotiv vorstellbar. Mit so etwas würde Mannheim keine Kriminalgeschichte schreiben. Jetzt hatte er aber wenigstens einen weiteren Anhaltspunkt für seine Ermittlungen.

„Wissen Sie, mit was sich Ihr Mann gerade beschäftigt hat?“, wollte Bauer wissen.

Ich weiß es nicht so genau“, antwortete die Angesprochene mit Tränen in den Augen. „Er tat immer so geheimnisvoll. Gustav sagte zu mir: ‚Je weniger du weißt, desto besser ist es für dich. Du kannst ruhiger schlafen in der Nacht.‘ Das sagte er in der letzten Zeit öfter. Ich war im Grunde genommen froh darüber. Wenn Sie mit einem Kommunalpolitiker zusammenleben, dann sind Sie eines Tages froh, wenn Sie nicht in alles eingeweiht werden.“

Sie weinte wieder und sie erinnerte sich: „Ich bin gerne mitgegangen, wenn irgendwo irgendwelche Feste waren. Ich habe es auch genossen, wenn die Leute Gustav gelobt haben. Er wurde oft gelobt, denn er hat vielen Menschen geholfen. Er kannte sich gut aus. Man fragte mich manchmal auch um Rat. Aber ich habe dann immer gesagt: Die Politik, die macht bei uns mein Mann. Ich bin für den Haushalt zuständig und für den Garten. Da habe ich Beschäftigung genug.“

 

Bauer sah die Frau nachdenklich an. Sie tat ihm leid. Jetzt würde sie allein dastehen mit dem Haus und dem Garten.

‚Ihre Enkel werden ihren Großvater nicht mehr erleben‘, ging es Bauer durch den Kopf.

„Hat Ihr Mann ein Arbeitszimmer hier im Haus oder einen Schreibtisch?“, fragte der Kommissar. Trotz Pietät drängte die Zeit. Er musste Witterung aufnehmen und noch hatte er keine klare Vorstellung, welche wie auch immer geartete Recherche den Stadtrat zum Mordopfer hatte werden lassen. Vielleicht würden sie hier in den Privaträumen einen Anhaltspunkt finden.

Frau Rehberger führte die beiden Polizisten die Treppe hinauf. Dort hatte Rehberger sein Büro. An den Wänden zogen sich Regale entlang, in denen, sauber nach Farben geordnet, Ordner nebeneinanderstanden. Rehberger war offensichtlich ein Ordnungsliebhaber gewesen. Das fiel Bauer sofort auf und rief in ihm Bewunderung hervor.

Gewissenhaft und sorgfältig waren die Vorgänge in diesen Ordnern abgeheftet. Es war scheinbar leicht, sich in diesem Archiv zurechtzufinden. Die Witwe ließ die beiden Beamten allein und ging wieder die Treppe hinunter.

Scheck hatte es sich in dem Sessel bequem gemacht und ließ die Augen über die Ordnerrücken gleiten. Bauer folgte seinen Blicken und fragte sich, an welchem der Ordner der Blick des in Mannheim beheimateten Streifenbeamten wohl hängen bleiben würde. Scheck erhob sich plötzlich und ging zielsicher auf einen bestimmten Ordnerrücken zu. Bauer folgte ihm mit den Blicken. Auf dem Aktenrücken war in sauberer, schwarzer Schrift die Bezeichnung Regionalflughafen Mannheim zu lesen.

Rehberger war ein Gegner des Regionalflughafens, das wusste Bauer bereits durch seine Nachforschungen. Bauer sah Scheck fragend an.

Der erklärte: „In der SPD war kaum jemand offen gegen den Flughafen, obwohl es viele Gutachten gab, die vor möglichen Gefahren warnten. Die Landebahnen seien zu kurz und zu nah an der Stadt. Wirklich große Maschinen können hier gar nicht landen, viel zu gefährlich.“

 

Scheck reichte den Ordner Bauer und hielt mit dem Finger eine Seite auf.

„Das sind die Start- und Landebewegungen“, fügte er erklärend hinzu. „Nach diesen Aufzeichnungen haben die sich im letzten Jahr mehr als verdoppelt – aber das ist bekannt. Das stand schon in der Zeitung. Ursache dieses Aufschwungs sind eine Reihe neuer Ansiedlungen in Flughafennähe. Seit der neue OB im Amt ist, hat sich dort tatsächlich einiges getan, was sich günstig auf die Bilanz der Flughafengesellschaft auswirkt. Dieses Plus an Starts und Landungen bedeutete vor allem eine Verringerung des Defizits, das der Flughafen in früheren Zeiten erwirtschaftet hat und für das die Stadt aufkommen muss, denn der Flughafen ist eine städtische Gesellschaft, für die die Stadt mit ihren Steuereinkünften bürgt.“

„Könnte hier ein mögliches Motiv für den Mord liegen?“, grübelte Bauer.

„Der Protest gegen den Regionalflughafen wird sicher keinesfalls mit der Pistole ausgetragen“, sagte Scheck lächelnd. „So brisant ist die Sache nun wirklich nicht. Die Flughafenbefürworter haben eindeutig die Mehrheit und solange sich das nicht ändert, wird der Flughafen weiter betrieben und vielleicht sogar noch ausgebaut. Diese Diskussion verfolge ich schon seit zehn Jahren. Die Grünen machten zwar mit ihrer Forderung, den Flughafen zu schließen, Punkte, aber die SPD ist gegen die Schließung, die CDU sowieso und die FDP sowie die Freien Wähler sind sogar noch für den weiteren Ausbau. Sie sehen das wirtschaftliche Potenzial Mannheims mit diesem Flughafen verknüpft.

Nach dem Aufschwung, den der Flughafen unter OB Frisch genommen hatte, wurden die kritischen Stimmen gegen den Flughafen eher leiser. Außer den Grünen war da zum Schluss nur noch Rehberger als einziger Gegner übrig geblieben.“

 

Ihr Gespräch wurde unterbrochen. Es klopfte an die Tür. Eine Frau, vermutlich die Tochter Rehbergers, fragte, ob die Beamten etwas zu trinken wünschten. Sie verneinten beide. „Wir müssen gehen“, sagte Bauer. Sie verabschiedeten sich und gingen zum Wagen.