Benedikt Weibel
Endlich
beginnen
die Schwierig-
keiten
Quellen der Motivation
Verlag Neue Zürcher Zeitung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2016 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich
Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2016 (ISBN 978-3-03810-189-5)
Lektorat: Sigrid Weber
Titelgestaltung: TGG, Hafen Senn Stieger, St. Gallen
Titelabbildung: iStock.com / Polina Shuvaeva
Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.
ISBN E-Book 978-3-03810-225-0
www.nzz-libro.ch
NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung
Inhalt
Prolog
1. Den Geist vorbereiten
2. Labor Sport
3. Was uns antreibt
4. Das geistige Auge
5. Sich überlisten
6. Rhythmus
7. Eine Frage der Perspektive
8. Wegweiser im Dschungel
Anmerkungen
Literatur
Dank
Der Autor
Prolog
In einer Diskussion über künstliche Intelligenz habe ich einen Satz aufgeschnappt, der etwa so geht: «Nicht die Existenz einer Seele unterscheidet den Menschen von der Maschine, sondern die Vorstellung, dass er eine haben könnte.» Vorstellungen beeinflussen unser Denken und Handeln. Vorstellungen lassen sich steuern. Die Haltung, mit der wir eine Sache angehen, nennen wir in der Alltagssprache «Einstellung». Wir haben gelernt, dass das Resultat einer Tätigkeit von dieser Einstellung abhängig ist.
Dafür verantwortlich sind die sogenannten kognitiven Prozesse in unserem Gehirn. Trotz grosser Fortschritte ist es der Hirnforschung bis heute nicht gelungen, diese Vorgänge umfassend zu entschlüsseln. Das hängt wesentlich damit zusammen, dass der überwiegende Teil der menschlichen Aktivitäten nicht bewusst gesteuert wird, sondern automatisch erfolgt. «Wir sind zu einem grossen Teil organische Blackboxes. […] Vielleicht ist es der weiseste Trick der Natur, uns mit einem Gehirn ausgestattet zu haben, das wir nicht genügend verstehen können, weil wir es gebrauchen.»1
Die Schlüsselfrage ist: Wie kann das Zusammenspiel zwischen bewusstem Denken und Handeln und den im Unterbewusstsein gelagerten Sedimenten von Handlungsmustern, Erfahrungen und Erinnerungen beeinflusst werden? Begleiten Sie mich auf der faszinierenden Suche nach Antworten. Sie werden bemerken, dass Sie dabei über sich selbst nachzudenken beginnen. Dann ist der Zweck dieses Buches erreicht.
1. Den Geist vorbereiten
«Unser unbewusstes Denken unterscheidet sich
in einem ganz wichtigen Punkt nicht von
unserem bewussten Denken: Es ist lernfähig.»
Malcolm Gladwell
Er war, wie man in seiner Muttersprache sagt, «bien baraqué». Gross, breitschultrig, schwarzes Haar, buschige Augenbrauen, markantes Kinn. Ein wenig erinnerte er mich an Leonid Breschnew, zu dieser Zeit der erste Mann der Sowjetunion. Er hatte etwas Herrisches, konnte aber, wohl im Unterschied zu Breschnew, ausgesprochen charmant sein. Pierre Arnold war in den 1980er-Jahren Chef der Migros, des grössten Detailhändlers der Schweiz. Er galt als Archetyp des Topmanagers (CEOs gab es damals noch nicht). Pierre Arnold war auch Vizepräsident des Verwaltungsrats der Schweizerischen Bundesbahnen und in dieser Funktion stellte er sich zur Verfügung, mir das ABC des Topmanagements beizubringen. Ein halbes Jahr konnte ich ihm auf Schritt und Tritt folgen. Durch seine Sachkenntnis hat er mich beeindruckt und geprägt. Man musste schon perfekt vorbereitet sein, um ihm argumentativ die Stange halten zu können. Die Migros ist eine Genossenschaft und ihre Oberen müssen sich immer wieder vor ihren Genossenschaftsrätinnen und -räten rechtfertigen. Darin war Pierre Arnold ein Meister. Ich bewunderte vor allem eine seiner Eigenschaften: Je mehr er unter Beschuss kam, desto mehr lief er zur Hochform auf. Einmal wagte ich es, ihn darauf anzusprechen. Er erklärte mir, er liebe den Widerstand. Sein Motto laute: «Enfin les difficultés commencent» – endlich beginnen die Schwierigkeiten. Ich habe das Motto übernommen und hatte dann auch genügend Gelegenheit zum Üben. Viele Jahre später entdeckte ich, dass die Devise von keinem Geringeren als von Niccolò Machiavelli stammt.1
Was hat sich Machiavelli dabei gedacht? Er wird sich überlegt haben, dass der Fürst erst in schwierigen Zeiten seine Fähigkeiten beweisen kann. Und dass ihm das umso besser gelingt, je mehr er sich gedanklich mit möglichen Schwierigkeiten auseinandergesetzt hat. Es braucht Kreativität, um sich alle Eventualitäten vorzustellen. Für jede dieser Möglichkeiten gilt es, Reaktionsweisen zu definieren. Vor dem inneren Auge spult man alle möglichen Abläufe ab. Wenn dann einer dieser Fälle auftritt, sind alle Sinne geschärft. Endlich kann der Fürst zeigen, was er kann.
Auch Machiavelli hat sich mit seiner Losung in der Vergangenheit bedient und einen Leitsatz der Antike adaptiert: «Halte dich bereit!»2 Das war die Devise des Stoikers Epiktet. «Wenn aber der Steuermann ruft, so eile zum Fahrzeug, lass alles zurück und sieh dich nicht um.» Epiktet und die Stoiker haben eine fundamentale Tatsache ins Zentrum ihrer Lehre gestellt: «Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Vorstellungen von den Dingen.»3 Wenn man bedrängt, unruhig oder betrübt sei, solle man die Ursache nicht in etwas anderem suchen, sondern in den eigenen Vorstellungen. Denn Gott habe den Menschen das Herrlichste und Erhabenste in ihre Gewalt gegeben: den Gebrauch ihrer Vorstellungen.4 In die moderne Terminologie übertragen bedeutet das, dass der Mensch über die Fähigkeit zur Selbststeuerung verfügt.
Hinter dieser Aussage steht die Überzeugung, dass der Mensch mit seinem freien Willen sein Schicksal beeinflussen kann. Wissenschaftlich ist diese Hypothese allerdings auch zweitausend Jahre nach Epiktet nicht bewiesen.5 Diese Debatte soll uns nicht kümmern. Allein schon, weil die Vorstellung der Fremdbestimmung und die dadurch implizierte Opferrolle zu einem traurigen Leben führen würden. Der Neurobiologe Joachim Bauer stellt den freien Willen ins Zentrum seines Konzepts über die Selbststeuerung.6 Für ihn ist der Determinismus, der den freien Willen negiert, «eine Ideologie, die jede Initiative, Kreativität und Entschlossenheit lähmt» und die eine «Tendenz, sich in allen Belangen als Opfer [zu sehen], aber für nichts verantwortlich zu sein», sanktioniert.7 Ohne die freie Willensentscheidung, so Bauer, wäre es nicht möglich, spontane Impulse zu bremsen.8
Fakt ist, dass wir jeden Tag Tausende Entscheidungen treffen, zum grössten Teil intuitiv, aber auch nach mehr oder weniger sorgfältigem Abwägen von Optionen. Dass wir Verantwortung für unser Tun und Lassen tragen, ist Teil unseres kulturellen Selbstverständnisses. Mit Viktor E. Frankl werden wir uns noch befassen. Der renommierte Psychologe überlebte das Konzentrationslager Auschwitz und schrieb ein bewegendes Buch, in dem er nicht nur seine Erlebnisse beschrieb, sondern sie auch aus psychologischer Sicht analysierte.9 Sein Credo fasst er in einem Satz zusammen:
«Die geistige Freiheit des Menschen, die man ihm bis zum letzten Atemzug nicht nehmen kann, lässt ihn auch noch bis zum letzten Atemzug Gelegenheit finden, sein Leben sinnvoll zu gestalten.»10
Michel de Montaigne, der tiefsinnige Essayist aus dem 16. Jahrhundert, hat eine seiner Betrachtungen mit dem Titel «Schwierigkeiten steigern unser Verlangen» überschrieben. Unser Wille, schreibt er, werde erst recht erhitzt, wenn ihm etwas entgegenstehe. Einer leichten Befriedigung folge schnell der Überdruss. Angestachelt werde der Wille durch ungewöhnliche Schwierigkeiten. Auch Montaigne liefert damit eine Begründung für eine Haltung des Endlich beginnen die Schwierigkeiten. Erst die Überwindung von Hindernissen führt zu echter Befriedigung. Montaigne illustriert seine These mit der Brautschau. Ein Freier, der seine Angebetete ohne Anstrengung erobern könne, würde seiner Liebsten bald überdrüssig werden. Unnahbarkeit hingegen erwirke Hochschätzung für die Begehrte. Sättigung führe zu Überdruss, die Leidenschaft wird «stumpf und dumpf, schläfrig und schlaff». Deshalb die Empfehlung von Montaigne:
«Spann den Freier auf die Folter, sage nein;
Ohne Leiden, Galla, schläft die Liebe ein.»11
Von zwei Handlungen ist diejenige erstrebenswert, welche die grössere Belastung mit sich bringt. Auch dazu äussert sich Montaigne in Gedichtform:
«Denn umso reiner, umso heller strahlt
die Tugend uns, je teurer sie bezahlt.»12
Weshalb leisten Menschen Aussergewöhnliches? Die Forschung hat sich intensiv mit den Ursachen für überdurchschnittliche Leistungen auseinandergesetzt. Es besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass es primär drei Faktoren sind, die zum Erfolg führen: Talent, langes und systematisches Lernen und der Zufall.13
Unter Talent verstehen wir eine besondere Stärke. Schon Epiktet hat empfohlen, das zu tun, worin man tüchtig sein wolle.14 Um ein Talent ausschöpfen zu können, muss man es zuerst entdecken, und das ist nicht immer einfach. Für die Psychologin Carol Dweck hängt das Erkennen von Potenzialen mit dem Selbstbild eines Menschen zusammen. Sie hat dafür ein theoretisches Konstrukt entwickelt. Darunter versteht man eine Hypothese über nicht beobachtbare Vorgänge im Gehirn, also eine Art Hilfskonstruktion in Ermangelung des Wissens über die exakten Zusammenhänge. Dweck sieht ihr Konstrukt durch zwanzigjährige Forschungsarbeit bestätigt. Sie unterscheidet zwischen einem statischen und einem dynamischen Selbstbild. Bei einem statischen Selbstbild wird davon ausgegangen, dass die persönlichen Eigenschaften fest gegeben sind. Menschen mit einem dynamischen Selbstbild hingegen sind überzeugt, dass das wahre Potenzial zunächst verborgen ist und durch eigene Anstrengungen weiterentwickelt werden kann.15 Zwar kann nicht jeder ein Einstein oder Beethoven werden. Es lässt sich aber auch nicht vorhersagen, was ein Mensch durch «Jahre der Leidenschaft, Einsatz und Übung alles erreichen kann».16
Der zweite Faktor ist die Lernbereitschaft. Für das lange und systematische Lernen hat sich eine Metapher herausgebildet, von der man immer wieder hört: Zehntausend Stunden sind notwendig, um eine Sache wirklich zu beherrschen. Zehntausend Stunden haben Sie erreicht, wenn Sie fünfeinhalb Jahre lang ohne Unterbrechung jeden Tag fünf Stunden geübt haben. Das genügt aber nicht. Auch nach diesem Effort darf man mit dem Lernen nicht nachlassen und sollte dabei stets die Warnung von Kurt Tucholsky beachten: Man kann auch 35 Jahre etwas falsch machen.
Der dritte Faktor ist der Zufall. Dafür gibt es auch andere Namen: Glück oder Schicksal. Der Lebenskunstphilosoph Wilhelm Schmid spricht von «Zufallsglück».17 Da befinden wir uns wieder vor der philosophischen Frage: Vorsehung oder Eigenverantwortung? Der Volksmund hat aus der philosophischen Frage eine praktische gemacht: «Jeder ist seines Glückes eigener Schmied.» Oder: «Sein Schicksal in die Hand nehmen». In der griechischen Sage wird Sisyphos von den Göttern dazu verurteilt, einen Felsblock auf den Berg hinaufzuwälzen, von dem er immer wieder hinunterrollt. Sisyphusarbeit ist zum geflügelten Wort für sinnentleerte, nie endende Arbeit geworden. Aber auch in einer so trostlosen Situation spielen die Vorstellungen eine Rolle. «Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen», das ist das Fazit von Albert Camus in seinem Essay Der Mythos des Sisyphos. In diesem Satz komme die stoische Schicksalsverachtung des lungenkranken Autors zum Ausdruck, schreibt seine Biografin.18
Der Zufall spielt uns Gelegenheiten zu. Erkennen und ergreifen müssen wir sie selber. Das Wesentliche am Zufallsglück sei seine Unverfügbarkeit, schreibt Wilhelm Schmid. Verfügbar ist lediglich die Haltung: Offenheit beflügelt das Zufallsglück.19 Das ist auch die Ansicht des grossen Entdeckers Louis Pasteur: «Das Glück lacht denen, die vorbereitet sind.»20 In einem alten persischen Märchen entdecken die drei Prinzen von Serendip dauernd Dinge, nach denen sie gar nicht gesucht haben. Der selten verwendete Begriff «Serendipität» steht für das, was man findet, ohne dass man danach gesucht hat. Unzählige Entdeckungen und Innovationen sind Produkte des Zufalls. Was die Prinzen von Serendip und die Forscher, die durch Zufall Entdeckungen machten, verbindet, ist ihre nie versiegende Neugier.
Der Zufall spielt auch in der politischen Lehre Machiavellis eine wesentliche Rolle. Machiavelli unterscheidet zwei Arten von Zufall: Fortuna 1 kann vom Menschen beeinflusst werden. Das Instrument dafür ist die Vorbereitung, wie es in der bekanntesten aller politischen Formeln zum Ausdruck kommt: «Gouverner c’est prévoir.» Fortuna 2 ist nicht beeinflussbar. Dieser Begriff steht für das Unerwartete. Machiavelli empfiehlt dem Fürsten, in solchen Situationen des Glücks oder Pechs gelassen zu bleiben.21 Ein halbes Jahrtausend später findet der ehemalige Verteidigungsminister der USA Donald Rumsfield neue Begriffe für diese beiden Kategorien des Zufalls. Er unterscheidet die Zukunft in «the known, the known unknown» (Fortuna 1) und «the unknown unknown» (Fortuna 2). Auf «the known unknown» kann man sich vorbereiten, beim «unknown unknown» bleibt nur das Improvisieren. Wer sich auf die bekannten Unwägbarkeiten vorbereitet hat, ist auch für das Unbekannte besser gerüstet. Der renommierte Hirnchirurg Henry Marsh nennt noch einen weiteren Grund, weshalb man sich gedanklich mit allen Eventualitäten befassen sollte: «Es geht nur dann etwas schief, wenn man nicht damit rechnet.»22 Das Vorwegbedenken des Üblen ist eine alte Empfehlung der Philosophie. Sie hat einen doppelten Effekt. Wenn das Üble eintritt, trifft es uns nicht unvorbereitet. «Bleibt es aus, ist dies umso erfreulicher, und der angenehme Zustand, der gewöhnlich keiner Beachtung wert wäre, lässt sich nun bewusst geniessen.»23 Vorbereitung hilft in jedem Fall.
Nun lassen sich bereits einige Lehren ziehen. Man sollte herausfinden, was man besonders gut kann. Man muss lange und systematisch lernen und darf nie damit aufhören. Man muss neugierig sein. Man muss sich mit dem befassen, was geschehen könnte und sich darauf vorbereiten. Man muss Gelegenheiten erkennen und entschlossen ergreifen.
Das hört sich ziemlich anstrengend an. Tatsächlich steht die menschliche Natur mit diesen Einsichten in einem gewissen Konflikt. Psychologen konnten anhand von Experimenten zeigen, dass die Menschen mehr Energie einsetzen, um Verluste zu vermeiden als Gewinne zu erzielen. Dieser Konservatismus, meint der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman, sei wie eine Schwerkraft im Leben. Deshalb ist der Status quo das Mass der Dinge und die Bereitschaft zu Veränderungen im Allgemeinen gering.24 Der Kreativitätsforscher Mihaly Csikszentmihalyi nennt diese Trägheit Entropie. Das Bedürfnis nach Entspannung sei ein Überlebensmechanismus, den die Evolution in unsere Gene eingepflanzt habe. Entropie ist bei den meisten Menschen stark ausgeprägt und machtvoller als der Drang, Neues zu schaffen.25
Der Volksmund hat dieser Trägheit einen plastischen Namen gegeben: der innere Schweinehund. Die Welt sei von diesem seltsamen Tier durchdrungen, liest man. Dabei ist nicht einmal sicher, ob es den Schweinehund überhaupt gibt.26 In einem Tierlexikon findet man ihn jedenfalls nicht. Manchmal muss man zu seiner Bekämpfung drastische Mittel anwenden, so wie an der Tour de France 1997, als Udo Bölts nach stundenlanger Führungsarbeit seinem Leader Jan Ulrich zurief: «Quäl dich, du Sau!»
Der Schlüssel zur Überwindung der Entropie liegt in dem Satz: Entscheidend sind nicht die Dinge, entscheidend sind die Vorstellungen über die Dinge. Wer die Devise Endlich beginnen die Schwierigkeiten verinnerlicht, geht davon aus, dass die Zukunft voller Überraschungen steckt, und hat sich gedanklich mit den möglichen Hürden auseinandergesetzt. Wenn der Moment der Prüfung gekommen ist, steht er nicht wie das Kaninchen vor der Schlange, sondern ist bereit, die Herausforderung anzunehmen. Endlich erhält man die Gelegenheit zu zeigen, was man kann.
Jack London schildert in seinen Alaska-Erzählungen mit grosser Sprachkraft, wie Menschen in einer lebensfeindlichen Umgebung überleben und warum andere untergehen. Entscheidend ist die Fähigkeit zur Anpassung. Wer sie besitzt, dem bereitet das Neue sogar Vergnügen. «Für diejenigen aber, die die ausgefahrenen Gleise ihres Lebens noch nie verlassen haben, ist der Druck der fremden Umgebung unerträglich und sie reiben sich seelisch und körperlich an den neuen Fesseln wund, die sie nicht verstehen.»27 Der Schauspieler Carlos Leal hat die Komfortzone Schweiz verlassen, um sich im extrem kompetitiven Markt in Kalifornien durchzusetzen. Was er darüber sagt, hört sich an wie Jack London: «Man muss sich die Unsicherheit zum Partner machen, zum Freund – sonst wird sie zum Feind. Und wenn Unsicherheit der Feind ist, muss man aufhören und etwas anderes machen.»28
Als Felskletterer habe ich erlebt, wie mächtig die Vorstellungen sind. Man liest Routenbeschreibungen und stellt sich die Schwierigkeiten vor. In der Nacht vor dem Anstieg schläft man unruhig. Angst mischt sich in die Träume. Während des Kletterns reduziert sich die Welt auf einen Mikrokosmos. Wenn man spürt, dass man die Schwierigkeiten im Griff hat, legt sich die Nervosität, aber eine gewisse Unruhe bleibt, es gibt noch so viele Hindernisse bis zum Gipfel. Wenn der Gipfel erreicht ist, fällt die Spannung ab. Genau dann wird es gefährlich, es steht ja noch ein langer Abstieg bevor. Nicht wenige Spitzenkletterer sind bei leichten Abstiegen ums Leben gekommen. Ich habe gelernt: Man muss sich darauf einstellen, dass der Gipfel bloss ein Zwischenziel und der Abstieg voller Gefahren ist. Beim Absteigen kommt der Moment, wo man die Gefahrenzone verlässt und sich des Seils entledigt. Immer wieder habe ich erlebt, dass eben dann die Konzentration nachlässt und ein Stolperer dem anderen folgt. Deshalb muss man sich die Vorstellung einprägen, dass das Ziel erst erreicht ist, wenn man endgültig auf dem sicheren Boden steht. Dann erst sollte man sich Entspannung und Euphorie gestatten.
Diesen Geschichten kann man zweierlei entnehmen. Die Vorstellungen über die Dinge entscheiden nicht nur über Erfolg und Misserfolg, sondern unter Umständen auch über Leben und Tod. Und man kann diese Vorstellungen beeinflussen. «Ob wir etwas als Wohltat oder Übel empfinden, hängt weitgehend von unserer Einstellung ab.»29 Dieser Satz ist etwa fünfhundert Jahre alt. Und genau so aktuell wie damals.
Wer in den Bergen unterwegs ist, weiss, wie schnell sich die Verhältnisse verändern können. Urplötzlich wird das, was man als schön empfunden hat, bedrohlich, unter Umständen lebensbedrohend. Die äusseren Umstände lassen sich nicht kontrollieren. Es kommt darauf an, wie man unter den veränderten Bedingungen reagiert. Psychologen sind aufgrund von Beobachtungen und Experimenten zum Schluss gekommen, dass unkontrollierbare Ereignisse zu Hilflosigkeit führen können. Die betroffenen Personen sind nicht mehr in der Lage, willentlich zu reagieren. Einmal habe ich eine solche Situation erlebt. Ich hatte mich weit oben in einer steilen Dolomitenwand verstiegen. Der letzte, schlechte Sicherungshaken steckte mindestens zehn Meter unter mir. Es gab nur eine Lösung: hinunterklettern, was im steilen Gelände ungleich schwieriger ist als hinaufzuklettern. Ich spürte die Panik hochsteigen. Einen kurzen Moment lang kämpfte Panik gegen Konzentration. Dann fokussierte sich mein Bewusstsein auf die nächsten Bewegungen, und ich stieg sicher ab.
Laborexperimente mit Hunden und Ratten haben gezeigt, dass die Hilflosigkeit verstärkt wird, wenn willentliche Handlungen keine Auswirkungen haben. Hunde, die über längere Zeit Stromschlägen ausgesetzt wurden, reagierten auch in Situationen, die sie hätten beeinflussen können, nicht mehr. Aufgrund dieser Erkenntnisse entwickelte der amerikanische Psychologe Martin E. P. Seligman ein Erklärungsmodell, das er «erlernte Hilflosigkeit» nannte. Diese Hilflosigkeit beeinträchtigt die Motivation zu reagieren.30 «Ein zum ersten Mal erlebtes traumatisches Erlebnis verursacht einen Zustand gesteigerter emotionaler Erregung, den man grob als Furcht bezeichnen kann. Dieser Zustand dauert an, bis eine von zwei Möglichkeiten eintritt: wenn das Individuum lernt, dass es die traumatischen Bedingungen kontrollieren kann, wird die Furcht abgebaut und kann völlig verschwinden; oder wenn das Individuum auf die Dauer lernt, dass es die traumatischen Bedingungen nicht kontrollieren kann, wird die Furcht abnehmen und durch Depression ersetzt.»31 Weil «der Zustand der Hilflosigkeit Furcht und Depression auslöst, dient jede Aktivität, die Hilflosigkeit vermeidet, gleichzeitig der Vermeidung dieser unangenehmen emotionalen Zustände.»32 Dieses Erklärungsmodell für Depressionen ist nicht unumstritten. Die Theorie der erlernten Hilflosigkeit zeigt aber, wie wichtig es ist, in schwierigen Situationen nicht in Passivität zu versinken. Das probateste Mittel zur Vermeidung von erlernter Hilflosigkeit ist die systematische Vorbereitung auf alle Eventualitäten. Man kann die Theorie der erlernten Hilflosigkeit deshalb durchaus als eine wissenschaftliche Begründung für eine Haltung des Endlich beginnen die Schwierigkeiten auffassen.
Wir sind Kinder der Aufklärung. Unser Bildungssystem basiert auf Vernunft. Früher hätte man gesagt, für diese sei ausschliesslich die linke Gehirnhälfte massgeblich, die für rationale Überlegungen zuständig ist (im Gegensatz zur rechten Gehirnhälfte, die emotionale Vorgänge steuert). Mittlerweile ist dieses Hemisphärenmodell in der Wissenschaft umstritten. Wie dem auch sei; wenn man den in der Schweiz neu konzipierten Lehrplan 21 konsultiert, so findet man dort 363 Kompetenzen und 2304 Kompetenzstufen. Die Kompetenz, seine Vorstellungen über die Dinge zu steuern, befindet sich nicht darunter. Das, was Epiktet das Herrlichste und Erhabenste nennt, wird in unserer Ausbildung immer noch vernachlässigt. Im Lehrgebäude der Antike standen die Disziplinen Logik, Dialektik und Rhetorik im Zentrum. In der Rhetorik wurde nicht nur auf Beherrschung der rational-logischen Argumentation Wert gelegt, sondern auch auf die Kenntnis der Psyche, die «Wirkung auf die Seele».33 Deshalb wird «eine grosse Seele» als Quelle «erhabener Sprachkunst» bezeichnet.34
Vielleicht liegt der Grund für die Konzentration des abendländischen Bildungssystems auf die logisch-rationale Dimension gerade im Begriff der Seele. Es gibt kaum ein Wort, über das seit Jahrtausenden so intensiv und kontrovers diskutiert wird. Sicher ist nur, dass sich die Seele dem wissenschaftlichen Zugriff entzieht. Kein Chirurg hat sie je gesehen. «Die unsterbliche Seele ist höchst unwahrscheinlich. Bewusstsein und Empfindungen fühlen sich zwar für uns im Alltag nicht wie Elektrochemie an. Aber die Neurowissenschaft sagt uns, dass sie nichts anderes sind.»35 In einem vorweihnachtlichen Gespräch unterhalten sich ein Naturwissenschaftler und ein Theologe über diese Frage. «Gefühle sind eine molekulare Interaktion», meint der Astrophysiker. Der Theologe widerspricht vehement, Gedanken und Gefühle seien mit einem solchen Modell nicht zu begreifen.36 Die Seele sei jedenfalls kein biologischer oder gar physikalischer Begriff, meint ein Ordinarius für klinische Psychiatrie. Wissenschaftlich sei der Ausdruck unbrauchbar und doch vertrete er eine Dimension, die für die Lebensführung genauso wichtig sei wie die naturwissenschaftliche Beobachtung.37
Aristoteles stellte der Seele den Geist zur Seite. Im Gegensatz zur Seele, die angeboren sei, werde der Geist von aussen beeinflusst. Obwohl in der Umgangssprache dauerpräsent, ist der Geist definitorisch ebenso schwer zu fassen wie die Seele. Da hilft auch die Umschreibung im Duden nicht recht weiter:
«1. Mensch im Hinblick auf seine geistigen Eigenschaften.
2. Durch bestimmte Eigenschaften des Wirkens oder Sichverhaltens charakterisierter Mensch.
3. Geistige Wesenheit.
4. Gespenst, Spukgestalt.»
Immerhin besteht Einigkeit darüber, dass das, was wir unter Geist verstehen, im Gehirn angesiedelt ist. Und das ist die Krux. «Das Gehirn ist vermutlich nicht das komplexeste Gebilde des Universums. Aber bekannt ist uns kein komplexeres.»38 Dieses einleitende Statement auf einer Webpage über das Hirn bringt es auf den Punkt. Trotz intensivster Forschung ist das menschliche Gehirn immer noch weitgehend eine Terra incognita. Dass allein die menschliche Netzhaut etwa 125 Millionen Stäbchen und Zapfen sowie eine Million Ganglienzellen enthält, zeigt, wie unendlich komplex die Gehirnstruktur ist. Deshalb kommt der Neurochirurg Henry Marsh zu dem Schluss, die wichtigste Erkenntnis der Neurowissenschaft sei, wie wenig man wirklich wisse. Die Wissenschaft könne nicht ansatzweise erklären, wie Bewusstsein entsteht.39
Diese Komplexität limitiert die Möglichkeiten der Beobachtung und Durchführung von Experimenten. Deshalb behelfen sich Psychologie und Neurobiologie mit theoretischen Konstrukten. Auch das Modell über die Funktionen von rechter und linker Gehirnhälfte ist ein solches Konstrukt, das allerdings «auf einer äusserst dünnen Faktenlage»40 beruht und entsprechend angezweifelt wird. Der zitierte Neurobiologe Joachim Bauer hat seinem Buch ein anderes Konstrukt zugrunde gelegt. Er unterscheidet zwei Fundamentalsysteme: das von unten her agierende Trieb- oder Basissystem und den im Stirnhirn sitzenden präfrontalen Cortex (PFC). Dort sitzt gemäss Bauer der freie Wille. «Der Präfrontale Cortex ist eine aus mehreren Funktionsmodulen bestehende Wunderkiste.»41 Er soll die Aufmerksamkeit, das Gedächtnis, die Flexibilität, soziale Intelligenz sowie die Fähigkeit, innere Bilder zu entwickeln, steuern. Rechts und links wird hier also durch unten und oben ersetzt. Diese Sichtweise bleibt ebenfalls ein Konstrukt, auch wenn sie von vielen Autoren geteilt wird.42 Im PFC, auch Frontallappen genannt, werden die exekutiven Funktionen verortet. Das sind die Gehirnfunktionen, «die es uns ermöglichen, Gedanken, Impulse, Handlungen und Emotionen zielgerichtet und absichtsvoll zu steuern».43
Grosse Popularität hat ein Konstrukt von Sigmund Freud erlangt. Er gliederte den Geist in die drei Instanzen Ich, Es und Über-Ich. Das Ich hat Zugang zum System, das über Sinneseindrücke Wahrnehmungen erzeugt und das Bewusstsein hervorbringt. Es ist für das rationale Handeln zuständig. Das Es agiert unbewusst. Ihm entspringen die instinktiven Triebe. Das Über-Ich ist eine überwiegend unbewusste Instanz der moralischen Werte.44 «Diese Aufteilung ist ganz brauchbar zur Beschreibung des Verhaltens. Jeder kann sie leicht nachvollziehen. Das Ich fragt: Soll ich noch ein Stück Torte nehmen? Das Es antwortet: Lecker, hau rein! Das Über-Ich sagt: Denk ans Cholesterin. Und das Ich nimmt dann ein halbes Stück.»45 Der Charme dieses Modells liegt in der Nachvollziehbarkeit des inneren Kräftespiels, das wir alle kennen. Wissenschaftlich sind Freuds Thesen allerdings umstritten.
46