Das Buch
Was macht das Leben eines Schriftstellers aus? Mit dem Welterfolg Der Spion, der aus der Kälte kam gab es für John le Carré keinen Weg zurück. Er kündigte seine Stelle im diplomatischen Dienst, reiste zu Recherchezwecken um den halben Erdball – Afrika, Russland, Israel, USA, Deutschland –, traf die Mächtigen aus Politik- und Zeitgeschehen und ihre heimlichen Handlanger. John le Carré ist bis heute ein exzellenter und unabhängiger Beobachter, mit untrüglichem Gespür für Macht und Verrat. Aber auch für die komischen Seiten des weltpolitischen Spiels. In seinen Memoiren blickt er zurück auf sein Leben und sein Schreiben.
Der Autor
John le Carré, 1931 geboren, studierte in Bern und Oxford. Er war Lehrer in Eton und arbeitete während des Kalten Kriegs kurze Zeit für den britischen Geheimdienst. Seit nunmehr fünfzig Jahren ist das Schreiben sein Beruf. Er lebt in London und Cornwall.
JOHN LE CARRÉ
Der Taubentunnel
GESCHICHTEN AUS MEINEM LEBEN
Aus dem Englischen
von Peter Torberg
ULLSTEIN
Die Originalausgabe erschien 2016
unter dem Titel The Pigeon Tunnel
bei Viking, einem Imprint
von Penguin Random House UK, London
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ISBN 978-3-8437-1342-9
2. Auflage 2016
© 2016 by David Cornwell
© der deutschsprachigen Ausgabe
2016 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Umschlaggestaltung: Sabine Wimmer, Berlin
Umschlagfoto: Anton Corbijn
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Vorwort
Fast allen meinen Büchern habe ich irgendwann einmal den Arbeitstitel Der Taubentunnel gegeben. Wie es dazu kam, ist schnell erklärt. Ich war noch ein halbes Kind, als mein Vater beschloss, mich auf einen seiner Ausflüge nach Monte Carlo mitzunehmen, wo er seiner Spielleidenschaft frönte. In der Nähe des alten Casinos lag der Sportclub, und auf dessen Gelände gab es eine Schießanlage, die aufs Meer hinausging. Unter einer der Grünflächen waren parallel zueinander Rohre verlegt worden, die zur See hin an die Oberfläche führten. In diese Tunnel wurden nun Tauben geschickt, die auf dem Dach des Casinos ausgebrütet und dort in einem Schlag gehalten worden waren. Sie mussten durch den stockfinsteren Tunnel flattern, bis sie in den mediterranen Himmel aufstiegen, als Ziel für die Gentlemen, die zuvor gut gegessen hatten und nun stehend oder liegend mit ihren Schrotflinten warteten. Die Tauben, die nicht oder nur leicht getroffen waren, taten das, was Tauben im Allgemeinen tun. Sie kehrten in den Schlag auf dem Casinodach zurück, wo sie geschlüpft waren, und alles begann von neuem.
Warum dieses Bild mir nun schon so lange nachgeht, können Sie als Leser womöglich besser beurteilen, als ich es kann.
John le Carré,
Januar 2016
Einleitung
Ich sitze an meinem Schreibtisch im Souterrain des kleinen Chalets, das ich mir mit den Erlösen aus meinem Buch Der Spion, der aus der Kälte kam in einem Bergdorf in der Schweiz gebaut habe. Es liegt neunzig Zugminuten entfernt von Bern, jener Stadt, in die ich mit sechzehn aus meiner englischen Privatschule floh und wo ich mich an der Universität einschrieb. An den Wochenenden strömten wir jungen Männer und Frauen ins Oberland hinauf, um in Berghütten zu kampieren und bis zum Umfallen Ski zu fahren. Soweit ich mich erinnere, waren wir die Bravheit in Person, die Studenten schliefen auf der einen Seite, die Studentinnen auf der anderen, und niemals kamen wir miteinander in Berührung. Falls doch, ich war jedenfalls nicht dabei.
Das Chalet befindet sich hoch über dem Dorf. Wenn ich den Kopf in den Nacken lege, sehe ich durch das Fenster die Berggipfel von Eiger, Mönch und Jungfrau weit über mir; am schönsten aber ist der Blick auf das Silberhorn und das Kleine Silberhorn in halber Höhe: zwei sich malerisch zuspitzende Eiskegel, die in regelmäßigen Abständen unter dem Föhnwind ergrauen, nur um Tage später wieder ihre hochzeitlich weiße Pracht anzulegen.
Zu unseren örtlichen Schutzpatronen zählen wir den Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy, dem man auf Schritt und Tritt begegnet – ja, es gibt auch einen Mendelssohn-Wanderweg –, Johann Wolfgang Goethe, auch wenn er es wohl nur bis zu den Wasserfällen im Lauterbrunnental geschafft haben dürfte, und Lord George Byron. Letzterer drang bis zur Wengernalp vor, die er furchtbar fand, und wetterte, der Anblick der von Stürmen verwüsteten Wälder »erinnerte mich an mich selbst und meine Familie«.
Besonders verehrt wird aber zweifellos Ernst Gertsch, der dem Dorf Ruhm und Reichtum brachte, als er 1930 das erste Lauberhornrennen veranstaltete und dort selbst den Slalom gewann. Ich war mal verrückt genug, an einem solchen Rennen teilzunehmen, und erlitt, wie nicht anders zu erwarten, aus Unvermögen und purer Angst eine Schlappe. Meinen Nachforschungen zufolge beließ es Gertsch nicht bei der Rolle als Vater dieses Skirennens, sondern erfand später die Stahlkanten an den Skiern und die Plattenbindung, wofür wir ihm alle dankbar sein sollten.
Es ist Mai, wir haben also in einer Woche das Wetter eines ganzen Jahres: gestern einen halben Meter Neuschnee, doch gab es nicht einen einzigen Skifahrer, der ihn hätte genießen können; heute klarer Himmel und eine sengende Sonne; der Schnee ist schon fast wieder geschmolzen, und die Frühlingsblumen melden sich zurück. Heute Abend wiederum marschierten paynesgraue Gewitterwolken das Lauterbrunnental hinauf wie einst Napoleons Grande Armée.
Ihnen wird sich wohl der Föhn anschließen, der uns in den letzten Tagen verschont hat, Himmel, Almen und Wälder werden alle Farbe verlieren, das Chalet knarzt und ruckelt, und der Qualm des Feuers zieht nicht ab, sondern quillt aus dem Kamin auf den Teppich, für den wir an einem regnerischen Nachmittag in Interlaken in jenem schneelosen Winter anno dazumal zu viel bezahlt haben; das Klappern und Hupen aus dem Tal hört sich an wie mürrische Protestrufe, und die Vögel können ihre Nester nicht verlassen, mit Ausnahme der Alpendohlen, die sich von nichts und niemandem etwas vorschreiben lassen. Fahren Sie bei Föhn nur ja nicht Auto, machen Sie niemals einen Heiratsantrag. Wenn Sie Kopfschmerzen haben oder gar den Drang verspüren, Ihren Nachbarn umzubringen, keine Sorge. Sie haben keinen üblen Kater, es liegt am Föhn.
Das kleine Chalet nimmt in meinem nun 84 Jahre währenden Leben einen Raum ein, der in keinem Verhältnis zu seiner realen Größe steht. In den Jahren vor seinem Bau kam ich als junger Mann in dieses Dorf, um im Winter auf Skiern aus Esche oder Hickory zu fahren, mit Seehundfellen unter den Brettern bergauf zu steigen und mit Lederbindungen wieder hinunterzugleiten, und um im Sommer mit Vivian Green, meinem weisen Ziehvater aus Oxford, durch die Berge zu wandern. Green, der spätere Rektor des Lincoln College, diente mir als Vorbild für das Seelenleben George Smileys.
Es ist also kein Zufall, dass Smiley seine Schweizer Alpen ebenso sehr liebte wie Vivian Green, dass er, wie Vivian, Trost in der Natur fand oder, wie ich, eine lebenslange, widersprüchliche Beziehung zur deutschen Muse hegte.
Vivian war es, der mein jugendliches Geschwafel über meinen unberechenbaren Vater Ronnie über sich ergehen ließ; und wenn mein Vater mal wieder eine seiner größeren Pleiten hinlegte, war er es, der das nötige Geld auftrieb und mich drängte, auf jeden Fall zu Ende zu studieren.
In Bern lernte ich den Nachkommen der ältesten Hoteliersfamilie im Oberland kennen. Ohne seinen Einfluss hätte ich später niemals die Erlaubnis erhalten, das Chalet überhaupt zu bauen, denn damals wie heute ist es Ausländern untersagt, auch nur das kleinste Fleckchen Land in meinem Dorf zu besitzen.
Meine allerersten Schritte im britischen Geheimdienst unternahm ich ebenfalls in Bern und überbrachte ich weiß nicht was ich weiß nicht wem. Heute frage ich mich manchmal, was wohl aus mir geworden wäre, wenn ich nicht aus der Privatschule weggelaufen wäre oder eine andere Himmelsrichtung eingeschlagen hätte. Heute kommt es mir so vor, als sei alles, was mir später im Leben widerfahren ist, aus dieser einen im jugendlichen Überschwang getroffenen Entscheidung erwachsen, England auf dem kürzesten Weg zu verlassen und die deutsche Muse als Ersatzmutter anzunehmen.
Ich war kein Schulversager, ganz im Gegenteil: Anführer in vielem, mit Schulpreisen ausgezeichnet, hatte ich das Zeug zum Vorzeigeschüler. Und der Ausstieg ging sehr diskret vonstatten. Ich tobte nicht, ich brüllte nicht herum. Ich sagte nur: »Vater, du kannst machen, was du willst, aber ich gehe nicht zurück.« Sehr wahrscheinlich gab ich der Schule – und England gleich dazu – die Schuld an meinem Kummer, dabei war mein eigentliches Motiv wohl, mich um jeden Preis dem Einfluss meines Vaters zu entziehen, aber das konnte ich ihm nicht ins Gesicht sagen. Seither habe ich die gleiche Erfahrung mit meinen eigenen Kindern gemacht, wenn sie auch sehr viel eleganter vorgingen und erheblich weniger Wirbel verursachten.
Das alles beantwortet aber noch lange nicht die zentrale Frage, welchen Verlauf mein Leben sonst genommen hätte. Wäre ich an einem anderen Ort als Bern jemals vom britischen Geheimdienst angeworben worden, um als Botenjunge das zu tun, was man in der Branche ›alles Mögliche‹ nennt? Ich hatte Somerset Maughams Ashenden damals noch nicht gelesen, aber ganz sicher Rudyard Kiplings Kim und jede Menge chauvinistischer Abenteuergeschichten von G. A. Henty und seinesgleichen. Dornford Yates, John Buchan und Rider Haggard waren über jeden Zweifel erhaben.
Natürlich war ich gerade mal vier Jahre nach Kriegsende der größte britische Patriot, den man sich nur vorstellen kann. In meiner Schulzeit hatten wir Jungen uns einen Sport daraus gemacht, in unseren Reihen deutsche Spione zu entdecken, und ich galt als guter Agent der Spionageabwehr. In der Privatschule dann blieb unser patriotischer Eifer ungebrochen. Zwei Mal in der Woche hatten wir »Corps«-Militärtraining in voller Montur. Unsere jungen Lehrer waren gebräunt aus dem Krieg heimgekehrt und trugen an den »Corps«-Tagen ihre Ordensbänder. Mein damaliger Deutschlehrer berichtete aus einem wunderbar geheimnisvollen Krieg. Unsere Berufsberater bereiteten uns auf den lebenslangen Einsatz auf weit entfernten Außenposten des britischen Königreichs vor. Die Abtei im Zentrum unserer Kleinstadt hing voller Regimentsfahnen, die in den Kolonialkriegen in Indien, Südafrika und dem Sudan zu Fetzen zerschossen und dann von liebevoller, weiblicher Hand zu altem Glanz zurückgeführt worden waren.
Es ist also nicht weiter überraschend, dass der siebzehnjährige englische Student, der an einer ausländischen Universität eine Gewichtsklasse über der eigenen boxte, strammstand und »Zu Ihren Diensten, Ma’am!« sagte, als ihn der Ruf in Gestalt einer eher mütterlichen Dreißigjährigen namens Wendy aus der Visaabteilung der britischen Botschaft in Bern ereilte.
Weniger einfach zu erklären ist meine völlige Hingabe an die deutsche Literatur, und das zu einer Zeit, als für viele Menschen schon allein das Wort Deutsch ein Synonym für das Böse an sich war. Doch wie schon die Flucht nach Bern, bestimmte auch diese Hingabe meinen weiteren Lebensweg. Ohne sie hätte ich Deutschland 1949 nicht auf Drängen meines geflohenen jüdischen Deutschlehrers besucht, nicht die dem Erdboden gleichgemachten Städte an der Ruhr gesehen oder hundeelend auf einer alten Wehrmachtsmatratze in einem deutschen Notlazarett in einem Berliner U-Bahnhof gelegen; ich hätte auch nicht die Konzentrationslager in Dachau und Bergen-Belsen aufgesucht, in denen der Gestank noch immer in den Baracken stand, um dann in die gelassene Beschaulichkeit Berns zurückzukehren, zurück zu meinem Thomas Mann und meinem Hermann Hesse. Ganz sicher hätte ich für meinen nationalen Sicherheitsdienst keine Spionageaufgaben im besetzten Österreich übernommen, weder hätte ich deutsche Literatur und Sprache in Oxford studiert und beides später in Eton unterrichtet, noch wäre ich unter dem Deckmantel eines angehenden Diplomaten an die britische Botschaft in Bonn versetzt worden, und ich hätte wohl auch keine Romane mit deutschen Themen geschrieben.
Die Früchte dieses frühen Versenkens in alles Deutsche habe ich nun klar vor Augen. So hatte ich mein ureigenes vielschichtiges Terrain zu beackern; es befeuerte meine unheilbar romantische Ader und meine Liebe zur Lyrik; es weckte in mir die Vorstellung, dass die Reise des Menschen von der Wiege bis zur Bahre die einer nicht endenden Wissensaneignung ist – nicht sonderlich originell und möglicherweise auch fragwürdig, aber so war es nun mal. Als ich dann die Dramen von Goethe, Lenz, Schiller, Kleist und Büchner studierte, fiel mir auf, dass ich ihre klassische Strenge und den neurotischen Überschwang ebenfalls sehr gut nachvollziehen konnte. Der Trick, so schien es mir, bestand darin, das eine hinter dem anderen zu verbergen.
Das Chalet ist nun bald fünfzig Jahre alt. Jeden Winter kamen die Kinder, als sie heranwuchsen, zum Skifahren her, und hier erlebten wir gemeinsam die schönsten Zeiten. Manchmal blieben wir bis in den Frühling. Hier war ich auch im Winter 1967, wenn ich mich recht erinnere, für vier höchst amüsante Wochen in Klausur mit Sydney Pollack (dem Regisseur von Tootsie, Jenseits von Afrika und – mein Lieblingsfilm von ihm – Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss), in denen wir ein Drehbuch nach meinem Roman Eine kleine Stadt in Deutschland zusammenzuzimmern versuchten.
In jenem Winter war der Schnee einfach perfekt. Sydney war noch nie Ski gefahren und noch nie in der Schweiz gewesen. Der Anblick der fröhlichen Skifahrer, die ganz lässig an unserem Balkon vorbeisausten, war unwiderstehlich. Er musste es selbst versuchen, und zwar auf der Stelle. Er wollte, dass ich es ihm beibrachte, doch Gott sei Dank rief ich stattdessen Martin Epp an: Skilehrer, legendärer Bergführer, einer der wenigen, die die Eiger-Nordwand allein bezwungen haben.
Der berühmte Filmregisseur aus South Bend, Indiana, und der berühmte Bergsteiger aus Arosa verstanden sich auf Anhieb. Sydney tat nichts halbherzig. Nach wenigen Tagen war er bereits ein ordentlicher Skifahrer. Schnell erwachte in ihm auch der Wunsch, einen Film über Martin Epp zu drehen, was seine ursprüngliche Idee, Eine kleine Stadt in Deutschland zu verfilmen, bald überlagerte. Der Eiger selbst sollte Schicksal spielen. Ich sollte das Drehbuch schreiben, Martin würde sich selbst spielen, und Sydney würde ihn, auf halber Höhe des Eiger abgeseilt, selbst filmen. Er rief seinen Agenten an und erzählte ihm von Epp. Er rief seinen Analysten an und erzählte ihm von Epp. Die Schneeverhältnisse blieben weiter so perfekt, und Sydney verausgabte sich beim Skifahren. Wir entschieden, die beste Zeit zum Schreiben sei abends nach einem Bad. Ob das nun stimmte, sei dahingestellt, jedenfalls wurde keiner der beiden Filme jemals gedreht.
Später überließ Sydney für mich etwas überraschend das Chalet Robert Redford, der Erkundungen für seinen Film Schussfahrt anstellen wollte. Leider lernte ich ihn nie kennen, doch eilte mir einige Jahre lang bei jedem Besuch im Dorf der Ruf voraus, mit Robert Redford befreundet zu sein.
Ich werde Ihnen in diesem Buch wahre Geschichten nach meiner Erinnerung erzählen, so wie diese – Sie können also mit Fug und Recht fragen, was ist für einen Schriftsteller an seinem Lebensabend, um es taktvoll auszudrücken, denn Wahrheit, was Erinnerung? Für den Juristen besteht die Wahrheit aus ungeschminkten Tatsachen. Ob sich solche Tatsachen jemals finden lassen, ist eine andere Frage. Für den Schriftsteller sind Fakten das Rohmaterial, nicht sein Lehrmeister, sondern sein Instrument, und seine Aufgabe besteht darin, dieses Instrument zum Klingen zu bringen. Die eigentliche Wahrheit ist, wenn überhaupt, nicht schwarz oder weiß, sondern verbirgt sich in den Nuancen.
Hat es jemals so etwas wie ein absolutes Gedächtnis gegeben? Ich bezweifle es. Selbst wenn wir uns einreden, wir seien unvoreingenommen und würden uns nur an die nackten Tatsachen halten, ohne diese zum eigenen Vorteil zu schönen oder etwas auszulassen, ist so etwas wie das absolute Gedächtnis so schlecht zu packen wie ein Stück nasser Seife. Zumindest gilt das für mich, schließlich habe ich mein ganzes Leben damit verbracht, Erfahrungen mit Erfundenem zu mischen.
Hier und da, wo es mir sinnvoll erschien, habe ich Gesprächsfetzen oder Auszüge aus Zeitungsartikeln übernommen, die ich vor langer Zeit geschrieben habe, weil ihre Frische mir gefällt und mir das Gedächtnis nichts Vergleichbares liefern konnte; wie zum Beispiel meine Beschreibung von Wadim Bakatin, dem ehemaligen Chef des KGB. In anderen Fällen habe ich einen Artikel fast so belassen, wie ich ihn damals geschrieben habe, ihn nur hier und da überarbeitet und ab und zu eine Bemerkung angefügt, um mich klarer auszudrücken oder etwas auf den neuesten Stand zu bringen.
Ich setze bei meinem Leser keine große Kenntnis meiner Romane voraus – eigentlich gar keine, um ehrlich zu sein, deshalb findet sich unterwegs der eine oder andere erklärende Abschnitt. Doch auf eines können Sie sich verlassen: An keiner Stelle habe ich bewusst ein Ereignis oder eine Geschichte verfälscht. Verschleiert, wenn nötig. Verfälscht, auf gar keinen Fall. Und wo immer meine Erinnerung mich trügen könnte, räume ich dies auch ein. Eine vor kurzem veröffentlichte Biographie über mich widmet sich kurz ein, zwei der Geschichten, die auch in diesem Buch vorkommen. Es war mir, ehrlich gesagt, ein Vergnügen, sie selbst zu erzählen und sie, so gut ich kann, mit meinen eigenen Empfindungen auszustatten.
Manche Geschichten haben mit den Jahren eine Bedeutung bekommen, die mir in ihrer Zeit nicht bewusst war, zum Beispiel durch den Tod eines der Beteiligten. Mein ganzes langes Leben lang habe ich kein Tagebuch geführt, sondern mir nur hier und da Reisenotizen gemacht oder unwiederbringliche Zeilen aus Gesprächen notiert, wie zum Beispiel in meinen Tagen mit Jassir Arafat, dem Vorsitzenden der PLO, vor seiner Ausweisung aus dem Libanon; später dann auch von meinem ergebnislosen Besuch in seinem weißen Hotel in Tunis. Mehrere Mitglieder seines Oberkommandos, die ein paar Meilen entfernt von ihm in dieser Stadt einquartiert waren, wurden ein paar Wochen nach meiner Abreise von einem israelischen Kommando ermordet.
Einflussreiche Männer und Frauen haben mich angezogen, weil ich wissen wollte, wie sie tickten. In ihrer Gegenwart jedoch scheine ich, im Nachhinein betrachtet, nur weise genickt, den Kopf an den richtigen Stellen geschüttelt und ein, zwei witzige Bemerkungen gemacht zu haben, um die Atmosphäre aufzulockern. Erst hinterher, wieder zurück in meinem Hotelzimmer, habe ich meinen übel zugerichteten Notizblock hervorgeholt und versucht zu verstehen, was ich gehört und gesehen hatte.
Alles andere hastig Hingeschriebene, das von meinen Reisen übriggeblieben ist, stammt größtenteils nicht von mir, sondern von meinen Romanfiguren, die ich zum Schutz mitgenommen hatte, als ich mich in die Welt hinauswagte. Diese Notizen erzählen ihre Sicht der Dinge, nicht meine, in ihren Worten. Als ich mich in einem Unterstand am Mekong zusammenkauerte und zum ersten Mal hörte, wie die Kugeln in das schlammige Ufer über mir einschlugen, da war es nicht meine zitternde Hand, die meine Entrüstung darüber einem zerschlissenen Notizbuch anvertraute, sondern die Hand meines mutigen fiktiven Helden, des Sportberichterstatters Jerry Westerby, für den es zum Alltag gehörte, beschossen zu werden. Ich dachte erst, ich sei da anders als andere, bis ich einen gefeierten Kriegsfotografen kennenlernte, der mir gestand, dass seine Riesenangst erst dann verschwand, wenn er durch den Sucher seiner Kamera schaute.
Ich persönlich wurde meine Riesenangst nie los. Aber ich weiß, was er meinte.
Falls Sie jemals das Glück haben, recht früh in Ihrer Karriere als Schriftsteller einen Erfolg zu landen, wie mir das mit Der Spion, der aus der Kälte kam gelang, dann wird es für den Rest Ihres Lebens ein Vorher und ein Nachher geben. Schauen Sie auf die Bücher zurück, die Sie geschrieben haben, bevor die Suchscheinwerfer Sie erfasst haben, dann lesen sie sich wie Bücher aus den Tagen der Unschuld, die Bücher danach jedoch wie die Bemühungen eines Mannes im Rampenlicht. »Allzu bemüht«, schreien die Kritiker dann. Ich fand nie, dass ich mich allzu sehr bemüht hätte. Ich dachte, ich sei es meinem Erfolg schuldig, das Beste zu geben, und im Großen und Ganzen tat ich das auch, ganz gleich, wie gut oder schlecht das Beste nun war.
Und ich liebe das Schreiben. Ich liebe zu tun, was ich gerade tue: wie jemand, der untergetaucht ist, früh an einem wolkenverhangenen Maimorgen an einem winzigen Schreibtisch zu sitzen und vor mich hin zu kritzeln, während der Bergregen am Fenster hinunterströmt und es keinen Grund gibt, mit dem Regenschirm zur Bahnstation hinunterzustapfen, denn die International New York Times trifft erst gegen Mittag ein.
Ich liebe es, unterwegs in Notizbücher zu schreiben, beim Wandern, in Eisenbahnen und Cafés, um dann nach Hause zu eilen und meine Beute durchzusehen. Bin ich in Hampstead Heath, dann ist mir eine bestimmte Bank unter einem ausladenden Baum auf der Heide die liebste, abseits der anderen Bäume, und dort schreibe ich auch wirklich gern. Und immer mit der Hand. Es mag etwas arrogant wirken, aber ich ziehe es vor, der jahrhundertealten Tradition des Schreibens mit Stift und Papier treu zu bleiben. Der verkümmerte grafische Künstler in mir hat sein Vergnügen daran, die Wörter zu zeichnen.
Am Schreiben liebe ich es vor allem, ungestört zu sein, deshalb trete ich nicht auf Literaturfestivals auf und halte mich so weit wie möglich von Interviews fern, auch wenn es anders scheinen mag. Es gibt Augenblicke, meist in der Nacht, da wünschte ich mir, ich hätte nie ein Interview gegeben. Erst erfindet man sich selbst, dann glaubt man an die eigene Erfindung. Dieser Vorgang ist mit Selbsterkenntnis nicht vereinbar.
Dass ich im richtigen Leben einen anderen Namen trage, schützt mich ein wenig bei meinen Recherchen. Ich kann ein Hotelzimmer buchen, ohne mir Sorgen darum machen zu müssen, ob jemand meinen Namen kennt. Und wenn nicht, muss ich mich auch nicht darum sorgen, warum nicht. Wenn ich jedoch gezwungen bin, mich denjenigen gegenüber zu offenbaren, an deren Erfahrungen ich teilhaben möchte, fallen die Reaktionen ganz unterschiedlich aus. Der eine traut mir nicht mehr über den Weg, der Nächste befördert mich zum Geheimdienstchef, und wenn ich beteuere, dass ich niemals über die niedrigste Lebensform in der Welt der Spionage hinausgekommen bin, erwidert er, dass ich ja wohl nichts anderes sagen könne, nicht wahr? Nur um mir gleich darauf Vertraulichkeiten aufzunötigen, an denen mir nicht gelegen ist, die ich nicht brauchen und auch nicht behalten kann, und das nur aufgrund der falschen Annahme, dass ich diese Vertraulichkeiten an, na, Sie wissen schon wen, weitergeben werde. Ich habe mich auch an anderer Stelle über dieses halb ernste, halb komische Dilemma ausgelassen.
Die Mehrheit jener armen Seelen aber, die ich im Laufe der letzten fünfzig Jahre mit meinen Fragen bombardiert habe – von Führungskräften der pharmazeutischen Industrie auf mittlerer Ebene bis hin zu Bankern, Söldnern und mancherlei Arten von Spionen –, waren nachsichtig mit mir und haben Großmut bewiesen. Die Großmütigsten unter ihnen waren die Kriegsberichterstatter und Auslandskorrespondenten, die den von ihnen profitierenden Schriftsteller unter ihre Fittiche nahmen, die ihn für mutig hielten, obwohl er es nicht war, und ihm erlaubten, sich ihnen anzuschließen.
Undenkbar, dass meine Streifzüge durch Südostasien und den Nahen Osten jemals ohne den Rat und die Gesellschaft von David Greenway möglich gewesen wären, dem hochdekorierten Südostasienkorrespondenten von Time Magazine, Washington Post und Boston Globe. Für einen schüchternen Anfänger hätte es keinen besseren Leitstern geben können. An einem verschneiten Vormittag im Jahr 1975 saß Greenway an unserem Frühstückstisch hier im Chalet und gönnte sich eine kurze Atempause von der Front, als sein Büro in Washington anrief und ihm mitteilte, dass das belagerte Phnom Penh bald den Roten Khmer in die Hände fallen würde. Von unserem Dorf aus führt keine Straße ins Tal, nur eine kleine Eisenbahn, die einen zu einer größeren Eisenbahn bringt, die einen zu einer noch größeren bringt, und so zum Flughafen Zürich. Im Handumdrehen hatte Greenway seine alpine Bekleidung aus- und den schäbigen Drillich des Kriegsberichterstatters angezogen und war in alte Wildlederschuhe geschlüpft; seiner Frau und seinen Töchtern gab er einen Abschiedskuss und stürmte den Hügel hinunter zur Bahnstation. Ich stürmte mit seinem Reisepass hinterher.
Wie allgemein bekannt, gehörte Greenway zu den letzten amerikanischen Journalisten, die vom Dach der belagerten US-Botschaft in Phnom Penh ausgeflogen wurden. Als ich 1981 an der Allenby-Brücke, die die West Bank mit Jordanien verbindet, an Ruhr erkrankte, schleppte mich Greenway durch die Masse der ungeduldigen Reisenden, die darauf warteten, abgefertigt zu werden, redete uns mit schierer Willenskraft durch die Kontrollen und brachte mich über die Brücke.
Jetzt, da ich einige der Episoden erneut durchlese, fällt mir auf, dass ich entweder aus Egoismus oder um einer pointierteren Story willen nicht erwähnt habe, wer sich zu einem bestimmten Zeitpunkt noch im Raum befand.
Ich denke da an meine Unterhaltung mit dem russischen Physiker und politischen Gefangenen Andrei Sacharow und seiner Frau Jelena Bonner, die in einem Restaurant im damals noch so genannten Leningrad unter der Schirmherrschaft von Human Rights Watch stattfand; drei Mitglieder dieser Organisation saßen mit uns am Tisch und litten wie wir unter den kindischen Aufdringlichkeiten der Horde falscher KGB-Fotografen, die uns umringten und ihre altmodischen Kameras mit ihren Blitzlichtern auf uns richteten. Ich hoffe nur, dass auch andere Teilnehmer dieser Gesellschaft ihre eigenen Darstellungen jenes historischen Tags verfasst haben.
Ich denke an Nicholas Elliott, den langjährigen Freund und Kollegen des Doppelagenten Kim Philby. Mit einem Glas Brandy in der Hand stapfte Elliott durch das Wohnzimmer unseres Londoner Hauses, und mir fällt zu spät ein, dass meine Frau ebenfalls anwesend war, mir in einem Sessel gegenübersaß und ebenso fasziniert war wie ich.
Und während ich dies schreibe, fällt mir auch jener Nachmittag wieder ein, als Elliott mit seiner Frau Elizabeth zum Diner kam und wir einen gerngesehenen iranischen Gast hatten, der ein makelloses Englisch mit einem winzigen, ja eher vorteilhaften Sprachfehler sprach. Als unser iranischer Gast sich verabschiedete, drehte sich Elizabeth mit strahlenden Augen zu Nicholas um und sagte aufgeregt: »Hast du sein Stottern bemerkt, Liebling? Genau wie Kim!«
Das lange Kapitel über meinen Vater Ronnie kommt ans Ende des Buchs, nicht an den Anfang, denn sosehr er sich das auch wünschen würde, möchte ich doch nicht, dass er zu einer der Hauptattraktionen wird. Trotz der vielen Stunden, die ich mich in Gedanken mit ihm abgequält habe, bleibt er mir immer noch genauso ein Rätsel wie meine Mutter. Alle Geschichten sind nagelneu, mit wenigen Ausnahmen, auf die ich hinweise. Falls ich es notwendig fand, habe ich einen Namen geändert. Der Hauptakteur mag zwar schon verstorben sein, doch verstehen seine Erben und Rechtsnachfolger vielleicht die Pointe nicht. Ich habe versucht, einen ordentlichen Pfad durch mein Leben zu schlagen, wenn schon nicht chronologisch, dann zumindest thematisch, doch wie das Leben so spielt, verzweigte sich der Pfad in alle möglichen unvorhergesehenen Richtungen, so dass einzelne Geschichten zu dem wurden, was sie für mich immer waren: eigenständige Episoden, die sich selbst genug sind und in keinerlei mir erkennbare Richtung weisen; ich erzähle sie wegen der Bedeutung, die sie für mich gewonnen haben, weil sie mich erschrecken oder ängstigen, mich anrühren oder mitten in der Nacht wecken und zum Lachen bringen.
Mit fortschreitender Zeit haben einige der Begegnungen, die ich beschreibe, den Status von winzigen, in flagranti eingefangenen historischen Momenten angenommen, wie das wohl bei allen älteren Menschen der Fall sein dürfte. Wenn ich von den Begegnungen so als Ganzes lese, wie sie von Posse zu Tragödie wechseln und zurück, fällt mir auf, dass ich sie etwas zu unbekümmert finde, bin mir aber nicht sicher, warum. Vielleicht ist es mein Leben, das ich zu unbekümmert finde. Doch es ist zu spät, um daran noch etwas zu ändern.
So wie bei jedem anderen Menschen auch, gibt es viele Dinge im Leben, über die ich niemals schreiben werde. Ich hatte zwei ungeheuer loyale und hingebungsvolle Ehefrauen, beiden gebührt unendlicher Dank und so manche Entschuldigung. Ich war weder ein Mustergatte noch ein Traumvater, und ich bin auch nicht daran interessiert, mich als solche auszugeben. Die Liebe kam, nach vielen Fehltritten, erst spät zu mir. Meine moralische Erziehung verdanke ich meinen vier Söhnen. Über meine Arbeit beim britischen Geheimdienst, die ich zumeist in Deutschland geleistet habe, möchte ich dem, was andere ungenau an anderer Stelle berichtet haben, nichts hinzufügen. Ich bin durch Reste altmodischer Loyalität meinen früheren Diensten gegenüber ebenso gebunden wie durch Vereinbarungen, getroffen mit den Männern und Frauen, die mit mir zusammengearbeitet haben. Unsere Übereinkunft lautete, dass die Verschwiegenheit zeitlich unbegrenzt ist und auch unsere Kinder überdauern sollte. Die Arbeit, die wir leisteten, war weder gefährlich noch dramatisch, verlangte aber von uns, die sich dazu verpflichteten, schmerzhafte Gewissenserforschung. Ganz gleich, ob diese Personen heute noch leben oder nicht, die Vertraulichkeit gilt nach wie vor.
Spionieren wurde mir von Geburt an wohl auf ähnliche Weise aufgezwungen, nehme ich an, wie C. S. Forester das Meer oder Paul Scott Indien. Ich habe versucht, die geheime Welt, die ich einmal kannte, zur Bühne für die größere Welt zu machen, die uns allen vertraut ist. Erst stelle ich mir etwas vor, dann suche ich nach der darin enthaltenen Wirklichkeit. Dann geht es wieder zurück zur Vorstellungskraft und an den Schreibtisch, an dem ich jetzt sitze.