Jeffery Deaver
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Deutsch von Fred Kinzel
Inhaltsverzeichnis
Nachwort zu »Angst«
Ich möchte für einen Augenblick mein Dozentensakko anlegen und Sie zum »Einführungskurs Furcht« willkommen heißen, auch bekannt als: »Wie schaffe ich es, dass meinen Lesern die Haare zu Berge stehen?« Dazu werde ich kurz erläutern, wie ich das Moment der Angst in meine Werke einbaue.
Ich bin Krimiautor, kein Philosoph oder Psychiater. Ich beschäftige mich mit Angst nur insoweit, als sie mit dem Erzählen von Geschichten zu tun hat. Ich habe »Angst« geschrieben, um fünf wesentliche Ängste zu illustrieren, die ich regelmäßig in meinen Büchern verwende. Außerdem werde ich einige Regeln nennen, die die Wirkung jener Ängste bei meiner Leserschaft verstärken.
Die erste der fünf ist unsere Furcht vor dem Unbekannten. Während der gesamten Geschichte »Angst« weiß Marissa nie genau, was geschehen wird (und wir Leser ebenfalls nicht). Zu Beginn sagt Antonio: »Es ist eine Überraschung«, und ich erhalte die Unsicherheit, die mit diesem Satz begründet wird, so lange wie möglich aufrecht. Marissa weiß nicht, wohin sie fahren, was die alte Frau gemeint hat, wer Lucia war, was Antonio in dem Haus in Florenz tat, was sich im Weinkeller befindet … Ja, ihr wird – zu spät – klar, dass sie Antonio selbst im Grunde gar nicht kennt.
Die zweite ist die Angst, die wir empfinden, wenn andere Macht über unser Leben ausüben – wenn wir also befürchten, verwundbar zu sein. Marissa ist eine mit allen Wassern gewaschene Geschäftsfrau, intelligent und stark, und doch habe ich ihr alle Mittel genommen. In »Angst« ist Antonio der Fahrer und Marissa nur ein Passagier, wörtlich und im übertragenen Sinn. Am Ende der Geschichte findet sie sich fast nackt in einem abgelegenen Landhaus wieder, ohne Handy oder Waffe, in einer engen Zelle eingeschlossen, vollkommen der Gnade eines Verrückten mit einem Messer ausgeliefert, und niemand weiß, wo sie sich aufhält. Kann man noch verwundbarer sein?
Die dritte Angst ist die vor anderen, die sich selbst nicht in der Gewalt haben. Wenn die Menschen gesellschaftliche Regeln einhalten, fürchten wir uns weniger vor ihnen. Wenn nicht, dann fürchten wir uns mehr. Psychopathen wie Antonio haben keine Kontrolle über ihr eigenes Handeln, deshalb können wir nicht vernünftig mit ihnen reden, und sie werden nicht von Gesetzen und Moral geleitet. Die Furcht ist dann am größten, wenn die Kontrolle bei jemandem fehlt, der uns nahe ist. Ein zufälliger Mörder oder sonstiger Krimineller ist schlimm genug, aber wenn Leute, die wir kennen und die uns nahestehen, anfangen, sich merkwürdig und bedrohlich zu verhalten, sind wir besonders verängstigt. Aus diesem Grund lasse ich meine beiden Figuren ein Liebespaar sein.
Die vierte Angst, die ich einsetze, ist unser eigener Mangel an Selbstbeherrschung. Ich erwähne das unerklärliche Verlangen, sich von einer Brücke oder einer Klippe zu stürzen – ein Drang, den wir alle in der einen oder anderen Weise erlebt haben. Marissa befürchtet, diesem speziellen Impuls nachzugeben, aber in meiner Geschichte benutze ich ihn als Metapher für eine umfassendere Angst von ihr, nämlich in Bezug auf Antonio die Kontrolle über sich zu verlieren. Zusätzlich nötige ich ihr Drogen auf, um ihre Selbstbeherrschung noch weiter zu untergraben.
Die fünfte Angst ist eigentlich eine sehr breit gefasste Kategorie, die ich die Zeichen des Schreckens nenne. Es handelt sich um Bilder (häufig klischeehafte), die uns Angst machen, entweder weil sie von vornherein in unser Gehirn eingeprägt sind oder weil wir gelernt haben, sie zu fürchten. Zu den Zeichen, die ich in dieser Geschichte benutze, gehören
Dies sind nur einige unter Hunderten von Zeichen des Schreckens, mit denen man die Nerven der Leser sirren lassen kann.
Zuletzt möchte ich zwei weitere Regeln erwähnen, die ich beim Erzeugen von Angst berücksichtige:
Erstens, ich verstärke das Erlebnis des Schreckens, indem ich dafür sorge, dass meine Figuren (und damit meine Leser) etwas Wichtiges zu verlieren haben, falls das drohende Unglück eintritt. Das bedeutet, die Personen in meinen Geschichten – die guten wie die bösen – müssen ausgearbeitet sein und selbst befürchten, ihr Leben zu verlieren oder einen anderen Verlust zu erleiden. Marissa würde sich nicht fürchten, wenn es ihr egal wäre, ob sie überlebt oder stirbt, und der Leser würde sich nicht fürchten, wenn er nicht an ihr als Figur Anteil nähme.
Zweitens behalte ich immer im Auge, dass es meine Aufgabe als Krimiautor ist, bei meinem Publikum Angst zu erzeugen, nicht aber Ekel oder Abscheu, wie es geschieht, wenn es drastische Gemetzel oder, sagen wir, Gewalt gegen Kinder oder Tiere gibt. Die in einem Thriller erzeugte Angst sollte reinigend und belebend sein. Ja, die Leser sollen ruhig feuchte Handflächen bekommen und zögern, nachts das Licht auszumachen, aber am Ende der Fahrt sollen sie unversehrt wieder aus ihrer Geisterbahn aussteigen.
Kapitel und Vers
»Reverend … Darf ich Sie ›Reverend‹ nennen?«
Der rundliche Mann mittleren Alters mit dem Priesterkragen lächelte. »Das geht schon in Ordnung.«
»Ich bin Detective Mike Silverman vom Büro des Bezirkssheriffs.«
Reverend Stanley Lansing nickte und betrachtete prüfend den Ausweis und die Dienstmarke, die ihm der fahrige, dünne Detective mit dem schwarz-grau gesprenkelten Haar entgegenstreckte.
»Ist etwas passiert?«
»Nichts, was Sie betrifft, Sir. Nicht direkt, meine ich. Ich habe mir nur gedacht, Sie könnten uns vielleicht bei einem kleinen Problem helfen.«
»Ein Problem, soso. Na, dann kommen Sie doch bitte herein, Officer.«
Die Männer gingen in das Büro, das sich an die First Presbyterian Church of Bedford anschloss, ein malerisches weißes Gotteshaus, an dem Silverman auf dem Weg zur Arbeit und zurück schon Tausende Male vorbeigekommen war, ohne je einen Gedanken daran zu verschwenden.
Bis zu dem Mord von heute Morgen.
In Reverend Lansings Büro war es muffig, und ein Staubschleier bedeckte die meisten Möbel. Er wirkte verlegen. »Ich muss mich entschuldigen. Meine Frau und ich waren letzte Woche in Urlaub. Sie ist immer noch droben am See. Ich bin zurückgekommen, um meine Predigt zu schreiben – und sie natürlich meinen Schäfchen am Sonntag zu halten.« Er lachte sarkastisch. »Falls sich überhaupt jemand in der Kirche einfindet. Merkwürdig, wie die Religiosität um Weihnachten herum immer ansteigt und zur Urlaubszeit einen Tiefpunkt erreicht.« Der Geistliche sah sich stirnrunzelnd in seinem Büro um. »Ich fürchte, ich kann Ihnen gar nichts anbieten. Die Sekretärin hat ebenfalls frei. Obwohl Sie, unter uns gesagt, nichts versäumen, wenn Sie ihren Kaffee nicht kosten.«
»Danke, ich brauche nichts«, sagte Silverman.
»Und was kann ich nun für Sie tun, Officer?«
»Ich halte Sie nicht lange auf. Ich benötige religiösen Sachverstand bei einem Fall, den wir gerade bearbeiten. Ich wäre ja zum Rabbi meines Vaters gegangen, aber meine Frage hat mit dem Neuen Testament zu tun, und das ist mehr Ihr Gebiet als unseres, nicht wahr?«
»Nun ja«, sagte der freundliche, grauhaarige Reverend, wischte sich die Brille am Revers seiner Jacke ab und setzte sie wieder auf. »Ich bin nur ein Kleinstadtpastor und wohl kaum ein Experte. Aber wahrscheinlich dürfte ich mich mit Matthäus, Markus, Lukas und Johannes besser auskennen als der Durchschnittsrabbi. Sagen Sie mir, wie ich helfen kann.«
»Sie haben bestimmt schon vom Zeugenschutzprogramm gehört, oder?«
»So wie in Goodfellas? Die Sopranos?«
»Mehr oder weniger, ja. Das Bundesprogramm wird von den US-Marshals geleitet, aber wir haben im Bundesstaat unser eigenes Zeugenschutzsystem.«
»Tatsächlich? Das wusste ich nicht. Aber es ist sicherlich vernünftig.«
»Ich bin hier im Bezirk für das Programm zuständig, und eine der Personen, die wir beschützen, soll demnächst bei einem Prozess in Hamilton als Zeuge erscheinen. Unsere Aufgabe ist es, ihn sicher durch das Verfahren zu bringen, und nachdem wir – hoffentlich – eine Verurteilung erwirkt haben, besorgen wir ihm eine neue Identität und schaffen ihn aus dem Staat.«
»Ein Mafiaprozess?«
»Etwas in der Art.«
Silverman durfte nicht genauer auf die Einzelheiten des Falles eingehen – dass der Zeuge Randall Pease, ein Schläger des Drogendealers Tommy Doyle, gesehen hatte, wie sein Boss einem Rivalen eine Kugel in den Kopf schoss. Obwohl Doyle dafür bekannt war, dass er rücksichtslos jeden umbrachte, der eine Bedrohung für ihn darstellte, hatte sich der wegen Körperverletzung, Drogen- und Waffenvergehen angeklagte Pease bereiterklärt, im Gegenzug für Strafmilderung gegen ihn auszusagen. Der Staatsanwalt hatte Pease aus Sicherheitsgründen in Silvermans Zuständigkeitsbereich verlegt, hundert Meilen von Hamilton entfernt. Es gab Gerüchte, dass Doyle alles tun und jeden Preis bezahlen würde, um seinen ehemaligen Handlanger zu töten, da Peases Aussage ihm die Todesstrafe oder eine lebenslängliche Haft einbringen konnte. Silverman hatte den Zeugen in einem sicheren Haus nicht weit vom Büro des Sheriffs untergebracht und ließ ihn rund um die Uhr bewachen. Der Detective schilderte dem Reverend in groben Zügen, was passiert war, ohne Namen zu nennen, und sagte dann: »Aber es gab einen Rückschlag. Wir hatten einen V-Mann, einen vertraulichen Informanten …«
»Das ist ein Verräter, richtig?«
Silverman lachte.
»Das habe ich aus Law and Order. Ich schau es mir an, sooft ich dazu komme. CSI ebenfalls. Ich liebe Krimis.«
»Jedenfalls hatte der Informant handfeste Informationen darüber, dass ein Profikiller angeheuert wurde, um unseren Zeugen vor dem Prozess nächste Woche zu töten.«
»Du meine Güte.« Der Reverend runzelte die Stirn und rieb sich den Hals unter dem steifen, weißen Priesterkragen, der zu scheuern schien.
»Aber die Verbrecher enttarnten unseren Verbindungsmann und ließen ihn umbringen, ehe er uns Einzelheiten über die Identität des Killers und darüber, wie er meinen Zeugen zu töten beabsichtigte, verraten konnte.«
»Ach, das tut mir sehr leid«, sagte der Reverend teilnahmsvoll. »Ich werde für den Mann beten.«
Silverman brummte einen blutleeren Dank, aber in Wirklichkeit dachte er, dass der miese kleine Schnüffler verdientermaßen zur Hölle fuhr – nicht nur, weil er ein hoffnungsloser Versager und Süchtiger war, sondern auch dafür, dass er gestorben war, ehe er dem Detective Einzelheiten über den möglichen Anschlag auf Pease nennen konnte. Detective Mike Silverman teilte dem Priester nicht mit, dass er in letzter Zeit selbst Ärger in seinem Job hatte und nach »Sibirien« – zur Zeugenbewachung – verbannt worden war, weil er seit geraumer Zeit keinen größeren Fall mehr zum Abschluss gebracht hatte. Dieser Auftrag musste reibungslos über die Bühne gehen, und er konnte es sich auf keinen Fall leisten, dass Pease getötet würde.
»Hier kommen Sie ins Spiel, wie ich hoffe«, fuhr der Detective fort. »Als der Informant erstochen wurde, starb er nicht sofort. Es gelang ihm noch, eine Nachricht zu schreiben – über eine Bibelpassage. Wir halten es für einen Hinweis darauf, wie der Auftragsmörder unseren Zeugen zu töten beabsichtigt. Aber es ist wie ein Rätsel, wir können es nicht lösen.«
Das Interesse des Reverend schien geweckt. »Etwas aus dem Neuen Testament, sagten Sie?«
»Ja«, antwortete Silverman. Er öffnete sein Notizbuch. »Die Nachricht lautete: ›Er ist auf dem Weg. Passt auf.‹ Dann schrieb er einen Vers und ein Kapitel aus der Bibel hin. Wir glauben, dass er noch mehr schreiben wollte, aber es nicht mehr konnte. Er war Katholik, wir nehmen also an, dass er sich ganz gut in der Bibel auskannte – und um eine Besonderheit dieser Stelle wusste, die uns verraten sollte, auf welche Weise der Killer sich an unseren Zeugen heranmachen würde.«
Der Reverend drehte sich um und hielt nach einer Bibel auf seinem Regal Ausschau. Schließlich entdeckte er eine und schlug sie auf. »Welcher Vers?«
»Lukas zwölf, fünfzehn.«
Der Geistliche fand die Stelle und las. »›Und er sprach zu ihnen: Seht zu und hütet euch vor aller Habgier; denn niemand lebt davon, dass er Güter im Überfluss hat.‹«
»Mein Partner hat eine Bibel von zu Hause mitgebracht. Er ist Christ, aber er ist nicht wirklich religiös, keiner, der mit der Bibel unterm Arm herumläuft … äh, ’tschuldigung, ich wollte Sie nicht beleidigen.«
»Das haben Sie nicht. Wir sind Presbyterianer, bei uns klemmt sie auch nicht unter dem Arm.«
Silverman lächelte. »Mein Partner hatte keine Ahnung, was das bedeuten könnte. Mir fiel Ihre Kirche ein, sie ist die nächstgelegene vom Revier, und ich dachte, ich schau mal vorbei und frage, ob Sie uns helfen können. Sehen Sie irgendetwas in dieser Stelle, aus dem sich schließen ließe, wie der Angeklagte unseren Zeugen vielleicht töten lassen will?«
Der Reverend las noch ein wenig in den hauchdünnen Seiten. »Es ist ein Abschnitt aus den Evangelien, in denen verschiedene Jünger die Geschichte Jesu erzählen. Im zwölften Kapitel des Lukasevangeliums warnt Jesus die Menschen vor den Pharisäern und drängt sie, nicht sündig zu leben.«
»Wer genau waren die Pharisäer?«
»Sie waren eine religiöse Sekte. Im Wesentlichen glaubten sie, dass Gott existiert, um ihnen zu dienen, nicht andersherum. Sie hielten sich für besser als alle anderen und erhoben sich über die Menschen. So hieß es zu ihrer Zeit jedenfalls – man weiß natürlich nie, ob es stimmt. Damals wurde schon genauso viel politisch verdreht wie heute.« Reverend Lansing wollte die Schreibtischlampe einschalten, aber sie funktionierte nicht. Er fummelte an den Vorhängen herum, öffnete sie schließlich und ließ mehr Licht in das düstere Büro. Er las die Passage noch einige Male, kniff vor Konzentration die Augen zusammen, nickte. Silverman schaute sich in dem trüben Raum um. Bücher hauptsächlich. Es sah mehr nach dem Arbeitszimmer eines Professors als nach einem Kirchenbüro aus. Keine Bilder oder persönlichen Gegenstände. Man sollte meinen, dass selbst ein Geistlicher Bilder von Angehörigen auf dem Schreibtisch oder an den Wänden hatte.
Schließlich blickte der Mann auf. »Bis jetzt springt mir eigentlich nichts ins Auge.« Er wirkte frustriert.
Silverman ging es genauso. Seit der V-Mann am Morgen erstochen aufgefunden worden war, hatte sich der Detective mit den Worten des Evangeliums nach Lukas abgemüht und versucht, ihre Bedeutung zu entschlüsseln.
Seht zu …
»Aber ich muss sagen, die Vorstellung fasziniert mich«, fuhr der Reverend fort. »Es ist genau wie in Der Da Vinci Code. Haben Sie es gelesen?«
»Nein.«
»Sehr unterhaltsam. Es geht die ganze Zeit um Geheimcodes und verborgene Botschaften. Wenn Sie einverstanden sind, Detective, würde ich gern noch ein wenig nachforschen und mich weiter mit der Sache befassen. Ich liebe Rätsel.«
»Das würde ich sehr begrüßen, Reverend.«
»Ich werde tun, was ich kann. Sie lassen diesen Mann gut bewachen, nehme ich an?«
»Oh ja, darauf können Sie wetten. Aber es wird riskant, ihn zum Gericht zu bringen. Wir müssen herausfinden, wie sich der Killer an ihn heranmachen will.«
»Und je früher, desto besser, nehme ich an.«
»Richtig.«
»Ich mache mich sofort daran.«
Dankbar für die Hilfsbereitschaft des Mannes, aber auch entmutigt, weil er keine schnellen Antworten parat gehabt hatte, ging Silverman zurück durch die stille, verlassene Kirche. Er stieg in seinen Wagen und fuhr zu dem sicheren Haus, um bei Randall Pease nach dem Rechten zu sehen. Der Zeuge war ekelhaft wie immer und beschwerte sich pausenlos, aber der Beamte, der auf ihn aufpasste, berichtete, er habe keinerlei Anzeichen von Gefahr im Umkreis des sicheren Hauses bemerkt. Der Detective fuhr ins Revier zurück.
Im Büro tätigte Silverman ein paar Anrufe, um zu hören, ob einer seiner anderen Informanten etwas von einem angeheuerten Killer gehört hatte; es war nicht der Fall. Sein Blick kehrte immer wieder zu der Bibelpassage zurück, die vor seinem Schreibtisch an der Wand befestigt war.
»Seht zu und hütet euch vor aller Habgier; denn niemand lebt davon, dass er Güter im Überfluss hat.«
Eine Stimme schreckte ihn auf. »Wie sieht’s mit Mittagessen aus?«
Er blickte auf und sah seinen Partner Steve Noveski im Eingang stehen. Der junge Detective mit dem angenehmen, runden Babygesicht schaute demonstrativ auf die Uhr.
Silverman, der noch immer in seine Bibelpassage versunken war, starrte ihn nur an.
»Mittagessen, Kumpel«, wiederholte Noveski. »Ich bin am Verhungern.«
»Nö, ich muss erst aus der Sache hier schlau werden.« Er klopfte auf die Bibel. »Ich bin irgendwie davon besessen.«
»Wie, du denkst nach?«, sagte der andere Detective und packte so viel Sarkasmus in seine Stimme, wie nur darin Platz hatte.
Während des Abendessens zu Hause mit seiner Familie war Silverman die ganze Zeit geistesabwesend. Sein verwitweter Vater aß mit ihnen, und der alte Herr war nicht erfreut darüber, dass sein Sohn so zerstreut war.
»Und was liest du da so Wichtiges? Das Neue Testament?« Er zeigte mit einem Kopfnicken zu der Bibel, über der er seinen Sohn vor dem Essen hatte brüten sehen. Dann schüttelte er den Kopf und wandte sich an seine Schwiegertochter. »Der Junge war seit Jahren nicht im Tempel und würde die Thora, die ihm seine Mutter und ich geschenkt haben, nicht finden, wenn sein Leben davon abhinge. Und jetzt schau sich einer das an, er liest über Jesus Christus. Was für ein Sohn.«
»Ich brauche es für einen Fall, Vater«, sagte Silverman. »Ich muss noch arbeiten. Wir sehen uns später. Tut mir leid.«
»Sehen uns später, tut mir leid«, murmelte der Alte. »Hast du nicht mehr Respekt …«
Silverman schloss die Tür zu seinem Arbeitszimmer, setzte sich an den Schreibtisch und hörte seinen Anrufbeantworter ab. Der forensische Wissenschaftler, der die Nachricht des ermordeten Informanten mit der Bibelpassage untersucht hatte, berichtete, auf dem Zettel seien keine erkennbaren Hinweise zu finden, und weder Papier noch Tinte könnten zurückverfolgt werden. Ein Handschriftenvergleich ließ vermuten, dass das Opfer die Nachricht geschrieben habe, aber er sei sich nicht hundertprozentig sicher.
Und während die Zeit verrann, hatte Reverend Lansing noch nichts von sich hören lassen. Silverman seufzte, streckte sich und betrachtete erneut die Bibelworte.
»Seht zu und hütet euch vor aller Habgier; denn niemand lebt davon, dass er Güter im Überfluss hat.«
Er wurde zornig. Ein Mensch war gestorben und hatte ihnen diese Worte hinterlassen, um sie zu warnen. Was versuchte er zu sagen?
Silverman nahm vage wahr, dass sich sein Vater verabschiedete, und noch vager, dass ihm seine Frau später gute Nacht sagte. Die Tür des Arbeitszimmers schloss sich abrupt hinter ihr. Sie war wütend. Aber das kümmerte Michael Silverman nicht. Im Augenblick zählte nichts anderes, als die Bedeutung dieser Botschaft zu entdecken.
Etwas, das der Reverend am Nachmittag gesagt hatte, kam ihm in den Sinn. Der Da Vinci Code. Ein Code … Silverman dachte an den Informanten. Der Mann war kein Akademiker gewesen, aber schlau auf seine Weise. Vielleicht hatte er mehr im Sinn gehabt als die wörtliche Bedeutung der Passage; konnte es sein, dass die genaueren Angaben seiner Warnung irgendwie chiffriert in den Buchstaben selbst steckten?
Es war schon bald vier Uhr morgens, aber Silverman ignorierte seine Erschöpfung und ging online. Er fand eine Website über Wortspiele und Rätsel. In einem Spiel bildete man so viele Wörter wie möglich aus den ersten Buchstaben eines Sprichworts oder Zitats. Okay, das konnte es sein, dachte Silverman aufgeregt. Er notierte die ersten Buchstaben aller Wörter aus Lukas 12:15 und begann sie neu zu ordnen.
Er erhielt Dutzende von Wörtern: Radar, Dübel, Rübe, aber er entdeckte keine klare Bedeutung in den einzelnen Begriffen und in keiner Kombination von ihnen.
Welche anderen Codes konnte er noch versuchen?
Er probierte es mit einem naheliegenden und ordnete den Buchstaben Nummern zu: A für 1, B für 2 und so weiter. Aber am Ende hatte er nur eine Unmenge von zufälligen Zahlen. Hoffnungslos, dachte er. Als versuchte man ein Computerpasswort zu erraten.
Dann fielen ihm Anagramme ein, wo man die Buchstaben eines Wortes oder Satzes neu ordnet, um neue Wörter zu bilden. Nach kurzer Suche im Web fand er eine Seite mit einem Anagramm-Generator, einem Programm, das einen ein Wort eintippen ließ und ein paar Sekunden später alle Anagramme ausspuckte, die sich daraus bilden ließen.
Stundenlang tippte er jedes Wort und Kombinationen von Worten aus der Bibelpassage ein und studierte die Ergebnisse. Um sechs Uhr morgens wollte Silverman zu Tode erschöpft schon aufgeben und ins Bett sinken. Aber als er die ausgedruckten Seiten mit den Anagrammen ordnete, fiel sein Blick zufällig auf die Anagramme, die das Wort Habgier ergab: Gib, bar, Bahre …
Bahre? Moment mal, dachte er.
Er nahm sich das Wort Überfluss vor: Fusel, übel …
Fusel, übel, Bahre …?
Ha, dachte er triumphierend. Ich hab’s!
Detective Mike Silverman feierte seinen Erfolg, indem er am Schreibtisch einschlief.
Eine Stunde später wachte er auf und ärgerte sich über die laute Maschine, die in der Nähe ratterte – bis er begriff, dass das Geräusch sein eigenes Schnarchen war.
Der Detective machte den ausgetrockneten Mund zu, zuckte zusammen, weil ihn der Rücken schmerzte, und setzte sich auf. Dann massierte er sich den steifen Hals und taumelte nach oben ins Schlafzimmer, wo ihn das Sonnenlicht blendete, das durch die Balkontür fiel.
»Bist du schon auf?«, fragte seine Frau benommen aus dem Bett, als sie ihn in Hemd und Hose im Schlafzimmer stehen sah. »Es ist noch früh.«
»Schlaf weiter«, sagte er.
Nachdem er rasch geduscht hatte, zog er sich an und raste ins Büro. Um acht Uhr stand er mit seinem Partner Steve Noveski im Büro ihres Captains.
»Ich hab’s«, sagte er.
»Was?«, fragte sein Vorgesetzter, ein Mann mit Hängebacken und schütterem Haar.
Noveski sah seinen Partner ebenfalls fragend an. Er war gerade eingetroffen und hatte Silvermans Theorie noch nicht gehört.
»Die Nachricht, die wir von dem toten Informanten bekommen haben – wie Doyle Pease zu töten gedenkt.«
Der Captain hatte von der Bibelpassage gehört, sich aber noch nicht groß damit befasst. »Und wie?«, fragte er skeptisch.
»Medizinischer Notfall«, verkündete Silverman.
»Hä?«
»Ich glaube, er wird über einen Arzt versuchen, an Pease heranzukommen.«
»Erzählen Sie.«
Silverman erklärte ihm die Sache mit den Anagrammen.
»Wie Kreuzworträtsel?«
»In gewisser Weise.«
Noveski sagte nichts, aber auch er schien der Idee skeptisch gegenüberzustehen.
Der Captain legte sein langes Gesicht in Falten. »Jetzt mal langsam. Sie wollen also sagen, da liegt unser Informant, man hat ihm die Halsschlagader durchgeschnitten, und er verfasst Wortspiele?«
»Das Gehirn arbeitet oft komisch, es sieht und reimt sich die merkwürdigsten Sachen zusammen.«
»Komisch«, murmelte der Vorgesetzte. »Klingt alles ein bisschen, wie sagt man, konstruiert, wenn Sie wissen, was ich meine.«
»Er musste uns die Nachricht zukommen lassen, aber Doyle durfte nicht ahnen, dass er uns alarmiert hat. Er musste so subtil vorgehen, dass Doyles Jungs nicht merkten, was er wusste, aber nicht so subtil, dass wir es nicht erraten konnten.«
»Ich weiß nicht.«
Silverman schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es kommt hin.« Er erklärte, Doyle habe schon oft enorm hohe Honorare an brillante, skrupellose Killer bezahlt, die in der Maske einer anderen Person auftraten, um an ihre ahnungslosen Opfer heranzukommen. Silverman spekulierte, dass sich der Killer einen Arztkittel und einen falschen Ausweis besorgen würde, dazu ein Stethoskop oder was Ärzte heutzutage so mit sich herumtrugen. Dann würden ein paar von Doyles Handlangern einen halbherzigen Anschlag auf das Leben von Pease unternehmen; sie konnten ihm in dem sicheren Haus nicht so nahe kommen, um ihn tatsächlich zu töten, aber einen medizinischen Notfall verursachen – das war immerhin möglich. »Vielleicht eine Art Vergiftung.« Er erklärte die Anagramme mit Fusel und übel. »Oder vielleicht sorgen sie auch für einen Brand oder ausströmendes Gas, oder was immer. Der als Mediziner verkleidete Auftragskiller würde dann ins Haus gelassen und Pease dort töten. Oder das Opfer wird rasch ins Krankenhaus geschafft, und der Mann erledigt ihn in der Notaufnahme.«
Der Captain zuckte die Achseln. »Sie können es ja überprüfen – vorausgesetzt, Sie vernachlässigen Ihre eigentliche Arbeit nicht darüber. Wir können es uns nicht leisten, die Sache zu vermasseln. Wenn wir Pease verlieren, kostet es uns den Arsch.«
Die Pronomen in diesen Sätzen mochten erste Person Plural gewesen sein, aber was Silverman hörte, war ein eindeutiges »Sie« und »Ihren«.
»Einverstanden.«
Auf dem Rückweg in sein Büro fragte Silverman seinen Partner: »Wen haben wir für das sichere Haus als medizinische Bereitschaft?«
»Ich weiß nicht, ein Team vom Forest Hills Hospital vermutlich.«
»Was, wir wissen es nicht?«, brauste Silverman auf.
»Ich weiß es nicht, nein.«
»Dann find es heraus! Danach rufst du im sicheren Haus an und sagst dem Babysitter, falls Pease irgendwie krank wird, eine Medizin braucht oder auch nur ein gottverdammtes Pflaster, sollen Sie mir sofort Bescheid geben. Sie dürfen absolut kein medizinisches Personal zu ihm lassen, bevor es eindeutig identifiziert ist und ich persönlich mein Okay gegeben habe.«
»In Ordnung.«
»Dann rufst du den Direktor in Forest Hills an und bittest ihn, es mich unverzüglich wissen zu lassen, falls irgendwelche Ärzte, Sanitäter oder Schwestern nicht zur Arbeit erscheinen oder sich krank melden, oder wenn sich irgendein Arzt herumtreibt, den er nicht kennt.«
Der junge Mann verschwand in seinem Büro, um zu tun, was ihm Silverman befohlen hatte, und der Detective kehrte an seinen eigenen Schreibtisch zurück. Er rief einen Kollegen im Sheriffbüro von Hamilton an, erzählte ihm, was er vermutete, und fügte hinzu, sie müssten auf alle Leute aus dem medizinischen Bereich aufpassen, die Pease nahe kämen.
Dann lehnte sich der Detective zurück, rieb sich die Augen und massierte seinen Nacken. Er war mehr und mehr davon überzeugt, Recht zu haben mit seiner Vermutung, dass die geheime Botschaft auf einen Killer in der Maske eines Mitarbeiters des Gesundheitswesens deutete. Er griff erneut zum Telefon. Mehrere Stunden lang drängte er Krankenhäuser und Ambulanzen im County dazu, sich zu vergewissern, wo alle ihre Leute und Fahrzeuge steckten.
Als es auf die Mittagszeit zuging, läutete sein Telefon.
»Ja?«
»Silverman.« Die Stimme des Captains riss ihn aus seiner durch Schlafmangel bedingten Benommenheit; er war sofort hellwach. »Es hat gerade einen Anschlag auf Pease gegeben.«
Silvermans Herz hämmerte. Er beugte sich vor. »Geht es ihm gut?«
»Ja. Jemand hat aus einem SUV heraus dreißig, vierzig Schüsse auf die Vorderfront des sicheren Hauses abgefeuert. Stahlmantelgeschosse, die durch das Panzerglas drangen. Pease und sein Bewacher bekamen ein paar Splitter ab, aber nichts Ernstes. Normalerweise würden wir sie ins Krankenhaus schicken, aber ich musste daran denken, was Sie darüber gesagt haben, dass der Killer ein Arzt oder so was sein könnte, deshalb hielt ich es für besser, Pease direkt hierher zu bringen, in die Arrestzelle. Ich lasse die beiden von unseren Medizinmännern durchchecken.«
»Gut.«
»Wir behalten sie ein, zwei Tage hier, dann schicken wir sie hinauf in das Camp von Ronanka Falls.«
»Und lassen Sie jemanden zur Notaufnahme von Forest Hills hinüberfahren und die Ärzte überprüfen. Doyles Auftragskiller rechnet vielleicht damit, dass wir ihn dorthin schicken, und wartet.«
»Habe ich bereits veranlasst«, sagte der Captain.
»Wann wird Pease hier sein?«
»Er müsste jeden Moment kommen.«
»Ich lasse die Arrestzelle frei räumen.« Er legte auf und rieb sich wieder die Augen. Wie zum Teufel hatte Doyle herausgefunden, wo das sichere Haus war? Es war das bestgehütete Geheimnis der ganzen Dienststelle. Doch da bei dem Angriff niemand ernsthaft verletzt worden war, klopfte er sich im Geiste ein weiteres Mal selbst auf die Schulter. Seine Theorie wurde bestätigt. Der Schütze hatte Pease gar nicht zu töten versucht, sondern wollte ihn nur aufscheuchen und dazu bringen, dass er das Krankenhaus aufsuchte – wo er direkt Doyles Killer in die Arme laufen würde.
Er rief den Leiter des Untersuchungsgefängnisses an und veranlasste, dass die derzeitigen Insassen der Arrestzelle vorübergehend in das städtische Polizeirevier verlegt wurden, dann bat er den Mann, die Wachen zu unterrichten und ihnen einzuschärfen, nur einen Arzt, den sie kannten, zu Pease und seinem Leibwächter zu lassen.
»Schon erledigt. Wegen dem, was der Captain gesagt hat.«
Silverman wollte eben auflegen, als sein Blick auf die Uhr fiel. Es war Mittag, Schichtbeginn der zweiten Wache. »Haben Sie dem Personal der Nachmittagsschicht die Lage erklärt?«
»Oh, hab ich vergessen. Ich mach es sofort.«
Silverman legte verärgert auf. Musste er denn an alles selbst denken?
Er war auf dem Weg zur Tür und wollte zum Aufnahmebereich des Zellenblocks, um Pease und seinen Bewacher zu treffen, als sein Telefon erneut läutete. Der Sergeant vom Empfang sagte, er habe einen Besucher. »Ein gewisser Reverend Lansing. Er sagt, er müsse Sie unbedingt sehen. Ich soll Ihnen ausrichten, er hat die Nachricht entschlüsselt. Sie wüssten schon, was er meint.«
»Ich bin sofort bei Ihnen.«
Silverman verzog das Gesicht. Sobald der Detective heute Morgen hinter die Bedeutung der Bibelpassage gekommen war, hatte er vorgehabt, den Geistlichen anzurufen und ihm zu sagen, dass seine Hilfe nicht mehr benötigt würde. Aber er hatte es völlig vergessen. Verdammt … Na ja, er würde dem Mann eben irgendeine Freude machen – vielleicht Geld für die Kirche spenden oder ihn zum Lunch einladen, um ihm zu danken. Ja, Lunch wäre gut. Sie könnten sich über Fernsehkrimis unterhalten.
Der Detective begrüßte Lansing am Empfangstisch und zuckte leicht zusammen, als er sah, wie erschöpft der Mann aussah. »Haben Sie letzte Nacht überhaupt geschlafen?«
Der Geistliche lachte. »Nein. Genauso wenig wie Sie anscheinend.«
»Kommen Sie mit mir, Reverend. Erzählen Sie mir, was Ihnen eingefallen ist.« Er führte ihn den Flur entlang in Richtung Aufnahme. Er würde sich einfach anhören, was der Mann zu sagen hatte. Das konnte nicht schaden.
»Ich glaube, ich habe die Antwort.«
»Erzählen Sie.«
»Nun ja, ich dachte mir, dass wir uns nicht auf Vers fünfzehn allein beschränken sollten. Dieser ist nur eine Art Einleitung zu dem Gleichnis, das folgt. Ich glaube, das ist die Antwort.«
Silverman nickte und rief sich in Erinnerung, was er in Noveskis Bibel gelesen hatte. »Das Gleichnis von dem Bauern?«
»Genau. Jesus erzählt von einem reichen Bauern, der eine gute Ernte hat. Er weiß nicht, was er mit dem überschüssigen Getreide tun soll. Er überlegt sich, dass er größere Scheunen bauen und für den Rest seines Lebens genießen wird, was er sich geschaffen hat. Was aber passiert, ist, dass Gott ihn straft, weil er gierig ist. Er ist materiell reich, aber geistig verarmt.«
»Okay«, sagte Silverman, der noch keine Botschaft erkennen konnte.
Der Reverend spürte die Verwirrung des Polizisten. »Der entscheidende Punkt in der Geschichte ist Gier. Und ich glaube, das könnte der Schlüssel zu dem sein, was dieser arme Mann Ihnen mitteilen wollte.«
Sie erreichten die Aufnahmerampe und schlossen sich einem bewaffneten Wärter an, der auf die Ankunft des gepanzerten Wagens mit Pease wartete. Wie Silverman erfuhr, waren die aktuellen Gefangenen noch nicht alle in dem Transportbus, der sie ins Stadtgefängnis bringen sollte.
»Sie sollen sich beeilen«, befahl er und wandte sich wieder dem Geistlichen zu, der mit seinen Erklärungen fortfuhr.
»Ich habe mich also gefragt, wie Gier heutzutage aussieht. Und kam zu der Antwort, dass sie uns in Gestalt von Enron und Tyco, von Vorstandschefs und Internet-Mogulen begegnet … Und von Cahill Industries.«
Silverman nickte langsam.
Robert Cahill war der Kopf eines riesigen Agrarwirtschaftskomplexes gewesen. Nachdem er diese Firma verkauft hatte, hatte er sich dem Immobiliengewerbe zugewandt und Dutzende von Gebäuden im Bezirk errichtet. Soeben war der Mann wegen Steuerhinterziehung und Insiderhandels angeklagt worden.
»Erfolgreicher Farmer«, überlegte Silverman. »Erzielt enorme Gewinne und gerät in Schwierigkeiten. Klar. Genau wie in dem Gleichnis.«
»Es kommt noch besser«, sagte der Priester aufgeregt. »Vor ein paar Wochen stand in der Zeitung ein Leitartikel über Cahill – ich habe danach gesucht, ihn aber nicht gefunden. Ich glaube, der Verfasser hat ein paar Bibelstellen über Gier zitiert. Ich kann mich nicht mehr erinnern, welche, aber ich wette, Lukas 12:15 war dabei.«
Von der Rampe der Aufnahme aus beobachtete Silverman, wie der Wagen mit Randy Pease eintraf. Der Detective und der Wärter hielten sorgfältig nach Anzeichen für Gefahr Ausschau, während das gepanzerte Fahrzeug rückwärts rangierte. Alles schien in Ordnung zu sein. Der Detective klopfte an die Hecktür, und der Zeuge und sein Leibwächter eilten auf die Laderampe. Der Wagen fuhr fort.
Pease fing sofort an, sich zu beschweren. Er hatte bei dem Angriff auf das sichere Haus eine kleine Schnittwunde auf der Stirn und eine Prellung an der Wange davongetragen, aber er stöhnte, als wäre er eine zweistöckige Treppe hinuntergefallen. »Ich brauche einen Arzt. Sehen Sie sich diesen Schnitt an. Er ist bereits entzündet, ich spüre es. Und meine Schulter bringt mich um. Was muss man eigentlich noch tun, damit man hier anständig behandelt wird?«
Polizisten entwickeln viel Geschick darin, schwierige Verdächtige und Zeugen zu ignorieren, und Silverman bekam kaum etwas von dem Gejammer des Mannes mit.
»Cahill«, wandte er sich wieder an den Priester. »Und was, glauben Sie, bedeutet das für uns?«
»Cahill besitzt überall in der Stadt Hochhäuser. Ich habe mich gefragt, ob die Route, auf der Sie Ihren Zeugen zum Gericht fahren wollen, an welchen vorbeiführt.«
»Schon möglich.«
»Dann könnte also ein Scharfschütze auf einem von ihnen sitzen.« Der Reverend lächelte. »Darauf bin ich eigentlich nicht allein gekommen. Ich hab es einmal im Fernsehen gesehen.«
Silverman lief es kalt über den Rücken.
Ein Scharfschütze?
Er hob den Blick. Hundert Meter entfernt stand ein Hochhaus, von dessen Dach ein Scharfschütze freie Schussbahn auf die Laderampe hatte, wo Silverman, der Priester, Pease und die beiden Wächter im Augenblick standen. Es konnte durchaus ein Cahill-Gebäude sein.
»Nach drinnen!«, rief er. »Sofort.«
Alle eilten in den Korridor, der zur Arrestzelle führte, und Peases Babysitter schlug die Tür hinter ihnen zu. Mit klopfendem Herzen, weil sie möglicherweise nur knapp davongekommen waren, griff Silverman zu einem Telefon auf dem Schreibtisch und rief den Captain an. Er erzählte ihm die Theorie des Reverends. »Ich verstehe«, sagte der Captain. »Sie ballern auf das sichere Haus, um Pease aufzuscheuchen, und setzen einen Scharfschützen auf das Hochhaus, weil sie sich ausrechnen, dass wir ihn hierher bringen. Ich schicke ein Einsatzkommando rüber, damit es das Gebäude durchkämmt. Ach ja, und bringen Sie diesen Priester vorbei, wenn Sie Pease sicher verwahrt haben. Egal ob er Recht hat oder nicht, ich will ihm danken.«
»Wird gemacht.« Silverman war leicht gekränkt, weil seinem Vorgesetzten diese Idee besser zu gefallen schien als die Anagramme, aber er akzeptierte jede Theorie, solange sie Pease am Leben erhielt.
Während sie in dem schlecht beleuchteten Korridor warteten, bis die Zelle geleert war, begann sich der dürre Pease mit seinem strähnigen Haar wieder zu beschweren. »Soll das heißen, da draußen war ein Scharfschütze und ihr Penner habt nichts von ihm gewusst, verflucht noch mal? Oh … entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise, Hochwürden. Hört zu, ihr Arschlöcher, ich bin kein Verdächtiger, ich bin der Star in diesem Stück, ohne mich …«
»Halten Sie endlich den Mund«, fuhr ihn Silverman an.
»Sie können nicht mit mir reden, als ob …«
Silvermans Handy läutete, und er entfernte sich ein Stück, um das Gespräch anzunehmen. »Ja?«
»Gott sei Dank gehst du ran«, sagte Steve Noveski atemlos. »Wo ist Pease?«
»Direkt vor mir«, antwortete Silverman seinem Partner. »Es geht ihm gut. Ein Team sucht in dem Hochhaus die Straße entlang nach Scharfschützen. Was ist los?«
»Wo ist dieser Reverend?«, fragte Noveski. »Er hat sich am Empfang nicht wieder ausgetragen.«
»Er ist hier bei mir.«
»Hör zu, Mike, ich habe mir überlegt – was, wenn gar nicht der Informant diese Nachricht aus der Bibel hinterlassen hat?«
»Wer dann?«
»Der Killer, den Doyle angeheuert hat.«
»Der Killer? Warum sollte der einen Hinweis hinterlassen?«
»Es ist kein Hinweis. Denk mal nach. Er hat diesen Bibelkram selbst aufgeschrieben und bei der Leiche hinterlassen, als ob es von dem V-Mann stammte. Der Killer ist davon ausgegangen, dass wir uns an einen Priester wenden werden, der uns helfen soll, daraus schlau zu werden – aber nicht an irgendeinen Priester, sondern an den von der Kirche, die dem Polizeirevier am nächsten liegt.«
Silvermans Gedanken gelangten im Eiltempo zu einem logischen Schluss. Doyles Auftragsmörder tötet den Priester und seine Frau in ihrem Ferienhaus am See und verkleidet sich als Reverend. Der Detective erinnerte sich nun daran, dass es in dem Kirchenbüro nichts gegeben hatte, was den Priester identifizieren konnte. Tatsächlich schien der Mann Schwierigkeiten zu haben, eine Bibel zu finden, und er hatte offenbar nicht gewusst, dass seine Schreibtischlampe ausgebrannt war. Und die ganze Kirche war menschenleer und voller Staub gewesen.
Er spann den logischen Fortgang der Ereignisse weiter: Doyles Männer beschießen das sichere Haus, die Polizei bringt Pease zum Revier, und gleichzeitig taucht der Reverend mit einer Geschichte über Gier, einen Immobilienhai und einen Scharfschützen auf – nur um nahe an Silverman heranzukommen … und an Pease!
Er verstand plötzlich: Es gab keine geheime Botschaft. Er ist auf dem Weg. Passt auf – Lukas 12:15. Es war bedeutungslos. Der Killer hätte jede Bibelpassage auf den Zettel schreiben können. Es ging nur darum, dass die Polizei mit dem falschen Reverend Kontakt aufnahm und ihm Zugang zum Arrest verschaffte, wenn Pease zur gleichen Zeit dort war.
Und ich habe ihn direkt zu seinem Opfer geführt!
Silverman ließ das Handy fallen und zog seine Waffe aus dem Holster. Dann rannte er den Flur entlang und stürzte sich auf den Reverend. Der Mann schrie vor Schmerz auf und schnappte nach Luft, als er zu Boden ging. Der Detective stieß ihm den Lauf seiner Waffe an den Hals. »Keine Bewegung.«
»Was tun Sie da?«
»Was ist los?«, fragte Peases Bewacher.
»Er ist der Killer! Er ist einer von Doyles Leuten!«
»Nein, bin ich nicht. Das ist verrückt!«
Silverman legte dem falschen Priester unsanft Handschellen an und steckte seine Pistole in den Holster. Er filzte ihn und fand keine Waffe, dachte sich aber, dass er vermutlich beabsichtigt hatte, einem der Polizisten die Waffe abzunehmen, um Pease und alle anderen zu töten.
Dann zerrte der Detective den Geistlichen auf die Beine und übergab ihn dem Aufnahmebeamten. »Bringen Sie ihn in einen Vernehmungsraum. Ich bin in zehn Minuten dort. Sorgen Sie dafür, dass er gefesselt bleibt.«
»Jawohl.«
»Das können Sie nicht tun!«, schrie der Reverend, als er fortgezerrt wurde. »Sie machen einen großen Fehler.«
»Schaffen Sie ihn raus«, bellte Silverman.
Pease sah den Detective verächtlich an. »Er hätte mich töten können, du Arschloch.«
Ein zweiter Wärter kam von der Aufnahme in den Korridor gelaufen. »Gibt es ein Problem, Detective?«
»Alles unter Kontrolle. Aber sehen Sie nach, ob die Arrestzelle endlich frei ist. Ich will den Mann hier so schnell wie möglich da drin haben.« Er zeigte mit einem Kopfnicken auf Pease.
»Wird gemacht«, sagte der Wärter und eilte zur Sprechanlage neben der Sicherheitstür, die in den Zellenblock führte.
Silverman schaute in den Korridor zurück, wo der Geistliche und sein Bewacher gerade durch die Tür verschwanden. Die Hände des Detective zitterten. Mann, das war knapp gewesen. Aber wenigstens war der Zeuge jetzt sicher.
Genau wie mein Job.
Natürlich würde er eine Menge Fragen beantworten müssen, aber …
»Nein!«, schrie eine Stimme hinter ihm.
Ein scharfer Klang, als würde eine Axt in einen Baumstamm fahren, hallte durch den Gang, dann ein zweiter, begleitet vom beißenden Geruch verbrannten Schießpulvers.
Der Detective fuhr herum und schnappte nach Luft. Entsetzt starrte er auf den Aufnahmebeamten, der gerade zu ihnen gestoßen war. Der junge Mann hielt eine Automatikpistole mit Schalldämpfer in der Hand und stand über den Leichen der beiden Männer, die er soeben getötet hatte: Randall Pease und der Beamte, der bei ihm gewesen war.
Silverman griff nach seiner eigenen Waffe.
Aber Doyles Killer, der die perfekt nachgemachte Uniform eines Arrestwärters trug, richtete seine Pistole auf den Detective und schüttelte den Kopf. Verzweifelt erkannte Silverman, dass er zum Teil Recht gehabt hatte. Doyles Leute hatten das Haus tatsächlich beschossen, um Pease aufzuscheuchen – aber nicht, damit er ins Krankenhaus geschickt wurde. Sie wussten, dass ihn die Polizei zur sicheren Verwahrung ins Gefängnis bringen würde.
Der Killer blickte den Korridor entlang. Keiner der anderen Wärter hatte die Schüsse gehört oder sonst etwas bemerkt. Der Mann zog mit der linken Hand ein Funkgerät aus der Tasche, drückte einen Knopf und sagte: »Alles erledigt. Ihr könnt mich abholen.«
»Gut«, ertönte die blecherne Antwort. »Genau im Zeitplan. Wir treffen uns vor dem Revier.«
»Verstanden.« Der Mann steckte das Funkgerät weg.
Silverman öffnete den Mund, um den Killer anzuflehen, sein Leben zu schonen.
Doch er verstummte und stieß ein schwaches, verzweifeltes Lachen aus, als sein Blick auf das Namensschild des Killers fiel. Denn in diesem Moment begriff er endlich die Wahrheit: Die Nachricht des toten Informanten war gar nicht so geheimnisvoll gewesen. Der V-Mann hatte ihnen schlicht mitgeteilt, dass sie auf einen Killer aufpassen sollten, der sich als ein Wärter tarnte, dessen Namen Silverman nun mit offenem Mund auf dem Plastikschild des Mannes las: »Lukas.«
Und was das Kapitel und den Vers anging – nun, das war ebenfalls ziemlich einfach. Die Nachricht bedeutete, dass der Killer kurz nach Beginn der zweiten Schicht zuschlagen würde, sodass ihm noch eine Viertelstunde Zeit blieb, um herauszufinden, wo der Gefangene festgehalten wurde.
Genau im Zeitplan …
Die Uhr an der Wand zeigte exakt 12:15.