ISBN: 978-3-95428-665-2
1. Auflage 2016
© 2016 Wellhöfer Verlag, Mannheim
Titelgestaltung: Uwe Schnieders, Fa. Pixelhall, Malsch
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Die Erzählungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit wirklichen Personen oder tatsächlichen Ereignissen sind nicht beabsichtigt und somit rein zufällig.
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Le temps des cerises, ein deutsch-französischer Krimi um ein pfälzisches Armeleute-Essen, den Pälzer Kerscheplotzer.
Veronika konnte sich nicht sattsehen an der Szenerie, nicht satthören an der französischen Musik. Das Herz der Südpfälzerin schlug im Zweitakt: ein wenig französisch, ein wenig deutsch. Es gab dafür eigentlich keine Erklärung, es sei denn, dass ihre Herkunft aus einem kleinen Dorf in der Nähe zum Elsass sie geprägt hatte.
Doch nein.
1973 geboren, war sie als Kind und Jugendliche noch daran gewöhnt, dass man einen Pass vorzeigen musste, wollte man im nahen Elsass bummeln oder einkaufen. Die Grenze war in den Köpfen und in den Herzen, vor allem bei den Eltern und Großeltern.
Die Großmutter, ja, die war anders. Gerade als Veronika nostalgischen Gedanken an diese liebste aller Großmütter nachhängen wollte, wurde sie durch ein lautes Knallen und Blitzen und Krachen abgelenkt.
Das feu d’ artifice, das Feuerwerk, das zu jedem richtigen jour de fête dazugehörte wie das Amen in der Kirche, wurde oben von der Burg, dem Château Valbelle, gezündet und tauchte den Festplatz vor der Mairie in grelles Licht.
Wir würden das Ganze Kerwe nennen, dachte Veronika, hier im Hinterland der Côte d’ Azur nennen sie es Fête Patrimoniale. Am Nachbartisch saß eine größere Gesellschaft mit vielen Kindern und Kleinkindern. Sogar ein ganz kleines Baby, erst wenige Wochen alt, war im Kinderwagen mit dabei und wurde abwechselnd von verschiedenen Leuten in den Arm genommen und gewiegt.
Gebobbelt, sagt man bei uns in der Südpfalz, dachte Veronika. Ein niedliches Mädchen von etwa drei oder vier Jahren im weißen Kleid trug Schmetterlingsflügel und auf dem schwarzgelockten Haar einen Reif mit Fühlern, die bei jedem Hüpfer auf und ab wippten. Das Kind bewegte sich elfengleich und schwebend. Es war sich seiner Anmut nicht bewusst. Die Kleine eilte, nein flog von einem zum andern, war kurz verschwunden und kam bald darauf mit einer riesigen Stange Zuckerwatte zurück. Sie hielt einem alten Mann, der im Rollstuhl bei der Gruppe saß, die Zuckerwatte zum Probieren hin und hüpfte dabei von einem Bein aufs andere.
»Arrête, Véronique«, sagte streng eine junge Frau, wohl die Mutter des Mädchens. Die Kleine hörte mit der Hüpferei auf, und der alte Mann sagte beschwichtigend zu dem Kind: »Merci, Véronique.«
Oh, eine kleine französische Namensbase, dachte Veronika.
Ein sehr heller Feuerschein ließ die Inschrift über dem Rathaus für einen kurzen Moment aufblitzen. Liberté – Egalité – Fraternité.
Auf der Tribüne vor dem Rathaus machten sich die Techniker der angekündigten Popband Les courseurs de l’ océan daran, die Scheinwerfer allmählich anzuschalten. Ab und zu huschte ein Musiker über die Bühne, verschwand aber gleich wieder.
Um halb zehn sollte das Konzert beginnen, nun war es schon fast halb elf. So genau nahm man es hier nicht. Immer noch strömten Menschen auf den Platz, nahmen an den Tischen unter den Platanen und neben dem großen Brunnen mit der großen bebänderten Amphore aus weißem Marmor Platz.
Die Trikolore-Fähnchen, die quer über den Platz gespannt waren, flatterten ein wenig im Wind, der nun plötzlich aufkam. Ein immer noch warmer Wind, eine laue Sommernacht Ende August.
Mein letzter Ferientag, dachte Veronika mit Wehmut. Jede Sekunde davon muss ich genießen. Meine kleine Auszeit nach dem Debakel der Beziehung mit Christian. Ein Urlaub zum Ausruhen, sehr gutem Essen, mit Sonne und Strand und viel Lesen. Und mit dem Aufsaugen typisch französischer Atmosphäre hier auf dem Platz von Tourves, nicht weit von Brignoles.
Jour de Fête. Der Film von Jacques Tati kam Veronika in den Sinn. Ihr Französischlehrer in der Oberstufe, ein Tati-Verehrer, hatte den Film jedes Jahr vor den großen Ferien gezeigt. Sie kannte jede einzelne Szene auswendig.
Als könnte Veronika zaubern, kam aus der engen Gasse rechts vorne ein Fanfarenzug, gefolgt von einer Menschenschar, die dem Platz zustrebte. Das ist wie beim Rattenfänger von Hameln, dachte Veronika amüsiert.
Die Spieler der Fanfarenkapelle stellten sich vor der Bühne auf und begannen, ein Lied zu spielen, das Veronika bekannt vorkam. Viele ältere Leute sangen mit.
Die Jüngeren schienen eher ein wenig belustigt zu sein, doch die Älteren sangen unbeirrt ihr Lied.
»Tombent sous la feuille en gouttes de sang …
Mais il est bien court, le temps des cerises ...
Pendants de corail qu’on cueille en rêvant ...”
Einzelne Satzfetzen verstand Véronique: Sie fallen wie Blutstropfen ins Laub … aber sie ist sehr kurz, die Zeit der Kirschen ... Ohrgehänge aus Korallen, die man träumend pflückt.
Wie schön, wie wehmütig, wie romantisch, dachte Veronika. Und plötzlich durchfuhr es sie. Das war doch das Lieblingslied ihrer Großmutter. Le temps des cerises. Die Zeit der Kirschen.
Veronikas erstes Französisch war das gewesen, und sie kannte früher den Text auswendig, hatte einiges vergessen, doch die Worte tauchten nun in der Erinnerung auf. Nur heimlich hatte die Großmutter das Lied mit ihr gesungen, sie wusste bis heute nicht, warum die andern es nicht hören sollten. Es war ein solch schönes Lied.
Ein altes französisches Liebeslied aus dem 19. Jahrhundert, hatte die Großmutter ihr erklärt. Aber auch ein Kampflied aus der Zeit der Kommune. Die Aufständischen sangen das Lied auf den Barrikaden in Paris, bevor sie niedergemacht wurden von den Soldaten der Obrigkeit.
Das alles wusste die Großmutter. Woher eigentlich? Veronika hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, und nun war die Großmutter, der sie so verblüffend ähnlich sah, wie alle sagten, schon so lange tot. Sie würde es nie erfahren. Sie fallen runter ins Laub, aber sie ist sehr kurz, die Zeit der Kirschen. Ohrgehänge aus Korallen, die man träumend pflückt.
Veronika horchte auf. Aus der Gruppe nebenan hörte man die kräftige Stimme des alten Mannes im Rollstuhl, der laut mitsang.
»Quand vous en serez au temps des cerises, si vous avez peur des chagrins d’amour, évitez les belles. Moi, qui ne crains pas les peines cruelles, je ne vivrai pas sans souffrir un jour. J’aimerai toujours le temps des cerises. C’est de ce temps-là que je garde au coeur une plaie ouverte.«
Veronika übersetzte leise in Gedanken:
Wenn die Zeit der Kirschen kommt und wenn ihr Angst vor Liebeskummer habt, dann meidet die Schönen! Ich fürchte nicht die grausame Pein; ich werde nicht leben, ohne eines Tages zu leiden. Ich werde immer die Zeit der Kirschen lieben. Von dieser Zeit her habe ich im Herzen eine offene Wunde zurückbehalten.
Veronika entging es nicht, wie die jungen Techniker der Popband, die ihr Schaltpult neben dem Brunnen aufgebaut hatten, sich lustig machten über die Fanfarenbläser und die Leute, die ernst und mit Inbrunst laut das Lied mitsangen.
Bei den Worten »une plaie ouverte« brach die Stimme des alten Mannes im Rollstuhl plötzlich ab. Veronika bemerkte, wie er zu ihr hinübersah und stutzte. Als hätte er einen Geist gesehen, schaute er sie unentwegt an, drehte dann den Kopf weg und nahm einen Schluck Pastis. Die andern an seinem Tisch bemerkten nichts. Der Fanfarenzug verließ den Platz vor der Bühne. Fetzige Melodien erklangen. Die Popband spielte nun auf, eine Profiband mit drei Tänzerinnen, die nach jeder Nummer neu und immer neckischer gekleidet auf dem Podium herumhüpften und dem Publikum mächtig einheizten.
Das kleine Mädchen mit den Schmetterlingsflügeln und den wippenden Fühlern auf den schwarzen Locken tanzte zwischen den Tischen mit, graziöser und mit mehr Charme als die erwachsenen Tänzerinnen dort oben. Der alte Mann sah indessen immer wieder zu Veronika hinüber.
Seine Gedanken gingen zurück, weit zurück. Im Juni 1943 hatte man ihn als Kriegsgefangenen einer Bauernfamilie in einem kleinen Dorf in der Südpfalz zugeteilt.
Der Zwangsarbeiter wurde anständig behandelt, es gab angemessen zu essen, wenn man bedachte, dass die Deutschen selbst nicht viel zum Knabbern hatten. Auf den kalten Steinboden der Gesindekammer legte der Bauer Holzbretter, die ein wenig wärmten. Wenn der Kontrolleur kam, wurden die Dielen eilig weggeräumt.
Im Bauerngarten gab es mehrere Kirschbäume, die im Juni reichlich Früchte trugen. »Heute gibt es wieder unser Armeleute-Essen«, sagte die Bäuerin, und sie lachte dabei. »Ein Rezept, bei dem die feinen Herrschaften Brötchen nehmen statt altem Schwarzbrot. Aber wir sind nicht fein, und außerdem ist Krieg. Nach dem Krieg machen wir wieder die feinere Variation, dazu noch mit Eis.«
Der Kontrolleur kam gerade in den Hof. »Der Endsieg ist nah, ihr werdet bald euer Eis kriegen. Und die Brötchen dazu,« verkündete er mit schnarrender Stimme.
»Wer’s glaubt, wird selig«, sagte die Bäuerin, die vor nichts und niemand Angst hatte.
»Wart nur, freches Weibsbild«, schnaubte der Kontrolleur. »Ich bring dich nach Dachau oder in den Struthof oder noch weiter weg, wenn du nicht aufhörst mit deinen volkszersetzenden Reden. Da wirst du deine Weck und dein Eis kriegen, aber ohne Kirschen. Haha, Kerscheplotzer ohne Kirschen.« Er lachte über seinen überaus geistreichen Witz und stapfte davon in seinen hohen Schaftstiefeln.
Der Zwangsarbeiter wurde von der Bäuerin hergerufen. »Du, Maurice, hilf mal der Veronika beim Kirschenabmachen. Aber nicht die Leiter hochschielen unter den Rock von meinem Mädel. Sonst ist es aus mit der Freundlichkeit und dem Fraternisieren.«
Veronika, die danebenstand, wurde puterrot. »Keine Fisimatenten, verstanden?« setzte die Bäuerin, an ihre Tochter gerichtet, hinzu. Mit gespielter Strenge rief sie: »Kirschen brauch ich, und zwar flott.«
Maurice pfiff eine Melodie, während er oben auf der Leiter stand. In schwindelnde Höhen schwang er sich. Fast wäre ein Ast abgebrochen. Veronika, die unten stand, schrie angstvoll auf. Maurice lachte, pfiff weiter und warf dem Mädchen Kirschen in die Schürze.
Maurice fing an zu singen:
»Tombant sous la feuille en gouttes de sang,
pendants de corails qu’on cueille en rêvant.”
Er stieg von der Leiter, brachte zwei Paar besonders knackige Kirschen mit und steckte sie dem Mädchen an beide Ohren. »Pendants de corails qu’on cueille en rêvant”, sang er und übersetzte. »Ohrringe aus Korallen, die man träumend pflückt.« Maurice sprach gut deutsch. Das Mädchen wurde rot. Das Rot ihrer Wangen übertraf das Rot der Kirschen.
Nun gab es jeden zweiten Tag Kerscheplotzer, aber Maurice wurde das Essen nicht leid, denn die Bäuerin schickte ihn jedesmal mit Veronika zum Kirschenpflücken.
Und er sang: »Et gai rossignol, et merle moqueur seront tous en fête! Les belles auront la folie en tête et les amoureux du soleil au coeur.«
»Was heißt das?« wollte Veronika wissen, und Maurice übersetzte wieder.
»Und die lustige Nachtigall und die Spottdrossel werden beide ein Fest feiern. Die Schönen werden die Tollheit im Kopf und die Liebenden die Sonne im Herzen haben.«
Sie küssten sich, der Zwangsarbeiter und das Bauernmädchen.
»Ein deutsches Mädel und so ein Saufranzos«, brüllte der Kontrolleur, der gerade in seinen Schaftstiefeln um die Ecke der Scheune stolziert kam.
»Rassenschande. Ich werd euch anzeigen. Es sei denn, ich krieg auch so einen Kuss«, sagte er und hatte sich schon an Veronika herangepirscht. Er fasste sie um die Taille und riss sie grob an sich.
Maurice ballte die Faust und wollte auf den Kerl losgehen, doch der ließ von Veronika ab. Maurice überragte ihn um Haupteslänge und war muskulös im Gegensatz zu dem kleinen, schmächtigen Kontrolleur, der extra hohe Absätze an seinen Stiefeln hatte, um größer zu wirken.
Er lachte schmierig: »Fürs Erste haben die Kirschen gut geschmeckt. Ich werde noch mehr davon kriegen, sonst …« Mit einem anzüglichen Blick auf das Paar stapfte er davon und verschwand hinter der Scheune.
Im Bauerngarten ganz hinten an der Mauer, verborgen hinter den Kirschbäumen, stand ein kleiner sechseckiger Pavillon, der von einer vergoldeten Spitze gekrönt war. Maurice und Veronika verabredeten sich zu einem Treff im Gartenhäuschen, wann immer es möglich war. Die Bauersfrau warf ihrer Tochter vielsagende Blicke zu, wenn sie nach dem Abendessen im Garten verschwand, um nochmal nach den Blumen, dem Obst und dem Gemüse zu gucken. Und wenn Maurice bald danach zum Holzhacken im Schuppen verschwand, zog sie die Augenbrauen hoch, schritt aber nicht ein. Sie vertraute ihrer Tochter, sie war eine ungewöhnliche Mutter.
Der Kriegsgefangene pfiff leise die Melodie des Kirschenzeitlieds, und eine weiße Hand winkte vom grüngestrichenen hölzernen Gitterwerk des Gartenhäuschens her. Veronika konnte mittlerweile das Lied auswendig. Sie lernte schnell Französisch bei ihrem Lehrer Maurice.
Eines Abends winkte die weiße Hand wieder durchs Gitterwerk, Maurice wollte die Hand ergreifen, als er von hinten einen dumpfen Schlag auf den Kopf erhielt. Er stürzte blutend ins Gras.
Das Mädchen lief schreiend aus dem Pavillon, doch der Kontrolleur packte das verzweifelt sich wehrende Mädchen und zerrte es in das Innere des Häuschens. Veronika schloss die Augen, als der grobe Kerl ihr die Kleider vom Leib riss. »Nun hol ich mir die restlichen Kirschen«, lachte der Mann. Veronika hörte Schritte von der Scheune her sich dem Pavillon nähern, dann plötzlich entrang sich der Brust des keuchenden Ungeheuers über ihr ein gurgelnder Schrei. Maurice hat mich gerettet, dachte sie, doch Maurice lag verletzt im Gras, begann sich taumelnd am Stamm eines Kirschbaums aufzurichten.
»Helft mir, den Kerl wegzuschaffen, schnell«, flüsterte hastig eine Frauenstimme. Es war die Bäuerin. Sie hielt eine Schaufel in der Hand. Entsetzt nahm Veronika die dunkle Masse wahr, die am scharfen Ende der Schaufel klebte. Auch der Kopf des Kontrolleurs war klebrig von schwarzer Masse.
»Er ist tot, seht ihr das nicht?« stieß Veronikas Mutter hervor, »ihr müsst mir helfen.« Maurice stand mittlerweile wieder fest auf den Beinen. Mit äußerster Kraftanstrengung zerrten die drei Menschen den Toten zur Jauchegrube.
Wie durch ein Wunder wurde der Kontrolleur von niemandem ernsthaft vermisst. Allein lebend, hatte er niemanden über seine amourösen Absichten ins Vertrauen gezogen. Dem Ortsgruppenleiter war er schon lange ein Dorn im Auge, weil er zu lasch war, nicht scharf genug durchgriff gegen die Zwangsarbeiter, die Franzosen, Polen, Italiener.
»Es geht so viel Lumpengesindel um, das durchs Dorf zieht«, meinte er, »da wird ihm einer übel mitgespielt haben.« Dabei ließ man es von offizieller Seite bewenden. »Weichlinge können wir nicht gebrauchen in unserem zukünftigen Großreich«, ließ der Ortsgruppenleiter unter seinen Gesinnungsgenossen verlauten. »Um so einen ist es nicht weiter schade.«
Maurice wurde bald danach einer Familie in einem anderen pfälzischen Bauerndorf zugeteilt. Das Mädchen sah ihn nie wieder. Der Krieg war im Mai 1945 zu Ende, und danach begann die Kirschenzeit. Da war Maurice längst zu Hause, in seinem südfranzösischen Dorf, und er summte die Zeilen: »Tombant sous la feuille en gouttes de sang …«, und er sah den vom Mond beschienenen Toten in seinen grotesken Schaftstiefeln mit den zu hohen Absätzen, und aus der Wunde des Toten quollen Blutstropfen und fielen ins Gras, rot wie die Korallengehänge, die Kirschen am Ohr des schönen Mädchens. Und er sah das entsetzte Gesicht der Bäuerin, in der Hand die beschmutzte scharfkantige Schaufel.
Die Popband spielte einen Ohrwurm aus den 80er-Jahren von Earth, Wind and Fire, die drei Tänzerinnen hopsten in Glitzerbikinis auf der Bühne umher, und das kleine Mädchen im weißen Kleid mit den Schmetterlingsflügeln wiegte sich im Takt hin und her.
Der sehr alte Mann im Rollstuhl näherte sich Veronikas Tisch. Sie lächelte ihn an. »Entschuldigen Sie«, sagte er, »Sie erinnern mich an jemanden, den ich vor langer Zeit kannte. Ewig her. Es war im Krieg. Es war in Deutschland und sie hieß Veronika.«
»So heiße ich auch«, antwortete Veronika. »Wie meine Großmutter. Die Zeit der Kirschen. Le temps des cerises. Das Lied hab ich von ihr gelernt, und sie erzählte viel von einem Maurice. Und von einem dunklen Geheimnis.«
Nun sprach der alte Mann Deutsch, und es war ein südpfälzisch gefärbtes Deutsch, wie man es in Veronikas Heimatort sprach. »Es gibt Zufälle im Leben. Und manche Geheimnisse sollten auch lieber im Dunkel bleiben.«
Die Kleine mit den Schmetterlingsflügeln und den wippenden Fühlern auf dem dunklen Lockenhaar kam zum Rollstuhl heran, legte die Arme um den Hals des alten Mannes und drückte ihm einen schmatzenden Kuss auf die linke Wange.
»Ich musste auf meine kleine Véronique lange warte«, sagte er zu Veronika. Ich hatte nur Söhne, und diese bekamen ebenfalls wieder Söhne. Dann endlich meine kleine Urenkelin.« Er lächelte voller Wehmut.
»J’aimerai toujours le temps des cerises, c’est de ce temps-là que je garde au coeur une plaie ouverte”, dachte Veronika. Ja, eine offene Wunde ist ihm aus der Zeit der Kirschen geblieben.
Der alte Mann im Rollstuhl beugte sich zu Veronika und flüsterte: »Isst man eigentlich in der Südpfalz immer noch den Kerscheplotzer?«
»Mais oui, mais oui«, antwortete Veronika. »Bei uns in der Familie isst man ihn immer noch, wie meine Großmutter Veronika ihn gemacht hat.«
»Mit Schwarzbrot?« fragte der sehr alte Mann. »Oder mit Brötchen wie die feinen Leute? Und mit Eis?« Er lächelte dabei, in Erinnerungen versunken.
Er erwartet keine Antwort, dachte Veronika, und bestimmt hat er seine Gründe dafür. Man muss nicht jedes Geheimnis preisgeben.
»Au revoir, Maurice«, sagte sie.
»Leben Sie wohl, Veronika«, antwortete der alte Mann im Rollstuhl.
Zutaten:
5 Brötchen, z. B. Vollkornbrötchen, gerne vom Vortag
350 ml Milch
750 g Kirschen
40 g Butter
50 g Zucker
3 Eier Größe M
6 Kugeln Eis, z. B. Vanille- oder Walnusseis
Zubereitung:
Die Brötchen in Würfel der Kantenlänge ein Zentimeter schneiden. Danach die Milch erwärmen, die Brötchenwürfel damit übergießen und etwas ziehen lassen. Den Backofen auf 200 Grad Ober- / Unterhitze vorheizen.
Währenddessen die Kirschen entkernen. Die Butter hat man zuvor einige Stunden außerhalb des Kühlschranks gelagert. Die nun weiche Butter, den Zucker und die Eier miteinander schaumig rühren. Alle vorbereiteten Zutaten miteinander vermengen und in eine gefettete Auflaufform füllen. Auf der mittleren Schiene des Backofens etwa eine Stunde backen, dabei den Auflauf gegebenenfalls nach einiger Zeit abdecken, damit er nicht zu dunkel wird. Warm mit Eis servieren.
Was mir jeder prophezeite und ich nicht glauben wollte, wurde Realität. »Du findest eher einen Job als eine Wohnung in Speyer.«
Die Anstellung in der Apotheke hatte ich innerhalb von zwei Tagen, doch eine Wohnung war nicht in Sicht. Der Zufall half in Form einer Bekannten, die jemanden kannte, der mir ein Zimmer im Schwesternwohnheim des Diakonissenkrankenhauses anbieten konnte.
Nicht meine erste Wahl, aber besser als nichts. Das Einzige, was zu meinem Glück fehlte, war ein Balkon oder noch besser ein Garten. Ich vermisste die von meiner Mutter liebevoll und farbig angelegten Rabatten und Büsche, die sich im Laufe der Jahreszeiten von Gelb bis Rot verfärbten.
Erneut kam mir der Zufall zu Hilfe. Eine Patientin, Hilde Moser, der ich von meiner Sehnsucht nach Mutters Garten erzählte, bot mir ihren Schrebergarten für die Dauer ihres Krankenhaus- und anschließenden Reha-Aufenthaltes an. Die Formalitäten waren rasch erledigt, für den Vorstand des Kleingartenvereins schien es ebenfalls eine gute Lösung zu sein. Für sie war nichts schlimmer als ein Garten, der eine Weile lang nicht gepflegt werden konnte.
Mein Leben war perfekt. Frau Moser hatte jede Menge Obst und Gemüse angepflanzt. Brombeeren, Stachelbeeren, Erdbeeren. Schmale Obstbäume, die viele Früchte trugen. Zu jeder Zeit konnte ich direkt vom Baum naschen, und wenn es mein Dienstplan erlaubte, genoss ich die Sonnenuntergänge inmitten von Vogelgezwitscher und duftenden Gräsern.
Bis der Neue kam. Mit Herrn Schmidt änderte sich alles. Wie auch immer er die Hürden der Vorstellungsgespräche gemeistert hatte, er hatte es geschafft.
Herr Schmidt war schnell zu beschreiben. Er trug stets einen Anglerhut, Cargoshorts und weiße Tennissocken in schwarzen Sandalen. Dazu ein verwaschenes – ehemals weißes, jetzt graues – Unterhemd, das nur spärlich den über den Bund hängenden Bauch bedeckte. Ich nahm mir vor, seinen Anblick zu ertragen, den Hut und die Sandalen zu ignorieren, durch ihn hindurchzuschauen und sein Gerede auszublenden. Was schwer war, denn seine Parzelle grenzte an meine. Sobald ich die Sonne genießen wollte, stand er in seinem Garten, meist mit nacktem Oberkörper. Der Duft von Tiroler Nussöl drang in meine Nase.
»Ajo, Sie sollten sich auch eincremen. Ich bin Ihnen gerne dabei behilflich«, rief er mir zu.
Ich schüttelte den Kopf, sah kurz zu ihm und blickte auf ein großes braunes Muttermal mit langen, schwarzen Haaren oberhalb seines Bauchnabels.
Es folgte ein Vortrag über die schädlichen Sonnenstrahlen, bei dem ich nur halb zuhörte, weil ich versuchte, weiterhin die Wärme auf der Haut zu genießen. Dann änderte sich sein Tonfall. »Mit den Brombeeren müssen Sie etwas unternehmen.«
Alarmiert schrak ich hoch. »Was meinen Sie?«
»Die wuchern, die Wurzeln kommen bei mir an. Das geht nicht.«
Ich glaubte, nicht richtig zu hören. »Sie wissen, dass der Garten nicht mir gehört und dass ich nur vorübergehend hierfür verantwortlich bin?«
»Ich habe in den Statuten nachgelesen. Sie müssen das ändern, egal ob Eigentümer oder Mieter auf Zeit. Außerdem«, er zog einen Zollstock aus der Gesäßtasche und hielt ihn an meinen geliebten Brombeerbusch, »die Büsche überragen die zulässige Höhe für diese Früchte bereits um drei Zentimeter.«
Einen kleinen Moment glaubte ich an einen Scherz, solch einen seltsamen Humor traute ich ihm zu. Doch ein Blick auf ihn reichte. Indiana Jones der Pfalz in geheimer Mission, da verstand Herr Schmidt keinen Spaß. Selbst Bestechungsversuche mit Frau Mosers selbst gemachter Brombeermarmelade verliefen im Sande. Zwar nahm er sie gerne an – es stellte sich heraus, dass Herr Schmidt ein Geizkragen war – änderte aber sein Verhalten nicht.
In meiner Naivität glaubte ich, die Probleme würden behoben sein, wenn ich die Brombeerbüsche kürzte. Was für ein fataler Irrtum.
Als Nächstes traf es die Rosen, englische Duftrosen, in die ich mich verliebt hatte. Majestätisch verbreiteten sie mit ihren vollen Blütenköpfen ihren betörenden Duft. Ich musste sie umbetten und zusehen, wie sie um ihr Überleben kämpften. Doch damit nicht genug. Der Jasmin stank, die herabfallenden Magnolienblätter waren eine Zumutung, meine Tagetes zogen die Schnecken an, die dann bei ihm einfielen.
Ich ertrug weder seinen Anblick noch seine Stimme mehr und erstarrte, sobald er das Wort an mich richtete. Sein »Ajo« trieb meinen Puls in die Höhe. Er schaffte es in meine Träume, aus denen ich schreiend und schweißgebadet aufwachte.
Für mich gab es erst eine Ruhepause, als Herr Schmidt sich mit dem Kirschbaum des Nachbarn zur anderen Seite stritt. Bis der Kastanienbaum für richtigen Ärger sorgte.
Die Parzelle Herrn Schmidts grenzte an eine Wiese, auf der dieser Kastanienbaum stand. Ein Esskastanienbaum. Der einzige weit und breit, einer, der jedes Jahr reichlich Keschde trug, wie mir die Nachbarn berichteten. Das Herzstück des Kleingartenvereins. Ihm zu Ehren fand jedes Jahr im Herbst das Keschde-Fest statt. Die Speyerer fanden immer einen Grund zu feiern und für die Schrebergartengemeinde war dies das Highlight des Jahres.
Herr Schmidt drohte mit rechtlichen Schritten gegen den Baum. Ihn störten die herabfallenden Blätter und Früchte. Jedes Gespräch mit ihm endete im Streit und mit Zitaten aus der Schrebergartenverordnung. Selbst der Vorstand war irritiert und die allgemeine Stimmung gegen Herrn Schmidt wurde bedrohlich, was ihn hingegen nicht weiter störte.
Ein paar Tage später standen die Herbstastern Herrn Schmidts ohne Blütenköpfe da. Er tobte, schimpfte und ich hoffte aus der Ferne, dass sich unser Problem auf natürliche Art erledigte. Vergeblich. Herr Schmidt suchte Zeugen, rief die Polizei und verursachte einen Riesenwirbel. Die Ruhe in unserer Anlage war vorbei. Doch niemand hatte etwas gesehen, statt Trost gab es Häme und Schadenfreude für den ungeliebten Mitnutzer. In seiner Wut stürzte er sich in die nächste angebliche Verfehlung eines Nachbarn. Das überlebte Herr Schmidts Apfelbaum nicht, er wurde in der Nacht abgeholzt – und wieder hatte niemand etwas gesehen.
Herr Schmidt schäumte vor Wut. Seine Gesichtsfarbe wechselte bedrohlich, zeigte sämtliche Schattierungen zwischen Weiß und Rot. Leider nicht lebensbedrohlich.
Mir spielte er besonders schlimm mit, denn was immer ich ihm getan hatte, in mir suchte er eine Verbündete. Er flüsterte von Spionen und Feinden, die ihn umgaben; ich müsse ihm helfen. Ich sei doch auch eine Neue. Er lag falsch. Ich fühlte mich dem erlauchten Kreis der Kleingärtner zugehörig und schaute dem Tag schwermütig entgegen, wenn ich die Parzelle wieder abgeben sollte.
Die Tage vor dem Keschde-Fest waren turbulent. Zum einen bewachten wir den Baum Tag und Nacht aus Sorge, Herr Schmidt würde seine Drohungen wahr machen. Zum anderen standen Blumendrehen, Girlandenbasteln und Säuberungsarbeiten auf dem Programm. Kein Unkraut sollte das Gesamtbild stören. Selbstredend, dass wir keine giftigen Substanzen verwendeten, sondern Handarbeit angesagt war.
Für das gute Gelingen des Fests steuerte jeder etwas für das leibliche Wohl bei. Ich entschied mich für meinen Kastanienkuchen, der immer gut ankam. Außerdem war er, wie ich fand, besonders passend.
Entgegen aller Hoffnung und Vermutungen hielt sich Herr Schmidt nicht fern, sondern schien plötzlich überall gleichzeitig zu sein. Dabei grinste er süffisant, stand im Weg und provozierte allein durch seine Anwesenheit. Manchmal kommentierte er unsere Aufräumarbeiten mit Ratschlägen, die keiner hören wollte. Für mich war klar, dass er etwas im Schilde führte, ohne zu wissen, was. Ich behielt ihn im Auge, um für alles gewappnet zu sein. Was sich als Glücksfall erwies.
Zubereitung:
Die vorgekochten Maronen pürieren. Aus den übrigen Zutaten einen Teig herstellen und die pürierten Maronen hinzufügen. Das Ganze in eine gefettete Springform füllen.
Im vorgeheizten Backofen bei 200 Grad etwa 55 Minuten backen.