ISBN: 978-3-95428-666-9
1. Auflage 2016
© 2016 Wellhöfer Verlag, Mannheim
Titelgestaltung: Uwe Schnieders, Fa. Pixelhall, Malsch
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Ich widme dieses Buch Don Samuel Ruíz García, dem Indianer-Bischof von San Cristóbal de las Casas, der dreimal für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wurde.
Ohne ihn hätten sich Aurelio und Charlotte niemals kennengelernt.
Mein Traum von Mexiko! Wenn ich heute zurückdenke und all die Jahre in meiner Erinnerung vorüberziehen lasse, so muss ich gestehen, dass dieser Traum zuweilen alb-traumartige Züge annahm. Er kam mir mitunter wie die unendliche Geschichte vor, die nie einen Abschluss finden würde, schon gar keinen glücklichen.
Dabei hatte doch alles so traumhaft schön begonnen. Es war so unglaublich, was damals geschehen war, dass ich es in meinem ersten Buch Wer einmal einen Priester küsst festhalten musste. Damals konnte ich in dem Roman weder die Personen beim richtigen Namen nennen noch die Orte. Ich musste »Aurelio« schützen, um seine Existenz in Mexiko nicht zu gefährden. Auch ich musste mich bedeckt halten, da ich zu dem Zeitpunkt in leitender Position bei der Volkshochschule tätig war, in deren Verwaltungsrat die katholische Kirche saß, die über Gelder mitentschied. So kam es dazu, dass ich das Pseudonym »Nora Noé« wählte und dieses Buch und in der Folge auch alle anderen Bücher unter diesem Namen, dem Mädchennamen meiner Mutter, veröffentlichte.
Mittlerweile ist ein Jahrzehnt vergangen und viele der damals noch geltenden Voraussetzungen haben sich geändert. Darum kann ich heute die Orte benennen, ohne mit Konsequenzen für irgendjemanden rechnen zu müssen.
Ich wurde immer wieder gefragt, ob die Geschichte denn damals für immer abgeschlossen war. Ich darf Ihnen verraten: Nein! Sie war noch lange nicht abgeschlossen. Sie ging in den 90er-Jahren erst noch einmal richtig los. Darum habe ich mich auf Wunsch meiner Leserinnen und Leser entschlossen, über die sicherlich spannendste Zeit meines Lebens zu schreiben. Zunächst möchte ich Sie jedoch ins Jahr 2009 hier in Mannheim ins Filsbach-Schlösschen entführen.
Draußen herrschte heftiges Schneetreiben, nichts Ungewöhnliches für den 28. Dezember. Es war in vielfacher Hinsicht ein wahrhaft unwirtlicher Termin zum Heiraten. Die stürmisch nasskalten Wetterverhältnisse erlaubten nämlich weder romantischen Blüten in hochgesteckten Haaren noch hochhackige Pumps mit zarten Riemchen und schon gar kein weißes Spitzenkleid mit Schleier. Aber letzteres hätte eh nicht gepasst, schließlich war Charlotte vor ein paar Tagen 57 geworden und außerdem war es auch ihre zweite Eheschließung. Eine kirchliche Trauung wäre sowieso nicht infrage gekommen, da sie bereits einige Jahre zuvor aus der Kirche ausgetreten war. Sie hatten jedoch nicht bis zum Sommer warten wollen. Der 28.12.2009 war nämlich ein ganz besonderer Tag für sie beide. Dieser Tag strahlte eine große Symbolkraft aus, war schicksalhaft mit ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft verknüpft. Aber das wusste niemand, das war ihr Geheimnis. Vielleicht würden sie es der kleinen Hochzeitsgesellschaft später beim festlichen Menü im Restaurant Skyline im Mannheimer Fernmeldeturm offenbaren.
»Wann geht es denn jetzt endlich los?«, rief jemand ungeduldig von hinten. Es war Onkel Heinz. Wie immer konnte er nicht abwarten. Der würde sich nie ändern. Charlotte hatte diese und ähnliche Reaktionen fünfzig Jahre lang an ihm beobachtet, um nicht zu sagen, sie ertragen müssen. Er war zeitlebens ungeduldig und unbeherrscht gewesen, und sie war auch deshalb nicht wenige Male heftig mit ihm zusammengestoßen, insbesondere dann, wenn er geglaubt hatte, »Zweitvater« spielen und sich in ihr Leben einmischen zu müssen. Sie wollte sich gerade umdrehen, um ihm zu antworten, doch da kam ihr schon ihre Mutter zuvor, die neben ihm im Rollstuhl saß. »Halte du dich mal bitte zurück, Heinz!«
Charlotte musste insgeheim grinsen, ihre Mutter hatte es stets verstanden, Heinz Wolf zurückzupfeifen. Sie war die Einzige, auf die er hörte und die ihn bremsen konnte. Er verehrte sie so sehr, dass er niemals etwas getan hätte, womit er bei ihr hätte in Ungnade fallen können.
Charlotte blickte ihre Mutter und ihren künftigen Mann mit einem vielsagenden Lächeln an. Die drei verstanden sich auch ohne Worte.
Die Fenster des Trauungssaales Venedig im sogenannten Filsbach-Schlösschen waren mittlerweile derart angelaufen, dass durch die milchigen Scheiben hindurch nichts mehr zu erkennen war. Es war, als würde das Draußen gar nicht mehr existieren.
Filsbach-Schlösschen – was für ein wohlklingender Name! Eigentlich waren es die Mannheimer Bürgerdienste in K7, die zwei Räume als Trauungssäle ausgestattet hatten, sozusagen als Ausweichstätte, wenn das Standesamt in F1 wegen des Wochenmarktes ausfiel. Man hatte sie auf die Namen Paris und Venedig getauft, deren Klang allein schon romantische Hochzeitsgefühle bei beiden Heiratskandidaten aufkommen ließ: Sie sahen sich verliebt über die Champs-Élysées flanieren, Arm in Arm über den Montmartre schlendern und sich im Sonnenuntergang auf dem Eiffelturm küssen. Oder sie glitten als Liebespaar auf den sanften Wogen des Canale Grande, während der venezianische Gondoliere ihnen seine schmachtenden Liebeslieder zuhauchte. Was für Assoziationen! Wer würde da im entscheidenden Augenblick nicht Ja sagen?
Die Räume waren von schlichter Eleganz, passend zum Gebäude. Seinen Beinamen Filsbach-Schlösschen verdankte das Gebäude seiner Fassade und seiner Gliederung, denn es war tatsächlich in den 20er-Jahren in Anlehnung an das Mannheimer Schloss entworfen worden. Aber das konnte man erst beim zweiten Hinsehen erkennen. Am interessantesten fand Charlotte jedoch den Fußboden im hinteren Teil des Untergeschosses. Der war trotz der Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg anscheinend nie renoviert worden, denn da waren doch tatsächlich einzelne Fliesen so aneinandergelegt, dass sich in ihren Ecken Hakenkreuze ergaben. Ob das Zufall war? Charlotte konnte es nicht glauben. Anscheinend hatte dieser Bodenbelag den Krieg überlebt und stand unter Denkmalschutz.
Charlotte blickte auf die Uhr. »Jetzt könnte die Standesbeamtin aber langsam kommen«, dachte sie bei sich. Als hätte es jemand gehört, stürmte in diesem Augenblick ganz aufgelöst und mit hochrotem Kopf eine Mitarbeiterin des Standesamtes herein.
»Es dud ma furschdbar leid, awer die Frau Sun steckd im Schdau. Die hot grad ongerufe, die hawe die A5 zwische Ladeburg und Heidelberg geschperrd. Do hots en Haufe Ufäll wege Glatteis gewwe. Es kann also noch ä ganzi Weil dauere, bis se do is. Derfe mer Ihne derweil was zu drinke onbiede? Es dud mer werklisch leed, awer fa des Wedder kann jo schließlisch kenner was.«
Ob das ein Zeichen von oben war? Wollte der Himmel ihr noch ein wenig Bedenkzeit schenken, damit sie nicht wieder den Falschen heiraten würde?
Conrad unterbrach Charlottes Gedanken. »Renate und ich gehen ein bisschen raus. Wir wollen eine rauchen«, meinte Conrad. »Und deinen Liebsten, den nehmen wir mit. Schließlich bin ich sein Trauzeuge und muss auf ihn aufpassen, damit hier alles ordentlich über die Bühne geht.« Er schmunzelte.
»Magst du nicht mitkommen, Charlotte?« Ihr Zukünftiger wollte sie nicht allein zurücklassen.
»Nein, geh ruhig mit. Genieß deine Freiheit noch ein bisschen.« Sie lächelte ihn zärtlich an. »Ich möchte lieber hier sitzen bleiben.«
Er gab ihr einen liebevollen Kuss auf die Lippen. Dann ging er mit Renate und Conrad hinaus.
»Wir müssen dich leider auch allein lassen, mein Schatz«, meinten nun Charlottes Trauzeugin Heidi und ihr Mann Hannes. »Deine Mutter und Onkel Heinz möchten zur Toilette, denn es wird ja nun doch noch etwas dauern, bis wir dich unter die Haube bringen.«
»Soll ich mitkommen?«, bot Charlotte ihnen an.
»Keine Sorge, wir schaffen das schon. Ruh du dich noch ein bisschen aus, schließlich musst du jetzt gleich eine folgenschwere Entscheidung treffen.« Hannes zwinkerte ihr zu.
Kurz darauf saß Charlotte allein in dem Trauungssaal mit der dunklen Holzvertäfelung, den hellen Vorhängen, den bequemen beige gepolsterten Stühlen und dem edlen Parkettboden. Es war das zweite Mal, dass sie sich »trauen« würde. Das letzte Mal war sie 1993 in einem ähnlichen Saal in Karlsruhe gesessen. Ihre erste Ehe war nicht von langer Dauer gewesen. Ob es dieses Mal gutgehen würde? Laut Statistik wurde in Deutschland immerhin fast jedes zweite Paar geschieden. Allerdings hatte eine andere Statistik auch festgestellt, dass die zweite Ehe in den meisten Fällen glücklicher verlief als die erste.
Charlotte hatte schon vor ihrer ersten Ehe bestimmt ein halbes Dutzend Heiratsanträge bekommen, aber sie alle nicht angenommen. Immer hatte irgendetwas nicht gestimmt. Meist hatte sie gefühlt, dass ihre Liebe nicht groß genug war, um für ein ganzes langes Leben zu halten. Nur Martin, der war eine Ausnahme gewesen, ihn hätte sie gerne geheiratet. Nachdem er ihr jedoch eröffnet hatte, dass sie damit rechnen müsse, dass es in seinem Leben immer mal wieder auch eine andere Frau geben würde, hatte sie sich von ihm zurückgezogen. Das wollte sie sich nicht antun. Martin war einer dieser 68er-Männer, die glaubten, ihre Untreue damit legitimieren zu können, dass sie ihr Fremdgehen nicht verheimlichten, sondern offen darüber sprachen und dazu standen. Was sie dabei vergaßen, war, dass die Wahrheit der Betrogenen nicht weniger wehtat. Martin hatte ihr damals somit das Herz gleich in zweifacher Weise gebrochen, denn er war darüber hinaus der Hauptgrund gewesen, warum sie nicht zu Aurelio, der größten Liebe ihres Lebens, nach Mexiko zurückgekehrt war.
Aber irgendwann hatte Charlotte ihm vergeben und wieder Kontakt zu ihm aufgenommen. Und Martin hatte sich, wie man so schön sagte, die Hörner abgestoßen und war mit zunehmendem Alter ruhiger geworden. Seine Sturm-und-Drang-Jahre schienen endgültig überwunden.
Charlotte schloss die Augen und ihre Gedanken wanderten elf Jahre zurück in die Vergangenheit. Sie fand sich im Jahr 1998 wieder, am Abend vor ihrer Abreise nach Mexiko.