Ein Troisdorf-Krimi
Heribert Weishaupt
Herbstnebel
Ein Troisdorf-Krimi
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Burg Blankenberg Foto: Heribert Weishaupt
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Betrogene Liebe ist
wie Menschenblut –
sie schreit aufwärts
nach Rache.
Matthias Claudius
(1740 – 1815)
Es war ein schöner Sommermorgen. Noch lag das kleine Städtchen hoch oben auf dem Berg verträumt im Sonnenschein. Das normalerweise lebhafte Treiben in den Straßen und vor den Häusern hatte noch nicht begonnen. Lediglich in der Schmiede hörte man handwerkliches Arbeiten und mehrere laute Schläge des Schmiedehammers dröhnten über das Siegtal. Für den Sonntagmorgen war das äußerst ungewöhnlich.
„Hätte das denn nicht Zeit bis morgen gehabt?“, regte sich der Schmied auf.
Er hasste es, bereits kurz nach Sonnenaufgang sein Feuer mit dem Blasebalg zu entfachen, um für die Gerichtsbarkeit den Schmiedehammer zu schwingen. Und das an einem Sonntag, dem einzigen arbeitsfreien Tag der Woche. Demzufolge schlecht war seine Laune, zumal er für seine Arbeit kaum das angemessene Salär erwarten durfte.
Durch das lodernde Feuer war es in der Schmiede heiß und stickig. Den Oberkörper des Schmieds umspannte nur eine ärmellose, schwarze Weste aus Leder. Der hervorquellende, riesige Bauch ließ vermuten, dass seine Geschäfte gut gingen. Ein breiter Gürtel, ebenfalls aus schwarzem Leder, umspannte seinen Leib – nein, er verlief unterhalb des Bauches, und hielt seine Hose, die ihm bis unterhalb der Knie reichte, zusammen. An seinen Füßen trug er klobige Holzschuhe. Von seiner Stirn, die von schwarzen Locken umgeben war, tropfte der Schweiß auf den staubigen Boden.
Der Schmied riss ein schmuddeliges Tuch hoch, das er zwischen Gürtel und Bauch geklemmt hatte. Damit wischte er sich über die Stirn und über seinen stoppeligen Bart.
„Dann bringt mir das Weibsstück, damit ich ihr die Arm- und Fußfesseln anlegen kann“, rief er lautstark seinem Gehilfen und dem Gerichtsdiener zu. Sie standen in der Nähe der Tür und hielten mit beiden Händen eine junge Frau fest.
Die Haare der Frau waren ursprünglich blond gewesen. Jetzt, nach der Gerichtsverhandlung und zwei schlaflosen Nächten waren sie fettig und klebten an ihrem Kopf. Dreck und Staub vom nächtlichen Schlaflager im Kuhstall, wo sie an einem Pfosten festgekettet war, hatten die Haarfarbe ins Bräunliche verändert.
Ihr hübsches Gesicht war vom Schmutz und den vergossenen Tränen verschmiert. Jetzt weinte sie nicht mehr – sie hatte alle ihre Tränen vergossen und erwartete, man könnte fast meinen störrisch, den Vollzug des Urteils.
Widerstandslos ließ sie sich von den beiden Männern zum Amboss führen, wo der Schmied die eisernen Fesseln fachkundig um ihre zierlichen Handgelenke legte. Die daran befestigten schweren Eisenketten drückte er ihr in die Hände. Sie sollte selbst ihre Fesseln tragen – sie hatte es schließlich nicht besser verdient.
„Sag deinem Herrn, dem Richter, dass ich mir morgen mein Salär abhole. Und er soll erst gar nicht versuchen, mit mir zu handeln“, sagte er zum Gerichtsdiener und schlug ihm mit seiner riesigen Pranke auf die Schulter.
Der Gerichtsdiener ging dabei in die Knie und konnte nur ein zaghaftes „Jawohl“ über die Lippen bringen. Auch von seiner Stirn rannen Bäche von Schweiß. Trotzdem würde er nie seinen, bis oberhalb der Knie reichenden, Gehrock während der Vollstreckung eines Gerichtsurteils ausziehen, um sich Erleichterung zu verschaffen. Er war froh, als sie die Schmiede verlassen konnten. In der frischen Morgenluft atmete er einmal hörbar tief durch. Verstohlen zog er ein Tuch aus der Innentasche seines Gehrocks und tupfte seine Stirn ab.
Der Gerichtsdiener und der Helfer des Schmieds führten und stießen die Frau unsanft die Straße hoch, die zum nahegelegenen Marktplatz führte. Rechts und links der Straße reihten sich kleine Fachwerkhäuser aneinander. Der Platz lag am Ende der Steigung, die sich vom Beginn des Ortes bis zur Kirche oberhalb des Marktplatzes erstreckte. Auch er war eingerahmt von Fachwerkhäusern, wobei das Haus des Wirtes das Größte und Ansehnlichste war.
Nach den Entbehrungen während ihrer Haft musste die junge Frau jetzt alle ihre Kräfte zusammennehmen, um den steilen Berg mit den schweren, eisernen Ketten in den Händen, zu bewältigen. Obschon ihre Gelenke schmerzten, kam kein Laut über ihre Lippen.
Riesige Buchen spendeten auf dem Marktplatz angenehmen Schatten. Dies sollte für die Frau in den Eisenfesseln aber auch das einzig Angenehme an diesem Morgen sein.
Vor einem mächtigen Holzpfahl, der zwischen dem Rathaus und der Kirche stand, geboten die Männer der Frau, stehen zu bleiben. Der Pfahl war exakt sieben Fuß hoch. Mit dem Rücken gegen den Pfahl, verankerten die Männer die Ketten an dafür vorgesehene Stellen des rauen Holzes. An manchen Stellen waren Bilder und Texte eingeritzt, die jetzt durch die Frau zum Teil verdeckt wurden.
Hier und da öffneten sich Fenster und neugierige Gesichter schauten zum Marktplatz. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die ersten Gläubigen den Weg zur Kirche antreten würden, um dem sonntäglichen Gottesdienst beizuwohnen. Alle Blicke der Kirchenbesucher würde die Frau dann auf sich ziehen und jeder Einwohner würde überzeugt sein, dass seine Heimatstadt eine florierende Rechtspflege besaß.
Als die Glocken der Kirche die Gläubigen zur Messe riefen, hatte sich bereits eine stattliche Anzahl Menschen vor dem Pfahl, der allgemein „Schandpfahl“ genannt wurde, versammelt.
Zur Feier des Tages hatten die Kirchenbesucher ihre beste Garderobe angelegt.
Jeder der damaligen Herrscher hatte für seine Stadt und sein Land eine gewisse Kleiderordnung erlassen, damit sich bereits rein äußerlich der gehobene Stand von den Arbeitern unterschied. Jedoch wurde vielerorts an normalen Sonntagen wie heute dagegen verstoßen. So sah man bei dem einen oder anderen gutgestellten Handwerker am Kragen des Gehrocks das Fell eines Marders, das nach der bestehenden Kleiderordnung nur den Bürgern vom Rat oder den Kaufleuten vorbehalten war. Andererseits war es manch einem Bürger vornehmer Herkunft zu lästig, sich nur für den Kirchgang die beste Robe anzulegen. Man tolerierte diese kleinen Abweichungen. Und da es keinen Kläger gab, gab es auch keinen Richter. So blieb der Erlass zur Kleiderordnung weitgehend wirkungslos.
Trotzdem hatten die Gattin des Handwerkermeisters und die Frauen der Händler ihre bodenlangen Roben, Kombinationen aus Rock und Jacke, angezogen. Die Frauen der einfachen Arbeiter hatten sich jeweils in ihre sonntägliche, vorne überlappende Jacke mit Schürze und dazu einen knöchellangen Rock und ein Schultertuch gekleidet. Die Köpfe der Frauen bedeckten Hauben, manche in einfacher, andere in aufwendiger Verarbeitung und Verzierung.
Die wohlbetuchten Herren trugen ihre besten Anzüge, wobei die Männer der Unterschicht in Ärmelwesten gekleidet waren, die nicht so weit und aufwendig verarbeitet waren. An Werktagen waren bei ihnen weite Kniehosen wegen der besseren Bewegungsfreiheit üblich, am Sonntag wurden jedoch enge Hosen bevorzugt. So hatten sie zumindest das Gefühl, der Oberschicht ein wenig näher zu sein.
Alle gafften die junge Frau am Schandpfahl an. Die Frauen schauten voller Verachtung, die Männer eher gierig, obschon das ungepflegte Aussehen der Frau nicht gerade ansprechend war. Hatte sich doch das Gerücht verbreitet, dass sie in mehreren Fällen einen verheirateten Mann verführt hatte. Manch einer der Männer dachte sicherlich mit Blick auf seine Gattin: Hätte sie doch nur mich verführt, ich hätte nichts dagegen gehabt.
Möglichst unauffällig reckten die Frauen ihre Hälse. Nein, der von diesem Weibsstück verführte Ehemann und dessen Frau waren nirgendwo zu sehen. Dieser Umstand war natürlich Anlass zu unüberhörbarem Getuschel und Nährboden für Vermutungen und Gerüchte, insbesondere unter den Damen des Ortes. War es vielleicht doch nicht nur eine einfache, unsittliche Verführung, sondern steckte vielleicht mehr dahinter – vielleicht sogar Liebe?
Als die Glocken verstummten, baute sich der Richter vor der Frau auf. Wie auf ein unsichtbares Zeichen erstarb jedes Gespräch und Getuschel. Der Richter schaute sich Beifall heischend um und ergriff das Wort: „Dieses Kind unserer Stadt hat schweres Unrecht begangen. Eindeutig, durch mehrere Zeugen belegt und letztendlich auf frischer Tat überführt, hat sie sich mehrmals der Prostitution schuldig gemacht. Ihr Lieben, lasst uns in die Kirche gehen und für die verführte Seele unseres lieben Mitbürgers und Freundes beten. Nach dem Gottesdienst wird die gerichtlich beschlossene Anprangerung beginnen.“
Damit drehte er sich um und schritt gemessenen Schrittes zum Kirchenportal. Die Gemeinde folgte gehorsam und leise murmelnd in gebührendem Abstand.
Die Frau hatte den Kopf gesenkt, denn sie wusste was in Kürze auf sie zukam. In ihrem Kopf gingen immer wieder die gleichen Gedanken herum: Wieso wurden nur immer die Frauen bestraft, wenn sie einem Mann und dem Ruf der Liebe folgten? Die Männer hatten alle Freiheiten und Entschuldigungen auf ihrer Seite und gingen dabei grundsätzlich straffrei aus. War das Gerechtigkeit?
Sie galt jetzt als „öffentliche Frau“ – als Prostituierte. Man würde sie verspotten, beleidigen und anspucken. Sogar Freunde würden sie mit Unrat bewerfen. Bei dessen Wahl waren die Bürger durchaus kreativ und nicht zimperlich. Faule Eier, verfaultes Obst und Salatköpfe waren als Wurfmaterial üblich. Aber auch Exkremente und tote Ratten wurden nicht selten als Wurfgeschosse eingesetzt. Lediglich das Anfassen und Schlagen sowie das Werfen harter Gegenstände war verboten und galt als unehrenhaft. Trotzdem kam es gelegentlich zu „Unfällen“, wenn die Verärgerung der Bürger zu groß war. Manchmal dann sogar mit Todesfolge für den Verurteilten.
Das Gericht hatte für die Anprangerung trotz der Schwere des Vergehens mit Rücksicht darauf, dass es sich um eine zierliche Frau handelte, zwei Stunden festgelegt. Lediglich bei Männern konnte die Strafe in seltenen Fällen vier Stunden und mehr betragen. Die Gerichtsbarkeit war der Meinung, binnen dieser Zeit sei die Schmerzgrenze für die Delinquenten erreicht.
Der Pfarrer hatte schließlich mit seiner aufgeregten und ungeduldigen Gemeinde ein Einsehen. Der Gottesdienst dauerte bei Weitem nicht so lange wie üblich. Vielleicht konnte der Pfarrer auch selbst das bevorstehende Ereignis kaum erwarten, war die Verführung zum Ehebruch doch eine Todsünde und die Anprangerung durchaus die gerechte Strafe dafür.
Der Bürgermeister schritt als Erster durch das, vom Kirchendiener geöffnete, Portal der Kirche in die gleißende Sonne. Dann drängten die Männer, danach die Frauen und Kinder durch die Kirchenpforte …
*
Jemand rüttelte vorsichtig an seiner Schulter.
„Sie müssen jetzt gehen. Wir schließen“, sagte die Bibliothekarin, die leise neben ihn getreten war.
Verärgert hob er den Kopf und schaute die junge Frau vorwurfsvoll, ja fast vernichtend, an. Dabei rutschte ihm das Buch von den Oberschenkeln und polterte zu Boden.
„Ich räume das Buch schon ins Regal. Sie müssen jetzt leider gehen“, flüsterte die Frau, damit niemand der noch vorhandenen Besucher der Bücherei etwas hören konnte.
Sie bückte sich und hob das Buch mit dem Titel „Gerichtsbarkeit vom Mittelalter bis zur Neuzeit“ auf.
Aus dem In-Ear-Kopfhörer seines Smartphones drangen die Stimmen der Folk-Gruppe „Faun“ mit der Ballade „Diese kalte Nacht“ in sein Ohr: „Diese Nacht ist kalt und der Wind, der bläst durch unser Land. Und wer jetzt noch geht, ist ein armer Tor oder auf dem Weg zu der Liebsten, die jede Reise lohnt …“
„Verdammt“, sagte der Mann enttäuscht und verärgert zu sich selbst.
Dabei riss er sich die Kopfhörer aus den Ohren.
Wie gerne hätte er seinen Tagtraum, von dem was er vorher gelesen hatte, zu Ende geträumt und dabei der schönen Musik, die thematisch zwischen Spätmittelalter und Romantik angesiedelt war, gelauscht.
Gerade jetzt, wo die Frau in seinem Traum ihre gerechte Strafe bekommen sollte, wurde er in die Wirklichkeit zurückgeholt.
„Sie können ja gerne morgen wiederkommen“, sagte die junge Bibliothekarin besänftigend.
Sie hatte die Verärgerung des Mannes bemerkt.
Ohne eine Antwort zu geben und ohne die Frau eines Blickes zu würdigen, schritt der Mann zum Ausgang und verließ die Städtische Bücherei.
Ich habe sie beobachtet.
Alle ihre Aktivitäten,
die Gemeinsamkeit mit ihrer Tochter,
ihre verwerfliche Beziehung.
Wie kann eine Frau nur so verdorben,
rücksichtslos und gefühlskalt sein?
Es war Spätherbst. Viele Bäume hatten bereits ihre Blätter abgeworfen. In den Wäldern, auf den Wiesen und in den Parks lag ein bunter Teppich Herbstlaub. Lediglich Eiche, Esche und Rotbuche trugen noch Restbestände der wunderschön gefärbten Blätter, die den Herbst zu einer bunten und wenn die Sonne auf die Blätter schien, leuchtenden Jahreszeit machten. Aber nur noch wenige Tage und auch diese Bäume würden ihre kahlen Äste in den Himmel recken.
Die Tage wurden merklich kürzer und die Abende und Nächte bereits recht frisch. Wer morgens zur Arbeit fuhr, hörte im Verkehrsfunk häufig die Warnung vor zähem Nebel, der sich erst in den Vormittagsstunden auflösen würde. Dieses Naturschauspiel war den Menschen im Siegtal vertraut und sie hatten gelernt, ihr Leben darauf einzustellen. Abends legte sich der Nebel über den Fluss und über die feuchten Wiesen rechts und links des Ufers. Die wärmenden Strahlen der Sonne waren an manchen Tagen nicht in der Lage, den Nebel bis in Bodennähe vollständig aufzulösen. So konnten die Tage auf den Höhen meistens einige Sonnenstunden aufweisen, im Tal war es dagegen durchgehend trüb.
Es war nicht zu übersehen: Der Herbst lag in den letzten Zügen und der Winter kündigte sich an.
*
Ein kurzer Blick reichte, um festzustellen, dass der Platz, auf dem sie gewöhnlich saß, auch heute Abend frei war. Es waren lediglich einzelne Plätze besetzt. Nur wenige Fahrgäste fuhren an Wochentagen zu dieser Zeit mit der S-Bahn in Richtung der oberen Sieg. Erschöpft ließ sich die junge Frau direkt am Fenster mit dem Gesicht in Fahrtrichtung nieder. Bei einer ihrer ersten Fahrten hatte sie einen Platz gewählt, von dem sie nicht in die Fahrtrichtung blicken konnte. Bereits nach kurzer Zeit hatte sie mit Übelkeit zu kämpfen.
Sie stellte ihre Handtasche auf den Schoß. Es war eine dieser großen Taschen, die man über die Schulter hängen und auch für kleinere Einkäufe nutzen konnte. Sie zog den Reißverschluss auf und nahm eine kleine Flasche Wasser heraus. Es war gerade noch ein Schluck in der Flasche, die sie gierig leer trank. Gerne hätte sie noch mehr getrunken – aber es musste bis zu Hause reichen.
Langsam setzte sich die S-Bahn der Linie 12 in Bewegung, um dann bereits nach wenigen Sekunden volle Fahrt aufzunehmen.
Es war ein langer, anstrengender Tag für die Frau gewesen. Sie lehnte den Kopf gegen die Fensterscheibe. Wie ein Film zogen die Lichter der Straßenlaternen, der Reklametafeln und der Häuser an ihr vorüber. Sie schloss die Augen. Erschrocken riss sie sie wieder auf, als der Zug in den nächsten Haltepunkt einfuhr. Sie durfte nicht noch einmal eindösen. Zu groß war die Gefahr, an ihrem Zielbahnhof vorbeizufahren. Dies war bereits die nächste Haltestelle.
Mit quietschenden Bremsen hielt die S-Bahn am Bahnhof Blankenberg an. Der S-Bahn-Haltepunkt bestand lediglich aus einem Bahnsteig für beide Richtungen. Im direkten Anschluss an den Haltepunkt überquerten die Gleise auf einer schön geschwungenen Bogenbrücke die Sieg und schlängelten sich fortan nur noch einspurig durch das enge Siegtal.
Alle Türen öffneten sich und aus der Tür direkt hinter dem Triebfahrzeugführer stieg die Frau aus. Sie schlug zielstrebig den Weg zum Ende des Bahnsteigs ein. Als sie am Fenster des Triebwagens vorüber kam, winkte sie kurz dem Bahnbeamten im Führerstand zu. Sie kannten sich flüchtig, denn die junge Frau fuhr oft diese Strecke und in den meisten Fällen war sie, so wie auch heute, der einzige Fahrgast, der um diese späte Uhrzeit hier ausstieg. Sie saß immer direkt bei der ersten Tür. Von hier war der Weg zum Ende des Bahnsteigs, kurz vor der Brücke, am nächsten. Von dort führte ein schmaler Pfad hinunter zu den Wiesen und Feldern am Ufer der Sieg. Der Hauptausgang des Bahnhofs befand sich am anderen Ende des Bahnsteigs, dort, wo das verlassene Bahnhofsgebäude stand und der Weg zum P+R-Parkplatz an der Siegtalstraße führte.
Sie hatte schon seit Monaten kein Auto mehr. Nach dem schweren Unfall im letzten Winter, den sie selbst verschuldet hatte, hatte ihr Wagen nur noch Schrottwert. Eine Vollkaskoversicherung hatte sie nicht und für ein neues Auto fehlte ihr zurzeit das Geld. Spätestens im nächsten Sommer, wenn ihre Tochter in die Schule kommen würde, benötigte sie einen neuen Wagen. Bis dahin musste sie eisern sparen und jeden überzähligen Euro zur Seite legen.
Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Die Zeiger zeigten ihr 22:35 Uhr an. Na, ist doch klar, dachte sie bei sich. Die Bahn hatte wie in den meisten Fällen auf diesem Streckenabschnitt zehn Minuten Verspätung.
Als sie den Bahnsteig verlassen hatte, nahm sie ihre Taschenlampe aus der Handtasche und schaltete sie ein. Kein Stern und kein Mond erhellten die Nacht. Das spärliche Licht des Bahnsteigs wurde vom Nebel, der über Flur und Feld lag, verschluckt. Der Strahl der Taschenlampe zeichnete sich weiß im Nebel ab und konnte den Weg nicht wesentlich ausleuchten. Sie hasste diese zehn Minuten Fußweg über den unbefestigten Pfad bis zur Siegtalstraße. Obschon sie ihn in diesem Jahr oft gegangen war, erschreckte sie jedes Mal, wenn ein Kaninchen plötzlich ihren Weg kreuzte, um augenblicklich im Nebel des Bahndamms wieder zu verschwinden.
Die L333, die Siegtalstraße, schlängelte sich von Hennef kurvenreich durch das Tal dieses Rheinnebenflusses. Nachdem sie die Straße erreicht hatte, atmete sie durch. Hier gab es zumindest wieder eine spärliche Straßenbeleuchtung. Ein einzelnes Auto raste an ihr mit viel höherem Tempo, als an dieser Stelle erlaubt war, vorbei in Richtung Hennef. Auf der anderen Straßenseite befand sich ein Restaurant, das natürlich zu dieser Uhrzeit geschlossen war und dunkel am Aufstieg zur Stadt Blankenberg lag.
Trotzdem hatte sie das Gefühl, sicher und wieder unter Menschen zu sein.
Anfang des Jahres hatte sie eine Putzstelle in Hennef angenommen. Sie war sich darüber im Klaren gewesen, dass besonders der Rückweg nach Hause kein Vergnügen sein würde. Aber sie hatte keine Wahl. Putzstellen gab es in ihrem Heimatort nicht viele und die es gab, waren bereits seit Jahren durch Frauen aus dem Ort besetzt, die diese Arbeit nie aufgeben würden. Da ihre Tochter jeden Dienstag und Freitag bei ihrem geschiedenen Mann war, hatte sie die Stelle in Hennef angenommen. Jeden Dienstag und Freitag von 18:00 bis 21:30 Uhr. Bis 14:00 Uhr war sie im Büro eines großen Unternehmens in Siegburg beschäftigt. Ihr Ex-Mann war selbstständig und konnte es so einrichten, dass er ihre Tochter mittags im Kindergarten abholte und zuverlässig am nächsten Morgen, wenn er nach Eitorf zur Arbeit fuhr, wieder zu ihr brachte.
Damals, als ihr Mann von ihrer Affäre mit Erich erfuhr, war er ausgerastet. Bereits am nächsten Tag hatte er ihre gemeinsame Wohnung verlassen und war fürs Erste in eine kleine Pension gezogen. Er war einfach geschockt, als er seine Frau mit einem fremden Mann im eigenen Ehebett vorgefunden hatte. Als sie ihm dann noch beichtete, dass die Beziehung bereits mehrere Monate andauerte, konnte er keine Minute länger in der Wohnung mit ihr zusammen sein. Von Verzeihen und Versöhnung war keine Rede, weder für ihn, noch für sie. Für sie war das mit Erich nicht nur eine Affäre. Sie wollte diese neue Beziehung nicht beenden, sondern wollte sich von ihrem Mann trennen und mit Erich zusammenleben. Für ihren Mann brach die Welt zusammen. Er konnte das nicht begreifen – insbesondere nicht im Hinblick auf ihre kleine Tochter.
Erst nach Wochen, nein, erst nach einigen Monaten hatte sich ihr Verhältnis als „getrennt lebende Eheleute mit Kind“ soweit beruhigt, dass sie eine Vereinbarung über das Aufenthaltsrecht ihrer Tochter treffen konnten.
Inzwischen war auch die Beziehung mit Erich zerbrochen. Sie hatten zu wenige Gemeinsamkeiten und mit ihrer Tochter konnte er rein gar nichts anfangen.
Jetzt stand sie wieder einmal am Fuße des Bergs, auf dessen Höhe die Stadt Blankenberg lag. Der Aufstieg würde wie immer anstrengend sein, aber sie hatte keine Wahl. Öffentliche Verkehrsmittel verkehrten um diese nächtliche Zeit nicht mehr. Zum Glück regnete es heute nicht und die Temperaturen waren auch für die Jahreszeit bereits sehr niedrig, so dass sie nicht so ins Schwitzen geraten würde, wie so oft in den heißen Sommermonaten.
Sie streifte ihre blonden Haare glatt, zog sie mit einem Haarband zu einem einfachen Zopf zusammen, atmete einmal tief ein und ging los. Bereits nach einem kurzen Stück des Weges bemerkte sie, dass heute nicht ihr Tag war. Es war Dienstag und der größte Teil der Woche lag noch vor ihr. Wie würden die nächsten Tage werden, wenn sie bereits heute erschöpft war und ihre Beine sich schwer wie Blei anfühlten? Sie keuchte.
Ihre Taschenlampe hatte sie inzwischen wieder eingesteckt. In großen Abständen beleuchtete das schale Licht alter Straßenlaternen die Straße. Nach einigen hundert Metern zweigte ein Fußweg von der Straße ab. Eine Abkürzung für Fußgänger und Fahrradfahrer. Der Weg führte jetzt steil in den Ort hinauf.
Um sich von ihrer Erschöpfung abzulenken, machte sie sich positive Gedanken. Sie dachte an ihre Tochter, die morgen in aller Frühe wieder zu ihr zurückkam. Sie hatte Glück, dass ihr geschiedener Mann dieser Regelung zugestimmt hatte. Auch er hatte dadurch den Vorteil, regelmäßig seine Tochter bei sich zu haben. Mia gefiel es, oft bei ihrem Vater zu sein. Nur sie hatte ihre Probleme damit. Wenn sie müde und abgespannt wie heute nach Hause kam, fühlte sie sich einsam und verlassen. Die Wohnung war menschenleer, niemand war da, auf den sie sich zu sehen freute. Wenn sie dann ins Kinderzimmer ging und das unbenutzte Bett sah, kamen ihr schon manchmal die Tränen und sie dachte darüber nach, wieso ihr Leben und vor allem ihre Beziehungen so verkorkst waren.
Der Fußweg wurde steiler und ihre Schritte langsamer. Wieder einmal, wenn sie müde war und ihren Gedanken unkontrolliert freien Lauf ließ, zog ihr Leben in lockerer Bildfolge an ihr vorüber: die anfängliche Liebe zu ihrem Ex-Mann, die Geburt ihrer Tochter, dann die Trennung und neue Liebe und wieder eine Trennung. Die ewige Suche nach Geborgenheit und Anerkennung. Besonders nach der Trennung von Erich, für den sie schließlich ihren Mann verlassen hatte, war sie verzweifelt, fühlte sich am Ende und konnte sich nur mit unzähligen Medikamenten durch den Tag schleppen. Wenn Mia, ihre Tochter, nicht gewesen wäre, die ihr einen Sinn im Leben gab, wer weiß, wo sie geendet wäre.
Mit einem Mal hatte sie den Eindruck, als höre sie Schritte hinter sich. Langsam drehte sie den Kopf und blickte über die Schulter nach hinten. Es war aber niemand zu sehen. Sie schien allein mit sich und ihren Gedanken zu sein. Sie kannte das, schließlich ging sie nicht zum ersten Mal bei solch einem Wetter nach Hause. Der Nebel beeinträchtigte nicht nur die Sicht, er täuschte auch das Gehör. Entfernte Geräusche oder auch Stimmen klangen im Nebel näher.
Nach nur wenigen Metern hörte sie rechts hinter sich das Rascheln von Blättern. Sie schaute sich erneut um. Bis zu der Wegbiegung, die sie gerade passiert hatte, sah sie niemand. Vielleicht ein Tier, ein Kaninchen, das in den Böschungen seinen Bau aufsuchte, dachte sie. Trotzdem konnte sie eine innere Unruhe nicht ignorieren.
Plötzlich packte sie jemand bei der Schulter und ein spitzer Gegenstand bohrte sich in die Haut ihres Halses. Sie erstarrte und fühlte sich wie zu Eis gefroren. Ihr Herz schien stehen zu bleiben.
„Ganz ruhig und keinen Laut“, forderte sie eine ruhig klingende, männliche Stimme auf.
Zur Unterstützung dieser Aufforderung bohrte sich der Gegenstand tiefer in ihre Haut. Sie bemerkte, wie eine warme Flüssigkeit an ihrem Hals hinab lief.
„Geh schneller, wenn ich bitten darf“, flüsterte jetzt sarkastisch die Stimme direkt an ihrem Ohr.
Die Haare auf ihren Unterarmen richteten sich auf. Sie begann zu zittern. Sie wollte sich zur Ruhe zwingen – aber es misslang.
„Was … was … wollen …“
„Kein Wort, habe ich gesagt.“
Und wieder schien sich der spitze Gegenstand tiefer in ihr Fleisch zu bohren.
Sie ging so schnell, wie es ihr möglich war. Sie japste nach Luft. Die Messerspitze, und sie war sicher, dass es eine Messerspitze war, blieb fest an ihrem Hals. Sie hatte keine Möglichkeit, den Kopf zu wenden und ihren Angreifer anzusehen.
In ihrem Kopf ging es zu, wie in einem Bienenstock. Es brummte und summte – sie konnte keinen klaren Gedanken fassen.
„Jetzt nach links, hinüber zur Burg“, befahl ihr die Stimme.
Sie überquerten die Straße, die an dieser Stelle durch eine Straßenlaterne beleuchtet wurde und betraten den Burgparkplatz. Kein Auto parkte dort. Manchmal stand hier ein Auto, in dem ein junges Liebespaar saß. Aber heute war kein Wagen zu sehen, keine Menschenseele da, die ihr zur Hilfe kommen könnte.
Der Mann drängte sie zu einem unbefestigten Fußweg, der durch den Wald zur Burg führte. Mehrfach stolperte sie in der Dunkelheit. Beim ersten Mal war sie froh, dass sie das Messer nicht mehr am Hals spürte. Doch bei jedem Stolpern riss der Unbekannte sie an den Haaren zurück. Jedes Mal schrie sie laut auf. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, wie brutal er sich verhalten würde, wenn sie hinfallen würde. Ihre Schritte wurden langsamer. Mit einem Male war das Gelände offen und es schien, als wenn sich der Nebel etwas lichtete. Sie kannte sich hier aus und wusste, dass sie an der Stelle waren, wo die beiden steilen Wegbiegungen zum Burggelände hoch führten. Weiter oben zeichnete sich die Silhouette der Burgruine ab.
Der Mann gebot ihr, stehen zu bleiben. Der Druck des Messers verschwand. Erleichtert, fast dankbar, atmete sie tief ein. In diesem Augenblick des Einatmens legte sich etwas über ihren Mund, das ihr die Zähne auseinanderdrückte und sich tief in ihre Mundwinkel einschnitt. Sie spürte, wie dieses Etwas hinter ihrem Kopf zusammengezogen wurde. Sie konnte kein Wort mehr sagen – sie konnte nicht einmal ihre Zunge bewegen. Auch das Atmen war nur noch durch die Nase möglich. Für einen kurzen Augenblick breitete sich der Geschmack von Gummi oder Leder in ihrem Mund aus. Sie war sich nicht sicher. Dann schmeckte sie nur noch den metallischen Geschmack von Blut – ihrem eigenen Blut.
„Geh‘ weiter“, flüsterte die Stimme und der Druck des Messers an ihrem Hals war wieder da.
Da sich die Messerspitze exakt an derselben Stelle wie zuvor in ihre Haut bohrte, wollte sie vor Schmerz schreien. Es kam aber nur ein Würgen aus ihrer Kehle.
Der Weg war jetzt wieder asphaltiert. Langsam schlurfte sie die beiden Kehren der Straße hoch und sie erreichte völlig außer Atem den Burghof.
Im Tal hatte der Nebel jedes Licht der Sterne und des Mondes verschluckt. Bis hier oben waren die Nebelschwaden noch nicht in diesem Maße vorgedrungen und der Mond, es war beinahe Vollmond, beleuchtete schemenhaft das Geschehen auf dem Burghof. Der Mann drängte sie, den Burghof zu überqueren. Unter einer mächtigen Buche kurz vor der Burgmauer forderte er die Frau auf, stehen zu bleiben.
Mit schnellen, festen Griffen packte er ihre Handgelenke, spannte eine Gliederkette darum und zog die Frau mit dem Rücken gegen den Baum. Er zog die Ketten so fest an, dass sie zu keiner Bewegung mehr fähig war. Hinter dem Baum fügte er beide Ketten zusammen und verband sie mit einem Kabelbinder. Danach schritt er vor die Frau und betrachtete selbstgefällig sein Werk. Ihre flehenden, angsterfüllten Augen nahm er in der Dunkelheit nicht wahr.
Ja, ja, sein Werk war gut gelungen. Er zerrte einen prall gefüllten Rucksack herbei, den er wahrscheinlich irgendwann vorher hinter dem Baum abgelegt hatte. Neben dem Rucksack lag ein großer Felsbrocken. Im Schein des Mondes sah die Frau, dass er den Sack nur wenige Schritte vor ihr abstellte und sich kurz mit dem Inhalt beschäftigte. Er nahm einen Gegenstand heraus und stellte ihn auf die Bruchsteinmauer, die den Burghof umgab. Sie hatte keinerlei Vorstellung, um was es sich dabei handelte. Wenn es nicht so abwegig gewesen wäre, hätte sie auf ein Stativ mit einer Kamera getippt. Ihre Augen hatte sie weit aufgerissen. Es war nicht die Kälte, weswegen die Frau am ganzen Leib zitterte. Sie hatte Angst – Todesangst. Sie ahnte, dass sie der Mittelpunkt der Vorbereitung war und etwas Schreckliches mit ihr geschehen würde.
Wenn sie gewusst hätte, was auf sie zukommen würde, hätte sie wahrscheinlich bereits vorher das Bewusstsein verloren. So dauerte es für sie noch eine lange Zeit, bis die Ohnmacht und letztendlich der Tod sie erlöste.
Lisa war froh, als sie ihren Wagen von der Straße auf den Parkplatz an der Burg Blankenberg einlenken konnte. Der Parkplatz lag in einer Kurve der Serpentinen, die hoch zur Stadt führten. Hier im Wald hing der Nebel noch dicht zwischen den Bäumen und Sträuchern und sie wäre fast am Parkplatz vorbei gefahren.
Vor einigen Wochen hatte sie die Zusage zur Versetzung nach Bonn erhalten. Sie hatte einen Versetzungsantrag von Köln zum Kommissariat in Bonn-Beuel gestellt, da dort im KK 11 eine Stelle freigeworden war und sie in Bonn bessere berufliche Möglichkeiten und Chancen sah. Außerdem wäre sie um einiges näher an ihrem Wohnort Troisdorf und die zermürbenden Fahrten im Berufsverkehr über den Rhein und durch Köln würden entfallen.
Die wenigen Tage Resturlaub, die sie genommen hatte, wollte sie unter anderem dazu nutzen, sich in Bonn vorzustellen und sich ihren neuen Arbeitsplatz anzusehen. Kurz nach der Zusage stattete sie ihrer neuen Arbeitsstelle aus diesem Grunde einen Besuch ab.
Obschon sie bereits seit einigen Jahren Kommissarin war, klopfte ihr Herz. Sie war aufgeregt. Heute ging es nicht um Entführung, Brandermittlung oder Bandenkriminalität,sondern heute war ihre Vorstellung beim Leiter des KK 1, dem auch das KK 11 für Tötungsdelikte unterstand.
„Gehen Sie bitte nach dort drüben zum Aufzug und fahren Sie in den 3. Stock. Der Leiter des KK 1 erwartet Sie“, sagte ihr die freundliche Dame beim Empfang, nachdem sie die Besucherin telefonisch im KK 1 angemeldet hatte.
Auf dem Weg zum Aufzug versuchte sie, ihre Nervosität in den Griff zu bekommen, indem sie ihre Gedanken ablenkte und an ihre Tochter dachte. Hoffentlich war ihre Mutter heute mit ihrer Tochter klar gekommen. Sie hatte ihre Mutter gebeten, dafür zu sorgen, dass Nicole, die nicht gerade einfach im Umgang war, rechtzeitig zur Schule kam. Insbesondere bei ihrer Mutter versuchte sie ständig, ihren Willen durchzusetzen, da sie ihrer Meinung nach oft zu nachgiebig mit ihrer Tochter war. Etwas mehr Konsequenz war manchmal angebracht.
Zu weiteren Gedanken kam Lisa nicht, da ein leises Klingeln des Aufzuges andeutete, dass die dritte Etage erreicht war.
Auf dem Flur kam ihr ein Mann entgegen. Er war groß und bullig mit einer ausgeprägten Halbglatze. Mit lauter, sonorer Stimme stellte er sich ihr als Leiter des Kriminalkommissariats 1 vor. Er war ihr keineswegs unsympathisch und begleitete sie zu den Zimmern des KK 11. Dort stellte er sie ihren neuen Kollegen mit netten Worten vor und zeigte ihr sowohl ihren Arbeitsplatz als auch anschließend das gesamte Haus. Ihr erster Eindruck war, dass in dem Kommissariat ein gutes Betriebsklima herrschte. Obschon sie überzeugt war, dass Schmitz, so hieß ihr Chef, bei allen Freiheiten, die er seinen Mitarbeitern erlaubte, sich nicht das Heft aus der Hand nehmen ließ. Als er sich ihr vorstellte, konnte sie sich ein Grinsen wegen des „seltenen“ Namens kaum verkneifen, was er wiederum sofort bemerkte.
„Ja, ja, grinsen Sie nur. Wir Schmitzen‘s sind immerhin jahrhundertealter, rheinischer Adel. Können Sie das auch von sich behaupten?“, lachte er sie lauthals an.
Sie hatte den Eindruck, er hätte ihr am liebsten wie einem Kumpel heftig auf die Schulter geschlagen.
Gleichzeitig konnte sie sich aber auch vorstellen, dass er im Ernstfall gerecht aber unerbittlich war und seine Vorstellungen und Entscheidungen durchsetzen konnte.
So wie heute hatte Lisa sich ihren ersten Arbeitstag beim Kriminalkommissariat 11 des Bonner Polizeipräsidiums nicht vorgestellt. Kurz vor sieben Uhr rief ihr neuer Chef sie zu Hause an.
„Frau Brenner! Wir haben einen Notfall, den wir schlechthin immer haben: Uns fehlt Personal! So wie ich Sie kennengelernt habe, sind Sie bestimmt eine Frau, die flexibel und belastbar ist und gut improvisieren kann. Ich werfe Sie jetzt ins kalte Wasser. Anstatt hier ins Präsidium, fahren Sie sofort zum Tatort Ihres ersten Falls.“
Nach diesen Worten lachte er aus vollem Hals.
„Dann heißt das, dass ich nicht nur flexibel und belastbar sein muss, sondern auch noch eine gute Schwimmerin?“