Das Buch
Im Dezember erhält Mia einen mysteriösen Auftrag, allerdings nicht als Escort. Ein Unbekannter bietet ihr viel Geld dafür, dass sie in Aspen eine Doku über eine dort lebende Künstlerin dreht. Gemeinsam mit der Filmcrew fliegt Mia nach Colorado. Zum Glück hat sie ihre große Liebe Wes an ihrer Seite. Denn die Begegnung, die vor ihr liegt, wird ihr Leben erschüttern – oder ihre Seele endgültig heilen ...
Die Autorin
Audrey Carlan schreibt mit Leidenschaft heiße Unterhaltung. Ihre Romane veröffentlichte sie zunächst als Selfpublisherin und begeisterte damit eine immer größere Fangemeinde, bis der Verlag Waterhouse Press sie unter Vertrag nahm.
Ihre Serie »Calendar Girl« stürmte die Bestsellerlisten von USA Today und der New York Times und wird als das neue »Shades of Grey« gehandelt. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Kalifornien.
Homepage der Autorin: www.audreycarlan.com
AUDREY CARLAN
DEZEMBER
Aus dem Amerikanischen von
Friederike Ails
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-1362-7
© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016
© 2015 Waterhouse Press, LLC
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
The Calendar Girl – December (Waterhouse Press)
Umschlaggestaltung: ZERO Media GmbH
Titelabbildung: © FinePic®, München
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Die echte Mia Saunders
Du bist noch nicht geboren, aber ich liebe dich jetzt schon.
Ich hoffe, dass meine Freundin Sarah eines Tages, wenn du erwachsen bist, diese Geschichte mit dir teilt.
Ich wünsche dir Liebe, ein erfülltes Leben und die Erkenntnis:
Der Weg ist das Ziel.
KAPITEL 1
Unter Unmengen von Decken hervor aus dem Bett zu schlüpfen, mit dem zusätzlichen Gewicht von Wes’ Arm, der schwer auf meiner Hüfte lag, war wesentlich schwieriger, als ich dachte. Wir hatten den Nachtflug genommen und waren am nächsten Tag vor Sonnenaufgang in Aspen, Colorado, angekommen. Wes hatte mich durch die Familienhütte geführt. Der Begriff »Hütte« war ziemlich untertrieben. Das wenige, was ich davon gesehen hatte, war bereits größer als unser Haus in Malibu. Wir packten nicht einmal unsere Sachen aus, sondern gingen gleich in sein Zimmer. Dort fielen wir beide in einem Gewirr aus Armen und Beinen aufs Bett und schliefen ein, sobald unsere Köpfe auf dem Kopfkissen auftrafen.
Jetzt allerdings war ich hellwach, und dem spärlichen Licht nach zu urteilen, das durch den Vorhang drang, war es vermutlich Mittag. Zentimeter für Zentimeter schob ich mich unter Wes’ Arm hervor, ohne ihn zu wecken, kroch aus dem Bett und erstarrte vor Kälte. Tanktop und Höschen reichten auf keinen Fall aus. Das Zimmer war eiskalt. Auf Zehenspitzen schlich ich zum Thermostat und drehte ihn auf dreiundzwanzig Grad. Wollen wir doch mal sehen, wie gut die Heizung funktioniert!
Ich lief umher, fand das Badezimmer und verrichtete mucksmäuschenstill mein Geschäft, ehe ich mich auf die Suche nach meinem Koffer machte. Ich holte eine Yogahose, einen von Wes’ Kapuzenpullis und meine superkuscheligen Hausschuhe heraus. Ms Croft hatte mir versichert, ich würde sie brauchen, und sie hatte recht gehabt. Ich durfte nicht vergessen, ihr für ihren Weitblick zu danken.
Viel wärmer und besser ausgerüstet, verließ ich unser Zimmer wieder und ging die Treppe hinunter. Auf halbem Weg blieb ich stehen. Gegenüber der Treppe befand sich eine Glasfront, die vom Boden bis zur Decke reichte. Dahinter erstreckte sich ein endloses Meer aus Bergen. Schneeweiß mit grünen und schwarzen Sprenkeln, wo Felsen und Bäume aus der dicken Schneedecke ragten. Atemberaubend. Anders konnte man es nicht ausdrücken. Wie ein Zombie wankte ich zur Terrassentür und öffnete sie. Eine Kältewand prallte gegen mich. Augenblicklich verwandelte sich mein Atem in einen heißen Nebel, während ich verträumt in eine Landschaft blickte, die nur Gott erschaffen haben konnte.
Zu Hause ließ ich oft den Blick über den Strand und den Pazifik schweifen, das erdete mich und gab mir ein Gefühl von Frieden. Der Blick über das riesige Gebirge war jedoch alles andere als friedlich. Die Berge waren majestätisch, beinahe unwirklich, als würde ich ein Foto anschauen und nicht eine reale Landschaft.
Boom!
Hin und weg.
Wie aus dem Nichts legten sich zwei Arme um meine Brust und zogen mich an einen warmen Körper.
Wes schmiegte sein Kinn in meine Halsbeuge. »Wunderschön, nicht wahr?«
Ich stieß langsam den Atem aus. »Mehr als das.«
Wes küsste meinen Hals, und die Wärme seiner Haut kitzelte mich. »Ich bin froh, dass es dir gefällt, schließlich ist die Hütte die nächsten zweieinhalb Wochen dein Zuhause.« Ich spürte seine dunkle Stimme durch meinen Rücken und in jeder Pore meines Körpers.
»Könnte schlimmer sein«, sagte ich, noch immer völlig hingerissen von der Schönheit der Natur.
Er lachte leise. »Das sagst du jetzt. Mal sehen, wie gut dir der Schnee gefällt, wenn wir in ein paar Tagen unser Auto ausgraben müssen.«
Ich schürzte die Lippen, wovon sich meine Nase kräuselte. Wes liebte es, wenn ich das tat. Auch jetzt blickte er mich an, lächelte und drehte sich zu mir, um mir einen Kuss auf die Wange zu drücken.
»Wie wär’s mit Frühstück?«, fragte er.
Als ich das Wort »Frühstück« hörte, fing mein Magen an zu knurren. »Ganz klares ›Ja‹!«, sagte ich wie aus der Pistole geschossen.
Er grinste und ließ mich mit der atemberaubenden Aussicht allein. »Bleib nicht zu lange draußen. Du frierst dir den Hintern ab.«
»Hoffentlich nur den schwabbeligen Teil!« Ich drehte mich um und gab ihm einen Klaps auf den Po, als er zurück ins Haus ging.
Wes hatte recht, innerhalb von ein paar Minuten fror ich mir – im übertragenen Sinne – den Hintern ab, also huschte ich wieder hinein, um meinem Mann beim Frühstückmachen zu helfen.
Auf dem Weg fand ich eine Chenille-Decke, die über einem der bequemen Sessel im Wohnzimmer lag, und wickelte sie mir um die Schultern.
Wes stand in der Küche, holte Pfannen heraus und bereitete den Speck vor. Er meinte, er hätte vorher dem Hausmeister Bescheid gesagt, damit der das Nötigste besorgte. Wir müssten natürlich noch einkaufen gehen, aber für Grundlebensmittel wie Eier, Speck, Milch, Butter und Kaffee war gesorgt, wofür ich unglaublich dankbar war.
Ich kochte Kaffee, während Wes den Speck briet und eine zweite Pfanne für die Spiegeleier auf den Herd stellte.
»Und was willst du heute machen?«, fragte er und wackelte mit den Augenbrauen.
Ich verdrehte die Augen. »Das nicht.«
Er zog die Augenbrauen hoch.
»Okay, ja, das, aber nicht sofort. Ich will mir die Gegend ansehen. In die Stadt fahren, einkaufen und herausfinden, wo die Landeier, die ich interviewen soll, ihre Kunst ausstellen. Dann kann ich meinen Beitrag besser planen. Außerdem wird das Kamerateam in ein paar Tagen hier sein. Wir müssen uns auf die Woche mit ihnen vorbereiten.«
Wes nickte und kümmerte sich weiter um das Frühstück. Sobald wir gegessen hatten, sprangen wir unter die Dusche, wo er mich daran erinnerte, dass ich das auf jeden Fall wollte, ehe wir ins Mietauto stiegen und Richtung Main Street fuhren.
****
Ich war nicht auf die unglaubliche Schönheit vorbereitet, die mich blendete, kaum dass wir die Innenstadt von Aspen erreichten. Begeistert stieg ich aus dem Auto und drehte mich einmal im Kreis. Der Anblick raubte mir den Atem, als ich die Pracht der Berge in mich aufnahm. Es war, als läge das Zentrum der Stadt in einem Becken, versteckt im Inneren der Erde. Menschen betraten und verließen die Läden, in bunte Farben gekleidet, die sich von dem schneeweißen Hintergrund der in der Ferne aufragenden Berge abhoben.
»Jetzt begreife ich es«, flüsterte ich, während ich weiter mit aufgerissenen Augen den phantastischen Ausblick genoss.
»Jetzt begreifst du was?«, fragte Wes und nahm meine behandschuhte Hand. Auch durch zwei Schichten Wolle und Leder konnte ich seine Wärme an meiner Handfläche spüren.
»Wieso dieser Ort so beliebt ist. Es ist unglaublich. Ich war schon mal in Lake Tahoe, dort habe ich auch schneebedeckte Berge gesehen und bin sogar Ski gefahren, aber das hier ist mit nichts vergleichbar.« Ich stieß langsam den Atem aus und versuchte, all die Herrlichkeit in mich aufzunehmen. Aber ich wusste, das war unmöglich. Es gab viel zu viel zu sehen. Hoffentlich würde sich die Pracht im Laufe der nächsten beiden Wochen so in mein Gedächtnis einprägen, dass ich in Gedanken jederzeit hierhin zurückkehren konnte, wenn ich in Südkalifornien mal wieder den Hitzetod zu sterben drohte.
Wes blickte zu den riesigen Bergen. »Ich weiß, was du meinst. Aber ich war schon so oft hier. Es wird schön sein, das Ganze aus deiner Perspektive zu betrachten, wie durch neue Augen.«
Lächelnd drückte ich seine Hand.
»Wohin zuerst?«, fragte ich in der Hoffnung, dass er den Weg vorgeben würde.
Er zog mich an seine Seite und legte mir einen Arm um die Schultern. »Wir holen uns da ein heißes Getränk«, er zeigte auf Colorado Coffee, »und dann gehen wir ein Stück spazieren. Wie klingt das?«
Ich lehnte mich an ihn. »Mit dir klingt alles gut. Danke, dass du mitgekommen bist, übrigens.« Ich rieb mein Kinn an seinem Hals.
Wes lächelte so breit, dass ich das Gefühl hatte, das Sonnenlicht würde von seinen strahlend weißen Zähnen gespiegelt und ließe sie noch mehr glänzen. Seine grünen Augen leuchteten vor Freude, und ich schmolz dahin. Er war entspannt, fühlte sich wohl in seiner Haut und verspürte ganz offensichtlich ein Gefühl von Frieden. Das allein hätte gereicht, um mich bis in alle Ewigkeit glücklich zu machen.
Wes hatte einfach etwas an sich, was mich ansprach. Was den tiefsten Punkt in meiner Seele berührte. Mich überglücklich machte und mich zugleich zu Tode ängstigte. Die Freude überwog die Angst jedoch bei weitem.
Es war kaum zu glauben, dass ich in etwas mehr als drei kurzen Wochen Mrs Weston Channing sein würde. Das wollte mir immer noch nicht in den Kopf.
Bei unserem Spaziergang zeigte mir Wes verschiedene Orte, an denen man abends essen gehen oder Cocktails und andere Drinks zu sich nehmen konnte, wenn einen die Lust überkam. Wir spazierten bis zur Main Street, wo ich ein malerisches rosa Gebäude entdeckte, das direkt an einer Straßenecke lag. Es hieß schlicht Main Street Bakery & Café.
Ich zeigte es Wes. »Hast du in dem süßen Laden da schon mal gegessen?«, fragte ich.
Während er antwortete, kam eine Frau aus dem Geschäft, die ungefähr so groß war wie ich. Sie war schlank und trug eine coole Lederjacke, die ihr bis zu den Knien reichte und in der Taille mit einem Gürtel geschlossen war. Ein hübscher pinker Schal wehte im Wind vor ihr her und lenkte die Aufmerksamkeit auf ihren Hals. Ihr schwarzes Haar, das sehr vertraut wirkte, fiel ihr in weichen Locken auf die Schultern. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte krampfhaft, das Gesicht der Frau zu erkennen, aber sie blickte hinunter in ihre Tasche.
»Und die machen die besten Eggs Benedict …«, hörte ich Wes’ Worte durch mein Bewusstsein sickern, aber meine ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf die Frau auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ein Kribbeln breitete sich in meinen Nervenbahnen aus und verwirrte mich.
Die Figur der Frau, ihr Haar und ihr Knochenbau erinnerten mich an jemanden, den ich kannte. Ein starkes Gefühl der Vertrautheit war im hintersten Winkel meines Gehirns zu spüren, und ich ging ein paar Schritte näher auf den Bordstein schräg gegenüber der Bäckerei zu. Die Frau zog eine Sonnenbrille aus der Tasche, und kurz bevor sie sie aufsetzte, blickte sie in meine Richtung. Ich schnappte nach Luft und schreckte zurück, prallte mit der ganzen Last, die dieser einfache Blick mit sich brachte, gegen Wes.
»Das kann nicht sein …«, presste ich hervor. Mehr brachte ich nicht zustande, zu viele Gefühle fuhren Achterbahn in mir.
Wut.
Frust.
Verzweiflung.
Hilflosigkeit.
Verlassenheit und alles dazwischen donnerte durch meinen Körper wie ein Güterzug durch die Landschaft.
»Was denn, Mia? Was ist los? Süße, du bist ja leichenblass.«
Ich blinzelte ein paarmal und sah Wes an, der vor mir stand und mich mit beiden Händen an den Oberarmen festhielt. »Ich, ich … sie kann es nicht sein.« Ich schüttelte den Kopf und blickte um ihn herum, aber die Frau war weg. Wie vom Erdboden verschluckt, als wäre sie nie da gewesen.
»A-a-aber sie war genau dort!« Ich suchte die anderen Läden und den Gehweg mit Blicken ab. Nichts. Sie war verschwunden.
»Wer? Wen hast du gesehen?«, fragte Wes besorgt.
Ich schluckte den golfballgroßen Kloß in meinem Hals herunter und sah den Mann an, der sein Leben mit mir verbringen wollte. Er würde mich nie im Stich lassen. Mit der Sicherheit und der Kraft, die dieser Gedanke mir verlieh, sog ich die kalte Luft tief ein und sprach ihren Namen laut aus.
»Meryl Colgrove.«
Wes runzelte die Stirn. »Baby, ich kann dir nicht folgen. Wer ist Meryl Colgrove?«
»Meine Mutter.«
****
Wes und ich durchkämmten gute zehn Minuten lang die umliegenden Straßen und spähten in die Geschäfte. Nichts. Die Frau war einfach weg.
Wes scheuchte mich zum Mietauto, und wir fuhren wieder zurück zur Hütte seiner Familie. Ich schwieg die gesamte Fahrt über, war viel zu sehr in meine Gedanken vertieft, um ein Wort zu sagen.
Das konnte sie nicht gewesen sein. Es war, als wäre sie aus dem Nichts aufgetaucht. So grausam konnte das Schicksal nicht sein. Die Vorstellung, dass Meryl Colgrove ausgerechnet in der Kleinstadt auftauchte, in der ich meinen Beitrag für Schöner leben drehen und Urlaub machen wollte, war absolut abwegig.
Was, wenn sie hier wohnt?
Nein, auf keinen Fall. Ich musste mir das Ganze eingebildet haben. Außerdem hatte ich meine Mutter seit über fünfzehn Jahren nicht gesehen. Die Wahrscheinlichkeit, ihr in Aspen, Colorado, über den Weg zu laufen, war verschwindend gering. Es war bestimmt nur jemand gewesen, der ihr, oder vielmehr der Frau, an die ich mich erinnerte, ähnlich sah.
Die Gedanken wirbelten durch meinen Kopf wie ein Tornado. Willkürlich. Ziellos. Vernichtend.
Als wir bei der Hütte ankamen, hatte ich mich selbst davon überzeugt, dass die Frau unmöglich meine Mutter gewesen sein konnte. Ich war jemandem begegnet, der ihr erstaunlich ähnelte, und das war’s. Fertig, aus. Nichts, worüber man sich Gedanken machen musste. Mein Mann jedoch war nicht dieser Ansicht.
Als wir die Hütte betraten, ging er direkt in den Barbereich, nahm zwei Gläser aus dem Schrank und füllte sie mit zwei Fingerbreit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit aus einer Kristallkaraffe.
»Drink?« Das war das Erste, was er sagte, seit ich ihm erzählt hatte, dass ich glaubte, meine Mutter getroffen zu haben.
»Klar.« Ich setzte mich auf einen der luxuriösen hohen Barhocker, die sich drehen konnten und sogar Armlehnen hatten. Nicht vergleichbar mit den billigen Dingern aus dem Möbelhaus. Ich fuhr mit den Fingern über die Nieten, die in die Polster eingelassen waren und den Hockern einen rustikalen Schick verliehen.
Wes nahm einen großen Schluck Whisky. Sein Adamsapfel hüpfte verführerisch und sprach die Frau in mir an.
Er beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Tresen. »Was meinst du? War sie es?«, fragte er leise.
An der Anspannung, die sein Körper ausstrahlte, und der Unsicherheit in seinen Augen konnte ich ablesen, dass er nicht genau wusste, wie er das Gespräch auf eine Frau lenken sollte, über die ich bisher sehr selten mit ihm geredet hatte. Und meine Reaktion ließ vermutlich sehr deutlich darauf schließen, was ich von der Frau hielt, die mich geboren hatte.
»Ich bin mir nicht sicher.« Ich zuckte mit den Schultern. »Die Ähnlichkeit war unheimlich.«
Wes nickte. »Wieso sind wir hier, Mia?«
Ich zog die Schultern zu den Ohren hoch, eine unwillkürliche Reaktion. Meine eigene Anspannung wurde langsam unerträglich. »Ich weiß es nicht, Baby. Es ist seltsam. Shandi, die Assistentin von Dr. Hoffman, hat uns hergeschickt. Sie hat alles mit der Crew geregelt und mir den Auftrag gegeben.«
»Wann sollen wir uns mit diesem Mann aus den Bergen treffen? Der Typ, der der Show ein hübsches Sümmchen«, Wes malte Anführungszeichen in die Luft, »gespendet hat, damit die örtlichen Kunsthandwerker gefilmt werden, darunter auch seine Frau.«
Ich konnte nicht leugnen, dass die ganze Geschichte seltsam war. Aber an seltsame Dinge war ich gewöhnt. Merkwürdige Dinge. Mein ganzes letztes Jahr war eine Aneinanderreihung willkürlicher Ereignisse, die mich dorthin geführt hatten, wo ich gebraucht oder hingeschickt wurde. Bisher war alles gut gelaufen. Ich hatte den Mann kennengelernt, den ich heiraten würde. Einen Haufen Freunde fürs Leben gefunden. Und meinen Bruder, Maxwell. Hatte meinen Vater gerettet. Und eine neue Karriere begonnen, die richtig toll war. Ich hatte auf dem Weg dorthin mit einigen tiefen Schlaglöchern zu kämpfen gehabt, aber am Ende war alles zu meinem Vorteil verlaufen. Das wollte ich überhaupt nicht in Frage stellen.
Ich rutschte vom Hocker herunter, ging um den Tresen herum zu meinem Mann und schlang ihm die Arme um die Hüfte. »Sein Name ist Kent Banks. Mir kam das auch etwas komisch vor. Also habe ich Max angerufen und ihm davon erzählt. Und weißt du, was dann passiert ist?« Ich grinste.
Mein Bruder war überbesorgt um Maddy und mich. Als er hörte, dass irgendein Typ aus den Bergen gezielt nach mir gefragt und eine Stange Geld dafür gezahlt hatte, dass ich einen Beitrag über so etwas Unwichtiges wie irgendwelche lokalen Künstler mache, hatte das sofort das Alphatier in ihm auf den Plan gerufen. Sein Beschützerinstinkt war in Alarmbereitschaft.
Wes lächelte und zog mich an seine Brust. »Hat er ihm seine Hunde auf den Hals gehetzt?«
»Wenn du mit Hunden seine Privatdetektive meinst, ja. Max ist total paranoid. Das weißt du ja.«
Mein Mann umarmte mich fest. »Hab ich dir schon mal gesagt, wie sehr ich deinen Bruder mag? Er ist ein Supertyp.« Wes blickte nachdenklich in die Ferne und trug dabei ziemlich dick auf.
Ich kicherte und drückte meine Nase an seine Brust. Als ich sein Aftershave und den winterlichen Duft einsog, kribbelte es in mir. Schon bei dem bloßen Gedanken an Sex mit ihm wurde ich feucht zwischen den Beinen.
»Das ist er wirklich.«
»Was hat er rausgefunden?« Wes legte seine Hände fester um mich und massierte alle Anspannung in meinem unteren Rücken weg, die sich dort nach dem Reisetag und dem Spaziergang durch Aspen gesammelt hatte.
Ich stöhnte auf, als er einen besonders schmerzhaften Punkt erwischte. »Ähm, er meinte, der Typ wäre ein Veteran in Rente. Hat wohl einen Abschluss in Architektur. Verdient sich mit dem Entwerfen von Häusern in den Bergen überall auf der Welt eine goldene Nase. Das schien alles sauber zu sein. Max hat noch weiter nachgeforscht, wirkte aber nicht allzu besorgt. Vor allem, als ich ihm erzählt habe, dass du die ganze Zeit dabei sein wirst.«
Wes schob seine Hände an meinem Rücken hoch in meine Haare. Er umfasste meinen Nacken und hielt mein Gesicht so, dass ich ihm in die Augen blicken musste. »Ich würde nie zulassen, dass dir irgendwas zustößt. Du bist mein Leben. Mein Ein und Alles. In einer Welt ohne dich will ich nicht leben.«
»Ich will auch nicht ohne dich sein«, flüsterte ich.
Er beugte sich vor und legte seine Lippen auf meine. Eine federleichte Berührung. Seine Lippen schwebten über meinen, und ich spürte ihre Bewegung, als er weitersprach. Spürte sie tief in meinem Herzen.
»Ich werde dich immer beschützen. Vor allem und jedem.« Seine Nase streifte meine, als er sein Gesicht einen Zentimeter zurückzog. »Sei es deine Arbeit, deine Familie oder Geister, die aus dem Nichts erscheinen. Von jetzt an, Mia, meistern wir alles gemeinsam.«
Ich nickte. »Okay, Baby. Wir meistern alles gemeinsam«, wiederholte ich und lehnte meine Stirn an seine. Eine schlichte Berührung, die alle Sorgen, allen Zweifel und Kummer vertrieb, den die mögliche Begegnung mit meiner Mutter hervorgerufen hatte, und auch alle zwiespältigen Gefühle.
»Kann ich dich jetzt küssen?«, fragte er, und seine Stimme klang wie ein leises Grollen. Als würde er jeden Moment die Kontrolle verlieren. Ich wollte genau das. Brauchte es sogar.
Ich lächelte. »Bitte küss mich, sofort.«