1. Auflage 2016
© Delius Klasing & Co. KG, Bielefeld
Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:
ISBN 978-3-667-10710-7 (Print)
ISBN 978-3-667-10826-5 (Epub)
Lektorat: Mathias Müller
Fotos: alle von Gerhard von Kapff,
bis auf Bild 17 (Lars Gehrke), Bild 46 (Lutz Gehrke),
Bild 50 (Uwe Brückner) und Bild 52 (Ulrike Riekert)
Schutzumschlaggestaltung: Felix Kempf, www.fx68.de
Satz: Axel Gerber
Datenkonvertierung E-Book: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice, München
Alle Rechte vorbehalten! Ohne ausdrückliche Erlaubnis des Verlages darf das
Werk, auch Teile daraus, nicht vervielfältigt oder an Dritte weitergegeben werden.
www.delius-klasing.de
Suche
Quälende Sehnsucht.
Unstillbare Neugier.
Pulsierende Energie.
Erregende Rastlosigkeit.
Erfüllt mich mit Leben.
Inspiriert mein Denken.
Durchströmt meinen Körper.
Treibt mich in die Welt.
Auf der Suche nach den mir fremden Seiten meiner selbst.
Von Christin Marit
Prolog
Tag 1: Willkommen in Livingstone
Tag 2: Livingstone
Kein zurück: »Wenn du schreist, schrei wie ein Mann!«
Tag 3: Livingstone–Kasane
Die ersten 80 Kilometer
Tag 4: Ein Camp unter Baobab-Bäumen
108 harte Kilometer, und Salzpfannen, so groß wie das Saarland
Tag 5: 65 Kilometer nach Maun
Erste Löwenspuren am Nxai-Pan-Nationalpark
Tag 6: Ruhetag (was das Radeln betrifft)
Wildlife im Moremi-Schutzgebiet
Tag 7: Audi-Camp (Okavango-Delta)
Wenn im offenen Hubschrauber der Gurt aufgeht …
Tag 8: Maun–Ghanzi
120 brüllend heiße Kilometer in die Kalahari-Wüste
Tag 9: Ghanzi–Windhoek
Buschmänner, Namibia und Joes German Beerhouse
Tag 10: Windhoek – »somewhere in nowhere«
80 Kilometer grobe Bike-Pisten und die einsame Wildnis Namibias
Tag 11: Rooisand Desert Ranch–Sesriem
100 Kilometer Piste und ein Achsbruch am südlichen Wendekreis
Tag 12: Sesriem–Sossusvlei
124 Kilometer zu den roten Sandbergen Namibias
Tag 13: Sesriem–Betta
Die Königsetappe: zwölfeinhalb Stunden Kampf um jeden Pedaltritt
Tag 14: Betta–Kanaan
85 Kilometer lockeres Ausradeln und fingerlange Dornen
Tag 15: Tiefpunkt am Fish River
Nur 20 Kilometer – bergauf
Tag 16: 70 Kilometer vom Fish River Canyon nach Ai-Ais
Schwimmbäder in der Wüste und eine mystische Landschaft
Tag 17: Ai-Ais–Orange River
Ein Ruhetag, eine Paddeltour und ein Blick nach Südafrika
Tag 18: Orange River–Algeria-Camp
Das legendäre Zederberg-Naturreservat; aber wo sind die Zedern?
Tag 19: Unterwegs in den Zederbergen
80 Kilometer Piste. Und am Ende ein ganz besonderes Weingut
Tag 20: 90 Kilometer vom Algeria-Camp nach Kapstadt
Sandstrand und eine Woge von Glück
Dank
Für alle, die an sich zweifeln.
Ich kann nicht mehr. Trete mit letzten Kräften in die Pedale. Dieser Weg ist härter als meine Waden, stärker als meine Kondition und steiler, als ich es mir vorstellen konnte. Ich weiß, dass ich sehr bald absteigen und schieben werde – aber ich will nicht. Mein Radtrikot klebt klatschnass auf dem Rücken, meine Oberschenkelmuskulatur will nichts anderes als ihre Ruhe. Ich kämpfe trotzdem weiter. 30 Meter noch bis zum Scheitelpunkt – das muss doch irgendwie zu schaffen sein.
Ist es nicht. Ich steige vom Rad, schreie wütend ins Gelände – und schiebe.
Ich bin nicht nur zornig auf mich selbst, sondern auch verzweifelt. Ich bin mit dem Rad noch nie weiter als zum Einkaufen oder zur nahen Arbeitsstelle gefahren, geschweige denn, dass ich jemals auf einem Mountainbike gesessen hätte. Trotzdem habe ich mich zu einer Tour über 1200 Kilometer angemeldet: einmal mit dem Mountainbike von den Victoria-Wasserfällen bis nach Kapstadt. Eine der schönsten Radstrecken der Welt und für mich als Rad-Greenhorn schlichtweg ein Wahnsinn.
Denn wie soll das gehen, wenn ich schon an diesem kleinen Buckel am Tauberfelder Grund scheitere? Wenn ich nicht in der Kalahari-Wüste, sondern bereits mitten in Oberbayern, am Rande des Altmühltals schieben muss, nur weil es ein bisschen steiler nach oben geht? Meine Augen brennen, ich schmecke einen Hauch von Salz, den der Schweiß hinterlassen hat, auf meinen Lippen. Bald wird es der Staub der afrikanischen Wüste sein.
Irgendwie muss ich deutlich fitter werden. Nur noch 76 Tage bis zum Start.
Noch drei, zwei Meter bis zum Boden, gleich müssten die Reifen des Airbus auf der Landebahn aufsetzen. Doch dann brüllen die Turbinen auf. Die Maschine wird sofort schneller, steigt wieder hinauf in Richtung Himmel, und die Passagiere sehen sich nervös an. Schnell gewinnt das Flugzeug an Höhe, die trockenen Bäume und Sträucher der afrikanischen Steppe werden kleiner. Zwei Minuten Ungewissheit, ehe sich der Kapitän meldet. »Wie Sie sicher bemerkt haben, sind wir durchgestartet«, sagt er: »Ein Pavian saß auf der Landebahn, und ich wollte weder ihn noch das Flugzeug beschädigen. Das ist Ihnen doch sicher recht.« Schallendes Gelächter der Fluggäste und ein entspanntes Gemurmel im Passagierraum leiten den zweiten Landeanflug ein. Nach zehn Stunden Flugzeit und einer Zwischenlandung in Johannisburg passiert die Maschine der South African Airways nach der kurzen Ehrenrunde jetzt zum zweiten Mal die gewaltige Schneise in der afrikanischen Steppe, in die sich tosend die Victoria-Wasserfälle ergießen.
Es ist wie eine Inszenierung. Passender kann die Begegnung mit Afrika, der Auftakt zu einem Trip wie diesem nicht sein als mit einem Affen, der die Landebahn des Internationalen Flughafens von Livingstone blockiert.
Kurz danach berühren meine Füße erstmals den Boden des südlichen Afrika. Als wir mit unserem Handgepäck über die Landebahn zur verspiegelten Eingangshalle des zweistöckigen Flughafengebäudes laufen, erfasst mich Nervosität, ich spüre, dass ich die ersten Schritte zu etwas ganz Außergewöhnlichem wage. Immerhin ist das keine Tour wie jede andere, kein gemütlicher Fahrradtrip für Touristen. Schon die Beschreibung klang extrem: »1136 Kilometer auf dem Bike, drei Nächte im Gästehaus, 17 Nächte Camping, teils wild, teils in festen Camps. Vor Ihnen liegt nicht nur eine Rad-Expedition, sondern das Abenteuer Ihres Lebens. Zwischen den Etappen gibt es mehrmals Transfers in Fahrzeugen und Ausflüge zu Fuß. Sie werden uns dankbar dafür sein. Es geht los in Sambia, an den Victoria-Wasserfällen. Genießen Sie die Gischt, den Wasserschleier und die Regenbögen. Spätestens in der Namib-Wüste sehnen Sie sich danach zurück.«
Manchmal im Leben sieht man etwas und weiß sofort: Das lässt dich nicht mehr los. Auch wenn es eigentlich gar nicht realisierbar ist. Als ich den Flyer dieser Tour vor einem halben Jahr erstmals in Händen hielt, schien sie ein unmögliches Unterfangen. Mehr als 20 Kilometer am Stück war ich noch nie geradelt, ganz zu schweigen von einer mehrtägigen Tour. Aber dieser Trip würde an den Victoria-Wasserfällen starten, in Botswana ins größte Binnendelta der Erde führen, das Okavango-Delta, in Namibia an die größten Sanddünen der Erde und erst an der Spitze Südafrikas in Kapstadt enden. Eine Extremtour, sicher. Aber auch unglaublich spannend: ein einziges, drei Wochen langes Abenteuer.
Fünf-, sechsmal hatte ich die Ausschreibung in der Hand, wollte sie jedes Mal gleich wegwerfen und konnte es irgendwie doch nicht. Zweieinhalb Monate vor dem Start rief ich dann bei den Organisatoren an. »Guten Tag, mein Name ist Gerhard von Kapff. Ich bin ein ganz normaler, nur ein bisschen sportlicher Familienvater, und ich habe drei, vier Kilo zu viel auf den Rippen. Ich saß zwar noch nie auf einem Mountainbike gesessen. Aber ich will trotzdem mit. Geht das?« Die Antwort war ein kurzes Zögern, ein etwas längeres Gespräch über Kondition – und dann haben wir uns ein wenig ausführlicher unterhalten.
Doch jetzt stehe ich in der Ankunftshalle des Flughafens von Livingstone und warte nervös, ob South African Airways mein Rad tatsächlich in Johannesburg umgeladen und mitgebracht hat. Alles andere wäre eine Katastrophe.
Schon das Bike selbst ist für mich völlig neues Terrain. Das erste Mountainbike meines Lebens, ein Velo, das ich mir erst vor zwei Wochen zugelegt habe. Mit einem weißen Carbon-Rahmen und silbrig glänzenden Scheibenbremsen, keine zehn Kilo schwer. Ein edles Teil, das in der Bikeschmiede M1 Sporttechnik von Hand zusammengefügt wurde. Wie jedes der Räder halt, das dort gebaut wird. Normalerweise gedacht für Menschen, die sich damit auskennen. Trotzdem muss das Bike jetzt mit mir zurechtkommen. Oder umgekehrt. Wir werden sehen.
Ich bin erleichtert. Der braune Karton, den mir ein dunkelhäutiger Angestellter mit fragendem Blick entgegenschiebt, ist zumindest auf den ersten Blick unbeschädigt. »Was für ein Irrer«, denkt der Mann vermutlich. »Mit dem Rad in Afrika unterwegs sein, wenn man sich auch ein Auto leisten könnte.« Wer weiß? Vielleicht hat er sogar recht.
Ein sambesischer Taxifahrer hebt ein Schild in die Höhe: »Mr. Kapff. Biketour«, und ich lächle ihn an. Es kann losgehen. Gut 30 Grad Celsius sind es bereits jetzt gegen elf Uhr vormittags, als wir aus der Flughafenhalle treten. »And you want to ride by bike to Capetown?«, fragt der Fahrer und schickt ein schepperndes »Hehe« hinterher: »Good luck!« Der Pick-up donnert durch die Straßen eines Vorortes, der einem amerikanischen Roadmovie entnommen sein könnte. Flache Holzhäuser, bunt angestrichen, und ein paar Läden, deren Schilder auf dem Hausdach auf einen Reifenhändler, F. M. Mores Pharmacy oder die Kodak Photo Bank hinweisen, die eigenartigerweise auch »Hairextensions« (Haarverlängerungen) anbietet.
Nach knapp 20-minütiger Autofahrt wird die Landschaft grüner. Die Vorstadt und die vertrocknete Steppe weichen zurück, und wir nähern uns dem Sambesi, dem mit 2574 Kilometern viertlängsten Fluss Afrikas. Ein, zwei Kilometer Luftlinie von hier stürzt er als einer der größten Wasserfälle der Erde in die Tiefe. Schon vom Flugzeug aus war vor allem die immense Breite des Flusses mit seinen Tausenden teils winzig kleinen Inseln beeindruckend.
Faszinierend ist von oben aber auch die Weite der afrikanischen Steppe. Selbst wenn spätestens jetzt klar ist, was mich in den nächsten drei Wochen erwarten wird: Trockenheit, Wüste oder eine von leichten Erhebungen unterbrochene Steppenlandschaft. Hunderte Kilometer fast baumloses Braun, durchzogen nur von schnurgeraden, staubigen Pisten, die sich im Horizont verlieren. Und auf das alles brennt unbarmherzig die Sonne, die jeden Tropfen Flüssigkeit aus dieser Landschaft saugt. Hätte ich bisher noch keinen Respekt vor dieser Tour, würde ich ihn jetzt bekommen. Denn nur noch eineinhalb Tage, und wir werden genau dort unterwegs sein.
Das Prachtstück des Waterfront Camps ist die große Holzterrasse des Restaurantgebäudes. Zehn Meter über dem Fluss thront sie, ist eingebettet zwischen hohen Bäumen und versteckt im hinteren Bereich, gleich neben der Bar, sogar einen kleinen Swimmingpool. Am Nachbartisch prosten sich junge Australier im Studentenalter mit eisgekühlten Windhoek-Bierflaschen zu. Doch mein Blick schweift weit über den träge dahinfließenden Sambesi, die sattgrünen Inseln und die kleinen Boote, mit denen Fischer unterwegs sind. Irgendwie unvorstellbar, dass in diesen friedlichen Wassermassen unzählige Krokodile und Nilpferde leben sollen. Letztere werden freilich oft genug selbst ein Opfer des Flusses. Vor allem jüngere Tiere werden immer wieder über die Kante der Wasserfälle geschwemmt und stürzen an den entsetzten Touristen vorbei in den Tod.
Der Roomservice hat seine Arbeit beendet, ich kann meine Unterkunft beziehen. Eigentlich ein Scherz, denn ich habe ein Zelt gebucht. Es steht in der Mittagshitze ungeschützt auf einer Betonplatte, verfügt aber immerhin links neben dem Eingang über ein komplettes Bett. Das alte Armeezelt ist Tarnfarbengrün und stinkt nach Gummi. Die Innentemperatur dürfte bei 50 Grad Celsius liegen. Ich packe schnell meine beiden großen Reise taschen und die drei Rucksäcke hinein, schiebe auch noch mein Rad ins Zelt und lege mich danach auf eine Liege in den Schatten. Ein kurzer Schlummer, später werde ich zumindest ein Stück in Richtung der Wasserfälle fahren.
Da der Rest der englisch-deutschen Truppe, mit der ich unterwegs sein werde, erst einen Tag später eintrifft, will ich mich ein bisschen einradeln. Über eine gute Straße passiere ich den Eingang eines Naturparks; ein Ranger winkt freundlich, und ich radle weiter. Ein wenig irritierend ist lediglich der Linksverkehr, der auf dem Rad noch gewöhnungsbedürftiger ist als im Auto.
Immer wieder ist weit rechts das Rauschen des Sambesi zu hören. Sind hier, nur ein paar Hundert Meter flussabwärts, bereits die ersten Stromschnellen vor den Fällen? Ich erreiche einen kleinen Rastplatz am Fluss. »Two Dollar«, grinst einer der beiden Uniformierten an der Schranke. Aber wofür? »Parkgebühr«, meint einer der beiden, muss dann aber selbst lachen. Natürlich kann ich mein Rad kostenlos abstellen.
Obwohl hier keine Touristen sind, ist der Parkplatz bis auf den letzten Platz besetzt. Die Aussicht auf einen spektakulären Sonnenuntergang direkt neben den Stromschnellen des hier reißenden Sambesi reizt vor allem Einheimische. Hip-Hop-Musik dröhnt aus völlig überforderten Autolautsprechern, die brummen, dröhnen oder nur noch krachen. In großen Plastikwannen ruht kistenweise eisgekühltes Windhoek-Bier.
Die Mädchen und jungen Frauen, die sich für die improvisierte Party schick gemacht haben und nicht eben dezent geschminkt sind, tanzen mit ihren extrem kurzen Röcken auf dem trockenen Steppenboden zum Rhythmus der Musik. Die Jungs lehnen cool an ihren Wagen, sitzen auf den Kotflügeln und bewegen sich vor allem dann, wenn das Bier leer ist.
Sofort werde ich als einziger Weißer weit und breit auf ein »Windhoek« eingeladen. Die Jungs freuen sich unheimlich, einen Gast aus »Germany« in ihrem Kreis zu haben. Alle paar Minuten werde ich jemand Neuem vorgestellt, soll immer noch ein »Windhoek« trinken und bin nach einer halben Stunde schon richtig integriert.
Langsam bricht die Dämmerung herein, und ich muss zurück. Klar, ich Amateurbiker habe die Anstecklichter meines Rades im Zelt vergessen, und ganz im Dunkeln mag ich doch nicht im mir völlig unbekannten Sambia herumradeln. Die Verabschiedung ist herzlich, der ein oder andere umarmt mich sogar. Dann sehen sie mir hinterher. Seltsamer Weißer, mit seinem stylischen Bike und auf dem Weg in die Dämmerung.
Keine Frage, dass ich die Geschwindigkeit, mit der in Afrika das Tageslicht erlischt, völlig unterschätzt habe. Zehn Minuten später ist es stockdunkel. Auf der Straße ist das noch unproblematisch, und die letzten zehn Minuten auf einer Staubpiste muss das Licht der Handy-Leuchte genügen. Zumindest eine Zeit lang. Dann ist der Akku leer.
Zu sehen bin ich offensichtlich trotzdem. Ein Autofahrer blendet hektisch auf, ein anderer hält an und winkt mich heran: »Be careful, elephants.« Ich bedanke mich bei dem Witzbold und radle zügig weiter. Doch dann schälen sie sich aus der Dunkelheit. Zwei, drei Kolosse, die riesig wirken im Dunkeln und nun in aller Gemütsruhe die Piste queren. Keine zehn Meter entfernt von mir.
Ich fahre rasch weiter, nachdem sie vorbei sind, und biege nach knapp 20 Metern in die Zufahrtsstraße zu unserem Camp ab. Doch auch hier reißen fünf, sechs Elefanten keine zehn Meter entfernt im Dickicht Äste von den Bäumen, um das essbare Grün abzustreifen. Sie hinterlassen ein absolutes Chaos. Als hätte eine Windhose ein Waldstück durcheinandergewirbelt. Um mich kümmern sich die grauen Riesen kein bisschen.
Es ist absolut faszinierend – die ersten Elefanten in freier Wildbahn, völlig unerwartet schon an meinem ersten Abend in Afrika. Hundemüde schlüpfe ich kurz danach in meinen Schlafsack, verschließe das Zelt mit den dicken Reißverschlüssen, um keinen Besuch von den vielen Affen zu bekommen, die in den Bäumen des Camps herumturnen. Und natürlich schiebe ich auch das Rad ins Zelt. Nur zur Sicherheit vor Dieben – nicht, dass das Greenhorn morgen als ersten Eindruck hinterlässt, es hätte sein Mountainbike zu Hause vergessen.
Es war ein beeindruckender Auftakt heute, dem schon morgen ein Highlight folgen wird. Die erste kleine Biketour mit meinen Mitreisenden zu den Victoria-Fällen. Und vorher noch ein ganz persönliches Anliegen: der erste Bungee-Sprung meines Lebens. An den Victoria-Wasserfällen geht es 128 Meter in die Tiefe, und ich bin gespannt, ob ich es tatsächlich wage. Denn eigentlich habe ich Höhenangst.
KEIN ZURÜCK: »WENN DU SCHREIST, SCHREI WIE EIN MANN!«
Dieses Mädchen weiß gar nicht, welche Macht es hat. Lange, schlanke Beine, ein strahlendes Lächeln aus himmelblauen Augen – und die blonden Haare reichen ihm bis hinunter zum Gürtel der knackengen Jeans. Als wäre es nicht soeben einem Zelt, sondern einem Modekatalog entstiegen. »Fährst du zu den Wasserfällen und zur Brücke?«, spricht mich die gut 25-Jährige im Camp auf Deutsch an. Anscheinend ist mir meine Nationalität anzusehen, und ich bejahe. »Springst du auch?« Jetzt bin ich gefangen. Ich wollte mir noch offenlassen, ob ich den ersten Bungee-Sprung meines Lebens wagen sollte, bin jetzt aber in der Zwickmühle. Anscheinend schätzt sie mich als cool genug ein, sonst wäre die Frage nicht gekommen. Bin ich allerdings gar nicht.
Aber ich kann mich doch jetzt nicht selbst demontieren – auch wenn ich sie gar nicht kenne. So ticken wir Männer einfach, ob wir wollen oder nicht. Ganz ehrlich zu antworten: »Ich weiß noch nicht, ob ich nicht doch zu viel Angst habe«, das kommt nicht infrage.
»Klar, ziemlich sicher«, lasse ich mir zumindest ein kleines Hintertürchen offen. Das sie instinktiv sofort wieder zuschlägt: »Wenn du dich traust, springe ich auch.« Verdammt. Eigentlich will ich ja gar nicht. Einen Bungee-Sprung hatte ich schon vor Jahren gedanklich längst abgehakt. Irgendwann, als die Sprünge aufkamen, reizten sie mich. Aber kurz danach, als sie dann auf jedem noch so kleinen Stadtfest stattfanden, interessierten sie mich nicht mehr.
Hier in Sambia allerdings ist das ganz anders. Erstens ist der Sprung über 110 Meter einer der höchsten der Welt, zweitens wäre er ein markanter, ein ganz besonderer Auftakt zu dieser Mountainbike-Tour. Einer Unternehmung, die eines der ganz großen Highlights meines Lebens werden dürfte. Wenn nicht hier, wo dann?
Aber ich habe noch ein bisschen Zeit, mich einzustimmen und abzuwägen. Da meine neue Bekanntschaft mit dem Taxi zu den Fällen fährt – schließlich hat sie kein Rad dabei –, ist noch nicht ganz sicher, ob wir uns dort tatsächlich treffen werden.
Meine später eintreffenden Biker bilden nicht die einzige Gruppe, die vom Waterfront Camp aus zu einer Tour startet. Zu sehen ist das vor allem an den Ungetümen von Fahrzeugen, die vor dem Zeltplatz, auf den Parkplätzen vor den elegant aussehenden Hütten oder des anschließenden Hotels stehen. Kantige Kastenwagen mit Aufbauten, die jedem deutschen TÜV-Beamten Schweißtropfen auf die Stirn treiben würden. Passagierkabinen kleiner Busse wurden mit dem Basisfahrzeug geländegängiger Lastwagen verschweißt. Der Boden des Passagierraumes ist eineinhalb Meter oder mehr vom Asphalt entfernt, damit die Safarigäste einen besseren Ausblick haben. Die Standardfenster wurden durch teils vergitterte Panoramascheiben ersetzt. Schließlich sollen die Giraffen die Fahrgäste nicht abknutschen können – und umgekehrt auch nicht.
Die Trucks und Busse sind dennoch bequem und auf einem optisch und technisch sehr hohen Standard. Wenn es im süd lichen Afrika um Touristen geht, bemüht man sich ganz besonders. Wohl wissend, dass Komfort fürstlich bezahlt wird. Denn billig ist hier nichts. Das geht beim Essen los, das sich auf deutschem Preisniveau bewegt, und endet wie selbstverständlich auch bei den durchweg geschmackvollen Unterkünften. Vieles in den Häuschen, die meist für zwei Personen gedacht sind, wird mit dem gebaut, was die Natur hergibt: Lampenständer bestehen aus Holz, handgeflochtene Lampenschirme aus Stroh, Bäume schützen das im Freien befindliche, aber ummauerte Badezimmer vor der Sonne, und Ockertöne setzen das Farbenspiel der Natur auch in den Zimmern fort. Sogar der Campingplatz ist ein bisschen edler als gewohnt. Wer ein paar Euro mehr ausgibt, muss nicht einmal sein Zelt selbst aufstellen. Es steht dann wie meines schon aufgebaut auf einer betonierten Platte, damit kein Sand hineingetragen wird, und ist mit einem kompletten Bett und frischem Bettzeug ausgestattet.
Eines dieser skurrilen Fahrzeuge, das soeben ankommt, ist ein etwas klapprig wirkender, einst weißer Bus mit einem Radanhänger. Das können nur unsere Guides sein. Ein wenig gerädert steigen die drei Jungs aus dem Auto. Schließlich kommen sie direkt aus Südafrika, aus Kapstadt, dem eigentlichen Standort unseres Begleitfahrzeuges. Der Fahrer, ein gut 40 Jahre alter Mann mit Lederschlapphut, ist Tallis Wessels, der Chefguide. Juandrey, ein weiterer Südafrikaner, wirkt ein wenig fröhlicher, er ist aber auch erst 25. Der spätere Fahrer des Busses und Mann für alles ist der dunkelhäutige Bornwell aus Simbabwe. Auch er wirkt lockerer als Wessels. Ich lasse die drei erst einmal in Ruhe, schließlich habe ich noch eine ganz persönliche Mission vor mir.
Die Straße zu den Wasserfällen führt vorbei an dem von den Elefanten verwüsteten Wäldchen, wo das ganze Chaos bei Tage noch eindrucksvoller erscheint. Irgendwann wird diese Straße automatisch auf die Brücke führen, schließlich ist sie die einzige, die hier in der Nähe den Sambesi überspannt. Es ist angenehm warm an diesem Morgen, gut 20 Grad Celsius. Rechts und links der Straße knochentrockene Erde, ein paar Bäume – teils grün, teils vertrocknet –, ansonsten prägen hüfthohe und vereinzelt auch zwei Meter hohe Büsche die Landschaft. Nur ab und zu ein Schwall unbekannter Gerüche, vielleicht von Kräutern, der so schnell verschwindet, wie er gekommen ist.
Plötzlich, hinter einer Kurve, wird die Straße breiter. Last wagen stehen am Straßenrand, und nach 300 Metern verhindert ein breites Metalltor mit senkrechten Streben die Weiterfahrt. Es wird nach jedem Auto oder Laster, der den Grenzzaun passiert, wieder von Hand zugezogen. Drei Grenzer gammeln auf alten Gartenstühlen vor dem Zaun herum und lächeln mir zu. Offensichtlich bin ich mit meinem Rad eine willkommene Abwechslung. Ein vierter steht direkt am Tor, schaut sich die Pässe und gestempelte weiße Zettel von einigen vor ihm stehenden einheimischen Fußgängern an, die wie ich nach Simbabwe wollen. »Do you have a visum?«, fragt er und will mich, als ich verneine, in ein rechts neben dem Posten stehendes Haus schicken. »Ich will aber nur auf die Brücke, zum Bungee-Jump«, erkläre ich ihm. Er meint, dass ich trotzdem ein Visum für den Wiedereintritt nach Sambia brauche. Als ich mein Rad am Zaun anketten will, passt ihm das aus irgendeinem Grund nicht. »Okay, you need no visum«, sagt er und schiebt das Tor auf. Ich bin zwar ein wenig verwirrt, da ich – geprägt durch die deutsche Bürokratie – gewohnt bin, dass es bei Vorschriften keinen Spielraum gibt. Entweder man braucht ein Visum, und dann gibt es auch keine Alternative – oder eben nicht. Trotzdem schiebe ich mein Rad auf die andere Seite. Ich bin gespannt, ob ich tatsächlich wieder einreisen darf …
Kurz hinter der Grenze macht die Straße einen weiteren Knick, biegt nach rechts ab und führt leicht nach unten, direkt auf ein eisernes Monster zu, das die Schlucht des Sambesi überspannt. Eine gewaltige Bogenkonstruktion, in deren Mitte auf der linken Seite eine kleine Plattform über das Brückengeländer ragt. Darüber ein großes Plakat: »Welcome to Vic Falls Bungee«.
INFO
Die Victoria-Falls-Bridge ist eines der markantesten Brückenbauwerke im südlichen Afrika und Teil einer wahrhaft imperialen Geschichte. Die Idee war, Afrika von Kairo bis Kapstadt mit einer durchgehenden Eisenbahnlinie zu verbinden. Selbstredend nur durch die englischen Kolonien, denn der Ideengeber, Cecil Rhodes, war Engländer. Er wollte die Besitztümer Englands enger miteinander verbinden und es zudem der englischen Armee ermöglichen, schneller an Krisenplätzen zu sein.
Dennoch hatte Rhodes auch die Schönheit der Victoria-Fälle vor Augen. Daher sollte die Brücke so gebaut werden, dass die Reisenden bei offenem Fenster die Gischt der Wasserfälle auf der Haut spüren. Die größte Spannweite der Grenzbrücke zwischen Sambia und Simbabwe beträgt 165,5 Meter, die Länge knapp 200 Meter und die Höhe 128 Meter. Im Jahr 1905 erbaut, war sie ursprünglich lediglich als zweigleisige Eisenbahnbrücke gedacht, seit einer Verstärkung 1929 führen zudem ein Fußweg und eine Straße darüber. Sie ist eine von nur drei Straßenverbindungen zwischen Sambia und Simbabwe und war während des Unabhängigkeitskrieges 1975 der Ort von Friedensgesprächen. Neun Stunden lang saßen sich die Verhandlungsführer in einem Eisenbahnwaggon auf der Brücke gegenüber. Wenn auch vergeblich.
Als weißer Radfahrer bin ich eindeutig ein Exot. Nicht nur auf der Straße, sondern auch bei den Souvenirhändlern. »You wanna jump with the Bike«, lacht mich ein vielleicht 20-Jähriger an. Aus dem recht dunklen Gesicht blitzen hellwache Augen, und er hat einen Zahnstocher im Mundwinkel stecken. »Yes« sage ich – und sein Lächeln bricht für einen Moment irritiert zusammen. Bis ich nicht mehr ernst bleiben kann und lachen muss. Irgendwie wirkt er fast erleichtert und klatscht mir lachend auf die Schultern.
Es ist eigenartig, aber die meisten Menschen öffnen sich bei skurrilem, überraschendem Humor sehr spontan. Andere starren dem Gegenüber mit verständnislosem Blick in die Augen. Was manchmal aber auch kurios ist.
Der Händler jedenfalls hat Gefallen an mir gefunden. Gemeinsam stehen wir am Brückengeländer und schauen tief hinunter auf den Sambesi. Klar, dass er am Ende hofft, auch mir etwas verkaufen zu können, aber irgendwie haben wir einen Draht zueinander. Er zeigt mir, wo die Fälle am spektakulärsten sind, wie hoch die Gischt steigt, wenn der Fluss viel Wasser führt. Teils sind die Wasserfälle dann wegen der Gischtwand gar nicht mehr zu sehen.
Zusammen verfolgen wir, wie die Besatzung von zwei Rafting-Booten alle Rucksäcke und Tonnen für die trockene Kleidung verstaut und festzurrt. Auch jetzt, bei Niedrigwasser, scheint es irrwitzig, das Boot und die sieben Touristen in den reißenden, brodelnden Fluss mit seinen unendlichen Wirbeln zu lenken.
Die Bootslenker müssen ihre Gäste genau instruieren. Vor allem, was zu tun ist, wenn sie hinausfallen. Was gar nicht so unwahrscheinlich ist. Ein Australier erzählt später im Camp, dass es bei der Einweisung vor allem darum gegangen sei, in diesem Fall nicht in Panik zu verfallen. »Wenn ihr reinfallt, fischen wir euch normalerweise sofort wieder heraus«, hatte einer der Guides erklärt: »Aber es kann auch sein, dass ihr von einem Strudel nach unten gezogen werdet. Auch dann kann nichts passieren, die Schwimmwesten werden euch wie Korken wieder nach oben schießen lassen.« Und einen zweiten Rat gab er seinen Gästen mit ins Wasser: »In diesem Fall einfach langsam bis 100 zählen. Und wenn ihr dann noch nicht oben seid, einfach von vorne anfangen.« Der Australier grinst: »Das fanden manche überhaupt nicht witzig.«
Mein Souvenirhändler ist nach gut einer Viertelstunde wieder ganz Geschäftsmann und bietet an, mein Rad neben seinem »Shop« festzuketten. Er passt darauf auf. Sein Laden ist ziemlich »basic« ausgestattet. Er besteht aus einer Decke und Zeitungspapier auf dem Asphalt, auf denen er Schmuck und geschnitzte Holzgiraffen präsentiert.
Plötzlich steht die blonde Schönheit aus Deutschland wieder vor mir. »Wo warst du? Ich bin gerade gesprungen«, erzählt sie. Sie ist ganz hibbelig, das Adrenalin scheint aus ihren atlantikblauen Augen zu blitzen, und sie verspricht: »Das ist megageil. Das musst du unbedingt machen. Hast du schon die Tickets?« Sie hört gar nicht mehr auf zu reden. Was mich momentan und angesichts der mönchischen Gelassenheit, mit der der Souvenirverkäufer und ich soeben noch am Brückengeländer über die Macht des Wassers philosophierten, völlig überfordert. »Hier nebenan kannst du dich anmelden. Ich fotografiere dich beim Sprung«, sprudelt es aus ihr heraus.
Okay, die Entscheidung ist gefallen. Folgsam steige ich ihr die Stufen zum Info-Center hinterher, verrate dort, wie schwer und groß ich bin, dass ich keine Herzprobleme habe, und zahle die nicht eben bescheidene Summe von 160 Dollar für den Sprung. Das individuelle Video vom eigenen Sprung kostet noch einmal 40 Dollar, und die Bilder-CD zehn Dollar extra. Irgendwie habe ich das Gefühl, gerade auf freiwilliger Basis ausgeraubt zu werden.
Warum habe ich keine Angst? Ich stehe in dem kleinen Metallkäfig mit der Absprungrampe, während mir ein Mitarbeiter, der unablässig auf mich einredet, Frotteehandtücher um die Waden bis hinunter zum Fuß wickelt. Ich verstehe kein Wort, der Mann redet schnell. Den Kopf hat er nach unten gesenkt, als würde er nebenher durch das Bodengitter den besten Ort suchen, an dem ich in den tobenden Sambesi eintauchen würde. Und über meinem Kopf beschallt eine völlig überforderte Box die ganze Umgebung mit zugegebenermaßen ziemlich coolem Rap-Sound.
»Check 1 – okay«, »Check 2 – okay«, »Check 3 – okay. Ready.« Mit einem kompletten Klettersteigset, aber vor allem der festen Schnürung an den Beinen führen mich die drei Jungs nach der letzten Überprüfung, ob alles passt, an die Rampe. Mit kleinen Trippelschrittchen – schließlich bin ich an den Füßen fest verzurrt – bewege ich mich langsam nach vorn. Seltsam, dass mir just in diesem Moment einfällt: Nie habe ich mich getraut, in unserem Freibad in Ingolstadt vom Zehn-Meter-Turm zu springen. Aber jetzt stehe ich auf der Grenzbrücke zwischen Sambia und Simbabwe an der Kante eines 128 Meter hohen Abgrundes und will da hinunterhüpfen. Vor mir ist nun keine Absperrung mehr, nur noch Leere, meine Füße stehen auf einem dicken Stahlrohr, und die Zehenspitzen schauen bereits vorwitzig nach unten. »Nur nicht abrutschen«, durchzuckt mich ein irrealer Gedanke. Fast lache ich.
Unter mir ist nur die Schlucht des Sambesi und irrwitzig weit unten an ihrem Grund der tobende Fluss zu sehen. »Nein, das kann ich nicht. Wie komme ich hier wieder weg?«, denke ich panisch.
Es ist das alte Spiel, bei dem sich die Emotionen gegen den Verstand zur Wehr setzen. Und wir in solchen Situationen manchmal das Gefühl haben, wir könnten uns jetzt auch irgendwo neben uns hinsetzen und warten, bis die beiden eine Entscheidung gefällt haben. Die Logik sagt mir zwar, dass nichts passieren kann. Schließlich hänge ich an einem, nein, gleich mehreren Seilen. Die Gefühle aber begehren auf – auch mit körperlichen Auswirkungen. Mit diesem Kribbeln, das von den Zehen wie ein Schauer langsam nach oben zieht – und die Botschaft verkündet: »Hey, du willst doch nicht wirklich einfach in die Tiefe springen? Das ist verrückt. Außerdem völlig ohne jeden Sinn. Macht man nicht!«
Außerdem fällt mir in diesem Moment das Youtube-Video der jungen Australierin ein, die genau hier stand, wo auch ich jetzt in den Abgrund blicke. Ein gutmeinender Kumpel hatte mir den Link gesandt: »Schau mal, bei der ist das Seil gerissen.«
»Sehr witzig, das passiert in 20 Jahren wahrscheinlich genau einmal«, hatte ich geantwortet. Doch jetzt fällt mir das Video wieder ein, in dem zu sehen ist, dass das Gummiseil tatsächlich abriss und die 22-Jährige in den krokodilverseuchten Sambesi stürzte. Mit unzähligen blauen Flecken und vor allem viel Glück überlebte die Frau, die trotz ihrer zusammengebundenen Füße an Land schwamm. Hätte der Fluss so wenig Wasser wie heute gehabt, wäre sie zerschmettert worden. Überall ragen graue Granit felsen aus dem Wasser.
Doch das wirklich Irritierende ist nicht die Vorstellung, jetzt da herunterzuspringen. Wirklich übel ist, dass das Seil nicht zu sehen ist. Es muss irgendwo unter der Plattform angebracht sein, logisch. Aber es ist trotzdem beunruhigend, wenn die einzige Sicherung, die mich dazu bewegt, mich hier hinunterzustürzen, überhaupt nicht zu sehen ist.
Den drei Jungs, die mich an die Rampe gebracht haben, ist das egal. »Wenn du schreist, schrei wie ein Mann«, sagt der eine grinsend. Der zweite ermahnt mich, die Arme auseinanderzunehmen und vor allem mindestens drei Meter nach vorn zu springen: »Sonst könntest du beim Auspendeln zu nahe an die Brückenpfeiler kommen.« Oh, schön. Da dieser Aspekt tatsächlich ziemlich wichtig zu sein scheint, nehmen mich zwei an den Armen und einer stützt mich im Rücken: »Wir zählen einen Countdown, dann springst du.« Übersetzt heißt das nichts anderes als: »Wenn du nicht springst, helfen wir dir dabei.«
Das alles geht so schnell, dass zum Nachdenken ohnehin keine Zeit bleibt. »Five, four, three, two, one …« brüllen die drei, und ich springe so weit ich kann nach vorn. Es ist wie ein Albtraum, dieses Gefühl, allen Mut zusammenzunehmen, die Zähne zusammenzubeißen und mit starrem Gesichtsausdruck einfach völlig gegen jeden Verstand kopfüber in ein tiefes Tal zu springen. Aber genauso fühlt es sich an. Sobald ich nach vorn stürze, in der ersten Sekunde, als ich noch quer in der Luft liege und den Sambesi unter mir sehe, bin ich einfach nur überrascht: dass ich das wirklich gerade gemacht habe.
Der Flug selbst, diese fünf, sechs Sekunden, vergehen so schnell, dass mir ohnehin kaum ein Eindruck zurückbleibt. Erst als sich das anscheinend doch vorhandene Seil sehr sanft und vielleicht 15 Meter über der Wasseroberfläche spannt, vorsichtig an meinen Beinen zieht und mich dann energisch nach oben katapultiert, nehme ich die Umgebung wieder wahr. Die Brücke, die mir jetzt entgegenzufliegen scheint, den Fluss, der mir drei Sekunden später wieder näher kommt, und die grüne Schlucht, in der ich anscheinend gerade nach unten gestürzt bin. Jetzt schießt auch das Adrenalin in den Körper. Ich brülle und juble und hoffe, damit auch meine Höhenangst überwunden zu haben. Vor allem aber weiß ich: Ich bin jetzt bereit für diese Biketour durch den Süden Afrikas. Der erste Schritt, die erste Überwindung ist geschafft. Jetzt kann es losgehen.
»Mein« Souvenirhändler klatscht mich ab. Er freut sich genauso mit mir wie die blonde Schönheit, die mir sofort die Bilder zeigt, die sie von meinem Sprung gemacht hat. Himmel, das sieht ja noch schlimmer aus, als es war!