Bernd Schirmer
Wo Moths wohnt
Erzählungen
FISCHER Digital
Bernd Schirmer, freier Autor, 1940 in Leipzig geboren, aufgewachsen in Scheibenberg im Erzgebirge, studierte Germanistik und Anglistik in Leipzig. Von 1965 bis 1968 war er Hörspieldramaturg in Berlin, von 1969 bis 1972 Deutschdozent an der Universität Algier und 1973 bis 1991 Dramaturg beim Deutschen Fernsehfunk in Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen: Erzählungen, Romane, Reisebeschreibungen, Drehbücher, Hörspiele und Übersetzungen.
Von den Problemen des Wissenschaftlers Moths ist in diesen Erzählungen die Rede, auch vom Ehepaar Scharnhobel, das sich zerstritten hat und nach einem neuen Anfang sucht, oder von der ehemaligen Verkäuferin Monika, die ein Kind zur Welt gebracht hat, von dessen Existenz der Vater nichts ahnt und von dem ihm Monika nichts sagt, als sie ihm eines Tages unverhofft gegenübersteht. Weil sie ihre Gründe hat, wie sich herausstellt.
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign, München
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-561306-1
Also Thormeyer. Nicht, daß ich aufgejubelt hätte, als ich ihn wiedersah damals, vor einem Jahr ungefähr. Nein, ich habe kein großes Freudengeheul angestimmt. Aber immerhin. Man kennt sich. Man war jahrelang zusammen. Da kann es schon so sein, daß man achselzuckend auf eine Eckkneipe deutet und dann, da der andere den Kopf nicht schüttelt, darauf zusteuert. Man fragt sich die paar Schritte bis dahin, wie’s denn so gehe, und man nuschelt so vor sich hin, ach ja, es gehe schon, es müsse ja gehen. Und was man sich sonst so sagt, wenn man sich trifft, unverhofft, und hat sich an die zwei Jahre nicht gesehen.
Nein, besonders nahe hat mir Thormeyer nie gestanden. Während des ganzen Studiums nicht, das gebe ich zu. Es war immer alles glatt gegangen bei ihm, und ich kann mich nicht erinnern, daß er mal irgendwelche Probleme gehabt hätte. Ein Leisetreter. Seine Testate und seine Belege waren immer gut oder sehr gut, durch eine Prüfung gefallen ist er nie, ideologisch war er stets auf dem erforderlichen Stand, und während des Studiums heiraten mußte er auch nicht. Thormeyer war irgendwie farblos. Ohne große Schwierigkeiten hatte er eine ganz gute Stelle gefunden mit ganz guter Bezahlung, eine Pfründe, wie er das damals nannte, und auf die Zweieinhalbzimmerwohnung brauchte er, wie mir jemand erzählt hatte, nicht lange zu warten, nicht mal, bis das erste Kind da war, was nun wirklich nicht gerade häufig vorkommen soll. Ein Leisetreter und ein Glückspilz. Und plötzlich haben wir uns an einer Straßenecke getroffen, ich könnte nicht mal mehr sagen, wo, aber beide hatten wir Kollegmappen unterm Arm, da bin ich sicher. Das war vor einem Jahr, wie gesagt.
Wir haben uns in der Eckkneipe nicht erst niedergesetzt, wir sind an einem der brusthohen Tische stehengeblieben, und die Mäntel haben wir auch nicht erst ausgezogen, wie’s üblich ist in dieser Stadt, immer bloß auf ’nen Sprung. Ich habe zwei Bier geholt, und wir haben uns zugeprostet, und weil wir uns doch fast zwei Jahre nicht gesehen haben, hat jeder hergezählt, wen von der alten Truppe er mal irgendwo getroffen hat, so wie wir uns, oder auf einer Tagung, was der und der macht, wo dieser und jener steckt, und daß der schöne Eduard schon wieder reingerasselt ist, nur diesmal bei einer anderen, das wußten wir alle beide, und wir hatten’s alle beide gleich kommen sehen. Aber als ich ihn dann ein bißchen ausfragen wollte nach seinem Betrieb und was er da so macht, hat er abgewinkt, hat seine Neige ausgetrunken und ist mit den beiden leeren Gläsern zur Theke gegangen. Ich glaube, die Schultern hingen ihm ziemlich runter, wie er so dastand vor dem bulligen Wirt, und irgendwie erschien er mir schlapp, wie ich ihn, auch wenn er ein Leisetreter war, nicht in Erinnerung hatte. Aber vielleicht bilde ich mir das nur ein, und ich zimmere mir ein Bild zurecht von ihm, jetzt, ein Jahr danach. Eines jedoch höre ich noch, als wäre es erst gestern gewesen: Als wir das zweite Glas tranken, hat er gesagt: »Ist doch alles Kiki.«
Wir redeten noch über dies und das, und er schwärmte von den herrlichen Zeiten Studium und schimpfte auf die, die uns blauen Dunst vorgemacht hätten, nichts als blauen Dunst. In Wirklichkeit sei alles anders. In Wirklichkeit sei alles Kiki. Und dann redeten wir überhaupt nicht mehr. Mit Thormeyer war nie lange zu reden. Ich knöpfte meinen Mantel zu. Thormeyer wollte mir einreden, daß ich unbedingt noch bleiben müsse und daß es was für sich hätte, sich mal wieder richtig auszuquasseln, und daß es so ein schöner Abend sei, was ich nun weiß Gott nicht fand. Schließlich gab er’s auf. Aber er wollte unbedingt meine Adresse haben und meine Telefonnummer. Ich kritzelte dann auch seine Anschrift und seine Nummer auf eine alte Zigarettenschachtel, und wir verließen die rauchgelbe Bierstube.
»Besuch mich doch mal«, sagte er draußen.
»Ja, ja«, sagte ich.
»Man hat doch hier niemanden weiter, man kommt sich manchmal richtig verloren vor in dieser Stadt.«
Ich stutzte. »Bist du denn nicht mehr verheiratet?«
»Doch, doch«, sagte er, »wir haben jetzt sogar Nachwuchs. Habe ich dir das nicht erzählt?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ein Junge.« Er lächelte wohl auch, es war schon dunkel.
»Gratuliere«, sagte ich. Und gab ihm die Hand. Und rannte über den Damm zur Straßenbahn.
»Ruf mich mal an«, hörte ich noch.
Dann schnarrten die Türen, und als die Bahn abfuhr, hob ich die Hand, und er hob die Hand, wie man das eben so macht.
Ich weiß nicht mehr, was ich damals gedacht habe in der Straßenbahn. Vielleicht habe ich gedacht, daß seine Ehe nicht geht, ich kann mich nicht erinnern. Einige Haltestellen, und ich hatte sicher wieder etwas anderes im Kopf.
Ich hörte eine Zeitlang nichts von ihm. Gewiß, ich hätte ihn mal anrufen können, aber die Zigarettenschachtel mit seiner Telefonnummer ist mir nie zwischen die Finger gekommen, vielleicht hatte ich sie verloren, und erst im Telefonbuch nachzublättern, erschien mir doch sehr umständlich. Wenn ich ehrlich sein soll, mir lag auch nicht viel daran.
Dafür aber rief Thormeyer mich an. »Wie geht’s denn?«
»Wie soll’s schon gehen«, sagte ich, »es geht.«
Wir redeten eine Weile über dies und das, lauter belangloses Zeug, Wetter und Wetterbesserung, Überfüllung der Straßenbahnen am Morgen und am Abend, und dabei fehlte mir jede Minute zum Arbeiten. Ich hatte eine größere Studie zu verfassen, und ich war schon in argen Terminnöten. Ich weiß nicht, viel hatten wir uns wahrhaftig nicht zu sagen. Und weil es gerade kurz vor elf war, sagte ich ihm, daß ich um elf zu einer Sitzung müsse. Ich versprach, mich wieder zu melden. Doch da ich nicht anrief, rief er mich an. Gleich am nächsten Tag.
»Wie war denn deine Sitzung?«
»Es ging«, sagte ich. Und ich erfand irgendwas. Daß mich der Haupttechnologe runtergeputzt hätte und daß ich den Haupttechnologen runtergeputzt hätte. Und daß ich überhaupt bis zu den Ohren in Arbeit steckte; aber das stimmte.
»Und ich sitze hier und male Männchen«, sagte er.
»Wie bitte?«
»Ich male Männchen!« rief er so laut ins Telefon, daß ich den Hörer erschrocken vom Ohr wegriß.
»Und dafür wirst du bezahlt?«
»Ja«, sagte er, »und nicht mal schlecht.«
Thormeyer rief jeden Tag an. Manchmal unterhielten wir uns über den Inhalt meiner Studie, über die angewandten Untersuchungsmethoden, über den möglichen Nutzen für meinen Betrieb. Wir gerieten ins Fachsimpeln, und er stellte seine Fragen so detailliert und so präzis, bis ich unsicher wurde wegen manchen Schlusses und erkannte, daß ich noch nicht in jedem Fall von der Behauptung zum Beweis vorgedrungen war. Es war vieles noch im Bereich des Zufälligen. Zwar hatte ich die Erscheinungen des Monotonie-Zustandes am Band ziemlich klar beschrieben, aber was ich an Verhütungsmaßnahmen vorgeschlagen hatte, schien noch nicht ausreichend zu sein, besonders was die Verbesserung der Arbeitsplatzgestaltung betraf. Thormeyer riet mir auch, noch diesen oder jenen Fachartikel zu konsultieren, er gab mir allerlei englischsprachige Titel an, die mir unbekannt waren. Ich war noch längst nicht am Ende mit meiner Studie, das wurde mir immer klarer. Dennoch war ich froh, daran weiter arbeiten zu müssen, denn sehr wohl war mir nicht gewesen bei manchem vorschnellen Schluß, und es sollte doch das Optimale herauskommen.
»Und du?« fragte ich.
»Ich?«
Er lachte. Dann schwieg er eine Weile. Dann sagte er: »Ich habe vor drei Wochen eine Studie und eine Reihe von Vorschlägen nach oben gegeben.«
»Und?«
»Nichts«, sagte er, »ich warte.«
»Und inzwischen malst du Männchen?«
»Ja«, sagte er.
Tag um Tag blockierten wir das Telefon, und es wurden meist lange Gespräche, obwohl wir uns so viel nicht zu sagen hatten. Wenn wir fachsimpelten, das ging noch an. Aber wenn er eine seiner Platten von den vergangenen Studikerzeiten auflegte – er sagte vorzugsweise Studiker – und irgendwelche Erinnerungen an irgendwelche Exkursionen ableierte, wurde es auf die Dauer unerträglich. Wenn er ins Nörgeln fiel über den blauen Dunst, den man uns vorgemacht habe, und über den grauen Qualm, in den er geraten sei, hörte ich nur noch mit halbem Ohr zu, hatte den Hörer zwar noch zwischen Kopf und Schulter klemmen, arbeitete jedoch weiter.
»Du lachst ja gar nicht«, sagte er.
»Wie?« rief ich, »ach so.«
Ich lachte. Lachte schallend. Er hatte vermutlich einen Witz erzählt. Oder etwas aus der Studikerzeit.
Manchmal telefonierten wir zwanzig, dreißig Minuten. Thormeyer saß wahrscheinlich allein in seinem Zimmer.
»Es tut gut, sich mal ordentlich auszuquasseln«, meinte er. »Ich habe übrigens noch paar andere Witze auf Lager. Die kann man nicht am Telefon erzählen. Besucht uns doch mal.«
»Ja, ja«, sagte ich.
Es war zum Verzweifeln. Ich kam nicht vorwärts mit meiner Studie. Wenn ein Kollege im Zimmer war, bat ich ihn, für mich, wenn es läutete, den Hörer von der Gabel zu nehmen, und falls ein gewisser Thormeyer sich melde, ihm zu sagen, daß ich Sitzung hätte. Ich hatte von nun an jeden Tag Sitzung, manchmal mehrere am Tag. War ich allein im Zimmer, ließ ich das Telefon klingeln und klingeln. Trotzdem kam ich nicht vorwärts mit meiner Studie. Eines Feierabends nahm ich, wie oft in diesen Tagen, meine Mappen mit heim und beschloß, mindestens so lange zu arbeiten, bis meine Frau heimkäme, also ungefähr bis halb elf, denn sie hatte eine Elternversammlung zu leiten, und um zehn spätestens schloß der Hausmeister ihrer Schule die Tür ab. Aber als ich heimkam, brannte schon Licht. Meine Frau saß in der Küche auf einem Stuhl, und sie hatte noch den Mantel an. Ich war erschrocken. Gerda war damals im fünften Monat. Sie war blaß.
»Gerda!« rief ich, »ist dir nicht gut?«
Sie schüttelte den Kopf. Ich half ihr vorsichtig aus dem Mantel.
»Gäbler wäre fast gestorben«, sagte sie.
»Gäbler? Was für ein Gäbler?«
Sie sah mich müde an. »Ein Kollege«, sagte sie. »Habe ich dir nie von ihm erzählt?«
Ich zuckte die Schultern.
»Von ihm wird niemand groß erzählt haben«, sagte sie, »er war ganz in sich zurückgezogen, ganz unscheinbar. Er kam nie raus aus sich.«
»Und wieso fast gestorben?«
»Er hat sich was antun wollen«, sagte sie leise.
Ich schwieg bestürzt.
»Wir haben nichts von ihm gewußt, nicht mal, daß er seit einem halben Jahr geschieden ist. Mit dem Unterricht kam er auch nicht zurecht, keine Methodik, keine Disziplin. Wir reden bloß immer und reden. Das einzige, was alle wußten: Er sollte im neuen Schuljahr an eine andere Schule versetzt werden. Als Unterstufenlehrer.«
Ich sah sie an. »Hat sich denn keiner um ihn gekümmert?«
»Gekümmert?«, sie senkte den Kopf. »Er hat alle abgewiesen. Er ließ keinen an sich heran. Wir waren immer schnell beleidigt.«
»Na und?«
Sie schwieg. Ich stellte zwei Teller auf den Tisch, zwei Tassen. Sie wollte nichts essen. Wir gingen an die Luft. Wir schwiegen. Ich hörte sie tief atmen. Es roch nach Flieder.
»Besser?« fragte ich nach einer Weile.
»Er war so unscheinbar«, sagte sie, »und ständig irgendwie bedrückt. Wie ein geprügelter Hund, wenn er aus der Klasse kam. Sein Gesicht so aschig. Ich saß, wenn wir pädagogischen Rat hatten, manchmal neben ihm. Seit er gewußt hat, daß er versetzt werden soll, hat er immer Strichmännchen auf sein Löschblatt gemalt.«
»Strichmännchen?« fragte ich.
Ich hörte sie seufzen. Es roch nach Flieder. Ich schnitt ihr welchen ab, der aus einem Garten herausquoll.
Als ich tags darauf gleich am Morgen Thormeyer anrief, meldete sich eine Frauenstimme. »Der Kollege Thormeyer ist auf einer Sitzung.«
Ich wartete den ganzen Tag auf seinen Anruf und wagte kaum, aus dem Zimmer zu gehen, und rief ihn auch nicht wieder an, weil ich ständig glaubte, er könnte im gleichen Augenblick mich anrufen und wir wären, obwohl wir doch miteinander sprechen wollten, füreinander besetzt. Erst kurz vor Feierabend versuchte ich es wieder.
»Wie geht’s?« fragte ich.
»Wie soll’s gehen«, hörte ich, »es muß ja.«
»Du hattest Sitzung heute früh?«
Er erwiderte etwas schroff: »Du hast ja schon seit vierzehn Tagen pausenlos Sitzung.«
Ich schwieg. Nach einer Weile fragte ich: »Ist denn was rausgekommen?«
»Ja«, sagte er, »meine Vorschläge sind alle abgelehnt.«
»Und was machst du jetzt?«
»Das Übliche«, meinte er, »rumsitzen, Fachzeitschriften lesen.«
»Strichmännchen malen«, sagte ich.
»Du hast gut lachen«, sagte er.
Ich schwieg, er schwieg. Er mußte gleich Feierabend haben.
»Na ja, dann«, hörte ich.
Da rief ich ins Telefon: »Hör mal, Thormeyer.«
Ich lud ihn ein, uns bald zu besuchen mit seiner Frau.
Doch statt zuzusagen, lud er uns ein, denn seine Frau könnte wegen des Kleinen schlecht von zu Hause weg.
»Freitag?«
Also gingen wir am Freitagabend zu Thormeyers. Meine Frau freute sich sehr auf den Abend, nicht nur, weil wir wegen meiner ständigen Arbeiten bis spät in die Nacht in letzter Zeit nur selten weggekommen waren, sie wollte, weil Thormeyers ein Baby hatten, auch verschiedenes fragen. Obwohl wir bereits vor sieben klingelten, war das Baby schon zu Bett gebracht, was meine Frau bedauerte. Thormeyer führte uns, nachdem wir uns begrüßt hatten, überschwenglich, überfreundlich wie alte Freunde, ins Wohnzimmer, in dem seine Frau gerade ein weißes Tischtuch auflegte.
»Machen Sie doch nicht so viele Umstände unseretwegen«, sagte meine Frau.
Doch wir hörten bald heraus, daß die Thormeyers, seit sie in dieser Stadt lebten – und das war fast zwei Jahre – noch kaum Gäste gehabt hätten, was mich um so mehr verwunderte, als mir Thormeyers Frau vergnügt und lebenslustig zu sein schien, ein Feiertyp. Gerda half ihr in der Küche. Es roch nach Gebratenem.
Thormeyer trank mit mir einen Slibowitz.
»Ja, ja«, sagte er, »so ist das.«
Ich nippte an meinem Slibowitz und sah mich im Zimmer um. Ein Regal mit Büchern, ein Sims mit Kakteen, allerlei Teakholz, ein Batikdruck.
»Hat meine Frau gemacht«, sagte Thormeyer.
Ich nickte.
Hinter mir, in der Ecke, der Fernsehapparat. Er lief, nur Bild, Ton abgestellt. Thormeyer bot mir eine Zigarette an.
»Weißt du«, sagte er, »irgendwie ist man hier in dieser Stadt doch verdammt allein.«
Ich schwieg, und ich vermied, ihn anzusehen.
Schräg hinter mir empfahl der Fernsehkoch etwas, aber ich wußte nicht, was.
»Soll ich laut stellen?«
Ich hob abwehrend die Hände. Er drückte auf einen Knopf, so daß auch das Bild verschwand.
»Ich komme mir manchmal vor wie hundert Jahre alt«, sagte er. »Früher sind wir wenigstens noch hin und wieder ins Theater gekommen oder ins Kino, aber jetzt mit dem Kind …«
»Junge oder Mädchen?« fragte ich, denn ich hatte es schon wieder vergessen.
»Junge.«
Mir fiel nichts ein. Es war alles so krampfhaft. Da fragte ich: »Was soll er denn mal werden?«
Thormeyer blickte mich an. Thormeyer sagte, den Mund etwas schief: »Arbeitspsychologe.« Dann feixte er und schlug sich auf die Schenkel und feixte, aber urplötzlich hielt er inne. Es schien ihm peinlich zu sein. Er schenkte noch einen Slibowitz ein.
»Warum sind deine Vorschläge abgelehnt?« fragte ich.
»Tu mir einen Gefallen und sprich nicht von der Arbeit. Heute mal nicht, bitte.«
»Warum?«
»Warum, warum«, sagte er barsch. Er trank hastig sein Glas aus.
»Weil mich das alles anödet, verstehst du, es ödet mich alles an.«
Er stand auf. Er ging im Zimmer auf und ab. Er trommelte mit den Fingern am Schrank.
»Weil mich diese Schwachköpfe alle anöden«, rief er ziemlich laut, »diese Schwachköpfe alle.« Er winkte ab.
»Wirst du bei euch auch so laut?« fragte ich.
»Von wegen wissenschaftlich leiten«, sagte er und setzte sich wieder in den Sessel.
»Die Wissenschaft als Feder auf dem Hut, weiter nichts. Oder als Feigenblatt, so kann man’s auch nennen. Damit nur ja keiner auf den Gedanken kommen oder sogar sehen könnte, daß nicht wissenschaftlich geleitet wird.«
Er lachte, er lachte sarkastisch.
»Wenn’s um den Tag geht, gut. Das mag noch hingehen. Aber bei längeren Fristen, da ist es schon aus. Weil das nämlich Geld kostet, verstehst du?«
»Ich verstehe«, sagte ich.
»Was natürlich zehnfach wieder hereinkäme«, rief er.
»Ich verstehe«, sagte ich abermals.
Die Tür ging auf. Thormeyers Frau kam mit Tellern herein.
»Streitet ihr euch?«
Ich lächelte.
»Noch nicht«, erwiderte ich.
Es gab Schaschlyk. Als Thormeyer Bier einschenkte, sah mich Gerda fragend, mit hochgezogenen Augenbrauen an, bis ich nickte. Wir tranken, und der Schaschlyk war ausgezeichnet, und ausgezeichnet waren auch die Pommes frites. Ich lobte die Hausfrau.
»Siehst du«, stieß sie ihren Mann an, »hättest du mal aufgepaßt, wie man das macht.«
Was Thormeyer brummte, verstand ich nicht. Seine Frau wandte sich zu uns.
»Weil nämlich Herwart in Kürze seine Arbeit an den Nagel hängt und den Haushalt übernimmt.«
Ich betrachtete Thormeyer. Er hatte seiner Frau einen finsteren Blick zugeworfen und kaute mißmutig und sehr weit vorn. Gerda hatte sich vorgebeugt, neugierig.
»Na ja«, sagte Frau Thormeyer, »jemand muß die Hausarbeit ja machen. Oder nicht? Ein Krippenplatz ist vorläufig nicht drin. Und warum soll denn ausgerechnet immer die Frau zu Hause bleiben?«
Sie blickte uns der Reihe nach an, erst Gerda, die belustigt dreinschaute, dann mich, dann Thormeyer, der ärgerlich sein Bier trank.
»Ja, was denn«, sagte sie, »mir macht meine Arbeit Spaß. Sicher, als Laborantin verdiene ich nicht so viel wie Herwart, aber eine Weile wird’s schon gehen, nicht wahr? Herwart kann ja paar Artikel schreiben.«
»Hör auf mit dem Unfug«, schnarrte Herwart, »albernes Emanzipationsgewäsch.«
Die beiden Frauen räumten ab.
»Es war wirklich vorzüglich«, sagte ich.
Als wir allein waren, fragte mich Thormeyer, ob meine Frau auch manchmal auf so aberwitzige Ideen käme; doch ehe ich antworten konnte, kamen sie zurück, und Thormeyer schlug vor, böse Sieben zu spielen.
»Kennt ihr das nicht?« Er holte zwei Würfel und stellte die halbe Flasche Slibowitz auf den Tisch.
»Herwart!« ermahnte ihn seine Frau, »dann können wir ja gleich fernsehen.«
Er sah uns verdutzt an. Er sagte, daß noch immer alle in Stimmung gekommen wären durch dieses Spiel.
Seine Augen strahlten, als er es uns erklärte. Der erste, der eine Sieben würfelt, muß einschenken, aber nur in ein Glas, seine Sache, wieviel. Wer die zweite Sieben würfelt, muß antrinken, seine Sache, wieviel. Und austrinken muß das Glas, wer die dritte Sieben würfelt.
»Ihr werdet euch wundern«, meinte er und würfelte los.
Gerda sah besorgt drein.
»Sieben«, rief er, »ich schenke ein.«
Wir würfelten, und wir tranken. Dreimal hintereinander mußte ich das Glas austrinken, Thormeyer feixte. Wir würfelten verbissen. Und dann schrie das Baby im Nachbarzimmer.
Als die beiden Frauen hinausgegangen waren, griff sich Thormeyer aus dem Bücherregal ein sehr altes Buch, klappte es auf und bot mir eine Zigarre an.
»Ulkig, was?«
Ich zwang mich zu einem Lächeln.
»Und was ist in den anderen Büchern?«
Er schenkte wieder ein.
»Cheers«, sagte er.
»Cheers?«
Plötzlich lachte er auf.
»Weißt du noch, wie wir Stellmeister mal ’ne Flasche Wodka zum Geburtstag geschenkt haben im Ernteeinsatz, und der hat und hat die nicht aufgemacht, der geizige Kerl der, und wie wir sie dann nachts allein ausgetrunken haben und Wasser reingemacht haben und wieder einen einwandfreien Verschluß drauf und wie wir Stellmeister dann geweckt haben und vor seinen Augen die Wodkaflasche, in der ja nun bloß Wasser war, aufgemacht haben und ihm, wie er so auf dem Strohsack saß, einen eingeschenkt haben und uns allen, und Stellmeister hat beim Trinken so getan, als wäre es Wodka, bis wir dann selber nicht mehr genau wußten, ob es Wasser war oder Wodka, weißt du das noch?«
»Ja, ja«, sagte ich, »ich weiß noch.«
»Und weißt du noch, wie Schindler, weil es sowenig Wurst gab abends, nur zwei Ringel und ein paar Radieschen, wie sich Schindler zwei Astern auf das Brot legte und mit Senf bestrich und ganz vornehm losaß mit Messer und Gabel und wie wir dann den Vorsitzenden holten, um ihm die katastrophale Verpflegungslage zu demonstrieren, und wie der Vorsitzende sagte, daß wir dann ja wohl gar keine Wurst mehr benötigten, entsinnst du dich nicht?«
»Doch, ich entsinne mich«, sagte ich.
Thormeyer kramte noch mehr Geschichten aus dieser Zeit aus, und aus seinem Schrank suchte er eine alte Mütze heraus, seine Ernteeinsatzmütze, und er setzte sie sich verwegen übers Ohr, dieses Ungetüm von einer Mütze.
»Diese Einsätze«, sagte er, »das war mit das schönste.«
Das Schreien des Babys hatte längst aufgehört, und die beiden Frauen kamen zurück.
»Wir haben uns entschlossen«, verkündete Thormeyer, »aufzuhören mit diesem blöden Spiel.«
Dann ging er, nachdem er die Mütze abgesetzt hatte, auf einen Wink seiner Frau in die Küche und brachte Eiswürfel und eine Flasche Cinzano.
»Na?«
Er entkorkte die Flasche. Auch Gerda trank ein Glas. Wir redeten über dies und das, und Thormeyer sagte, als eine Weile keiner was gesagt hatte, daß das Leben eigentlich ganz schön sei.
»Eine Wohnung, Kühlschrank, Fernseher, Waschautomat, noch einige Raten, dann ist auch das erledigt. Auto angemeldet, auf Grundstückssuche, was willste mehr?«
»Zum Beispiel mal ins Ausland«, sagte meine Frau.
Er winkte ab. »Ausland! Denkt ihr, woanders ist es anders?«
Ich schob den Ärmel zurück, es ging auf elf, und ich zeigte Gerda so unauffällig wie möglich die Uhr, aber sie sah nicht her, sondern erwog mit Frau Thormeyer die Vorzüge der Papierwindeln. Als ich andeutete, daß wir bald aufbrechen müßten, sahen mich die beiden Thormeyers beleidigt an. Frau Thormeyer ließ sich nicht abhalten, in die Küche zu gehen, um Kaffee zu brühen, wie sehr wir auch beteuerten, zu so später Stunde keinen Kaffee mehr zu trinken. Da Gerda ebenfalls das Zimmer verließ, war ich wieder mit Thormeyer allein. Ich fürchtete, er würde wieder Episoden aus Ernteeinsätzen hervorkramen, aber er schwieg. Er trank ein ganzes Glas Cinzano, ohne abzusetzen. Er goß sich das Glas wieder voll. Nach einer Weile sagte er: »Ja, so ist das.«
»Du machst dir ganz schön was vor«, sagte ich.
Er sah mich nicht an. Er spielte mit dem Feuerzeug, ließ es aufklicken, zuklicken.
»Hast du mal mit eurem Parteisekretär darüber gesprochen?«
»Ich bin nicht drin«, sagte er.
»Na und?«
Das Feuerzeug klickte, Flamme, Flamme aus, Flamme.
»Ist doch alles sinnlos.«
Flamme aus. Thormeyer legte das Feuerzeug auf den Tisch. »Weißt du was«, sagte er leise, »ich gehe weg.«
Ich sah ihn an.
»Ja«, sagte er, »ich gehe weg. Ich gehe woandershin.«
Er nahm das Feuerzeug wieder in die Hand und legte es dann wieder auf den Tisch.
»Feige bist du also auch noch«, sagte ich.
»Was heißt feige?«
»Bei der ersten besten Gelegenheit wirfst du alles hin.«
»Ich habe nicht viel hinzuwerfen.«
Gerda brachte vier Tassen auf einem Tablett. Es gab Nußkranz.
Als wir uns eine halbe Stunde später an der Haustür verabschiedeten, meinte Thormeyer, daß es ein schöner Abend gewesen sei, und seine Frau lud uns ein, sie bald wieder einmal zu besuchen. Wir versprachen’s.
»Ja, ja, so ist das«, sagte ich auf der Straße.
Gerda meinte, daß sie allerlei gelernt habe, Baby wickeln, Baby beruhigen mit Fencheltee.
»Dieser Thormeyer«, sagte ich.
»Was ist denn mit ihm?«
»Hast du denn nichts gemerkt?«
Sie zuckte die Achseln. Sie schmiegte sich an beim Gehen.
»Eigentlich hätte ich gar nicht soviel trinken dürfen«, sagte sie.
»Merkst du denn nichts? Der ist doch völlig erledigt. Zwei Jahre von der Uni weg, da ist der schon erledigt.«
»Sie haben eine hübsche Wohnung«, sagte sie, »und seine Frau ist nett.«
»Da ist einer Arbeitspsychologe, und der soll machen, daß alle mit ihrer Arbeit gut zurechtkommen und daß sie glücklich sind bei der Arbeit, daß am meisten herausspringt, das soll er machen, dazu ist er da, aber er kommt mit seiner Arbeit nicht zurecht, und glücklich ist er schon gar nicht.«
Gerda gähnte. »Er braucht vielleicht einen Arbeitspsychologen«, sagte sie hin und gähnte wieder. »Wie der abseits steht.«
Ich erzählte ihr, daß Thormeyer Strichmännchen male, aber sie verstand nicht.
»Ich bin müde«, sagte sie, »ich bin sehr müde.«
Dieser Thormeyer. So war das mit ihm. Arbeitspsychologe braucht Arbeitspsychologen. Meine Frau hatte sich sicher nichts weiter dabei gedacht, aber es stimmte. Und dieser Abend bei ihm damals, so ist er gewesen. Oder so ähnlich. An alles kann ich mich nicht mehr erinnern, ein Jahr dazwischen ist eine lange Zeit. Vielleicht hatte er den Fernseher doch laufen lassen den ganzen Abend. Nein, wir sind nicht wieder hingegangen.
Ich hörte lange Zeit nichts von Thormeyer. Gewiß, wir haben zwei- oder dreimal telefoniert in den darauffolgenden Wochen. Es waren kurze Gespräche. Wie geht’s? Es geht. Einmal hatte ich versucht, ihn dafür zu gewinnen, mit mir zusammen einen Artikel für eine Fachzeitschrift zu schreiben. Er hatte gequält gelacht. »Du willst mir wohl ein Erfolgserlebnis verschaffen?«
Er lehnte das Angebot ab, und ich gab es auf.
Eines Tages jedoch, nach Feierabend, ich ging gerade durch die Torwache, trat Thormeyer auf mich zu.
»Nanu?«
»Ich muß mit dir sprechen.«
Er sah abgespannt aus, dunkle Augenringe, schlecht rasiert.
»Am Telefon ging das schlecht.«
»Schieß los«, forderte ich ihn auf.
»Mir ist da ’ne dumme Sache passiert. Wo mußt du lang?«
Wir gingen in Richtung S-Bahn, und da keine Gaststätte am Weg liegt, ließen wir uns auf einer Bank nieder. Ein schöner Frühsommertag, ich weiß noch, mit Kindern im Sandkasten und mit Blumen neben der Bank und mit Vogelgelärm im Baum. Und dahinein sagte Thormeyer: »Mal angenommen, da ist einer, der ist der Meinung, daß das, was hier gemacht wird, gut ist und richtig, verstehst du, und jeden Morgen nimmt er sich vor, bei alledem mitzumachen, und nicht nur ein bißchen, sondern möglichst viel, und jeden Abend muß er sich sagen, er wird nicht gebraucht, er ist überflüssig.«
»Rede nicht drumrum«, sagte ich ungeduldig, »hier wird jeder gebraucht, und nicht nur mal angenommen, sondern das ist so und schon gleich jeder, der wirklich richtig bei alledem mitmachen will.«
»Ich habe dir gesagt, daß ich weg will aus diesem Betrieb, man muß aber erst eine andere Stelle finden.«
»Eine Pfründe«, warf ich wohl ein.
»Jedenfalls, ich habe inseriert. In der Zeitung. Arbeitspsychologe in ungekündigter Stellung sucht neuen Wirkungskreis. Angebote unter Nummer soundsoviel.«
»Und?« wollte ich wissen. »Hast du Angebote bekommen?«
»Ja«, sagte Thormeyer.
Ich sah ihn von der Seite an. Er zögerte. Schließlich sagte er es. Schließlich sagte er: »Von meinem eigenen Betrieb.«
Ich stutzte.
»Wie denn? Von deinem eigenen Betrieb?«
Da mußte ich dann doch lachen. »Thormeyer, Thormeyer«, sagte ich und schüttelte den Kopf.
»Die wissen natürlich nicht, daß ich es bin, der inseriert hat«, sagte er, aber das hatte ich mir beinahe selber gedacht. Im Scherz riet ich ihm, hinzugehen und sich einstellen zu lassen, dann könnte er sogar doppelt verdienen, vielleicht merkte das keiner, und wenn er Glück hätte, könnte er vielleicht sogar sein eigener Abteilungsleiter werden. Aber Thormeyer war nicht zum Spaß aufgelegt.
»Und jetzt soll ich dir helfen?« fragte ich.
Er bat mich, zu seiner Kaderleiterin zu gehen und so zu tun, als wäre ich es, der sich beworben hätte, und bei dieser Gelegenheit sollte ich erkunden, ob man tatsächlich zwei Arbeitspsychologen einzustellen beabsichtige oder ob man nur ihn, Thormeyer, abschieben wolle und für ihn einen besseren Mann suche.
»Kannst du das nicht selber fragen?«
Thormeyer schwieg zäh.
»Bist dir wohl deiner Sache nicht sicher?« fragte ich unverhohlen. Thormeyer ließ den Kopf hängen.
»Ist ’ne verfahrene Kiste«, sagte er.
Ich verstand das alles nicht. Er mußte doch mittlerweile gemerkt haben, ob man mit seiner Arbeit unzufrieden war oder nicht. Da gestand er mir, daß er Mühe hätte, seine Existenzberechtigung nachzuweisen, daß ihn manche seiner Kollegen von oben herab ansähen, daß ihn etliche nicht für voll nähmen, weil er noch nicht viel geleistet hätte. Ach, und Aufgaben, richtige handfeste Aufgaben bekäme er überhaupt nicht mehr, hin und wieder hätte er ein Professiogramm zu machen, aber was wäre das schon. Man hätte ihm damals, als man ihn einstellte, den Rahmen sehr weit gespannt, er sollte ihn nur ausfüllen, das meiste hätte man ihm überlassen. Einen genau festgelegten Arbeitsplan und ein präzises Professiogramm hätte er nicht gehabt, und als er sich konkrete Aufgaben stellen wollte, wäre er immerzu angeeckt, so ginge das nicht und so ginge das nicht. Und neulich erst, als er einen Arbeiter bei der Arbeit beobachten wollte mit Stoppuhr, mit Bleistift, wäre man über ihn hergefallen, was er überhaupt den ganzen Tag mache. Thormeyers Klagen nahmen kein Ende.
Ich unterbrach ihn: »Glaubst du denn, ich mußte mich nicht durchsetzen?«
Thormeyer machte es sich leicht. In meinem Betrieb, meinte er, wäre es eben anders, da würde wissenschaftlich geleitet. Aber in seinem Betrieb würde eben nicht wissenschaftlich geleitet. Zwar, der Direktor verbräme jede seiner Reden mit den funkelndsten Termini. Aber die Wissenschaft sei nichts als Petersilie. Garnierung.
»Du weißt das«, rief ich, »du weißt das alles, aber du tust nichts dagegen.«
Darauf Thormeyer: »Ich habe einmal was gesagt in einer Sitzung. Da hättest du meinen Chef erleben sollen. Die Praxis sei nicht die Schulbank und so weiter. Da habe ich dann vor mich hin gearbeitet, habe Vorschlag um Vorschlag gemacht. Abgelehnt. Jeder Vorschlag abgelehnt. Eine Weile habe ich überhaupt nichts mehr gemacht. Der Effekt war ungeheuer: Es fiel gar nicht auf. Was soll ich denn bloß noch machen?«
Thormeyer war leiser geworden, immer leiser. Er war, ich sah’s ihm an, er war am Ende.
»Also gut«, sagte ich, »ich sprech’ mal vor.«
Und ich hielt mein Versprechen. Ich war mittlerweile sogar neugierig geworden.
Den Tag, für den ich mich telefonisch angemeldet hatte, nahm ich frei. Im Gespräch mit der Kaderleiterin, einer blondierten Mittvierzigerin mit sonorer Stimme – o ja, ich entsinne mich genau, sie war sonor, diese Stimme, wie sie da so sagte: »Was wünschen Sie bitte?« und: »Das kann ich sehr gut verstehen, daß Sie unseren Genossen Direktor persönlich sprechen wollen, aber leider, er ist verhindert, er ist auf einer Sitzung«, das »Sitzung« nur ganz leise gesprochen, hingehaucht fast, als wäre dies eine Andacht, und es dürften nur wenige davon wissen –, in diesem Gespräch jedenfalls gab ich zunächst vor, mich nach den Aufgabengebieten, den Arbeitsbedingungen und den Einkommensproblemen erkundigen zu wollen. Es gelang mir, den Betrieb, in dem ich arbeite, zu verschweigen, nicht allerdings meinen Namen, denn sie fragte, sich entschuldigend, daß sie gerade jetzt Kaffee aufbrühe, sie fragte, den elektrischen Kocher in der rechten Hand, ihre Sekretärin sei nämlich erkrankt, jedenfalls fragte sie sonor, sehr sonor: »Möchten Sie vielleicht auch ein Täßchen, Herr …, Herr …, Herr …,?«
»Wegener«, sagte ich. »Herr Wegener«, sagte sie.
Ich nickte. Mein Name stand ja ohnehin auf dem Passierschein, den sie unterschreiben mußte.
Na, daß der Genosse Direktor verhindert sei, das sei im übrigen kein Beinbruch. Sie selber stünde für alle Auskünfte zur Verfügung. Ich sollte nur frisch darauflos fragen.
Zunächst aber stellte sie selbst eine Frage. Sie wollte wissen, warum ich meinen Arbeitsplatz zu wechseln beabsichtige. Unzureichende materielle Vergütung?
»Das ist es nicht«, sagte ich.
Da ging die Tür auf. Ein Kopf. »Elise?«
Ein breitschultriger Mann stand im Türrahmen. »Entschuldige bitte«, sagte er, »nur ganz kurz.«