Bernd Schirmer
Doktorspiel
Erzählung
Aus dem
FISCHER Digital
Bernd Schirmer, freier Autor, 1940 in Leipzig geboren, aufgewachsen in Scheibenberg im Erzgebirge, studierte Germanistik und Anglistik in Leipzig. Von 1965 bis 1968 war er Hörspieldramaturg in Berlin, von 1969 bis 1972 Deutschdozent an der Universität Algier und 1973 bis 1991 Dramaturg beim Deutschen Fernsehfunk in Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen: Erzählungen, Romane, Reisebeschreibungen, Drehbücher, Hörspiele und Übersetzungen.
Längst verdient der exmatrikulierte Medizinstudent Bringfried Schramm sein Brot als Mitropakellner, als Telegrammbote und als Hilfsarbeiter auf dem Bau, da spielt er für seine Frau Jana, die so gern an etwas glauben möchte, und für die Leute seines Heimatortes immer noch die Rolle des zukünftigen Doktors. Phantasiereich beschreibt er in seinen Briefen die Anstrengungen des Studentenlebens und beginnt fast selbst, seine Erfindungen für wahr zu halten.
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign, München
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-561322-1
Zwei Tage nach seiner Exmatrikulation sprach Bringfried Schramm in der Mitropa-Verwaltung vor. Er suche einen Job, der sich rentiere, erklärte er einem glatzköpfigen Herrn und legte ihm Zeugnisse und Bescheinigungen auf den Tisch.
Abitur? Vier Semester Medizin?
Der Glatzkopf rührte im Kaffee. Er hatte die Nase kraus, die Augen zusammengekniffen, ein Gütekontrolleur in einem grünlichen Hemd.
Allein schon die Leichen, sagte Bringfried Schramm, haben Sie schon mal Leichen präpariert?
Und nun wollen Sie ausgerechnet Mitropakellner werden?
Wovon soll ich denn leben, sagte Bringfried Schramm, und verheiratet bin ich auch.
Vorbestraft?
Nicht vorbestraft.
Gesund?
Danke.
Also gut, sprach der Kahlkopf, während er etwas auf einen Zettel kritzelte, aushilfsweise, jetzt ist Saison, bringen Sie einen Schein vom Arzt.
Als Bringfried Schramm am Tag darauf in Mitropauniform und Schirmmütze auf dem Flur seinen Wirtsleuten begegnete, wunderten sich dieselben sehr. Er gehe zu einem Faschingsvergnügen, erklärte er ihnen und warf die Tür ins Schloß.
Es war Anfang Juli, und mittags auf der Straße brüllte die Sonne. Auf einem Postamt gab er ein Telegramm auf. Prüfung verschoben, ankomme später. Dann begab er sich zum nahen Bahnhof und erkundigte sich bei einem Bahnbeamten nach dem Rostocker D-Zug. Es wurde ihm erlaubt, mehrere Geleise zu überqueren, und wie vereinbart, meldete er sich im Wirtschaftsabteil.
Schramm, sagte er.
Vogel, sagte der andere. Er war fünfunddreißig, und seine Brust war behaart, die Jacke hing am Fenster. Sie gaben sich die Hand, und Vogel öffnete zwei Flaschen Bier, mit denen sie anstießen. Schramm trank aus, ohne abzusetzen.
Du bist Doktor, höre ich?
Ich mache hier mein praktisches Jahr, erwiderte Schramm.
Vogel ließ keinen Blick von ihm.
Das stimmt doch, daß das Beste gegen Nierensteine Bier ist? Ich hatte nämlich mal einen Spannemann, der hatte Nierensteine, der hat gebrüllt wie ein Vieh. Seit dieser Zeit betrachte ich Bier als Medizin.
Vogel öffnete zwei weitere Flaschen. Dann erklärte er ihm, wieviel das Radeberger kostet und Dr. Struwes Tafelwasser, und wenn im Zug eine Streife sei, solle er den Soldaten besser kein Bier geben, aber auch nicht der Streife. Als der Zug in die Halle geschoben worden war, luden sie die Getränkekästen ein, die Kisten mit den Knackern und kalten Schnitzeln und die Thermosflaschen mit Kaffee.
Der Zug war überfüllt, und auf viele Koffer, die in den Gängen standen, waren Bademäntel aufgeschnallt. Vogel riet seinem dienstfertigen Unterstellten ab, mit den Waren von Abteil zu Abteil zu gehen: Wer Durst hat, wird kommen, und vor Oranienburg spielt sich sowieso nichts ab, sonst ist das Bier schon in Gransee ausverkauft.
Drückende Luft trotz der heruntergedrehten Scheiben. Schramm schwitzte.
Beim Flaschenöffnen und beim Geldeinstecken sah er manchmal die Landschaft hinhasten, die julisatte Landschaft, oder die sommerträgen Felder wegkippen, wenn sie eintauchten in ein Geäst oder in eine Häuserzeile dicht am Damm. Er lächelte. Vor einer Woche war er noch Student. Vor vierzehn Tagen hatte er, angstklamme Finger und schwarzer Anzug, vor einem seiner Professoren gestanden. Vor drei Wochen hatte er noch Muskeln auswendig gelernt und Nervenstränge. Nun verkaufte er Boonekamp und Radeberger. Er lächelte. Er war froh. Er war frei.
Zu den Leuten, die sich vor der heruntergeklappten Barriere stauten, war er freundlich. Flink zog er die Flaschenverschlüsse ab, und einzelne Pfennige hatte er nie, einem Ratschlag Vogels zufolge. Manche der Kunden verzichteten auch auf Fünfer und Groschen.
In Rostock angekommen, hatten sie alle Getränke abgesetzt. Die letzten beiden Schnitzel aßen sie selber. Als sich der Zug geleert hatte, gingen sie durch die Wagen und sammelten die Flaschen ein, für die das Pfand nicht zurückverlangt worden war. Dann zählten sie das Geld. Schramm hatte alle Scheine und Münzen auf das Brett gelegt. Vogel legte dann auch einiges Geld hinzu. Beide zusammen hatten sie einundzwanzig Mark mehr, als sie hätten einnehmen müssen. Schramm schluckte. Aber er sagte nichts. Er hatte allein knapp sechzig leere Flaschen aus den Gepäcknetzen und unter den Bänken hervorgeholt, das machte schon an die achtzehn Mark. Er sagte nichts, und als Vogel fifty-fifty sagte, nahm er sich seine zehn Mark fünfzig. Immerhin. Bevor alles ausgeräumt war und Vogel die Abrechnung in der Verwaltung hinter sich hatte, war die Sonne untergegangen. Schramm hatte gehofft, noch baden zu können. Vogel feixte.
Sie fuhren erst mit der Straßenbahn, dann gingen sie zu Fuß. Schramm blieb oft stehen, er war noch nie in Rostock gewesen. Er war überhaupt noch nicht viel herumgekommen.
Lernst du alles kennen, tröstete ihn Vogel; wo hier in diesem kleinen Land D-Züge hinfahren, da kommst auch du hin. In alle Städte. Greifswald bis Aue. Meiningen bis Zittau. Alle Städte. Wirst sehen. Ist ein ansprechender Beruf, Mitropa. Ich wollte eigentlich zur See. Hab einen Bruder in Kassel, haben sie mich nicht genommen.
Sie aßen in einer Fischgaststätte. Vogel erzählte, daß die Frau, die er hier in Rostock habe, zum Urlaub im Harz sei. Saison sei immer schlecht. Als er vor vierzehn Tagen Berlin–Aue gefahren sei, sei die Frau, die er in Aue habe, gerade in Heringsdorf gewesen. Saison, Saison. Die Frau aber, die er in Berlin gehabt habe, sei seine richtige Frau gewesen. Aber von der sei er geschieden.
Schramm sagte nichts. Er trank sein Bier, eins nach dem anderen, denn es war sein Einstand, und als er gefragt wurde, wie lange denn er verheiratet sei, sagte Schramm: Zwei Jahre, und das stimmte ziemlich genau, es waren knappe vierzehn Tage drüber.
Wie heißt sie denn?
Jana, sagte Schramm.
Vogel ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen.
Später, als sie Wodka tranken, fragte Vogel, wie sie denn sei, seine Frau Jana, herzlich, spröde, blitzgescheit, und ob sie Einfälle habe unter der Zudecke. Da Schramm schwieg, sagte Vogel: Nichts für ungut.
Sie bestellten, da der Ober den baldigen Küchenabschluß angekündigt hatte, noch zwei Portionen gebratene Scholle.
Und warum haben die dich denn da gewippt von deiner Uni, wollte Vogel wissen.
Schramm hatte den Mund voller Gräten.
Was Politisches?
Kann schon sein, sagte Schramm.
Hab ich mir gleich gedacht, sagte Vogel, bei was Politischem sind sie schnell, da kennen sie keine Verwandten. Er, Vogel, habe früher immer das Kofferradio mitgebracht und habe beim Bierverkaufen Schlager der Woche gehört und alles solche Scherze, es grüßt Gabi aus dem Grunewald, und nicht mal direkt Nachrichten. Sein Spannemann habe immer gesagt, er solle ausschalten, der sei in der Partei gewesen. Aber er habe nicht ausgeschaltet, denn Musik ist neutral. Da habe der ihn agitiert, weil sie vom Klassenfeind überhaupt nichts nähmen, nicht mal die Musik. Aber er habe immer wieder eingeschaltet, schon um ihn auf die Palme zu bringen. Dann sei er zur Kaderabteilung bestellt worden, und dort habe man ihn zur Rede gestellt. Denn bei was Politischem kennen die keine Verwandten. Aber dann habe sein Spannemann diese Nierensteine gehabt, und die seien schließlich keinem zu wünschen.
Es war nichts Politisches, sagte Schramm.
Vogel schien enttäuscht zu sein. Sie tranken, es war schon spät.
Mach dir nichts draus, sagte Vogel, Mitropa ist das schlechteste nicht, du kommst rum. Mach ein paar Monate, dann stelle ich dir eine Beurteilung aus, die sich gewaschen hat, und dann studierst du weiter.
Als sie an die frische Luft kamen, mußte sich Bringfried Schramm übergeben. Vogel hakte ihn unter und schleppte ihn zum Bahnhof. Sie schliefen in einem Abteil erster Klasse bis eine Stunde vor Abfahrt des Zuges nach Berlin. Schramm fühlte sich elend und saß kreidebleich in einer Ecke, während Vogel allein verkaufte. In Berlin blieben ihnen drei Stunden zum Umladen und zum Essen, dann fuhren sie nach Rostock zurück.
Willst du nicht baden gehen, spottete Vogel.
Schramm aß nichts und trank nichts. Er hatte Kopfschmerzen und blieb im Zug und schlief bis zum Morgen durch.
Vor einer Woche war er noch Student, und nun fuhr er zwischen Berlin und Rostock hin und her, fünf Tage lang, und darauf fünf Tage zwischen Berlin und Zittau. In der Aktentasche hatte er immer seinen Fotoapparat und ein kleines Stativ, und mitunter, selbst nachts, machte er einige Aufnahmen, denn er war noch nie in Rostock gewesen und in Zittau auch nicht. Vogel murrte, wenn Bringfried allzu lange belichtete, denn er hatte Angst vor Nierensteinen, und in Zittau war Saison, und die Frau, die Vogel in Zittau hatte, war gerade im Thüringer Wald. Bringfried Schramm kaufte in einem Antiquitätenladen einen Zwiebelmusterteller von seinen Trinkgeldern. Da wunderte sich Vogel. Er hatte noch nie einer seiner Frauen einen Zwiebelmusterteller gekauft. In der ganzen Republik nicht. Und für sechzig Mark schon gar nicht.
Nach zehn Tagen hatten sie drei Tage hintereinander frei. Schramm löste eine Fahrkarte in seinen Heimatort. Bei der Fahrkartenkontrolle mußte er seinen Antrag vorlegen und seinen Studentenausweis, den er bei den Exmatrikulationsfeierlichkeiten, wie er das nannte, nicht abgegeben hatte.
Verloren, hatte er gesagt.
Das Brillenfräulein im Dekanat hatte gemeint, daß man ihn ohne Einziehung des Studentenausweises nicht exmatrikulieren könne.
Bekomme ich also weiter Stipendium?
Er war dennoch exmatrikuliert worden.
Einen Tag bevor er losgefahren war, hatte er seiner Frau in einem Telegramm mitgeteilt, daß er am kommenden Nachmittag sechzehn Uhr vierundvierzig in Unterklippenbach eintreffen werde. Als er im Zug saß, nahm er sich vor, ihr alles zu sagen. Außerdem hatte er Sehnsucht nach ihr.
Jana galt, blickeumschwärmt, als eines der hübschesten Mädchen des Dorfes Unterklippenbach, schon als sie fünfzehn, sechzehn war. Der junge Schramm war ein Jahr älter als sie, und er besuchte, als einer der wenigen des Dorfes, die Erweiterte Oberschule. Wie er fuhr sie jeden Morgen sechs Uhr siebzehn mit dem Zug in die Kreisstadt. Sie stieg ein, wo ihre Freundinnen einstiegen, und er stieg ein, wo seine Freunde einstiegen, die Kfz-Schlosser oder Elektromechaniker oder Dreher wurden und zur Berufsschule fuhren, und mit ihnen spielte er Skat. Doch mitunter geschah es, daß Jungen und Mädchen, auf Platzsuche, ins gleiche Abteil gerieten. Sie merkte, daß er sie oft ansah, sie fand seine Blicke heraus unter vielen; er sah sie ausgiebig an, beinahe ungläubig, und wenn es dunkel war im Abteil und nur Zigaretten glimmten, sah er sie besonders lange an. Zwischen dem Dorf und der Kreisstadt war ein längerer Tunnel, und wenn sie aus dem Tunnel auftauchten, in dem glühende Asche am Fenster vorbeischneite, dann sah er sie immer noch an. Aber wenn sie ihn ansah, flackerten seine Augen, und er sah weg.
Sie waren zusammen in die Grundschule gegangen, sie eine Klasse tiefer, aber sie sprachen nicht miteinander. Sie waren gerade in dem Alter, in dem man nicht miteinander spricht. In dem man über einen Kilometer lang im Abstand von fünf Metern hintereinander hergeht und schließlich hintereinander herrennt, wenn der Zug schon in den kleinen Bahnhof einfährt. Die anderen Jungen nannten ihn Schramm-Micke, und einmal hörte er einen im Nachbarabteil sagen: Schramm-Micke, du hast ein Kreuz wie ein Päckel Persil. Als er sie ansprach, schneite es auf dem Bahnhofsweg. Er wollte ihre Tasche tragen, aber sie ließ es nicht zu. Und dann, ein Vierteljahr später, begab es sich, daß sie, als sie beide mittags heimfuhren, ins gleiche Abteil geraten waren. Er war nichtsahnend, als der kaum besetzte Zug schon aus der Halle fuhr, aufgesprungen. Sie waren die einzigen im Abteil, doch er hatte sich in die andere Ecke gesetzt. Sie redeten nicht miteinander. Sie sahen aus dem Fenster, er aus dem rechten, sie aus dem linken. Auf einmal rief er:
Soll ich die Notbremse ziehen?
Warum denn?
Trau ich mich vielleicht nicht?
Schramm-Micke, sagte sie.
Da zog er die Notbremse. Als der Zug zum Stehen gekommen war, rannten zwei Bahnbeamte draußen hin und her. Der mit der roten Schärpe machte ihr Abteil ausfindig und verlangte fünfzig Mark Strafe. Schramm hatte kein Geld, und der Bahnbeamte schrieb sich die Personalien auf und nahm ihm die Monatskarte ab, und da nun Schramm nicht mehr im Besitz eines gültigen Fahrausweises war, mußte er mitten auf der Strecke aussteigen und wurde aufgefordert, zu Fuß nach Hause zu gehen. Er blickte voller Erwartung hoch zu ihr, die aus dem Fenster lehnte, die kleinen Brüste unterm Trägtrrock gegen die Scheibe gestemmt.
Trotzdem Schramm-Micke, sagte sie.
Bringfried sah dem Zug hinterher, der in einem langen Bogen in nördliche Richtung davonfuhr, obwohl Unterklippenbach genau im Süden lag. Der Zug fuhr immer das Tal entlang und entfernte sich von Unterklippenbach immer weiter und lief erst, mehrere Berge und Hügel umfahrend, zwei weitere Ortschaften an, ehe er steil nach Süden auf Unterklippenbach zufuhr. Bringfried ging nicht am Bahndamm entlang, sondern schnurstracks in Richtung Süden. Er war voller Grimm, und er lief querfeldein, immer auf Unterklippenbach zu, von dem noch nichts zu sehen war. Erst mußte er über den Sattelberg, dann mußte er über den Schwartenstein und schließlich noch über zwei kleinere Hügel, ehe er sein Dorf erreichte. Er ging immer der Nase nach, unbeirrbar in der Luftlinie, durchwatete mißmutig ein Rapsfeld und brach unwirsch durch eine Schonung, nur um keinen Umweg zu machen. Die Jacke zog er aus, bald auch das Hemd. Als er japsend auf dem Sattelberg ankam, sah er in weiter Ferne den Zug, er sah ihn fast nur am Rauch. Und er blickte ein wenig mutlos zum Schwartenstein hinüber, über den er nun mußte und hinter dem wie eingeklemmt zwischen den Hügelketten Unterklippenbach lag. Wieder zu Atem gekommen, eilte er, fast ohne Kraft aufzuwenden, die Böschungen hinab, immer stur geradeaus, um keinen Meter zu verschenken und keine Minute. Als er am Klippenbach anlangte, der zur Talsperre weiterfloß, suchte er nicht erst eine schmale Stelle, wo der Bach zu überspringen war, sondern er ging hindurch, ohne die Schuhe auszuziehen und die Hosenbeine hochzukrempeln. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, dem Zug den Weg abzuschneiden und eher in Unterklippenbach zu sein als Jana. Angetrieben durch den fernen Pfiff einer Lokomotive, hetzte er den Schwartenstein hoch. Er verweilte nirgends, wischte sich kaum den Schweiß ab, und als er den letzten Hügel erstiegen hatte, lag Unterklippenbach vor ihm, in der friedlichen Stille des frühen Nachmittags. Bringfried hatte Seitenstechen. Der Zug war längst durch, war bereits über die große Brücke gefahren, die hinter dem Dorf lag. Das Hühnergackern aus den Gärten war bis hier herauf zu hören, und es erschien Bringfried höhnisch. Aber als er auf seine Hosenbeine und auf seine Schuhe sah, mußte er lachen. Er war plötzlich froh. Jana war aus Unterklippenbach wie er, sie konnte ihm nicht entrinnen. Unterklippenbach war von Bergen und Hügeln umstellt, es war alles überschaubar.
In der Zeit darauf sprang er immer ab, wenn der Zug in den Zielbahnhof einfuhr, auch wenn der Zug noch beträchtliche Geschwindigkeit hatte. Er brachte es zu großer Fertigkeit darin, er beugte sich weit nach hinten und sprang in Fahrtrichtung und lief dann, noch halb in der Luft, rasch mit. Einmal sprang er einen Schaffner um, und sie kullerten beide den Bahnsteig entlang. Keiner verletzte sich erheblich, aber der Auflauf war groß, und in der Schule bekam er beim Fahnenappell am Montagmorgen einen öffentlichen Tadel. Er sprang aber trotzdem weiter ab und immer dann, wenn Jana aus dem Fenster lehnte, obwohl er vorher nach Schaffnern Ausschau hielt.
Du sollst nicht abspringen, sagte sie zu ihm, es ist gefährlich.
Na und?
Und wenn du dir was brichst?
Als wenn dir das was ausmacht!
Er lud sie ein, mit ihm auf den Rummel zu kommen. Aber sie wollte nicht auf den Rummel. Da hatte er den Beweis, daß nichts ihr etwas bedeutete, was mit ihm zusammenhing. Er litt sehr und war blaß.
Was ist los mit dir? fragte sein Vater.
Nichts, sagte Bringfried.
Sein Vater sah ihn prüfend an, mißtrauisch. Er beobachtete ihn ständig. Wenn Bringfried über seinen Gleichungen brütete oder lateinische Vokabeln lernte, wenn er den Löffel zum Munde führte oder sich die Schnürsenkel zuband. Immerzu musterte ihn sein Vater. Ob er sich eine Flasche Brause aus dem Kühlschrank holte oder sich die Schlafanzugjacke zuknöpfte, ständig hatte er den Blick seines Vaters im Nacken.
Nichts, sagte Bringfried, was soll denn sein?
Er bekam schlechte Zensuren, er hatte zu nichts mehr Lust.
Hast du was mit Mädchen?
Bringfried blies die Backen auf, aber er war rot angelaufen. Er zog rasch ein Heft aus seiner Aktentasche und legte es seinem Vater auf den Tisch. Zur Unterschrift. Es war das Heft mit den Geographiearbeiten. Er hatte eine Fünf. Sein Vater setzte die Brille auf. Er las. Aber es gab nichts zu lesen, es stand nichts da. Es stand nur die Fünf da. Bringfried wich einen Schritt zurück.
Geographie liegt mir nicht so sehr, erklärte er.
Und was haben die anderen?
Achim Weber hat auch eine Fünf.
Achim Weber, Achim Weber! rief sein Vater. Den brauchst du dir nicht zum Vorbild zu nehmen.
Achim Weber hat auch nicht gespickt, sagte Bringfried.
Und die anderen?
Verschieden, sagte Bringfried, Zweien, Dreien, je nachdem. Sie haben alle gespickt. Außerdem war die Arbeit nicht angesagt.
Sein Vater schraubte den Füllfederhalter auf. Er schrieb nicht viel, deshalb hatte er noch so einen altmodischen Füllfederhalter zum Auf- und Zudrehen. Er setzte seine Unterschrift unter die Fünf und knallte das Heft auf den Tisch. Bringfried nahm das Löschblatt und trocknete die Unterschrift.
Dann kannst du ja gleich in die Fabrik, rief sein Vater, dann ist ja alles für die Katz, dann kannst du ja gleich Dreher werden oder Schlosser. Und ich rackere mich ab, ich schufte mich ab –
Bringfried war schon aus dem Zimmer, und in seinem Nacken hatten sich die Blicke seines Vaters festgekrallt. Von drinnen hörte er: Ich möchte wissen, was ihr für eine Jugend seid. Eine Scheißjugend seid ihr. Ohne Mumm. Qualmt und fängt mit fünfzehn an mit Mädels. Und habt alle Möglichkeiten. Wir früher hatten die Möglichkeiten nicht. Wir hatten überhaupt keine Möglichkeiten.
Als Bringfried drei Tage später die Biologiearbeit und die Lateinarbeit unterschreiben lassen mußte, rief sein Vater: Und Biologie liegt dir auch nicht! Und Latein liegt dir auch nicht! Was liegt dir denn überhaupt?
Ich möchte abgehen, sagte Bringfried.
Sein Vater nahm die Brille herunter. Bringfried ging einen Schritt zurück. Er sah zu der Vase hin. Es war eine Meißner Vase. Es war plötzlich sehr still. Die Uhr tickte, die Uhr mit dem Pendel. Bringfried wartete. Er wußte nicht, worauf er wartete. Er sah auf das Pendel, doch das Pendel blieb nicht stehen, links nicht und rechts nicht. Die Meißner Vase stand auf dem alten Vertiko. In der Vase waren keine Blumen, sondern auf der Vase. Aufgemalt. Aufglasiert. Aufgebrannt. Es wäre besser gewesen, wenn in der Meißner Vase Blumen gewesen wären. Das Pendel war plötzlich links stehengeblieben.
Setz dich, hatte sein Vater gesagt.
Bringfried setzte sich.
Was ist los mit dir?
Nichts, sagte Bringfried.
Er sah seinem Vater auf die Hände. Es waren große, klobige Hände, rissig und schwielig.
Hör zu, sagte sein Vater, wenn du das Schuljahr schaffst, dann kriegst du einen Fotoapparat.
Bringfried schwieg.
Du wolltest doch immer einen Fotoapparat. Und du kriegst für jede Drei fünfzig Pfennig, für jede Zwei eine Mark und für jede Eins zwei Mark.
Bringfrieds Blick irrte von den Händen seines Vaters zu der Meißner Vase. Das Pendel schlug wieder aus. Sein Vater sah mit einem Male sehr alt aus, eingefallene Wangen und die Augen sehr klein, die Schultern eingesunken. Er lächelte. Er sagte: Du wirst das erst später begreifen. Du wirst mir noch einmal dankbar sein. Er war aufgestanden, und er schlug ihm auf die Schulter.
Du kriegst einen Fotoapparat.
Bringfried klappte die beiden Hefte zu und steckte sie in die Tasche. Er stieg in seine kleine Kammer unters Dach und lernte die Bodenschätze Englands auswendig und den Verlauf des Bauernkrieges. Als seine Klasse am nächsten Morgen die Chemiearbeit schrieb, juckte es ihm in den Fingern, das Chemieheft hervorzuziehen, das aufgeschlagen unter seiner Bank lag. Er sah zu Barbara Hausen, die schräg vor ihm saß. Sie schob den Rock zurück. Er sah ihren Oberschenkel bis zum Strumpfansatz. Sie schrieb von ihrem Oberschenkel ab. Achim Weber boxte ihn in die Seite, da schrieb er weiter. Als sie die Chemiearbeiten zurückbekamen, erhielt Barbara Hausen als einzige eine Eins, Achim Weber eine Vier, und er, Bringfried, eine Drei. Achim Weber aber sprach: Eine ehrliche Fünf ist besser als eine ergaunerte Zwei, non scolae, sed vitae.
Bringfried bekam von seinem Vater fünfzig Pfennig ausgezahlt. Er brannte abends lange Licht in seiner Dachkammer, und in den Unterrichtspausen aß er Traubenzucker. Von fahrenden Zügen sprang er nicht mehr ab. Eines Dienstags – da hatte Jana Schalterdienst – ging er auf die Sparkasse.
Ich möchte ein Sparbuch gründen.
Ein Sparbuch gründet man nicht, sagte sie, man legt es an.
Bringfried Schramm füllte das Formular aus, und das erste, was er einzahlte, waren vierzehn Mark dreißig. Jedesmal, wenn er zwei oder drei Mark dem vorherigen Guthaben hinzufügte, fragte er sie, ob sie mit auf den Rummel gehen wolle. Sie aber wollte nie mit auf den Rummel gehen, und er biß sich auf die Lippen, wenn er ihr Lachen aus dem Nachbarabteil hörte und das der anderen, größeren Jungen. Insgeheim, in seinen wütenden Selbstgesprächen, die er bei seinen verzweifelten Rasierversuchen vor dem Spiegel führte, nannte er sie Dorfschöne. Er übte, vorm Spiegel, pfiffige Dialoge mit ihr, daß sie mit ihm auf den Rummel gehen sollte, bis er sich in die Backe schnitt. Aber sie ging nie mit auf den Rummel.
Als das Schuljahr beendet war, erhielt er von seinem Vater den Fotoapparat, denn er war, wenn auch nicht mit Glanz, durch die zehnte Klasse gekommen. Seine Großeltern fotografierte er unterm Apfelbaum, es war sein erstes Bild, aber von den Gesichtern war nicht viel zu sehen, es war fast nur der Schatten von dem Apfelbaum darauf. Er versuchte den ganzen Sommer über, Jana zu fotografieren. Ständig hatte er den Fotoapparat bei sich, im Schwimmbad und auf dem Sportplatz. Mit der Belichtung kam er gut hin, auch mit der Entfernung. Aber ehe er auslösen konnte, drehte sie sich blitzschnell um. Von hinten hatte er viele Bilder von ihr, schöne Rückenbilder, von hinten und von weitem. Er ließ Ausschnittsvergrößerungen anfertigen, aber viel war auch da nicht zu sehen, ihr Gesicht war verschwommen, oder sie hatte im letzten Augenblick die Hand vor die Augen gehalten. Oder sie saß auf dem Motorrad von Jimmy, doch Jimmy fuhr sehr schnell an ihm vorbei.
Zum Rummel war sie dann doch mitgegangen, das heißt, sie war schon da. Es war kein richtiger Rummel, es standen nur ein Karussell da und eine Luftschaukel. Es war Oktober. Im Nebel standen einige Buden, in denen es Lose zu kaufen gab und Bockwürste. Er kaufte zwei Fischsemmeln und ging stracks auf die Gruppe Mädchen zu, zwischen denen sie stand. Er reichte ihr die eine Fischsemmel und sagte: Hier. Während die anderen Mädchen kicherten, nahm sie die Semmel und biß hinein. Die Mädchen stießen sich mit dem Ellbogen an, warfen sich schwere Blicke zu und wichen langsam zurück, zur Luftschaukel hin. Jana drehte sich hilfesuchend nach den anderen um. Die Musik, die vom Karussell herkam, war Leierkastenmusik. Sie sah ihn tief an. Dann wandte sie sich um und ging weg. Sie ging die Dorfstraße hoch und bog dann in eine Nebenstraße ein. Als sie hinter einer Hausecke verschwunden war, ging er ihr nach. Er bemühte sich, langsam zu gehen. Die Leierkastenmusik wurde vom Nebel gedämpft. Sie drehte sich nicht ein einziges Mal nach ihm um und ging gemächlichen Schritts. Im Wald holte er sie ein. Von den Bäumen tropfte es, aber er sagte kein Wort. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Sie trug einen olivgrünen Mantel und weiße Stiefel. Einmal hetzte ein Hase über den Weg, und sie erschrak. Sie blieb stehen und sagte:
Was willst du eigentlich von mir? Was läufst du mir denn nach?
Denkst du, ich weiß nicht, warum du nicht mehr mit dem Zug fährst? erwiderte er.
Sie ging weiter. Als sie merkte, daß er stehengeblieben war, drehte sie sich um und rief:
Weißt du, was du bist mit deinem doofen Fotoapparat? Ein Angeber bist du, ein Angeber!
Und Jimmy mit seinem doofen Motorrad, der ist vielleicht kein Angeber?
Sie standen gute zehn Meter voneinander entfernt, Jana und er, und es wehten Nebelschwaden zwischen ihnen hin.
Sein Motorrad ist noch lange nicht doof, rief sie, noch lange nicht, bloß daß du es weißt.
Und wenn es schneit, dann fährst du wohl immer noch mit dem Motorrad mit?
Sie zuckte die Achseln, aber das sah er nicht. Und er sah auch nicht, daß sie angefangen hatte zu lächeln. Er hörte nicht einmal, daß sie sagte: Wenn es schreit, dann ist es was anderes. Abgewandt hatte er sich und war weggegangen. War weggelaufen. Mißmutig kam er heim und stieg gleich die schmale Treppe zu seinem Zimmer hoch. Er setzte sich auf den Fußboden, klappte sein Taschenmesser auf und warf es gegen die Tür, immer wieder. Als seine Mutter ins Zimmer kam und die Stehlampe einschaltete, sagte er zu ihr, daß er Elektriker werden wolle. Alle würden Elektriker, Jimmy und alle. Dann würde er wenigstens selber was verdienen, und dann könnte er sich auch bald ein Motorrad kaufen.
Elektriker, sagte seine Mutter, so abschätzig sie konnte, Elektriker! Laß das nur Vater hören!
Kaum hatte seine Mutter das Zimmer wieder verlassen, schaltete er die Stehlampe aus, warf sich aufs Bett und starrte ins Dunkel. Als Jana an der Zimmerdecke auftauchte, hexte er ihr Warzen aufs Gesicht und machte ihr einen dicken Hals und krumme Beine. Keine zwei Jahre würde er mehr im Dorf sein, dann würde er weggehen und sie überhaupt nicht mehr sehen. Sie würde dann heiraten, Jimmy vielleicht oder einen anderen Motorradfahrer, und vier oder fünf Kinder kriegen und dick und fett werden und den Kinderwagen durch den Schneematsch schieben, und das hätte er mal geliebt, das. Die lateinischen Vokabeln, die er dann zu lernen versuchte, brachte er durcheinander, und seine Gleichungen gingen nicht auf. Die Feudalherren kümmerten ihn nicht und nicht die Erfindungen zur Zeit der technischen Revolution und die Bodenschätze und Standortverteilungen nicht, und die Flüsse in Afrika und in Sibirien nicht, und nicht das Mendelejewsche System und nicht das Bohrsche Atommodell und Egmont schon gar nicht.
Am nächsten Morgen sprach sich herum, daß in der Parallelklasse eine Geographiearbeit geschrieben worden sei. Die Klasse fiel in panischen Schrecken, Lehrbücher und Aufzeichnungshefte wurden gezückt, in den Pausen wurde gepaukt, und Barbara Hausen schrieb lauter kleine Zettel voll. Auch die Russischstunde über wurden Flüsse auswendig gelernt und Bodenschätze und Standortverteilungen, und in der großen Pause, die dann folgte, vergaßen manche, austreten zu gehen, und angebissene Äpfel blieben liegen auf den Bänken. Achim und Bringfried sahen sich an und lächelten.
Wie sie streben, sagte Achim, wie sie alle streben. Sie sahen, wie Barbara Hausen, die schräg vor ihnen saß, sich kleine Zettel in die Strümpfe schob.
Und bloß wegen paar lumpiger Zensuren.
Achim holte eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche und bot Bringfried eine an.
Hier?
Bringfried sah sich unsicher um. Achim schob ihn aus der Tür und sagte:
Wir passen.
Sie gingen den Gang entlang und stiegen dann in den Keller, schlichen am Heizungsraum vorbei und an der Küche, gelangten schließlich an die kleine Tür, die nicht verschlossen war. Von fern hörten sie es klingeln. Bringfried lauschte.
Na und, sagte Achim, sind wir Streber?
Als sie am Stadtwald angelangt waren, benutzten sie nicht die geharkten Wege, sondern gingen quer durch das Gras, das feucht war, immer geradeaus, still und stur, bis sie an einen Schlagbaum kamen. Der Schlagbaum war aus einem langen Birkenstämmchen und brusthoch. Achim nahm einen kurzen Anlauf und sprang darüber. Bringfried kroch unter dem Schlagbaum durch. Hinter der Böschung war ein Schuttabladeplatz. Es regnete nicht, aber die Steine, auf die sie sich setzten, waren kalt. Sie rauchten.
Und Che? fragte Achim.
Che, Che, sagte Bringfried mit einer Spur Abfälligkeit in der Stimme, denn seit Achim Ches Tagebuch gelesen hatte, maß er alles nur noch an Che. Er hustete, er war das Rauchen nicht gewöhnt. Achim dagegen sog den Rauch tief in sich ein, ließ ihn aufgehen in sich, daß kaum ein Wölkchen entwich, wenn er ausatmete.
Sie hatten einen Aufsatz zu schreiben gehabt vor einiger Zeit, einen Klassenaufsatz über jemanden, der ihr Vorbild ist. Sie konnten sich ihre Vorbilder selber aussuchen, aus der Literatur oder aus dem Leben. Bretschneider, der Deutschlehrer, der auch Staatsbürgerkunde gab, hatte am Pult gesessen und listig die Lippen zusammengekniffen. Sie aber, die Schüler, hatten ratlos dreingeschaut. Sie hatten sonst immer Aufsätze geschrieben, wo vom Thema her nicht viel zu entscheiden war. Es war getuschelt worden: Wen nimmst denn du, und wen nimmst du? Einer hatte einen bekannten Spitzensportler genommen, der mehrere Medaillen für die DDR bei internationalen Wettkämpfen gewonnen hat. Ein Mädchen hatte sich ihren älteren Bruder zum Vorbild genommen, der Unteroffizier war und der in die eiskalte Elbe gesprungen war, um ein kleines Kind zu retten. Die anderen hatten alle – Seitenblick auf ihren Lehrer, Wahrscheinlichkeitsrechnung der Ehrgeizigen – Pawel Kortschagin genommen. Achim Weber aber hatte Che Guevara gewählt.
Würde Che spicken? fragte er nun.
Bringfried winkte ab.
Ob Che spicken würde, frage ich dich!
Che würde nicht spicken, sagte Bringfried.
Che wäre nie so eine Streberseele gewesen, meinte Achim, so ein Nachbeter, Wiederkäuer, Phrasenpapagei, Meinungsecho. Er stand auf und stieß mit dem Fuß verrostete Blechbüchsen vor sich her.
Die Klassenaufsätze hatten sie längst zurückbekommen, Achim hatte eine Zwei erhalten, dazu das Lob für selbständiges Denken und ehrliche Meinungsäußerung. Bretschneider konnte seine Enttäuschung nicht verhehlen, daß die meisten seiner Schüler nicht ihre Meinung abgegeben hatten, sondern seine Meinung, aus Opportunismus, aus Sucht nach guten Zensuren, aus Angst, behelligt zu werden.
Bretschneider hat gesagt, Revolutionen werden nicht mehr nur mit dem Gewehr gemacht, meinte Bringfried.
Achim Weber nahm eine Flasche auf und schleuderte sie gegen eine alte Nähmaschine.
Lerne die Welt auswendig, murmelte er, sie braucht es. Wieder donnerte er mit dem Fuß gegen eine Blechbüchse. Kastratenjahrhundert!
Er setzte sich zu Bringfried Schramm auf den Stein und bot ihm noch eine Zigarette an, doch Bringfried schüttelte den Kopf.
Du hängst durch?
Bringfried winkte ab.
Wegen Jana?
Da Bringfried nichts erwiderte, sagte Achim: Das vergeht, das geht alles vorbei, du wirst sehen, wenn wir erst von der Penne weg sind und aus dieser muffigen Stadt, die man an dreiunddreißig Ecken anzünden müßte. Hast du dir eigentlich überlegt, wofür du dich bewerben willst?
Und du?
Bei mir bleibt’s dabei, sagte Achim.
Weil dein Vater Arzt ist?
Ich will ein Mittel gegen den Krebs finden, erwiderte Achim, das ist jetzt fällig. Jeder fünfte oder sechste stirbt an Krebs.
Achim Weber erläuterte ihm die Probleme der Krebsforschung der letzten Jahre, wie er sie aus Zeitschriften und Büchern seines Vaters kannte. Als es wieder anfing zu regnen, gingen sie zurück, denn die Geographiestunde war beendet und auch die Musikstunde, die sich ihr anschloß. Sie begaben sich in ihr Klassenzimmer, als sei nichts gewesen, und auch die anderen taten so, als wenn nichts vorgefallen wäre. Zwei Tage später hatten sie FDJ-Versammlung, zu der auch Bretschneider geladen war. Bringfried Schramm und Achim Weber hatten sich zu verantworten wegen ihrer Drückebergerei, wie Barbara Hausen, die als Gruppenratsvorsitzende die Versammlung leitete, voller Grimm ihr Fernbleiben von der Geographieklausur bezeichnete, wobei sie abschätzig hinzufügte: Aber ne große Fanfare im Spielmannszug!
Sie hatten, Achim und Bringfried, vor der Versammlung verabredet, daß Achim, falls die Rede auf das Passen käme, den Spieß umkehren sollte und sagen: Die passen, spicken nicht. Aber Achim schwieg. So sehr ihn Bringfried auch ans Bein stieß, Achim schwieg. Und Bringfried selbst, der nicht über Barrieren und Schlagbäume sprang, sondern unter ihnen durchkroch, murmelte, aufgefordert Stellung zu nehmen, daß so etwas nicht mehr vorkommen werde. Er wartete darauf, daß Achim Anlauf nähme. Wartete vergebens.
Nach der Versammlung blieb Bretschneider mit Achim Weber im Klassenzimmer zurück. Eine knappe Stunde wartete Bringfried vor dem Schulgebäude auf seinen Freund. Er wollte ihm unbedingt etwas sagen. Die Barriere, der Schlagbaum. Er nahm Anlauf, als er Achim die Treppe herunterkommen sah.
Na, Che, rief er ihm zu.
Achim sah ihn verblüfft an, dann ernst. Bringfried sprang.
Kastratenjahrhundert, sagte er, die Stadt an dreiunddreißig Ecken anzünden!
Soll ich die anderen verpfeifen? rief Achim ihm nach, doch Bringfried war schon in den Weg eingebogen, der hinab zum Bahnhof führte.
Die Geographiearbeit mußten sie eines Nachmittags nachschreiben, sie saßen allein im Klassenzimmer, Achim auf der ersten, Bringfried auf der letzten Bank, und obwohl der Lehrer für längere Zeit aus dem Raum ging, schrieben sie nicht ab. Sie schrieben auch in anderen Klausuren nicht ab, und als Barbara Hausen kleine Zettel in die Strümpfe steckte und mitten in der Stunde ihren rechten Oberschenkel sehen ließ, blinzelten sie einander nicht mehr zu. Sie waren noch immer Banknachbarn, aber sie flüsterten nicht mehr miteinander. Nur das Nötigste redeten sie, seit Bringfried zu Achim, der glänzende Zensuren in Biologie und Staatsbürgerkunde erhielt, ironisch gesagt hatte: Studienplätze in Medizin sind rar, und seit Achim zu Bringfried nach dessen ausweichender Antwort, wofür er sich denn bewerben wolle, gesagt hatte: Du bist indifferent. Indifferent? Bringfried sah zu Hause im Duden nach, denn er kannte noch nicht viele Fremdwörter.
Der Schülerball war ein Oktoberfest. Es traf sich, daß Bringfried und Barbara zusammen an der Garderobe standen. Barbara bat ihn, ihren Mantel mit abzugeben und verschwand auf der Toilette. Da gab er ihren Mantel mit ab und steckte die Garderobenmarke ein. An der Bar trank er für das letzte Geld, das er für leidliche und gute Zensuren von seinem Vater erhalten hatte und schon längst nicht mehr auf Janas Sparkasse einzahlte, vier Nikolaschka. Als Barbara Hausen sich neben ihn auf einen Barhocker schwang, bestellte er ihr auch einen. Da tranken sie beide Nikolaschka, und als Barbara die Zitronenscheibe auslutschte, verzog sie das Gesicht. Sie nannte ihn eine trübe Tasse, und sie tranken noch einen Nikolaschka. Der Rock, den sie trug, war sehr kurz. Er sah ihre Schenkel. Da versuchte sie den Rock etwas länger zu ziehen und sagte ihm, daß sie sich an der Kunsthochschule bewerben wolle und daß sie Raumgestaltung studieren wolle oder Bühnenbild, aber die Studienplätze seien sehr knapp, und sie nähmen nur die Allerallerbesten mit ausgezeichneten Zensuren und mit tipp-topp gesellschaftlicher Arbeit.
Und du?
Verkehr, sagte Bringfried.
Verkehr?
Verkehrswesen.
Warum denn Verkehrswesen?
Der Verkehr nimmt doch ständig zu in unserer Republik, sagte Bringfried.
Barbara lachte, aber er wußte nichts damit anzufangen. Sie fragte, wo man das denn studieren könne, Verkehr.
Dresden, sagte er.
Ach Dresden? Dann kommen wir ja gar nicht in eine Stadt.
Er sah sie an. Sie verzog wieder das Gesicht. Aber sie lutschte gar keine Zitrone. Er wußte nicht, was er denken sollte, und als er sie aufforderte zum Tanz, der ein Tango war, tanzte er sehr eng mit ihr, sie ließ es auch geschehen, und er wußte wirklich nicht recht. Als sie wieder an der Bar saßen und er wieder zwei Nikolaschka bestellt hatte, war Damenwahl. Sie huschte weg und rannte auf Achim zu, und sie hotteten, wie es Bringfried selber nie gekonnt hätte. Sie drehte sich um ihn, bog sich und tänzelte um ihn herum, und als die Kapelle etwas Langsames spielte, rankten sie sich eng aneinander. Bringfried wußte nun erst recht nicht, was er von ihr und von sich selber halten sollte und von Achim auch nicht, der sie nach dem Tanz zu ihm an die Bar zurückgeleitete. Hatte Achim gegrinst? Hatte er selber gegrinst? Sie tanzten abwechselnd mit Barbara, die nun, ein Tanznimmersatt, keine Tour mehr ausließ, und wenn sie mit Achim hopste, zwinkerte sie zu Bringfried hin, und wenn sie mit Bringfried sich drehte, fiel bei jeder Drehung ein Schmachtblick für Achim ab. Zu Bringfried sagte sie: Eigentlich bist du doch ganz in Ordnung.
Bringfried lauerte auf die letzte Tour, denn die ist immer die entscheidende, wer die letzte Tour tanzt, der kann dann fragen: also wie ist es, wenn er nicht schon gefragt hat, oder es ist ohnehin klar.
Die letzte Tour mit Barbara aber tanzte Achim Weber. Bringfried indessen zahlte, was noch zu zahlen war, und da fielen ihm aus der Geldbörse die beiden Garderobemarken. Er frohlockte. Sollte er doch tanzen mit ihr, er hatte ihre Garderobemarke. Und die ist immer noch mehr wert als eine letzte Tour. Auf der Treppe wäre er fast gestolpert, Nikolo, Nikolo, Nikolaschka. Er wühlte sich durch den Andrang an der Garderobe, und als er ihren und seinen Mantel in der Hand hielt, kamen Achim und Barbara Arm in Arm die Treppe herunter. Er hielt Barbara den Mantel auf und warf einen höhnischen Blick auf Achim. Von wegen irrelevant! Das wollen wir erst mal sehen, wer hier irrevelant ist! Während Achim sich nach seinem Mantel anstellte, beugte Bringfried seinen Arm zu einem Henkel und sagte zu Barbara: Komm.
Und sie kam. Sie gingen, er leicht aufs Geländer gestützt, die Treppe hinab. Er drückte die Beine durch, die immer wegzukippen drohten. Die frische Luft tat ihm gut.
Ich muß aber nach Biebersbach, sagte sie.
Macht nichts, sagte er, macht überhaupt nichts.
Sie gingen nach Biebersbach, wo ihr Vater Bürgermeister war, und Biebersbach war sechs Kilometer weit. Die Beine machten ihm zu schaffen, aber im Kopf war er klar. Immer wenn er Lichter in der Ferne sah, sagte er: Dort ist ja schon Biebersbach. Aber es war noch lange nicht Biebersbach.