Patrick Buchanan
Der Hai im Haus
Aus dem Amerikanischen von Felix von Poellheim
FISCHER Digital
Patrick Buchanan war das gemeinsame Pseudonym von Edwin Raymond Corley und Jack Murphy, unter dem sie eine Reihe von Kriminalromanen veröffentlichten.
Wie kommt eine nackte Schöne in den Swimming-pool? Detektiv Ben Shock und seine attraktive Kollegin Charity Tucker sehen es mit eigenen Augen: auf zwei schnellen Beinen. Aber wie kommt obendrein ein Hai in diesen Pool? Bei der lebensgefährlichen Aufklärung dieses Rätsels begegnen die beiden mörderischen Haien — und das nicht nur im Wasser ...
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign, München
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-561335-1
… bringen mit Thriller-Spannung außer Atem
Als ich die Rückenflosse des Hais durch das glatte Wasser des Swimming-pools ziehen sah, lief mir ein kalter Schauder über den Rücken. Trotz der vielen Reklamen, die einem einreden wollen, wie schön Strände und wie zahm und freundlich Haie sind, habe ich seit meinen ersten Tauchversuchen beschlossen, den Haien mit Freuden soviel Ozean zu überlassen, wie sie haben wollen.
Ein Hai in einem Swimming-pool? Das war wirklich eine Überraschung!
Noch überraschender war, daß das rothaarige Mädchen, das aus dem Haus stürzte, zum Hai ins Wasser sprang. Ich riß meinen Mund zu einem Warnschrei auf, aber es kam nur ein sinnloses Krächzen heraus.
Die Rothaarige war splitternackt.
Sie hatte mich nicht bemerkt. Ihre Augen waren leer, ohne Ausdruck. Der Rest von ihr war es wert, zweimal hinzusehen. Aber so viel Zeit ließ sie mir nicht. Denn da hatte sie sich schon umgedreht und war ins Schwimmbecken gesprungen.
Charity Tucker, die den Hai auch entdeckt hatte, schrie noch sinnloserweise: »Vorsicht!«
»Hol meine Pistole!« rief ich ihr zu. Charity rannte zu meinem Wagen und ich zum Swimming-pool, wobei ich nach einem möglichen Wurfgeschoß Ausschau hielt.
Einen derartigen Swimming-pool hatte ich noch nie gesehen. Er war sehr groß, und tief in den Boden eingelassen, am einen Ende führte ein dickes Rohr Richtung Strand. Er hatte eine beinahe runde Form, ganz ohne Ecken. An der Stelle, die dem Haus am nächsten war, hing eine Leiter ins Wasser. Offenbar wollte das nackte Mädchen darauf zuschwimmen. Doch der Hai war im Weg. »Spritzen Sie nicht herum!« schrie ich. »Treten Sie Wasser!«
Der Hai umkreiste das Mädchen. Ich warf einen Gartenstuhl nach ihm, um mich bemerkbar zu machen. Er ignorierte ihn und bewegte sich auf das Mädchen zu. Ich konnte nicht beurteilen, ob sie mich gehört oder die Gefahr erkannt hatte, in der sie schwebte.
Plötzlich schlug sie mit den Armen um sich und schrie. Offenbar hatte sie erst jetzt das Vieh entdeckt.
»Sie sollen nicht so herumspritzen!« rief ich. Aber sie hörte mich nicht. In ihrer Panik schlug sie wie verrückt aufs Wasser ein. Ich warf noch einen Gartenstuhl. Der Hai war nicht dumm. Er wußte, daß Aluminium nicht schmeckt, wohl aber ein nacktes rothaariges Mädchen.
Ich packte einen Wasserrechen mit langem Stiel, so ein Ding, mit dem man zum Beispiel Blätter aus dem Wasser fischt, und warf. Der Hai war schneller als ich, und ich traf ihn nicht. Der Schwung des Wurfs riß mich mit bis zum Beckenrand. Dann setzte ich meiner Dummheit noch die Krone auf, indem ich auf einer nassen Stelle ausglitt und hineinfiel.
Jetzt waren zwei Leute im Wasser – und ein großer und offenbar hungriger Hai.
Ich versuchte, mich an mein Haiüberlebenstraining zu erinnern. Wenn ich es genau bedachte, hatte ich gar keines mitgemacht. Bis jetzt hatte mein Trick einfach darin bestanden, diesen Bestien aus dem Weg zu gehen.
Vage fiel mir ein, daß die Fachleute davor warnen, zuviel herumzuplanschen. So was konnte den Hai an einen verschreckten Fischschwarm erinnern und zum Angriff reizen. Was noch? Keine Panik! Das war auch der weise Rat von Fachleuten. Ich wünschte, daß jetzt, in diesem Augenblick, einer hier gewesen wäre. Dann hätte ich mit ihm durchs Wasser preschen können, während …
Tja – ein Rat ist mir auf jeden Fall im Gedächtnis geblieben: So schnell wie möglich raus aus dem Wasser!
Eine glänzende Idee! Ich schwamm auf dem Rücken in die Richtung, wo ich die nackte Schöne vermutete, denn ich wagte es nicht, auch nur einen Blick vom Hai zu wenden. Über die Schulter hinweg rief ich so ruhig wie möglich: »Schwimmen Sie zur Leiter! Aber langsam!«
Dann machte etwas Wumm, und vor meiner Nase schoß ein kleiner Wasserstrahl in die Höhe.
Charity Tucker, meine liebliche Partnerin, hätte mich mit meiner illegalen 38er Police Special beinahe durchlöchert.
»Nicht schießen!« schrie ich. Charity ist ein großartiges Mädchen, bloß schießen kann sie nicht. Sie machte mir beinahe soviel Angst wie der Hai.
Auch die Rothaarige hatte sie erschreckt. Plötzlich packte sie mich von hinten und wollte mir auf den Rücken klettern. Dabei stieß sie meinen Kopf unter Wasser, worauf ich nicht gefaßt war, ich schluckte ein paar Eimer voll, schlug mit Händen und Füßen um mich und verursachte einen Heidenlärm. Ich tat also genau das, wovor die Fachleute warnen.
Der Hai kam herbei, um nachzusehen, ob ich mich etwa in einen hübschen Meeräschenschwarm verwandelt hätte. Als er in der richtigen Entfernung war, trat ich ihm in die Schnauze und hätte mir fast den Knöchel gebrochen.
Danach geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Das rothaarige Mädchen ließ meinen Hals los und schwamm auf die Leiter zu. Und Charity warf mir die Pistole zu. Natürlich warf sie zu kurz, und sie sank. Ich tauchte nach ihr, erwischte sie aber nicht.
Ich schoß zur Oberfläche hoch, holte Luft und tauchte wieder. Diesmal erwischte ich sie. Während ich auftauchte, kam der Hai auf mich zugeschwommen. Unter Wasser wagte ich nicht abzudrücken, die Pistole würde losgegangen sein wie eine Handgranate. Doch ehe ich in der Lage war, sie zu benützen, griff der Hai an. Er war sehr schnell und rollte sich zur Seite. Ich trat wie verrückt nach ihm und versuchte, in die entgegengesetzte Richtung zu schwimmen. Er traf mich mit seinem ganzen Gewicht, und ich hatte das Gefühl, als hätte mich ein Tank aus Sandpapier überrollt. Ich schaffte es, die Pistole auf ihn zu richten, und drückte ab. Wasser spritzte, der Rückstoß verrenkte mir die Hand, dann sah ich, wie sein Schwanz auf mich lospeitschte, und in dem Augenblick stürzte der Himmel über mir ein.
Singing River in Mississippi liegt an der Golfküste, auf halber Strecke zwischen Mobile in Alabama und New Orleans. Das nur, falls Sie mal hinfahren wollen. Der Ort hat keine tausend Einwohner.
Charity Tucker habe ich bereits erwähnt. Sie ist sehr hübsch und sehr blond und sehr dickköpfig. Und ein schlechter Schütze. Außerdem hat sie ein Gedächtnis, das Informationen speichert wie ein Computer.
Charity Tucker ist das Tucker in »Shock & Tucker – Ermittlungen«. Ich bin Shock: Benjamin Lincoln Shock. Vor nicht allzu langer Zeit war ich noch ein New Yorker Polizist und vertrat die unbeliebte Meinung, daß Verbrecher nicht ignoriert oder mit Samthandschuhen angefaßt werden sollten. Doch das ist eine andere Geschichte. Eine traurige dazu, wie Ihnen jeder, der kürzlich in einer Großstadt gewesen ist, bestätigen kann.
Wie dem auch sei, jedenfalls waren Charity und ich plötzlich Partner, ohne daß ich es eigentlich beabsichtigt hatte. Trotz solcher Typen wie Mike Shayne und Shell Scott gibt es so einen Kerl wie den harten, schwer bewaffneten Privatdetektiv, der jeden Fall löst, nicht. Jedenfalls nicht mehr, und ich bezweifle, daß er je existiert hat. Die Polizisten sind sehr pingelig, was ihr Revier angeht, und alles andere als freundlich zu Außenseitern, die daherspazieren und sie anschwärzen wollen. Was würden Sie dazu sagen, wenn irgendein Kerl sich in Ihre Arbeit einmischt, seine kluge Meinung äußert und Ihnen im Weg steht?
Außerdem ist da noch das kleine Problem mit der Lizenz. Ein Privatdetektiv, der, sagen wir mal, für New York eine Arbeitserlaubnis hat, kann offiziell nicht in New Jersey arbeiten, obwohl es doch gleich nebenan ist. Nicht zu vergessen, der Wirbel um Waffen, den man heutzutage macht. In New York braucht man schon eine Genehmigung, wenn man nur eine Handfeuerwaffe kaufen will, und die Erlaubnis zum Tragen zu erhalten – das ist, als wollte man mit der Frau eines Gouverneurs schlafen. Als Resultat tragen sehr wenige Einwohner Waffen, natürlich mit Ausnahme der Gangster, die nun mal bekanntermaßen eine große Verachtung für all diese kleinlichen Gesetze haben. Was eine weithergeholte Erklärung dafür ist, daß ich meine 38er Police Special illegal besitze und natürlich auch die Firma »Shock & Tucker – Ermittlungen« gegen das Gesetz verstößt.
Manchmal gerät der eine oder andere in eine Lage, wo ein offizieller Vertreter des Gesetzes nicht helfen kann oder will. Das ist dann der Augenblick, wo in Charitys winzigem Apartment in der Madison Avenue das Telefon klingelt. Einmal täglich – egal, wo wir sind – ruft Charity ihre Nummer an, und wenn das Freizeichen ertönt, steckt sie einen kleinen elektronischen Pieper an die Sprechmuschel. Worauf ein geheimnisvolles Gerät, das in ihrer Wohnung ans Telefon geschaltet ist, alle eingegangenen Nachrichten vorspielt. Ich möchte gar nicht erst behaupten, daß ich weiß, wie es funktioniert. Charity hat einen ganzen Haufen solcher elektronischer Spielsachen, und ich habe großen Respekt vor ihnen.
Vor zwei Tagen waren wir in Gethsemane, Kentucky, gewesen, wo wir einer Collegefreundin von Charity aus der Patsche helfen wollten. Vielleicht hatten wir Pech, vielleicht waren wir unfähig – jedenfalls war die Freundin umgebracht worden, und unsere Enttäuschung wurde auch durch die Tatsache nicht gemildert, daß wir den Mörder erwischten. Man tut, was man kann, und manchmal ist das eben nicht genug.
Ich wollte diesen neuen Fall gar nicht übernehmen. Charity hatte ihre Nummer angerufen, und ehe ich wußte, wie mir geschah, fuhren wir mit meinem großen alten Cadillac Fleetwood in Richtung Süden, zum Golf von Mexiko und nach Singing River, Mississippi.
Wir hatten Pascagoula hinter uns gelassen und fuhren auf der 90 westwärts. Am dunklen Himmel stand eine winzige Mondsichel mit einem seltsam lichten Hof.
»Das gefällt mir nicht«, sagte ich zu Charity. »Das letzte Mal, als ich so einen Mond sah, war vor Vietnam eine nächtliche Landeinvasion im Gang, und wir verloren durch einen plötzlich aufkommenden Sturm einen Haufen Boote.«
Ich drehte am Radio, bis ich eine Nachrichtensendung fand. Ich hatte recht gehabt. Der Sprecher verkündete eben den Wetterbericht:
»Der Tropensturm Hilda hat sich noch nicht zum Hurrikan entwickelt«, meldete er dann, »aber er soll in der Montego Bay schon eine Geschwindigkeit von sechzig Meilen erreicht haben.« Abschließend versicherte er uns, daß das Wetteramt ein wachsames Auge auf Hilda haben und wir immer auf dem laufenden bleiben würden, wenn wir den Sender von Pascagoula eingeschaltet ließen. Das versprach ich ihm, falls er uns ein bißchen Peggy Lee hören lassen würde, statt Hank Williams, doch er mußte mich mißverstanden haben, denn gleich darauf erklang »Jambalaya«.
»Zu Weihnachten«, versprach Charity, »schenke ich dir einen Kassettenrecorder, damit du dich nicht mehr übers Radio beschweren mußt.«
»Ich bezweifle, daß du einen findest, der in diesem Schrotthaufen funktioniert«, antwortete ich. »Der Wagen ist so alt, daß er vermutlich noch mit sechs Volt arbeitet.«
»Dann bauen wir eben einen Transformator ein«, sagte sie kühl. Ich wußte nicht, ob sie es ernst meinte oder nicht. Bei Charity bin ich mir da nie sicher. Das wenige, das sie über Elektronik nicht weiß, paßt in einen Fingerhut.
Wir fuhren an einem grün-weißen Straßenschild vorbei, auf dem stand: Willkommen in Singing River, 502 Einwohner.
»Wir sind da«, sagte ich. Wir waren jetzt auf einer langen, zweispurigen Brücke, dicht beim Wasser. Auf der einen Seite befand sich eine hölzerne Plattform, auf der Fischer in Ruhe fischen konnten, ohne vom Verkehr gestört zu werden.
Ich war nicht gerade in Hochstimmung. Mein Kopf schmerzte, wo ein Wunderdoktor aus Kentucky mit ein paar Stichen die Platzwunde genäht hatte, die mir bei der Erledigung unseres letzten Auftrags ein Autounfall verpaßt hatte. Ich liebe meinen Fleetwood mehr als im allgemeinen ein Mann sein Auto liebt, aber jetzt tat mir der Hintern weh. Wir waren seit dem Morgengrauen unterwegs und hatten fast fünfhundert Meilen hinter uns.
»Ich verstehe nicht, warum wir nicht im hübschen Holiday Inn von Pascagoula geblieben sind und unseren Klienten morgen früh aufsuchen«, brummte ich.
»Weil er gesagt hat, wir sollten im Alten Haus schlafen.«
»Das klingt höchst verdächtig. Sicher noch ein Schuppen aus den Befreiungskriegen.«
»Reg dich nicht auf, Ben! Wir sind gleich da.«
»Wer behauptet das?« erwiderte ich und starrte in die Dunkelheit hinaus. »Bist du sicher, daß wir nicht falsch abgebogen sind und uns auf dem Highway nach Key West befinden?«
»Da vor uns ist ein Licht«, sagte sie.
Ich sah es auch – ein kaltes weißes Licht am Rand der Fahrbahn. Ich bremste ab.
»Paß auf, ob hinter uns Scheinwerfer auftauchen«, sagte ich, »ich habe keine Lust, von einem übermüdeten Lasterfahrer mit seiner Karre zusammengequetscht zu werden.«
Ich hielt bei dem Licht. Es war eine zischende Karbidlampe, die eine Helligkeit von mindestens zweihundert Watt verbreitete.
Ein bulliger Mann lehnte an dem Geländer und fischte mit einer Angel. Ich stieg aus, und er drehte sich um. Sein schwarzes Gesicht glänzte im grellen Schein der Lampe.
»Was passiert, Mister?«
»Nein. Nur eine kleine Auskunft.«
Er wurde sofort mißtrauisch. »Eine Auskunft? Sind Sie Reporter?«
»Ganz und gar nicht. Wir sind auf der Durchfahrt und wollen eine Bekannte besuchen. Sie wohnt in einem Haus, das das Alte Haus heißt. Können Sie uns sagen, wo das ist?«
Er überlegte. »Es wird schon nicht verkehrt sein, wenn ich’s Ihnen erkläre«, meinte er dann zögernd. »Sie fahren in der richtigen Richtung. Bleiben Sie auf der 90 bis zum gelben Blinklicht. Dann biegen Sie links zum Strand ab. Sie können es gar nicht verfehlen. Es ist ein großes altes Haus mit weißen Säulen. Außerdem steht es direkt neben einem Leuchtturm.«
»Einem Leuchtturm?«
Er nickte. »Einem großen weißen Leuchtturm! Allerdings brennt er nicht mehr. Schon lange nicht mehr. Seit dem Krieg nicht mehr.«
Ich stieg wieder ein und bedankte mich dabei.
Der Mann starrte mich weiter an und schien etwas sagen zu wollen.
»Was gibt’s?« fragte Charity.
»Tja, Ma’am«, antwortete er langsam, »wenn ich Sie wäre, würde ich vorsichtig sein und nicht unangemeldet auf der Bildfläche erscheinen. Fremde sind da nicht sehr beliebt.«
»Vielen Dank für den Tip«, sagte Charity und stellte ihren beachtlichen Charme an. Der Fischer hatte keine Chance. Die Knie wurden ihm schwach, wie das jedem normalen Mann passiert wäre. Er drehte sich zu seiner Angel um und murmelte etwas in sich hinein.
Als wir das Ende der Brücke erreichten, fuhr ich langsamer. Wir kamen durch die Ausläufer von Singing River.
Alle kleinen Küstenorte in Mississippi gleichen sich. Niedrige, flache Häuser, vom Highway zurückgesetzt, unter dünnen Pinien. Kleine Einkaufszentren mit Neonreklame und Schnellreinigung. Ein paar Kneipen mit beleuchteter Jax-Bier-Reklame im Fenster.
»Wie das Jax-Bier wohl schmeckt«, sagte ich. »Wir sollten es mal probieren.«
»Später«, erklärte Charity entschieden.
Wir kamen zu dem gelben Blinklicht, und ich nahm den Fuß vom Gaspedal, bis wir nur noch krochen. Mir war aufgefallen, daß die Seitenstraßen an der 90 nicht gut gekennzeichnet waren.
»Jetzt geradeaus«, sagte Charity. »Bis zur Kirche.«
Ich schaltete den Blinker ein und bog nach links ab. Der Fleetwood fuhr fast geräuschlos. Wir kamen an der alten Baptistenkirche und ihrem Friedhof mit schiefen Grabsteinen und Engelsstatuen vorbei.
Die Straße führte zu zwei Ziegelsäulen mit einem Tor. Es stand offen. Doch ein paar Schritte dahinter stand ein Schild mit »Zutritt verboten«.
»Vielleicht hatte der Fischer doch recht«, meinte ich.
»Wir werden erwartet«, antwortete Charity. »Wir sollen bis zum Haus fahren und nach einer Miss Lisa Dantzler fragen. Das hat der Anwalt gesagt, und er war in seinen Anweisungen sehr genau. Wir sollen in Singing River nicht halten und uns so unauffällig wie möglich benehmen.«
»Mit anderen Worten, Miss Dantzler möchte nicht, daß unsere Ankunft bekannt wird.«
»So ist das nun mal in unserem Beruf«, meinte Charity gelassen.
»Ich kann den Leuchtturm schon sehen«, sagte ich. »Wer, zum Teufel, war so blöde, sich ein Haus direkt neben einen Leuchtturm zu bauen?«
»In meinem Führer von Mississippi steht es genau umgekehrt. Das Alte Haus gehörte einem Schiffsbaron aus New Orleans und war sein Sommersitz. Eines Nachts, irgendwann um 1880, ging hier eins seiner Schiffe unter. Als Singing River kein Geld für einen Leuchtturm lockermachen wollte, baute sich der Millionär selber einen.«
»Einen privaten Leuchtturm? Nun, warum nicht? Auch nicht idiotischer als ein eigenes Flugzeug.«
»Da ist das Haus!« rief Charity.
Es war kaum zu übersehen, ein richtiger Landsitz. Er erinnerte mich an Vom Winde verweht. Eine Menge weiße Säulen und so viele Fenster, daß man schon allein vom Putzen einen Bruch bekommen konnte. Eine geschwungene Auffahrt mit weißem Muschelsand führte zur Eingangstür.
»Bist du sicher, daß wir nicht in einer Art Museum gelandet sind?« fragte ich. »Wer, zum Teufel, kann es sich leisten, so was zu heizen.«
»Wir sind hier nicht in New York«, meinte Charity. »Wir sind im tiefen Süden, falls dir das entfallen sein sollte. Hier ist es immer warm.«
»Sieht aus, als ob jemand zu Hause ist. Es brennen viele Lampen. Miss Dantzlers Lichtrechnung möchte ich auch nicht haben.«
Ich hielt vor den Säulen, und wir stiegen aus. Es war, als ob man auf das Portal des Weißen Hauses zuschlenderte. Ich drückte auf den Klingelknopf. Drinnen ertönte ein Glockenspiel. Wir warteten.
Niemand kam.
»Versuch’s noch mal«, sagte Charity.
Ich gehorchte, und das Glockenspiel bimmelte. Das war alles, was wir hörten. Kein Türenschlag, keine Schritte.
»Ich dachte, wir würden erwartet«, sagte ich.
»Gehen wir zur Rückseite«, schlug Charity vor. »Vielleicht geben sie ein Gartenfest oder so was.«
»In so einem Haus?« schimpfte ich und ging voran. »Wenn du Bankett gesagt hättest, wäre ich einverstanden. Außerdem rieche ich keine Holzkohle.«
Der Garten, wenn man ihn überhaupt so nennen konnte, war hell erleuchtet. Bequeme Stühle, Tische und Sonnenschirme umstanden einen großen, fast runden Swimming-pool. Dahinter schimmerte der Strand wie ein weißes Band im Mondlicht, und die Brandung schäumte phosphoreszierend.
Ein schwerer Duft nach Magnolien lag in der Luft. Der leichte Wind, der vom Golf wehte, kühlte mir den Schweiß auf der Stirn.
Ich betrachtete den hellbeleuchteten Swimming-pool und meinte: »Was für eine angenehme Art zu leben. Falls man sie sich leisten kann.«
»Du hast zu lange in Manhattan gewohnt«, erklärte Charity. »Jeder, der bloß einen Hinterhof hat, ist in deinen Augen schon reich.«
Das war der Augenblick, in dem die Tür aufflog und die nackte Rothaarige herausgerannt kam.
Es ist kein Vergnügen, wenn einem ein vorbeischwimmender Hai mit dem Schwanz auf den Kopf schlägt. Wie ich eben schon sagte, war mit meinem Kopf kein großer Staat zu machen, weil er kürzlich in den Hügeln von Kentucky ziemlich viel abbekommen hatte. Jetzt tat der Hai noch ein übriges, indem er mich bewußtlos schlug und mir noch ein paar Fetzen Haut wegkratzte.
Ich weiß nicht, wie lange ich weg war. Sehr lange kann es nicht gedauert haben, weil ich unbewußt den Atem angehalten hatte, und die Luft war immer noch in meiner Lunge, als Charity mich an die Oberfläche zog. Sie hielt mich mit der einen Hand am Kinn fest und schwamm zur Leiter.
Das Wasser um uns war rot und schäumte. Ich würde verbluten. »Halt mich nicht so fest«, keuchte ich, »du drückst mir die Luft ab!«
Charity gab einen gurgelnden Laut von sich, der verdächtig nach einem undamenhaften Fluch klang.
»Laß mich los!« prustete ich. »Es geht wieder!«
Sie kletterte vor mir die Leiter hoch. Die feuchten Jerseyhosen klebten ihr wie eine zweite Haut am Körper. Doch ich hielt nicht inne, um diesen Anblick zu genießen. Mir fiel ein, was die Fachleute über Blut im Wasser gesagt hatten, wenn Haie in der Nähe waren.
Ich hielt meine Pistole immer noch in der rechten Hand. Wasser rann aus dem Lauf.
Als ich das Ende der Leiter erreichte, sah mir Charity über die Schulter und schloß die Augen. Sie schwankte und wäre beinahe gefallen. Ich drehte mich um. Was ich sah, genügte, daß auch ich die Augen schloß.
Der Hai zog noch immer seine Kreise im Pool. Zweimal kam er an die Oberfläche, und etwas bewegte sich, was dort schwamm.
Dann sah ich, was es war: Ein nackter menschlicher Torso wirbelte durch das blutige Wasser und sank langsam auf den Grund.
Ich zielte auf den Hai und schoß zweimal. Das Wasser spritzte, und das Vieh tauchte weg. Ich wußte nicht, ob ich ihn getroffen oder ihn der Knall nur verscheucht hatte.
Charity setzte sich in einen Liegestuhl und legte ihren Kopf zwischen die Knie. »Nein … nein! Ich ertrag’ es nicht!« sagte sie.
Ich drückte auf die Muskeln in ihrem Nacken, bis sie sich vor Schmerzen wand, und sagte scharf: »Nimm dich zusammen, Baby! Wir müssen herausfinden, was hier eigentlich los ist.«
»Ja, das würde ich auch gern wissen!« meinte eine Stimme hinter mir.
Ich warf mich herum, die Pistole schußbereit in der Hand. Dann ließ ich sie sinken, weil ich mir ziemlich dumm vorkam.
Eine hübsch angezogene junge Frau stand da und blinzelte in das helle Flutlicht. Sie war Anfang Dreißig und hatte langes gerades blondes Haar.
»Wenn Sie Schießübungen machen wollen«, sagte sie mit einem Blick auf meine Pistole, »wie wär’s mit Bierdosen am Strand, statt mir Löcher in den Swimming-pool zu schießen? Übrigens, wie sind Sie eigentlich über den Zaun gekommen?«
»Wir sind durchs Tor gefahren«, antwortete ich. »Eine Dame namens Lisa Dantzler hat uns eingeladen, sie zu besuchen.«
»Ich bin Lisa Dantzler«, sagte sie. »Ich habe Sie beide noch nie gesehen.«
Charity ergriff meinen Arm und stand auf. Das Wasser lief aus ihren Hosen auf die Kacheln. Mit etwas unsicherer, aber lauter Stimme sagte sie: »Ich bin Charity Tucker. Dies ist Ben Shock. Ein Anwalt namens Conrad rief in meinem New Yorker Büro an und bat uns, herzukommen.«
»Ach so.« Lisa Dantzler strich sich das blonde Haar zurück. »Entschuldigen Sie. Ich dachte, ich hätte es an der Haustür läuten gehört, aber ich war so beschäftigt und –« Sie blickte in den Swimming-pool. »Auf was haben Sie geschossen? Das Wasser ist ganz rot!«
»Ich würde Ihnen nicht raten, ein Bad im Mondschein zu nehmen«, antwortete ich. »Da ist ein Hai drin, und der hat jemand aufgefressen.«
Das Wasser war ruhig. Ich versuchte, den Hai zu entdecken, aber das Blut und das spiegelnde Licht machten es unmöglich.
»Sie war –« begann Charity.
Ich unterbrach sie. Warum sollte Lisa Dantzler wissen, wieviel wir gesehen hatten? »Als wir ankamen, war der Hai gerade dabei, jemand anzugreifen. Ich versuchte zu helfen und fiel rein.
Dann sprang Charity mir nach und zog mich heraus. Aber jemand anders hat es nicht mehr geschafft. Haben Sie eine Ahnung, wer es ist?«
Lisa Dantzler schüttelte den Kopf. »Ich habe mein Mädchen heute abend noch nicht gesehen. Aber sie darf nicht – ich meine, sie schwimmt hier nie.«
Wie aufs Stichwort bewegte sich das Wasser leicht, und eine schlaffe, schrecklich weiße Hand tauchte kurz an der Oberfläche auf.
Lisa Dantzler schrie.
Charity lief zu ihr hin und führte sie zum Haus. Ich warf einen letzten prüfenden Blick in den Pool. Wenn der Hai noch da drin war, wollte ich ihm noch eine 38er Kugel in den Kopf jagen. Aus gar keinem vernünftigen Grund. Man kann so einem Tier keinen Vorwurf machen, daß es frißt, was ihm vor die Nase gerät. Dennoch war ich wütend. In unserer auf Psychologie verrückten Gesellschaft von heute ist Rache kein hübsches Wort, trotzdem rührte sich im Augenblick genau dieses Gefühl in mir. Ich konnte das Bild jenes schlanken nackten Körpers nicht aus meinem Kopf bekommen.