Patrick Buchanan
Amoklauf
Aus dem Amerikanischen von Renate von Walter
FISCHER Digital
Patrick Buchanan war das gemeinsame Pseudonym von Edwin Raymond Corley und Jack Murphy, unter dem sie eine Reihe von Kriminalromanen veröffentlichten.
Im friedlichen Hafen einer amerikanischen Kleinstadt explodiert eine weiße Jacht: Volltreffer aus einer Bazooka und Auftakt zu einer Serie von Unfällen und heimtückischen Morden.
Die Weißen verdächtigen haßvoll die Schwarzen, die Schwarzen verdächtigen die Weißen, Anstifter von Chaos und Aufruhr zu sein. Der eiskalt operierende Drahtzieher bleibt im Hintergrund. Ihn soll Ben Shock aufspüren – auch für einen rausgeworfenen Polizeibeamten ein Himmelfahrtskommando ...
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign, München
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-561355-9
Wir fuhren den Hügel hinauf und parkten. Die verschlafene kleine Stadt breitete sich unter uns aus. Auf der rechten Seite reichte der tiefblaue Atlantik bis zum Horizont. Auf der linken Seite kletterten Häuser und Bäume die ansteigende Hügelseite hinauf.
Das war Pilgrim’s Pride, Massachusetts, kurz vor dem vierten Juli, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, zu Beginn eines langen Wochenendes: das letzte Fleckchen Erde, das man mit Gewalt und Tod in Verbindung bringen würde.
„Schau, Ben!“ rief Charity Tucker. Ihr langes, blondes Haar flatterte in der sommerlichen Morgenbrise. „Da ist die Channel Nine!“
Bei mir zu Hause, in New York, ist Channel Nine eine Fernsehstation. Hier war es ein Boot – ein schlanker, hochmastiger Schoner, der gerade unter uns in den Hafen glitt. Schnittig, elegant – man konnte ins Träumen kommen. Ich war kein gefeuerter Kriminalbeamter mehr, sondern lag auf dem Mahagonideck des Bootes, ein eisgekühlter Gin-Tonic in Reichweite meiner gebräunten Hand.
Charity hatte schon früher von dem Boot gesprochen. Es gehörte ihrem Vater, der neben anderen Unternehmungen auch beim Fernsehen mitmischte. Die Channel Nine war nach seiner eigenen Sendestation benannt.
Während ich das Boot beobachtete, das gegen die Ebbe lief, fand ich, daß es absolut nicht falsch wäre, reich zu sein.
Nur – ich war nicht reich. Ich war ein armer, ehrlicher Kriminalbeamter aus New York. Ein Kriminaler, auf den noch allerhand zukommen sollte, was ich allerdings in jenem Augenblick noch nicht wußte. Vorläufig stand ich völlig ahnungslos, stumm und glücklich da.
Das Boot hinterließ eine glitzernd weiße Bugwelle. Das Wasser sah kalt aus. Es hatte das besondere Blau, das man nur bei tiefem Wasser an sonnigen, wolkenlosen Tagen sieht. Hoffentlich war es so warm, daß man ohne Taucheranzug Krebse fangen konnte. Im Kofferraum meines hochgezüchteten Cadillac Fleetwood, eingewickelt in eine alte Marinedecke, lag mein Tauchgerät.
Ich hatte den Fleetwood in einer weiten Kurve geparkt, von der aus man die Stadt und ihren Hafen überblicken konnte. Von hier fiel der Hügel etwa dreißig Meter steil ab, so daß die lange Mole, die bis zur Mitte des Hafens reichte, fast direkt unter uns lag. Sonnenstrahlen glitzerten wie tausend Diamanten auf dem bewegten Wasser.
„Ist es nicht wunderschön?“ fragte Charity.
Mit einer spöttischen Bemerkung wollte ich mich nach ihr umwenden, als ich plötzlich ein Geräusch hörte, das mich vier Jahre zurückversetzte, in den Dschungel von Vietnam. Ohne zu überlegen warf ich mich auf Charity und drückte sie auf den felsigen Boden. Sie schrie auf, als meine hundertachtzig Pfund ihre Rippen auf der harten Erde beinahe zerdrückten.
Aus den Augenwinkeln heraus sah ich ein schauriges Schauspiel unten auf dem Wasser. Breite Flammen schlugen aus der Seite der Channel Nine. Das Boot bäumte sich wie ein wundes Tier auf und legte sich auf die Seite. Ein Mast brach, stieß ein Loch ins Deck und fiel auseinander.
Soviel ich sehen konnte, verließ niemand das Schiff.
Charity packte meine Schulter.
„Ben!“ schrie sie. „Mein Vater ist auf dem Schiff!“
Ich stand langsam auf und überlegte, was ich tun sollte.
„Ben!“ rief Charity. Ich drehte mich um. Sie hatte den Zündschlüssel abgezogen und war dabei, den Kofferraum aufzuschließen. „Dein Tauchgerät!“
Ich rannte zu ihr. Beim Auto drehte ich mich um und sah, wie das Boot erzitterte, als das schäumende Wasser sein Dollbord erreichte, und dann verschwand es unter der blauen Oberfläche und sank wie von einer Riesenhand gezogen nach unten.
„Beeil dich!“ schrie Charity.
Ich nahm den Lufttank auf den Rücken und rutschte den Hügel hinunter, das Mundstück und der Sauerstoffregler schlugen gegen meine Rippen. Charity folgte mir mit meinen schwarzen Schwimmflossen in der Hand.
Wir kamen zur Mole, wo ein Riese von einem Mann stand und verwirrt auf das brodelnde Wasser schaute. Es war Andy Devine.
„Morgen, Miß Charity“, sagte er, „ich freue mich, daß Sie wieder zu Hause sind. Sagen Sie, war das nicht …“
„Wo ist dein Motorboot?“ schrie Charity.
Er deutete auf eine Leiter neben sich. Ich kletterte hinunter, setzte mich ins Cockpit und startete den Motor. Er spuckte erst ein bißchen und heulte dann auf. Charity ließ sich ins Boot plumpsen und legte die Leine ab.
Das Tau klatschte ins Wasser, und ich steuerte die Stelle im Hafen an, wo das Boot gesunken war. Sie war leicht zu finden: Luftblasen und kleine Trümmer stiegen immer noch zur Oberfläche.
Charity übernahm das Steuer, während ich aus meinen Schuhen schlüpfte und mich auszog. Meine Unterhose verhüllte weniger als ein Bikini, aber ich hatte jetzt keine Zeit, mich zu genieren. Als das Motorboot die Stelle erreichte, an der das Wasser brodelte, schulterte ich meinen Lufttank.
Ich hatte wissen wollen, wie kalt das Wasser wäre – jetzt wußte ich es. Ich fühlte, wie mein Herz sich vor Kälte zusammenzog. Ich biß fest auf mein Mundstück, um es nicht zu verlieren. Bei so kaltem Wasser mußte man einen Taucheranzug tragen, wenn man die ersten paar Minuten überleben wollte.
Ich folgte dem Strom der Luftblasen hinunter bis zum Wrack. Zum Glück lag es nicht in der Fahrrinne, sondern in seichterem Wasser. Mit jedem Meter, den ich tiefer tauchte, wurde die Kälte beklemmender.
Das Boot lag kieloben. Als ich näher kam, bot sich mir ein gespenstisches Bild. Eine Hand nach oben gestreckt, auf eine Sonne deutend, die er nie wieder sehen würde, hing ein alter weißhaariger Mann mit Tauen, die sich um seine Beine gewickelt hatten, an der Reling. Seine Augen standen offen, und er schwankte in der Strömung.
Ich wußte, daß es zu spät war, aber trotzdem begann ich, ihn mit dem philippinischen Buschmesser, das ich seit Vietnam immer bei mir trage, freizuhacken. Endlich hatte ich einen Knoten durchgeschnitten. Dann sah ich in der Kabine das Gesicht einer zu Tode erschrockenen Frau.
Sie war beinahe so alt wie der Mann, sie war bleich vor Entsetzen – und sie lebte!
Ich schwamm zum Fenster und schaute hinein. Eine riesige Luftblase hatte sich in der Kabine gefangen. Die alte Frau stand bis zu den Hüften im Wasser, mit dem Kopf in der Luftblase, die sie bis jetzt am Leben erhalten hatte.
Ich klopfte ans Fenster und deutete auf die Tür, die unter der Luftblase lag. Sie schrie lautlos und beachtete mich nicht.
Der Schoner ruckte nach einer Seite. Die Frau rutschte aus und fiel. Ich rüttelte an der verschlossenen Tür. Wieder erzitterte das Boot, die Tür flog weit auf und schleuderte mich gegen das Deck. Das Wasser stürzte in die Kabine.
Die Frau stand mit der Nase nur noch Zentimeter über dem Wasser. Sie schrie wieder, als ich vor ihr auftauchte, aber dann erkannte sie in mir wohl den Retter. Sie sagte etwas, was ich nicht verstand. Ich steckte ihr mein Mundstück in den Mund. Sie begriff, und biß fest auf den Gummi. Luftblasen stiegen aus dem Sauerstoffregler, als sie tief Luft holte.
Ich nahm das Mundstück und füllte meine eigenen Lungen mit Luft, bevor ich es ihr wieder gab. Dann zog ich sie ins eisige Wasser hinunter und stieg durch das helle Rechteck der Türöffnung hinaus. Ich hoffte, daß das Herz der alten Frau der Anstrengung standhalten würde.
Charity lehnte über den Bootsrand. Als sie das weiße Gesicht meines Passagiers sah, beugte sie sich vor, packte ihr Kleid und zog, während ich von unten schob. So zerrten wir die alte Frau wie einen Sack Kartoffeln ins Boot.
Wieder umschloß mich die eisige Kälte, als ich, bevor Charity etwas sagen konnte, meinen trostlosen Weg zum Grund des Hafens wieder antrat.
Aber ich mußte nicht bis ganz nach unten tauchen, um den alten Mann zu befreien. Als sich das Boot das letztemal bewegt hatte, hatten sich die Taue von seinen Beinen gelöst.
Er trieb friedlich, den Kopf zur Seite geneigt, nach oben. Ein Fischschwarm beschnüffelte ihn interessiert.
Ich packte den alten Mann und zog ihn nach oben.
Dabei hätte mich fast ein anderes Boot überfahren. Charity schrie irgend etwas zu dem Boot hinüber, woraufhin es langsam an mich herankam, so daß ich den Leichnam des alten Mannes zwei kräftigen Männerarmen übergeben konnte, die in das eisige Wasser hinunterlangten. Dann griff ich nach dem Dollbord und versuchte, in das Boot zu klettern.
Aber ich war so schwach, daß ich nur am Boot hängenblieb, mit dem Gesicht unter Wasser. Das Mundstück war weg, ich schluckte Wasser. Da packten zwei harte Fäuste meine Oberarme und zogen mich an Bord. Erschöpft sackte ich in das fremde Boot.
Spuckend und keuchend gelang es mir nach einiger Zeit, mich aufzusetzen. Zwei Männer in bespritzten Uniformen beugten sich über den toten alten Mann. Einer versuchte, durch Brustmassage sein Herz wieder zum Schlagen zu bringen. Der andere stülpte ihm eine Sauerstoffmaske über das Gesicht. Ein dritter Mann, in Blue jeans und Sporthemd, sprang gerade in das Boot, in dem Charity und die alte Frau kauerten.
„Daddy!“ rief sie, stand zitternd auf und umarmte ihn. Er küßte sie hastig und beugte sich zu der alten Frau hinunter. Dann riß er sich sein Hemd herunter und wickelte es ihr um die Schultern. Sie sah auf und sagte etwas, das ich nicht verstehen konnte. Sie lebte also noch. Taumelnd stand ich auf. Die beiden Beamten beachteten mich nicht. Ich betrachtete den zerbrechlichen alten Mann und hatte einen schalen Geschmack im Mund. Ich wußte, daß sie sich umsonst bemühten.
Die beiden Boote trieben aufeinander zu, und ich stieg ins andere Boot um. Der große Mann, den Charity „Daddy“ genannt hatte, blickte auf. Auf seiner nackten Brust ringelten sich weiße Haare. Er hatte kein Gramm Fett am Leib. Da ich noch etwas torkelte, stützte er mich auf dem Weg ins Cockpit. Wir standen nebeneinander, und ich mußte, obwohl ich fast einsneunzig groß bin, noch zu ihm aufsehen.
„Sie müssen Ben Shock sein“, sagte er. Seine Stimme war nicht laut, aber sie übertönte die Brandung und den Motorenlärm.
Einer der uniformierten Männer stieg aus dem anderen Boot zu uns herüber. – „Er ist tot, Lyon“, sagte er zu Mr. Tucker.
„Überhaupt ein Wunder, daß noch jemand lebt“, antwortete Tucker. „Wenn Ben Shock nicht gewesen wäre …“
„Das haben Sie prima gemacht“, meinte der Beamte und streckte mir seine Hand hin. „Ich habe schon von Ihnen gehört. Mr. Tucker erzählte, daß seine Tochter einen Kriminalbeamten aus New York mitbringen würde. Ich hatte Sie mir allerdings etwas anders vorgestellt.“
„Und ich hatte mir Pilgrim’s Pride etwas anders vorgestellt“, gab ich zurück. Er grinste, und ich drückte seine kräftige Hand.
„Ich bin Miles Cooke“, stellte er sich vor.
„Hafenmeister von Pilgrim’s Pride“, ergänzte Lyon Tucker.
„Ich sah nicht, wie es passierte“, sagte Cooke. „Als ich aus dem Haus kam, ging sie schon unter. Hat es irgend jemand beobachtet?“
„Ich“, antwortete ich.
„Irgendwelche Vermutungen?“ fragte Cooke.
„Ich habe schon viele solche Einschlaglöcher gesehen“, sagte ich, „und zwar in Vietnam. Sie stammen alle von Bazookas, Kaliber fünfundsiebzig.“
„Bazookas?“ fragte Cooke stirnrunzelnd.
„Ja, genau!“ erwiderte ich.
Es dauerte einige Zeit, bis Hafenmeister Miles Cooke diese Tatsache verdaut hatte. – „Aha!“ meinte er schließlich.
Er sprang in sein Boot zurück und fuhr an Land.
„Schätzen Sie Miles nicht falsch ein“, erklärte Tucker. „Miles ist auch der Polizeichef von Pilgrim’s Pride.“
Ein guter Kriminalbeamter zu sein ist einer der härtesten Jobs der Welt. Man könnte behaupten, daß ich versagt habe – denn letzten Endes waren meine Nerven nicht stark genug, und ich mußte meine Dienstmarke zurückgeben. Aber bis dahin habe ich mich nach Kräften bemüht. Wenn ich nachts auf Streife war, verkroch ich mich nicht in einem ungefährlichen Winkel, wie es die meisten taten. Und wenn ich manchmal mit dem Gummiknüppel zuschlagen mußte, habe ich nie jemand absichtlich bewußtlos prügeln wollen. Gerichte und mitleidige Seelen können sich den Luxus leisten, lange darüber zu diskutieren, ob ein Schlag zu hart war oder nicht. Aber wenn man als Kriminaler seine Runde dreht, hat man etwa zwei Sekunden Zeit, sich zu entscheiden: Entweder man haut dem Verdächtigen eins über den Schädel, oder man läßt ihm Zeit ranzukommen und mit dem Ding, das er in seiner Tasche hat, loszulegen. Das kann ein Messer sein, eine Säureflasche, eine Pistole – man hat genau zwei Sekunden Zeit, sich zu entscheiden.
In Gedanken ließ ich meine Jahre als Streifenpolizist an mir vorüberziehen, ich war damals ganz auf mich allein angewiesen, kannte kein großes Tier im Präsidium, das seine schützende Hand über mich hielt. Deshalb brauchte mein Vorgesetzter nicht zimperlich zu sein, als er mich nach dem Fall Charity Tucker feuerte.
„Das Mädchen ist in den Fall verwickelt“, brüllte er. „Sie haben es vor dem Sexualverbrecher gerettet, gut! Aber Sie sind Polizeibeamter, Shock! Es ist Ihnen nicht erlaubt, privat mit dem Opfer eines Verbrechens zu verkehren, über das die Untersuchungen noch nicht abgeschlossen sind.“
„Ich möchte Ihnen nicht gern widersprechen, Captain Murphy“, sagte ich, „aber das geht Sie nichts an.“
„Und ob mich das was angeht! Wollen Sie das ganze Revier in Verruf bringen? Sie sind für Ihre Schießfreudigkeit schon bekannt genug. Sie hätten den Mann auch erledigen können, ohne ihn zu erschießen!“
„Erzählen Sie das der Fünfundvierziger, die er in der Hand hielt“, gab ich zurück. „Er hätte mir ein schönes rundes Loch in den Kopf geschossen! Was hätte ich denn tun sollen – ihn nach seinem Waffenschein fragen?“
„Sie haben noch Urlaub gut!“ schnaubte Murphy und trommelte ungeduldig mit seinem Bleistift auf die Schreibtischplatte. „Nehmen Sie ihn. Und dann machen Sie, daß Sie aus der Stadt kommen, bis sich die Aufregung hier gelegt hat!“
Ich räumte meinen Spind und rief Charity an.
„Ich bin beurlaubt“, erklärte ich. „Wie wär’s, wenn wir zu meinem Fischteich führen?“
„Gegenvorschlag“, sagte sie. „Wie wär’s, wenn wir das Wochenende bei meinen Eltern in New England verbrächten? Mit viel Hummer und kaltem Bier?“
So kam es, daß ich den Fleetwood beim Morgengrauen auf den East Side Highway lenkte. Ich war auf Murphy immer noch sauer.
Dabei hätte ich allmählich daran gewöhnt sein sollen. In meiner Familie gab es nichts als Kriminalbeamte. Mein Großvater war einer gewesen. Mein Vater starb während eines Einsatzes – und meine zwei Brüder sind heute bei der Armee. Aber obwohl ich auch den Beruf eines Polizisten gewählt habe, verspüre ich immer noch den Drang, aus der Reihe zu tanzen.
Charity räkelte sich neben mir. Sie konnte einem schon Herzklopfen verursachen – so ganz in Weiß. Ihr langes blondes Haar war in einem züchtigen Knoten hinter ihren Ohren zusammengebunden. Sie wirkte noch ganz verschlafen und gähnte.
Eigentlich wollte ich zu ihr hinüberlangen und sie streicheln. Aber immer noch stand der Alptraum jener Nacht zwischen uns, in der wir uns begegnet waren, als ich sie dem Gewaltverbrecher entriß und ihn erschoß. Ihr Gesicht war von seinem Blut verschmiert gewesen, und ich hatte erst am folgenden Morgen gesehen, wie jung und hübsch sie war.
Charity hatte seit dem Überfall auf sie nicht mehr gearbeitet. Zuvor war sie die hübscheste Ansagerin beim Fernsehen gewesen. Das lange Wochenende würde ihr guttun.
Wir kamen schnell voran, und es war immer noch früh am Morgen, als Charity auf ein Gewirr von Häusern an der Küste deutete und sagte: „Das ist Pilgrim’s Pride.“ Ein weißer Kirchturm stand wie ein Finger vor dem tiefblauen Himmel.
In der Nähe der Küste war ein Leuchtturm, aus dem lauter merkwürdige Stäbe ragten.
„Das ist Grand Misery Island“, erklärte Charity. „Mein Vater benützt den Leuchtturm für die Antennen.“
„Und ich dachte, du wärest nur ein armes Mädchen.“
„Bin ich auch. Daddy hält nichts davon, seine Nachkommen zu verwöhnen. Nach seinem Tod erbe ich vielleicht was, aber bis dahin muß ich für mich selber sorgen. Ich mag das so. Aber meinem Stiefbruder müßte man eigentlich ständig auf die Finger schauen.“
„Stiefbruder?“
„Leslie. Der Sohn meiner Stiefmutter. Aus erster Ehe.“
„Geschieden?“
„Witwe. Könntest du deine Kutsche jetzt zum Hafen fahren, Shock? Ich glaube, daß Daddys Boot gerade einläuft.“
Ganz in der Ferne sah ich einen hübschen Schoner, der gegen den Wind ankämpfte.
Ich zog mich im Bootshaus um und fuhr dann hinter Miles Cookes nur äußerlich alt aussehenden Dienstwagen den Hügel hinauf. Er hatte meinem Fleetwood freundlich zugenickt, und ich wußte, daß wir uns gegenseitig nichts vormachen konnten. Er sah den doppelten Auspuff an meinem Wagen – und ich wußte, ohne das satte Motorengeräusch zu hören, daß sein Mercury kein Serienauto war.
Auf halber Höhe des Hügels schnitt mich ein weißes Continental-Cabriolet. Ich wollte gerade auf die Hupe drücken, als ich erkannte, daß Lyon Tucker der Fahrer war. Er blieb zwischen uns, und so fuhren wir wie eine Leichenprozession die Hauptstraße entlang, was den Tatsachen entsprach, wenn auch die Leiche auf ein angemessenes Beförderungsmittel wartete.
Wer einmal Kriminalbeamter gewesen ist, der wird es nie verleugnen können. Mit dieser Stadt stimmte etwas nicht. Man konnte es förmlich riechen. Ich merkte es an der seltsamen Stimmung, die durch die halbgeöffneten Fenster meines Fleetwood zu spüren war.
Die Leute beobachteten uns nur aus den Augenwinkeln. Wir kamen durch den Stadtteil Shame. Kinder rannten neugierig auf die Straße und glotzten uns an. Aber ihre Eltern riefen sie, und sie verkrochen sich wieder in ihren baufälligen Hütten.
Als wir die Bahnschienen überquert hatten, wurde mir manches klar. Shame Town lag jetzt hinter uns, und ich sah kein einziges schwarzes Gesicht mehr.
Man hatte sich offensichtlich beträchtliche Mühe gegeben, das Stadtzentrum von Pilgrim’s Pride so zu erhalten, wie es vor zweihundert Jahren gewesen war. Jedes Haus sah so aus, als ob Abraham Lincoln gleich aus der Tür treten würde.
Das Polizeirevier selbst glich mehr einem restaurierten Herrschaftssitz aus der Kolonialzeit. Die Vorderseite schmückten tatsächlich richtige Säulen! Drinnen stellte ich aber fest, daß die Fassade wirklich nur Fassade war. Funkanlagen und Fernschreiber pfiffen und ratterten direkt hinter dem Haupteingang.
Ich muß wohl ein sehr erstauntes Gesicht gemacht haben, denn Cooke grinste anzüglich. Langsam begann ich ihn zu mögen.
Wir setzten uns und gaben unsere Berichte über den Schiffsuntergang zu Protokoll.
„Sie haben jetzt meinen Bericht“, sagte ich. „Ich bin nicht im Dienst. Aber als ich sah, wie das Boot unterging, packte ich mein Tauchgerät und tauchte, um zu helfen.“
„Und ob Sie geholfen haben, Junge“, meinte Lyon Tucker. „Ohne Sie wäre meine Schwiegermutter tot.“
„Es tut mir leid, daß meine Hilfe für Ihren Schwiegervater zu spät kam“, antwortete ich.
„Natürlich, mir auch“, sagte er unsicher. „Aber man kann keine Wunder erwarten. Wenn ich nur an Bord gewesen wäre! Niemand kennt das Schiff so gut wie ich. Ich hätte vielleicht helfen können.“
Da erst sah ich den Fetten mit der goldenen Kette. Ich musterte ihn von oben bis unten, er gefiel mir nicht. Er hatte ein ungesundes rosiges Gesicht, und ich hätte zehn zu eins gewettet, daß er Diabetiker und Alkoholiker war. Meiner Meinung nach sind Leute, die mit ihrer Gesundheit nachlässig umgehen, auch mit anderen Dingen sorglos: besonders mit der Gesundheit anderer Leute.
„Wer ist das?“ fragte ich. „Der Bürgermeister?“