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Frédéric Lenormand

Das Wasserschloss am Tchou-An-See

Reihe: Neue Ermittlungen des Richters Di

Kuebler Verlag

Das Buch

Auf dem Weg zur Amtsübernahme in Puyang sind Richter Di und sein Wachtmeister Hong Liang aufgrund einer außergewöhnlich starken Überschwemmung gezwungen, in einer Provinzherberge Zuflucht zu nehmen. Am Tag darauf wird einer der Gäste ermordet aufgefunden; die im Wasser treibende Leiche bittet offenbar eindringlich darum, dass der Mord an ihr bestraft wird.

Als sich die Lage zuspitzt, nimmt der Richter in dem luxuriösen, aber geheimnisvollen Wasserschloss am Tchou-An-See Quartier, in dem es in der Folgezeit zu weiteren merkwürdigen Todesfällen kommt. Im Zuge seiner Ermittlungen stellt der Richter fest, dass sich die Bewohner von Tchou-An höchst seltsam und beunruhigend verhalten und offenbar mit aller Kraft ein düsteres Geheimnis verbergen wollen, das über dem Schloss liegt und das mit der überlieferten Sage einer Seegöttin zusammenhängen muss.

Nur mühsam kommt Richter Di in seinen Ermittlungen voran. Die unerwartete Lösung dieses Kriminalfalls ist an Dramatik und Überraschungen nicht zu überbieten.

Der Autor

Frédéric Lenormand wurde am 5. September 1964 in Paris geboren.

Weil sein Großvater ein bekannter Sammler japanischer Kunstwerke ist, fühlte er sich bereits seit seiner Kindheit zur Kultur fernöstlicher Länder hingezogen. Nach einem Sprachenstipendium im Jahr 1982 setzte er seine Ausbildung am Institut für Politische Studien und später an der Sorbonne fort.

1988 erschienen seine ersten fünf Romane, von denen ihm gleich der erste (Le songe d‘Ursule – „Ursulas Traum“) den „Del Duca“-Preis für junge Romanschriftsteller einbrachte. In den 1990er Jahren wurden seine Werke mit weiteren Preisen ausgezeichnet, darunter war auch der François-Mauriac-Preis der „Académie française“.

Schwerpunkt seines literarischen Schaffens wurden historische Romane, darunter sind auch die beiden Serien Voltaire mène l‘enquête (Voltaire leitet die Ermittlung) und Les nouvelles enquêtes du juge Ti (Neue Ermittlungen des Richters Di).

Frédéric Lenormand

Das Wasserschloss am Tchou-An-See

Neue Ermittlungen des Richters Di

Episode 1

Roman

Aus dem Französischen übersetzt von Gerd Frank

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Weitere Informationen: www.kueblerverlag.de

Impressum

Deutsche Erstveröffentlichung

Copyright © 2016 Kuebler Verlag GmbH, Lampertheim.

Französischer Originaltitel:

Le Château du lac Tchou-an de Frédéric Lenormand

© LIBRAIRIE ARTHEME FAYARD, 2004.

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten. Keine unerlaubte Reproduktion, Vervielfältigung, Vermietung, Verleih, Einspeisung ins Internet, Aufführung oder Sendung.

Übertragung aus dem Französischen von Gerd Frank.

Herausgeber der Reihe: Gerd Frank

Lektorat: Anabelle Assaf – Rotkel Textwerkstatt

Bildmaterial © Andreeva Svetlana

ISBN Printausgabe 978-3-86346-033-4

ISBN Digitalbuch 978-3-86346-292-5

I

Während er den Fluss hinabfährt, wirft sich Richter Di seinen Leichtsinn vor; in einer Herberge hört er interessante regionale Sagen.

Im Angesicht des Flusses, der auf beiden Seiten seiner Dschunke immer mehr anschwoll, sagte sich Richter Di, dass er verrückt gewesen war, trotz der Warnungen der Schiffer an Bord zu gehen. Leider duldeten die kaiserlichen Befehle keinen Aufschub; daher hatte er den Gehorsam gegenüber seinem Kaiser über seine eigene Sicherheit und sogar die Vernunft oder die grundlegendsten Vorsichtsmaßnahmen gestellt.

Es war schwer genug gewesen, die Seeleute zu überreden, auszulaufen. Aber ein paar Silbermünzen, das Amtssiegel und die energische Überzeugungskraft seines Wachtmeisters hatten dieses kleine Wunder bewirkt, das sie in ihr Verderben führen würde: Sie fuhren – wie lange schon? – auf diesem immer schrecklicher werdenden Fluss, auf dem der Tod mit jedem Augenblick näherkam.

Während das Ende seiner Amtszeit in Hanyuan, das nicht weit von der Hauptstadt entfernt lag, herannahte, hatte Richter Di die Ankündigung seiner Versetzung nach Puyang erhalten, eine weitaus abgelegenere Stadt, deren Bezirksrichter gestorben war. Peking legte offenbar großen Wert auf seinen Amtsantritt, dessen Dringlichkeit mit Nachdruck betonte wurde: Die Bewohner Puyangs klagten bereits seit fünf Monaten darüber, dass der Posten des Bezirksrichters nicht besetzt, die Justiz nicht gewährleistet und die gesellschaftliche Ordnung gestört seien.

Zum Ruhme des Kaisers war es daher wichtig, dass dessen Diener Di Jen-dsiä sich schnellstmöglich dorthin begab. Vielleicht hatte Richter Di unrecht gehabt, als er das am Briefende stehende „schnellstmöglich“ wörtlich interpretiert hatte. Was würde es dem Sohn des Himmels denn nützen, wenn er ertrank? Wie sollte ein blau angelaufener Bezirksrichter, der zur Hälfte von Fischen gefressen worden war, seinen Auftrag erfüllen? Sein schlechtes Gewissen nagte an ihm, und er ärgerte sich über seine verhängnisvolle Bereitschaft, während er besorgt die Äste und Trümmer in der Wasserflut betrachtete, die ihn in kürzester Zeit verschlingen würde.

Seit fünf Tagen regnete es unaufhörlich. „Ich habe gut daran getan“, dachte Richter Di, „dass ich meine Ehefrauen in Hanyuan gelassen habe. Die schlammigen Wege hätten ihnen nur ein beschwerliches Vorwärtskommen erlaubt, selbst in den Sänften.“ Das Schlingern wurde stärker. Er klammerte sich an die Reling und sann darüber nach, dass ihn zumindest seine Nachkommen überleben würden, da er nicht den Fehler begangen hatte, Frauen und Kinder zu diesem selbstmörderischen Abenteuer mitzunehmen.

Für den Augenblick seine konfuzianische Schule vergessend, die ihn pragmatisches Denken gelehrt hatte, schickte er im Geiste besorgt ein Gebet an die Flussgottheit, in dem er sich für seine Überheblichkeit entschuldigte, die ihn veranlasst hatte, die derzeit entfesselten Naturkräfte so herauszufordern.

Große graue Wellen stiegen hoch und zerschellten am Rumpf des Schiffes, als versuchten die Hände von Riesen, es zu zerstören. Der Regen verdoppelte seine Heftigkeit. Wachtmeister Hong eilte mit Ölzeug in der Hand zu seinem Herrn.

„Herr Di, Sie sollten nicht so nahe am Rand stehen, da werden Sie ja völlig durchnässt! Ich bitte Sie, sich wieder unter das Schutzdach zu stellen.“

Hong Liang bedeckte den Kopf seines Herrn. Di ließ sich in die Richtung einer kleinen Kabine schieben, die sehr nützlich war, um sich an schönen Tagen vor der Sonne zu schützen, jedoch völlig ungeeignet, um die Passagiere zur Zeit des Monsuns vor Feuchtigkeit zu bewahren.

„Wenn wir wenigstens ein anständiges Schiff gefunden hätten“, fuhr Hong Liang fort, während er versuchte, das Feuer im Ofen erneut zu entfachen. „Diese Barkasse führt uns in den Tod!“

Die Konfrontation mit den wütenden Elementen schwächte das Gefühl für die guten Sitten etwas ab: Trotz der Hochachtung vor seinem verehrten Herrn, ließ die Furcht Hong eine Sprache verwenden, die er sich in normalen Zeiten niemals in dessen Gegenwart erlaubt hätte. Aber Richter Di war Tausende Meilen weit davon entfernt, ihm das übel zu nehmen.

Er war damit beschäftigt, seine Seele auf den Übertritt ins Jenseits vorzubereiten, in das sie – wie es schien – bald abberufen würden. Er befürchtete, dass sein Schuldgefühl die Suche nach dem Glück erschweren könnte, nach der jeder Mensch im Reich der Mitte strebte, um den ewigen Schlaf zu erlangen. Di war sich nicht sicher, ob er über genügend Zeit verfügte, um alle jene Manen um Vergebung zu bitten, die er in diese unüberlegte Fahrt verwickelt hatte.

Der Kapitän schob den Vorhang der Kabine beiseite, um zu verkünden, dass das Anschwellen der Fluten nicht mehr erlaube, die Fahrt fortzusetzen.

„Das haben wir schon bemerkt, stellen Sie sich vor!“, erwiderte Hong Liang, der sich fragte, ob der Magen seines Herrn sich nicht wohl bald über seine Schuhen entleeren würde.

Sie befanden sich in der Nähe einer kleinen Hafenstadt, als der Kapitän seinen hochgestellten Passagier respektvoll um die Erlaubnis bat, anlegen zu dürfen, wenngleich dies eine reine Höflichkeitsfloskel war. Richter Di nickte zustimmend, ohne das Risiko einzugehen, den Mund zu öffnen.

Beinahe eine halbe Wache[1] wurde für das heikle Anlegemanöver benötigt. Die Dschunke wurde unter großem Krachen nicht ohne Mühe am Pier festgezurrt, und der Kapitän kündigte an, dass er sich gezwungen sähe, für die Reparaturkosten einen Zuschuss zu verlangen. Der Richter versprach ihm alles, was er wollte, und beeilte sich, den Fuß auf festen Boden zu setzen, wovon er sich große Erleichterung erhoffte. Doch der Sturm machte dies zunichte, weil es dort beinahe genauso unangenehm war, wie schon der Aufenthalt inmitten der Wellen. Hong Liang und drei Seeleute nahmen das Gepäck, und die Gruppe beeilte sich unter dem peitschenden Regen in das Zentrum des kleinen Örtchens zu gelangen.

Ein Blick nach hinten zeigte dem Reisenden ein noch schrecklicheres Bild als jenes, das sich ihm bei der Ansicht der Dschunke geboten hatte. Im Fluss trieben jetzt ganze Baumstämme wie Geschosse, die sie zweifellos auf den Grund geschickt hätten, wenn sie noch länger an Bord geblieben wären.

„Die Götter sind mit uns“, schrie Di durch das Prasseln des Regens. „Ohne die segensreiche Existenz dieses Hafens wären wir jetzt dem Tod geweiht gewesen.“

„Daran ist kaum zu zweifeln“, antwortete Wachtmeister Hong. „Und wenn die Götter jetzt noch eine gute gastfreundliche und beheizte Herberge für uns auftreiben, will ich das voll und ganz glauben.“

Plötzlich standen sie unmittelbar vor einem Schild, das einen Silberreiher zeigte, das jedoch vom Wind wie irrsinnig hin und her gerüttelt wurde.

„Sie haben dich gehört!“, rief der Richter aus und drückte die Tür auf. Sie stellten jedoch fest, dass der vom Silberreiher angebotene Komfort nicht rechtfertigte, sich bei den Schutzgöttern groß zu bedanken: Es handelte sich um ein sehr einfaches Speiselokal, das nur von Fischern und Handelsreisenden frequentiert wurde. Der Geruch gebackenen Fisches drohte, die wenigen vor dem Sturm Geflüchteten, die sich um den Kamin versammelt hatten, zu ersticken. Dies war, wie dem auch sei, ein Ort der Wärme, wenn nicht des Friedens, an dem man sich trocknen und gleichzeitig hören konnte, wie das Balkenwerk krachte und die Dachziegel herunterfielen.

Der Herbergswirt eilte herbei, um die Neuankömmlinge zu begrüßen und ihnen seine Dienste anzubieten: eine Schale Suppe, kochend heißen Tee und ein Zimmer im Hinterhof.

„Im ersten Stock“, präzisierte Hong Liang, der Eindringlinge befürchtete.

„Alle unsere Zimmer sind oben, werter Reisender“, entgegnete der Wirt mit unterwürfigem Lächeln. „Wir mussten alle Appartements im Erdgeschoss wegen des Schlamms schließen. Gerade eben haben wir diesen Raum mithilfe von Sandsäcken vor der Feuchtigkeit bewahrt. Wenn der Regen nicht aufhört, müssen wir mit den Unannehmlichkeiten eines Hochwassers rechnen, was für uns genauso unerfreulich wäre wie für unsere werten Besucher.“

Der Richter seufzte und rieb sich die Hände, um sich zu wärmen. Das Wasser war auf dieser Reise eindeutig unheilvoll. Der Wirt hüstelte. Er witterte einen hochrangigen Gast, wagte aber nicht, ihm die Frage direkt zu stellen, die ihn quälte: „Darf ich die ehrenwerten Herrschaften fragen, ob unsere gute Stadt Tchouan-go das Ziel Ihrer Reise darstellt?“

Di dachte daran, dass seine Rangabzeichen zuunterst in seinen Truhen verwahrt waren. Nichts zwang ihn, sich als kaiserlicher Bezirksrichter zu erkennen zu geben, und der erbärmliche Zustand, in dem er sich befand, wies ihn auch nicht als solchen aus. Es war wohl besser, sein Inkognito zu wahren, das ihm mehr oder weniger unverbindliche Kommentare ersparte über die Notwendigkeit, Deiche anzulegen, die Gleichgültigkeit der Regierung oder über die schwierige Situation von Beamten auf Dienstreise.

Am meisten sehnte er sich bei all seinem Unglück nach der Ruhe.

„Ich bin Archivar vierten Ranges, versetzt an das Gericht von Puyang, wohin ich mich derzeit begebe. Dieser Mann hier ist mein Gehilfe.“

„Ich hoffe, dass Ihre Zimmer ordentlich sind und dort keine Ratten Zuflucht gefunden haben“, fügte „Gehilfe“ Hong Liang hinzu.

„Falls es welche geben sollte, werden wir sie verjagen“, antwortete der Wirt mit verkniffener Miene. Dann kehrte er ihnen den Rücken zu, um die Suppen und den kochend heißen Tee zu bestellen.

Kurz danach, als sie ihre Zimmer bezogen, bemerkten sie hinten im Hof einen großen Planwagen, aus dem Stangen, Lampions und Dekorationsgegenstände ausgeladen wurden.

„Wir haben momentan ein Ensemble von Schauspielern hier, die uns gebeten haben, ihr Material eine Zeit lang aufzubewahren“, gab ihnen der Wirt nicht ohne Anspielungen zu verstehen. Er schien damit sagen zu wollen, dass die Schauspieler offenbar ihre Rechnung aufgrund des anhaltenden Regens nicht hatten begleichen können, denn die Aufführungen fanden im Allgemeinen unter freiem Himmel statt. Zweifellos hatte der gute Mann Kulissen und Material in der Erwartung einbehalten, dass sich die Truppe in dem einen oder anderen Tempel der Stadt die Erlaubnis zur Aufführung eines sakralen Mysterienspiels besorgte, um ihn dann vom Erlös angemessen zu bezahlen.

In solchen Momenten beglückwünschte sich Richter Di, in der Verwaltung eine Stelle zu bekleiden, die ihm zumindest in schwierigen Zeiten Sicherheit bot, wenn er schon mitunter – wie jetzt die Schauspieler – gezwungen war, eine Dienstreise unter unerfreulichen Umständen zu unternehmen.

„Ich hoffe, dass der Lärm ihrer Proben meinen Meister nicht stören wird“, äußerte Hong Liang besorgt.

„Da können die Herrschaften beruhigt sein“, entgegnete der Wirt. „Diese talentierten Künstler sind zurzeit einzig damit beschäftigt, die Bedingungen ihres nächsten Auftritts vor einem ausgewählten Publikum zu verhandeln.“

Im Klartext hieß das, dass sie im Begriff waren, bei buchstäblich allen Einrichtungen der Stadt um die Gunst zu bitten, bei der nächstbesten Gelegenheit, die sich bot, auftreten zu dürfen. Bei diesem alles durchdringenden Regen dürfte dies allerdings ein schwieriges Unterfangen sein. Richter Di fühlte sich unverzüglich weit weniger unglücklich.

Der Wirt zeigte ihnen nun das, was er sein „schönstes Zimmer“ nannte, die „Hochzeitssuite“. Die bestand aus zwei kärglich möblierten Zimmern, die den Geschmack des Herrn Archivar vierten Ranges sicherlich treffen sollten. Hong Liang legte nur ihre notwendigsten Habseligkeiten ab, während Richter Di argwöhnisch den Zustand der Bettwäsche beäugte. Er hatte wohl weiterhin für seinen Leichtsinn zu büßen.

Nachdem sie sich von dem üblen Eindruck etwas erholt hatten, beschlossen sie, sich zum allgemeinen Abendessen hinunterzubegeben, um sich durch Unterhaltung etwas zu zerstreuen. Ihre Tischgenossen gehörten nicht zu dem ausgewählten Publikum, vor dem die Schauspieler aufzutreten hofften. Es gab zwei oder drei Kaufleute, die daran gewöhnt waren, Widrigkeiten geduldig zu ertragen, und wohl ebenso viele Fischer von durchschnittlichem Format, die weniger bereit waren, sich in ihr Schicksal zu ergeben, und deshalb ihren Unmut gegenüber den Launen des Himmels viel offener zum Ausdruck brachten.

„Wenn es nur der Regen wäre!“, sagte einer. „Aber mit diesem Wasseranstieg ist auch die Fieberepidemie zu uns gekommen, die uns alle wegraffen wird, wenn das nicht schon die Flut erledigt! Die Götter haben unsere Gegend vergessen.“

„Genau, im Drei-Quellen-Dorf wurden schon zehn Personen beerdigt, etwa fünf Meilen von hier entfernt. Wenn das so weitergeht …“

Richter Di bekam einen Hustenanfall, und man warf ein paar schräge Blicke auf ihn. Hong Liang beeilte sich, ihm eine Tasse Tee einzuschenken.

„Was wollt ihr?“, sagte einer von ihnen. „Wir sitzen doch alle im gleichen Boot! Wir müssen einfach auf die Vorsehung vertrauen.“

Ein anderer zuckte mit den Schultern: „Im gleichen Boot? Das ist ja zum Lachen! Die Geldsäcke kommen doch immer davon. Nehmt doch mal nur die Familie Tchou, bei Weitem die wohlhabendste der ganzen Gegend. Seit dem Bekanntwerden der Epidemie haben die sich in ihre Sommerresidenz außerhalb der Stadt hinter die Mauern ihrer Burg zurückgezogen. Die Krankheit müsste schon sehr tückisch sein, wenn sie es schafft, auch sie heimzusuchen. Die werden immer noch ihren frischen Teint und die fetten Bäuche haben, wenn wir schon alle längst tot sind! Diese Epidemien sind nicht für die Reichen da, sie meiden die Paläste sorgfältig.“

Richter Di spitzte die Ohren: Gab es hier im Seengebiet also doch einen angenehmen Ort, um das Ende des Hochwassers abzuwarten, falls dieses noch länger andauern sollte?

„Wohnen denn diese Tchou so komfortabel?“, fragte er, betont gleichgültig.

„Oh, ja!“, antwortete sein Gesprächspartner. „Sie haben ein prachtvolles Schloss, das mitten auf einem idyllischen Landgut liegt und von einer langen Mauer umgeben ist und wie eine Festung bewacht wird. Der Park ist so groß, dass er den ganzen See einschließt, auf dem das Gebäude erbaut worden ist.“

„Dann ist das also ein Wasserschloss?“, staunte Richter Di. „In einem solchen Fall besteht doch das Risiko, dass es als Erste überschwemmt wird!“

Die Fischer brachen einstimmig in Gelächter aus. „Man sieht, dass Sie diese Gegend nicht kennen“, entgegnete einer von ihnen. „Das Wasserschloss von Tchou-An wird niemals überschwemmt. Es wird von einer Gottheit beschützt, die hier wohnt. Die Herrin des Sees hat seit Langem mit ihren Gästen, die sie glühend verehren, eine Vereinbarung. Das Land kann unter Katastrophen zusammenbrechen, aber dieses Gebiet bleibt – was immer auch passiert – eine Zufluchtsstätte der Ruhe und Harmonie, die durch nichts gestört wird. Das ist gesegneter Boden. In Zeiten wie diesen würde jeder Bewohner von Tchouan-go regelrecht darum kämpfen, dort zu leben, und sei es als Sklave.“

„Es ist etwa zehn Jahre her“, fügte ein anderer hinzu, „dass Söldner diese Gegend verwüstet haben, doch das Landgut ist verschont geblieben. Und man erzählt, dass vor fünfzig Jahren, während eines schrecklichen Erdbebens, nur das Schloss vom Tchou-An-See verschont blieb, es hat nicht den geringsten Schaden erlitten. Das ist der Ort, an dem man sein will, wenn vor der Nase ein Unglück passiert. Die Tchous hatten auch noch nie Probleme, wenn es darum ging, ihre Kinder zu verheiraten, und das liegt nicht nur an ihrem immensen Vermögen.“

„Woher haben sie denn all das Geld?“, fragte Richter Di, der immer interessierter wurde. „Sind sie denn ranghohe kaiserliche Beamte oder Kriegsherren?“

Einer der Händler lachte höhnisch: „Leute wie die haben so etwas nicht nötig, damit sie zu Geld kommen. Ihnen gehört heutzutage die Hälfte dieser Gegend. Ihre Besitztümer hören nicht an den Mauern ihres Parks auf, sie erstrecken sich auf alle Täler, die man vom Yi Peng-Berg aus sehen kann. Das sind Leute, die es nicht nötig haben, sich abzuhetzen, um sich ihr tägliches Brot zu verdienen!“

„Oder aber bei jedem x-beliebigen Wetter mit dem Boot auszulaufen!“, schimpfte einer der Fischer.

„Obwohl einem Gerücht zufolge der Ursprung ihrer Familie gar nicht so glänzend gewesen sein soll, wie es einen all ihr Prunk glauben lassen könnte. Man erzählt, dass sie von einem einfachen Fischer abstammen, dem ärmsten unserer Stadt. Er soll von einem Tag auf den anderen reich geworden sein, in einer Geschwindigkeit übrigens, die alle redlichen Mittel ausschließt.“

„Keineswegs!“, fiel ihm ein anderer ins Wort. „Kennst du nicht ihre Geschichte? Der Fischer hat eines Tages, als er seine Netze in den Tchou-An-See geworfen hat, in seinen Maschen die Herrin des Sees gefangen, eine wunderschöne Frau, wenn man mal davon absieht, dass sie dort einen Fischschwanz hat, wo andere ihre Beine haben. Die Gottheit flehte Tchou an, sie wieder in ihren geliebten Sumpf zurückzuwerfen und sie in Frieden zu lassen. Tchou war gerührt wegen ihren Tränen, zumal es sich dabei um graue Perlen handelte, die man nur ganz selten findet. Er übergab sie also wieder den Wellen und sie bot ihm und den Seinen zum Dank dafür ihren Schutz an – und zwar so lange, wie sie dort leben würden. Mit dem Geld für die Perlen konnte der Fischer das ganze Gebiet kaufen. Er ließ ein prunkvolles Gebäude errichten und eine prächtig verzierte Pagode bauen. Von Generation zu Generation erwiesen seine Nachfahren der Gottheit, der sie all ihren Wohlstand verdanken, gleichfalls ihre Verehrung. Deshalb verbieten sie auch jedem ausdrücklich, in diesem Gewässer zu fischen, sehr zum Nachteil von uns rechtschaffenen Leuten.“

Seine Kameraden seufzten und betäubten gleichzeitig ihren Kummer mit Reiswein.

Richter Di dachte lächelnd, dass dies den Reiz der ländlichen Umgebung ausmachte: Diese Art von Sagen zirkulierte nahezu über alle alteingesessenen Familien in kleineren Städtchen. Sobald sie es geschafft hatten, ein gewisses Kapital anzusammeln, unterstellte man den örtlichen Herren, Beziehungen zu den Naturgöttern, wenn nicht sogar zu den Dämonen, zu unterhalten.

Die Bauern liebten es, auf diese Weise zu erklären, weshalb sie in Armut oder Elend verblieben waren: Sie hätten nämlich nicht das Glück gehabt, einer Fee zu begegnen, und auch keinen Pakt mit einer Zauberin schließen können, weshalb sie den üppigen Wohlstand ihrer Nachbarn mehr oder weniger wohlgesinnt beäugten. In Wirklichkeit durfte der See vermutlich von den Plagen der Natur aufgrund seiner geografischen Lage verschont geblieben sein, was auch als Erklärung dafür genügte, dass die reichste Familie der Gegend ihn als Wohnsitz auserwählt hatte. Keinerlei Notwendigkeit, den Himmel, den Fluss oder das Hirngespinst mit dem Fischschwanz anzurufen.

„Jede Medaille hat auch eine Kehrseite“, meinte nun einer der Fischer. „Sie vergessen den Schluss dieser Sage. Man sagt nämlich, dass an dem Tag, an dem die Abmachung zwischen den Tchous und der Gottheit gebrochen wird, wird sie ihre Gefälligkeiten zurücknehmen und ihrem Wohlstand ein Ende bereiten.“

„Nun auch noch himmlische Rache!“, dachte Richter Di mit Bestürzung. Es fiel ihm immer schwer, sich einzugestehen, dass der Konfuzianismus, den die Akademiker verehrten, kaum die administrativen Grenzen zu überschreiten und in die Kreise der weniger Gebildeten einzudringen vermochte. Die kleinen Leute beharrten darauf, in ihrer beklagenswerten Unaufgeklärtheit stecken zu bleiben, indem sie fröhlich lokale Sitten, überspannte Fantasien und verrückte Prophezeiungen miteinander vermengten, die auf der fälschlichen Auslegung universeller Wahrheiten beruhten. Es war absolut nicht notwendig, zehn Jahre lang klassische Studien betrieben zu haben, um erkennen zu können, dass die Welt von unabänderlichen, zeitlosen Kräften regiert wurde und eben nicht von Halbfischen, auf der Suche nach Zuneigung und Bücklingen.

„Wann werden sie endlich begreifen, dass Erfolg lediglich auf Tugenden und Arbeit begründet ist?“, fragte sich der Richter, der seinerseits von einer Familie abstammte, in der der Vater Präfekt und der Großvater Minister gewesen waren.

Wachtmeister Hong, der seinen Meister bereits seit dessen Kindheit kannte, hatte das diskrete Interesse bemerkt, das dieser dem Thema entgegenbrachte.

„Demnach werden diese Tchou wohl hochgeschätzt im Lande?“, fragte er, um das Gespräch wieder auf diesen Punkt zu lenken.

„Oh“, sagte der Porzellanhändler, „wenn sie es nur halb so sehr wären wie sie von Hochmut erfüllt sind, würde man ihnen Statuen errichten. Die Familie vom See bildet sich nämlich auf ihren Reichtum und ihre Stellung sehr viel ein – trotz der Gerüchte, die über ihre Abstammung im Umlauf sind. Sie sind die ersten, die diese Geschichten von der Allianz mit der Fischgöttin verbreiten, die ihnen angeblich diese riesigen Reichtümer eingebracht hat. Übrigens weiß heutzutage kein Mensch mehr, ob sie den Namen des Sees angenommen haben oder ob es umgekehrt war.“

„Sie machen aber wenigstens regelmäßige Schenkungen an die Religionsgemeinschaften, wie ich vermute?“

„Zweifellos erfüllen sie ihre Verpflichtungen“, sagte ein Fischer. „Aber mit uns verkehren sie kaum, mit uns, den kleinen Leuten. Sie bevorzugen die Ufer ihres Lotusteiches und die erlesene Atmosphäre ihres goldenen Palastes. Das halbe Jahr über sieht man sie nicht in der Stadt. Sei verschanzen sich immer noch beim ersten Anzeichen von Gefahr hinter ihren Mauern. Es reicht schon viel weniger als eine Epidemie, damit sie monatelang ganz verschwinden!“

Richter Di fand, dass er nun genügend Klatsch gehört hatte. Er stand auf, um sich zurückzuziehen.

„Ich bin müde“, sagte er. „Morgen erwartet mich ein langer Weg, um nach Puyang zu kommen. Mein Gehilfe und ich müssen uns unbedingt erholen.“

Die Stammgäste der Herberge nickten verständnisvoll. „Es ist eine gute Idee, die Kräfte zu schonen“, entgegnete ein Seidenstoffhändler. „Was Ihr Vorhaben von morgen betrifft, so können Sie damit aber kaum rechnen! Der Fluss wird sich noch mehrere Tage lang nicht beruhigen, und die Wege sind daher unpassierbar. Ich fürchte, dass der Bezirksrichter von Puyang auf seinen Archivar im vierten Rang noch ein wenig verzichten muss, und wünsche ihm, dass er sich bei diesem Ungemach in Geduld fasst.“

„Das wünsche ich ihm auch“, dachte Richter Di und verbeugte sich, bevor er den Raum verließ; Hong Liang folgte ihm auf den Fersen.

„Herr!“, sagte Letzterer, als sie allein waren. „Schenken Eure Exzellenz der Rede dieser Menschen Glauben? Denken Sie, dass wir dazu verurteilt sind, mehrere Tage in dieser widerlichen Spelunke zu bleiben?“

Richter Di verharrte einen Moment lang in Schweigen, dann entgegnete er gelassen: „Ich glaube nichts von alldem, Hong Liang. Die Vorsehung kümmert sich immer um die Sicherheit des Weisen und Rechtschaffenen. Übrigens sieht es so aus, als ließe dieser Regen ein wenig nach.“

Der Wachtmeister bewunderte diese Ruhe des Geistes, die lediglich durch lange literarische Studien erlangt werden kann. Er beeilte sich, Gefäße unter den lecken Stellen des Dachs aufzustellen, während sich sein Herr, der bereits zur Hälfte entkleidet war, schwor, keine weitere Nacht auf der verschimmelten Matte dieses armseligen Brautlagers zu verbringen.

***

[1] entspricht der Zeit von zwei Stunden