Bernd Schirmer
Auszeit in Neapel
Eine Liebesgeschichte
FISCHER Digital
Bernd Schirmer, freier Autor, 1940 in Leipzig geboren, aufgewachsen in Scheibenberg im Erzgebirge, studierte Germanistik und Anglistik in Leipzig. Von 1965 bis 1968 war er Hörspieldramaturg in Berlin, von 1969 bis 1972 Deutschdozent an der Universität Algier und 1973 bis 1991 Dramaturg beim Deutschen Fernsehfunk in Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen: Erzählungen, Romane, Reisebeschreibungen, Drehbücher, Hörspiele und Übersetzungen.
Eine deutsche Reisegruppe auf Bildungstour in und um Neapel: Bildungsbeflissene nervende Paare, in der Mehrzahl Wessis, wie es komischer kaum geht. Nur die beiden nicht mehr ganz jungen Einzelreisenden Eva Stadler und Fred Schwichtenberg, beide aus unterschiedlichen Hemisphären stammend (aber aus welchen?), fallen aus dem Klischee und erleben unter italienischem Himmel die Liebe. Dabei geht es nicht ohne Lügen, Verwechslungen, Rätsel, Offenbarungen und natürlich Sinnlichkeit.
Bernd Schirmers Roman steckt voller Überraschungen, Humor und Weisheit.
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign, München
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-561342-9
Es verschlägt einem den Atem, sagte jemand, und der hagere Mann neben ihm zuckte zusammen. Schließlich rief ein anderer mit volltönender Stimme: Neapel sehen und sterben. Das war unvermeidlich, das mußte einer von sich geben. Der hagere Mann zog erschrocken den Kopf ein und sah zu der Reiseleiterin hinüber, die das Gesicht leicht beschämt verzog, als wäre es wohl eher ihr zugekommen, diesen Satz auszusprechen. Pflichtschuldig deutete sie auf einzelne Gebäude, die im Gewirr der Häuser und Gassen aufragten, nannte die Namen von Kirchen, zeigte auf das Dach der Galleria Umberto I und auf das Castel Nuovo. Die meisten nickten bei jeder ihrer Erklärungen. Dann fotografierten sie. Erst den Vesuv allein, herangezoomt. Dann der Gatte die Gattin vor dem Vesuv, dann die Gattin den Gatten vor dem Vesuv. Schließlich ließen sich die Ehepaare gemeinsam von anderen fotografieren, mit dem Vesuv im Hintergrund. Lauter Ehepaare, von ihm, dem Hageren, und einer Frau in einem hellblauen Hosenanzug abgesehen, die wohl gleichfalls allein reiste. Nach den Fotoapparaten waren die Handys an der Reihe. Hörst du mich, rat mal, wo ich bin, kannst du mich hören, direkt vor dem Vesuv, Neapel ist einfach überwältigend, ist Post gekommen, hier sind über dreißig Grad, das Hotelzimmer ist soweit ganz passabel, haltet die Ohren steif. Der hagere Mann mit dem kurz geschnittenen, grauen Haar trat ein Stück zur Seite und war versucht, ebenfalls zu telefonieren. Er hatte das Handy schon gezückt, aber er steckte es wieder ein. Dann sah er noch einmal über die gewaltige Stadt, die sich streckte bis zum Vesuv hinüber. Es war ein wolkenloser, heißer Nachmittag. Er lächelte versonnen. Er konnte sich nicht sattsehen.
Man kann sich nicht sattsehen, hörte er hinter sich. Er drehte sich um. Es war der hellblaue Hosenanzug.
Sie sagen es, sagte er, leicht gereizt.
Können Sie mich mal?
Bitte?
Sie lächelte und hielt ihm ihre Kamera entgegen, nachdem sie alles eingestellt hatte. Es war noch ein richtiger Fotoapparat, nicht digital, aber mit Zoom.
Mit Vesuv?
Mit.
Wollen Sie Ihre Sonnenbrille nicht abnehmen?
Nein, sagte sie und stellte sich an der Balustrade in Pose und rückte ihren Strohhut zurecht, links vom Berg. Erst fotografierte er sie mit Strohhut, dann ohne, und sie meinte, das könne man sich nicht entgehen lassen, das müsse man einfach festhalten, denn so schnell komme man nicht wieder hierher und vielleicht nie wieder. Und von der Certosa di San Martino habe man den schönsten Ausblick.
Soll ich Sie auch?
Er schüttelte den Kopf. Er hatte seine Kamera im Hotel vergessen. Sie bot ihm an, ihn mit ihrem Fotoapparat aufzunehmen, aber er lehnte dankend ab. Die Reiseleiterin trat heran und teilte ihnen mit, daß sie ihnen noch zwanzig Minuten Freizeit lasse, um die Aussicht zu genießen, dann werde die Gruppe mit der Standseilbahn, der Funicolare, wieder hinabfahren, aber natürlich könne jeder auch noch länger hier oben bleiben und dann auf eigene Faust ins Hotel zurückkehren, jedenfalls werde man sich pünktlich um neunzehn Uhr in der Hotellobby treffen zu einem kleinen Begrüßungstrunk.
Als die beiden Frauen zu den anderen zurückgingen, blieb er an der Balustrade zurück. Er zog seinen Reiseführer aus der Tasche und vertiefte sich in den Stadtplan, fand Certosa di San Martino, wo er jetzt stand, entdeckte die Galleria Umberto I und das Castel Nuovo. Er hatte sich gründlich auf diese Reise vorbereitet, nun sah er alles mit eigenen Augen. Langsam schlenderte er über die Terrasse und hielt Ausschau in die verschiedenen Himmelsrichtungen, zu Neapels Hausbergen Vomero und Posillipo. Die zwanzig Minuten waren rasch verstrichen. Als man nach ihm rief, winkte er gelassen ab. Er konnte noch nicht weg von hier. Er mußte noch einmal den Blick über das Panorama schweifen lassen. Lange hatte er von dieser Reise und von dieser Stadt geträumt, und nun war er endlich angekommen.
Die Funicolare nahm er nicht, er stieg die unebenen, schadhaften Steintreppen hinab und zwängte sich durch das Gedränge in den engen Gassen. Die Luft war stickig. Laden an Laden, einer winziger als der andere, auf den Auslagetischen türmten sich Tomaten, Orangen, Melonen. Wild gestikulierende Händler wollten ihm Andenken aufschwatzen, bettelnde Kinder krallten sich an seinen Hosenbeinen fest. Laute Musik aus allen Fenstern, an deren Simsen Ketten von Peperoni und Zwiebeln hingen. Gerüche von Zitronen, Katzenpisse, gerösteten Kastanien, Fisch, hundert Gerüche. Ein Wirrwarr von baufälligem Gemäuer, Farben, Marktweibergekeife, Harmonikagetön, Geknatter von Mopeds, die von den Stufen einer Seitengasse herabgerutscht kamen und sich hupend den Weg durch die wogende Menge bahnten. So hatte er es sich vorgestellt, und so war es. Als er unvermutet auf der Piazza del Plebiscito herauskam, atmete er erleichtert auf. Vom Meer wehte eine leichte Brise. Er warf einen Blick auf die Statuen der neapolitanischen Dynastien vor dem Palazzo Reale und geriet schließlich in die Galleria Umberto I., deren ornamentierte Glas-Eisen-Kuppel und deren Bodenbelag aus vielfarbigem Marmor ihn faszinierten. Er hatte noch Zeit, er wollte am liebsten alles auf einmal sehen, doch da ihm vom Abstieg die Beine wehtaten, begab er sich in das Caffé Gambrinus, wo schon Oscar Wilde und Guy de Maupassant verkehrt hatten. An einem der Marmortischchen im üppig verspiegelten und vergoldeten Salon trank er einen Espresso. Als er gezahlt hatte und auf seine Armbanduhr sehen wollte, erschrak er, denn sie war verschwunden. Also doch, wahrscheinlich im Gedränge der Gassen, er hätte es ahnen können. Aber er wollte sich hier von nichts verdrießen lassen. Wertvoll war die Uhr ohnehin nicht, eine alte, zerkratzte Rolex, seine Alltagsuhr. Bald wich sein Unmut einem flüchtigen Lächeln. Er konnte hier sehr gut ohne Uhr auskommen, was mußte er hier die Zeit wissen, es war ohnehin eine Auszeit.
Im Hotel traf er prompt zu spät ein, die anderen warteten schon mit teils spöttischen, teils vorwurfsvollen Mienen. Die Reiseleiterin verhehlte ihre Freude nicht, daß er überhaupt noch erschienen war, und zählte noch einmal die Gruppe durch. Dreiundzwanzig, also komplett. Man wurde in die Bar gebeten und nahm in den roten Plüschsesseln Platz. Offiziell wurden sie von der Reiseleiterin begrüßt, auch im Namen des Reiseunternehmens Bella Italia, das sich glücklich schätze, daß sie mit ihm, dem Reiseunternehmen Bella Italia, reisten, ebenso glücklich wie sie selber. Sie versprach, alles in ihren Kräften Stehende zu tun, ihnen allen eine erfolgreiche, eindrucksvolle, erlebnisreiche und dennoch schöne und erholsame Reise zu bieten, wobei sie ausdrücklich darauf hinwies, daß der Schwerpunkt auf Bildung liege, weniger auf Erholung, und wer die Seele baumeln lassen wolle, könne dies ja, falls gebucht, während der Badeverlängerung tun. Während von zwei Serviererinnen Prosecco in die Gläser geschenkt wurde, gab sie Erläuterungen über die Frühstückszeiten und Busabfahrten und schärfte der Reisegruppe ein, daß Neapel nicht nur ein Paradies an Sehenswürdigkeiten, sondern gleichermaßen ein Paradies der Drogendealer und Taschendiebe sei. Vor allem die alleinreisenden Herrschaften mögen dies beherzigen und in den Abendstunden die heißen Pflaster wie das Spanische Viertel meiden. Hier hätte der hagere Mann erste eigene Erfahrungen beisteuern können, aber er unterließ es. Die Reiseleiterin erhob das Glas und wünschte allen noch einmal eine erfolgreiche, eindrucksvolle, erlebnisreiche, schöne, erholsame Reise. Sie prostete ihnen zu, und die anderen prosteten einander zu, und einige der Ehepaare stießen, auch wenn es sich mit Proseccogläsern nicht schickt, miteinander an. Er hatte, nachdem er einen Schluck getrunken hatte, das Glas noch in der Hand und blickte zu dem hellblauen Hosenanzug hinüber. Über das Gesicht der Frau, die am anderen Ende saß, huschte ein winziges Lächeln, und, wenige Zentimeter nur, hob sie ihr Glas in seine Richtung. Er tat desgleichen, in ihre Richtung. Dann tranken sie. Sie trank ihr Glas in einem Zug aus. Er war verwirrt und ließ seine Blicke über die Gesichter der anderen schweifen, die durcheinanderredeten.
Und jetzt, denke ich, ließ sich die Reiseleiterin vernehmen, ist es an der Zeit, daß wir uns miteinander bekannt machen, ich heiße Gabriela Spirandelli und habe Kunstgeschichte und Germanistik studiert und schleuse seit fünfzehn Jahren für das Reiseunternehmen Bella Italia deutsche Touristen durch bella Italia. Verheiratet, keine Kinder, ihr Mann sei ebenfalls Reiseleiter bei Bella Italia.
Die nächste, die sich vorstellte, war die dritte Alleinreisende. Sie war siebenundachtzig Jahre alt, kam aus Augsburg und hieß Hallhuber, und seit dem Tod ihres Mannes vor sieben Jahren sei neben ihrem Gemüsegarten das Reisen ihr eigentlicher Lebensinhalt, sie sei mit der Reisegesellschaft Bella Italia schon mehrmals unterwegs gewesen, in Thailand, in Marokko, in Ägypten, und immer voll zufrieden, aber nun wolle sie endlich auch noch den Vesuv besteigen. Gabriela Spirandelli strahlte.
Die anderen erzählten weniger ausführlich. Die meisten Paare gaben lediglich ihre Namen und ihre Herkunftsorte an, Limburg an der Lahn, Köln, Kappeln, Rottweil, sie kamen aus den verschiedensten Ecken Deutschlands. Von Berufen und Arbeitsstellen war kaum die Rede. Ein gesetzter Herr stellte sich als Arzt vor, er heiße Dr. Winkler, und wenn mal was anliege, er stehe immer zu Diensten, denn ein Arzt sei immer im Dienst. Zwei waren Professoren und versäumten nicht, den Titel vor ihren Namen zu nennen, sie waren im Ruhestand. Im Ruhestand waren die meisten. Nicht so der aufgeweckte Lausitzer, der einen Gebrauchtwagenhandel betrieb, und wenn jemand von Ihnen mal einen neuen Gebrauchtwagen braucht, rief er aufgekratzt, dann kommen Sie zu Theo Rautenkranz, der hat alles, denn der kann’s. Ein gebrauchtes Auto schien in dieser Runde niemand zu benötigen, man sah den meisten an, daß sie in auskömmlichen Verhältnissen lebten, gehobener Mittelstand. Auch waren sie samt und sonders viel und weit gereist, vorzugsweise mit dem Reiseunternehmen Bella Italia, das nicht eben billig war. Ganz im Unterschied zu dem hageren Mann, der noch nie mit diesem Unternehmen unterwegs war. Er blickte etwas melancholisch drein, er war überhaupt noch nicht viel gereist, zumindest nicht in den letzten Jahren. Nun war er an der Reihe.
Mein Name ist Schwichtenberg, sagte er, Fred Schwichtenberg, ich komme aus Berlin.
Man merkte auf.
Ost oder West, fragte der gewitzte Lausitzer.
Süd, sagte Schwichtenberg.
Man lachte.
Ich bin im Vorruhestand, sagte er noch. Mehr wollte er nicht von sich preisgeben. Er setzte sich wieder. Aber dann stand er noch einmal auf.
Ich fahre einen alten Opel Vectra.
Man lachte wieder. Es schien, als habe er dem pfiffigen Lausitzer, der sich als der Witzbold der Gruppe aufspielte, die Show gestohlen. Doch der ließ das nicht auf sich beruhen und meinte, so schlecht wie die Opels immer gemacht würden, seien die Opels gar nicht. Da lachte schon niemand mehr. Als letzte erhob sich die Frau mit dem hellblauen Hosenanzug aus dem roten Plüsch. Sie war jünger als die anderen und wirkte unbefangen und irgendwie kokett. Auch hier in diesem abgedunkelten Raum trug sie ihre Sonnenbrille. Schwichtenberg ertappte sich dabei, daß er ihr Alter schätzte. Sie mochte zehn, zwölf Jahre jünger sein als er.
Ich bin Eva Stadler, sagte sie, und komme aus der Lüneburger Heide, ich bin noch nicht im Ruhestand und auch nicht im Vorruhestand.
Sondern eher noch im Unruhestand, warf der Lausitzer ein. Es lachte wieder niemand, aber die Frau des Lausitzers warf ihrem Mann einen gereizten Blick zu. Die Serviererinnen schenkten Prosecco nach, und die benachbart saßen, plauderten miteinander und tauschten erste Eindrücke aus, über das Wetter, über die Ausstattung der Hotelzimmer, die zu ihrer Bestürzung nicht über Safes verfügten. Schwichtenberg beteiligte sich nicht an diesen Gesprächen, er saß wie versunken. Als er aufsah, bemerkte er, daß die Lüneburgerin die Sonnenbrille abgesetzt hatte und unverwandt zu ihm herübersah. Er erwiderte ihren Blick nicht, er tastete die Gesichter der anderen ab. Er verspürte nicht die geringste Lust, jemanden näher kennenzulernen. Denn deshalb war er schließlich nicht hierhergekommen. Da bis zum Abendessen noch etwas Zeit blieb, ging Schwichtenberg in sein Zimmer, um sich frisch zu machen. Er begann, seinen Koffer auszupacken. Lange überlegte er, auf welcher Seite des Doppelbetts er schlafen wollte und legte schließlich seinen Pyjama auf der Fensterseite ab. Er zog sein Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer, es war besetzt. Ehe er nach unten fuhr, verschwand er noch einmal ins Bad und betrachtete sich im Spiegel. Er fand sein Gesicht alt und faltenzerknittert. Aber er kämmte sich sorgfältig. Er kam sich lächerlich vor.
Prompt erschien er als einer der letzten im Speisesaal und hielt Ausschau. Für die Gruppe waren vier Sechsertische reserviert. An einem Tisch saßen zwei Ehepaare sowie die Reiseleiterin und die alte Frau Hallhuber, die sich angeregt unterhielten. Die beiden Professorenpaare hatten sich an einem anderen Tisch niedergelassen, sowie die Frau mit dem hellblauen Hosenanzug, die ihm den Rücken zukehrte. Der Platz neben ihr war frei, doch er scheute sich, zu diesem Tisch zu gehen. Stattdessen sah er sich weiter um. Am dritten Tisch, an dem zwei Ehepaare saßen, waren noch zwei Stühle unbesetzt, der Arzt, der ihn unschlüssig stehen sah, winkte ihm zu. Zögernd trat Schwichtenberg heran und verbeugte sich leicht.
Wenn es gestattet ist?
Aber selbstverständlich, rief der Arzt, aber bitteschön. Auch die anderen drei lächelten ihm aufmunternd zu. Als er sich zu ihnen gesetzt hatte, wurde geschwiegen, so daß er befürchtete, er habe ein Gespräch unterbrochen. Unsicher sah er sich im Saal um, der in hellem Glanz erstrahlte, Kronleuchter über Kronleuchter. An den Wänden großflächige Gemälde von neapolitanischen Kirchen und Plätzen. Es wimmelte von befrackten Kellnern und Serviererinnen mit weißen Häubchen, die zwischen den Tischen umherwieselten.
Es wimmelt ja hier nur so von Kellnern, meinte der Arzt, sie könnten uns endlich die Karten bringen.
Sei doch nicht so ungeduldig, ermahnte ihn seine Frau, wir haben Urlaub.
Eben, wurde ihr erwidert, wir haben schließlich seit dem armseligen Imbiß im Flugzeug nichts zu uns genommen. Finden Sie nicht auch, daß man im Flugzeug immer dürftiger verköstigt wird?
Schwichtenberg nickte stumm. Das Geschwätz war ihm unerträglich. Doch der Arzt ließ nicht ab von ihm.
Übrigens, sagte er, da Sie sich verspätet haben –
Aber Herr Schlichtenburg hat sich doch gar nicht verspätet, warf seine Frau ein.
Schwichtenberg, sagte Schwichtenberg, mein Name ist Schwichtenberg.
Entschuldigung, ich wollte nur sagen, daß Sie sich durchaus nicht verspätet haben, wir haben ja noch nicht mal die Speisekarten.
Eben, sagte der Arzt, und ich wollte Herrn Schwichtenberg nur darauf hinweisen, daß uns die Reiseleiterin informiert hat, daß die Getränke nicht inbegriffen sind, man kann sie entweder an Ort und Stelle bezahlen, oder man gibt seine Zimmernummer an und bezahlt sie beim Auschecken. Früher war bei solchen Reisen zumindest pro Person eine halbe Flasche Wein inklusive.
Nun war es das andere Ehepaar, das Lehrerehepaar Leidenfrost, das heftig nickte. Es werde eben heutzutage an allen Ecken und Enden gespart, meinte Herr Leidenfrost und kratzte sich am Hinterkopf. Das nun konnte Dr. Winkler nur bestätigen, und zwar ausdrücklich. Er fragte seinen Nachbarn, ob er das auch so sehe.
Gewiß, sagte Schwichtenberg, gewiß doch, Herr Dr. Winkelmann.
Winkler, sagte Frau Winkler.
Dr. Winkler stutzte, dann lachte er schallend.
Also schlagfertig sind Sie ja, das muß man Ihnen lassen, meinte er, an Schwichtenberg gewandt, und er drohte schalkhaft mit dem Zeigefinger, Ihr seid mir schon welche, Ihr Berliner.
Winckelmann sei ein bedeutender Kunsthistoriker und einer der ersten bedeutenden Archäologen gewesen, erklärte Leidenfrost, Johann Joachim Winckelmann, übrigens mit c geschrieben, und er wurde im Jahre 1768 hier in Neapel ermordet.
Nicht in Neapel, korrigierte ihn seine Frau, sondern in Triest, auf seiner Rückfahrt von Neapel nach Deutschland, Sie schreiben sich nur mit k?
Nur mit k, bestätigte Dr. Winkler, Winkler, wie Winkel.
Schwichtenberg hatte Mühe, sich das Lachen zu verkneifen, aber ehe die Speisekarten kamen, kam erst noch das Lausitzer Ehepaar Rautenkranz in den Speisesaal hereingeschneit, als letzte Nachzügler. Sie spähten nach Plätzen, aber es waren an den reservierten Tischen nur noch Einzelplätze frei, so daß sie, wenn nicht die Reiseleiterin eingeschritten wäre, nicht hätten nebeneinander sitzen können. Aber sie kam schon herbeigeeilt und wandte sich an Schwichtenberg. Ob es ihm wohl etwas ausmache, sich an einen anderen Tisch zu verfügen, damit die beiden Eheleute zusammensitzen könnten. Es machte ihm nicht das geringste aus, im Gegenteil, er war erleichtert. Rautenkranz war dankbar und sagte: Nichts für ungut. Schwichtenberg winkte ab, er konnte mit dieser Bemerkung nicht das geringste anfangen. Als er sich erhob, hörte er die Reiseleiterin sagen, sie müsse die zu spät gekommenen Herrschaften leider informieren, daß für die Getränke jeder selbst aufkommen müsse.
Daß Schwichtenberg an den anderen Tisch genötigt wurde, hielt er wohl für eine Fügung. Nun war es kein freier Entschluß mehr, nun war es Schicksal. Er verbeugte sich leicht und fragte, ob es gestattet sei. Es wurde genickt. Als sich Schwichtenberg neben Frau Stadler setzte, hellte sich ihr Gesicht auf, als sehe auch sie eine glückliche Fügung darin. Unverkennbar war auch die Freude der beiden Professoren und ihrer Gattinnen, die sich glücklich schätzten, daß der Berliner sich zu ihnen gesellt hatte.
Wie läuft’s denn so in der Hauptstadt, wurde er gefragt.
Schwichtenberg senkte den Blick, er wußte nicht, was er auf diese Frage antworten sollte.
Es geht, murmelte er, es geht voran.
Frau Stadler kicherte leise. Darauf erstarb das Gespräch fürs erste. Eine der Frauen wedelte und schnipste ihrem Gatten ein paar Schuppen von seinem dunklen Sakko.
Laß das doch jetzt bitte, raunte Professor Ihlegutt ihr zu.
Das ist wieder schlimmer geworden, wisperte sie zurück, wahrscheinlich das andere Klima.
Was haben meine Schuppen mit dem Klima zu tun?
Sagen Sie das nicht, meldete sich Professor Meyer-Böhmler zu Wort, das Klima hat durchaus einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf Stoffwechselprozesse.
Vor allem die Klimakatastrophe, gab Eva Stadler zu bedenken. Nun war es Schwichtenberg, der leise auflachen mußte. Frau Ihlegutt, die als Professorengattin Wert darauf legte, als Frau Professor Ihlegutt tituliert zu werden, sah verstört zu ihm herüber, mit einer Spur Mißbilligung im Mundwinkel.
Wir haben wirklich schon alles versucht, glaubte sie erklären zu müssen, die verschiedensten Shampoos und spezielle Tinkturen, selbst Naturheilkräuter, es hat alles nichts genützt.
Laß gut sein, zischte ihr Gatte.
Endlich trat ein Kellner heran und händigte ihnen Speisekarten aus, die groß waren wie Zeitungen und in Velourledermappen steckten. Die Reiseleiterin ging von Tisch zu Tisch und teilte mit, daß sich jeder sein eigenes Drei-Gänge-Menü zusammenstellen könne, primo piatto, secondo piatto und Dessert, das sei vertraglich so vereinbart, und eine Vorspeise, antipasti, stehe ohnehin jedem zu. Schwichtenberg schielte über den Kartenrand zu Eva Stadler hinüber. Ihre Fingernägel waren lackiert, in einem dezenten Silberton. Sie hatte zarte, schmale Hände. Sie trug, entdeckte er, einen Trauring. Auch sie sah verstohlen zu ihm und machte die Entdeckung, daß er ebenfalls einen Trauring am rechten Finger hatte. Ein flüchtiger Blickwechsel zwischen ihnen, die Spur einer Befangenheit bei beiden, dann tauchten sie, als sie einen der Professoren mit der Zunge schnalzen hörten, wieder in das opulente Kartenwerk ein. Es war schwer, sich zu entscheiden, die Professorenpaare debattierten endlos. Nach einer Weile sah Frau Stadler wieder ihren Nachbarn an. Sie trug jetzt eine randlose Lesebrille, die ihr, wie er fand, gut stand. Sie hatte blaue Augen, wie er erst jetzt sehen konnte. Blaue Augen und goldrotes, langes Haar, das ihr bis auf die Schulter fiel. Er konnte den Blick nicht von ihr lösen, was sie ein wenig verwirrte.
Nun? Wofür haben Sie sich entschieden?
Fisch, sagte er rasch, eine zuppa di pesce und dann den Seeteufel.
Dann haben wir denselben Geschmack. Wenn man schon am Mittelmeer ist, soll man sich auch an Fisch halten.
Das fanden die beiden Professoren auch, nickten gleichzeitig und tendierten ebenfalls zu Fischgerichten.
Also Ihnen, Herr Professor Ihlegutt, sprach Professor Meyer-Böhmler, würde ich doch dringend von Fisch abraten.
Und wieso?
Wegen der Schuppen, sagte Professor Meyer-Böhmler und lachte schallend, als hätte er einen kapitalen Witz gemacht. Alle anderen senkten die Köpfe, es war ihnen peinlich. Langsam beruhigte sich der Witzbold.
Nichts für ungut, sagte er. Schwichtenberg schloß die Augen und öffnete sie erst wieder, als Frau Professor Meyer-Böhmler ihrem Gatten empfahl, gleichfalls von Fisch besser die Hände zu lassen, er solle an seinen Magen denken.
Ach was, erwiderte er, man lebt nur einmal.
Fragt sich bloß, wie lange, warf Professor Ihlegutt ein. Es lachte niemand, nicht einmal er selber. Verlegen kratzte er sich am Hinterkopf. Er hatte einen sehr kleinen Kopf, wie Schwichtenberg fand. Ein richtiges Straußenköpfchen.
Als der zweite Kellner an den Tisch trat, bestellten alle Fischgerichte. Der dritte Kellner brachte für jeden ein Tellerchen mit winzigen Vorspeisen, er sagte sechsmal Bruschetta, ein klein Gruß aus Küche von Chefkoch. Schwichtenberg fürchtete, daß gleich jemand sagen würde: lecker. Es sagte niemand.
Lecker, sagte er.
Frau Stadler fand die Bruschetta etwas zu scharf gewürzt. Das fanden die anderen keineswegs, sondern genau richtig.
Nichts für ungut, sagte sie mit einem keck-ironischen Seitenblick auf Schwichtenberg, dem sie immer besser gefiel. Da ihr warm war, entledigte sie sich ihrer Jacke. Er war ihr behilflich und hängte sie über ihre Stuhllehne. Sie trug ein straffes, weißes, weit ausgeschnittenes T-Shirt. Er ertappte sich dabei, ihr auf den Ausschnitt zu sehen. Sie hatte schöne Brüste, voller als er angesichts ihrer schlanken Figur erwartet hatte. Er wunderte sich über sich selber.
Endlich legte der vierte Kellner ihnen die Weinkarten vor. An Schwichtenberg gewandt, meinte Professor Meyer-Böhmler, daß der Wein auf eigene Rechnung gehe, bloß damit er klar sehe.
Ich werde trotzdem Wein trinken, sagte er entschlossen, man lebt nur einmal.
Es wurden ausschließlich Weine aus der Region angeboten, aus ganz Kampanien. Professor Ihlegutt hätte am liebsten den Fiano d’Avellino probiert, aber da bereits Professor Meyer-Böhmler den Fiano d’Avellino auserkoren hatte, schwenkte er trotzig um auf den Vesuvio Bianco, obwohl er teurer war, aber er wollte auf keinen Fall den gleichen Wein trinken wie sein höchst unsympathischer Professorenkollege. Es waren auch kleine Flaschen im Angebot. Schwichtenberg entschied sich für Lacryma Christi del Vesuvio Bianco. Frau Stadler ebenfalls, allerdings nicht Bianco, sondern Rosso. Da fuhr Professor Meyer-Böhmler auf wie von der Tarantel gestochen.
Aber meine Verehrte, rief er, das können Sie doch nicht machen, zu Fisch muß man einfach einen trockenen Weißen trinken!
Muß man?
Das ist einfach so Sitte und jahrhundertealte kulinarische Tradition!
Misch Dich doch nicht schon wieder in alles ein, Schatz, herrschte Frau Meyer-Böhmler ihren Gatten an, die Geschmäcker sind eben verschieden.
Auch Schwichtenberg sprang seiner Nachbarin bei, deren Miene vereist war.
Jeder nach seinem Schaköng, wie der Berliner sagt, wir sind schließlich freie Menschen. Er wartete, daß Meyer-Böhmler sein Nichts-für-ungut abließ, aber der Professor schwieg beleidigt. Bis der Wein gebracht wurde, sagte niemand ein Wort. Es eilten vier Kellner herbei, jeder mit einer Flasche und einem Korkenzieher, was Frau Professor Ihlegutt, die längere Zeit nichts von sich gegeben hatte, zu der Bemerkung veranlaßte, daß im schönen Italien die Arbeitslosigkeit wohl sehr marginal sein müsse, so viele Kellner auf einem Fleck jedenfalls habe sie noch nie gesehen. Als der Wein eingeschenkt war, sagte Ihlegutt Prosit, während Meyer-Böhmler Prösterchen rief, und Schwichtenberg stieß wortlos mit Frau Stadler an. Er sah ihr in die Augen dabei. Sie hatte wirklich sehr schöne Augen.
Ich wünsche Ihnen trotzdem eine erfolgreiche, eindrucksvolle, erlebnisreiche und dennoch schöne und erholsame Reise, flüsterte er ihr zu, worauf ihr Lächeln zurückkehrte, das etwas Betörendes hatte, wie er fand. Er wies sich selber in die Schranken, er durfte sie nicht über Gebühr anstarren, er hatte das Gefühl, er müsse auf der Hut sein. Er wollte Neapel erleben und sonst nichts. Trotzdem ließ ihn die Frage nicht los, warum diese verheiratete Frau diese Reise allein unternahm.
Der Wein war wohltemperiert, die Fischsuppe gut gewürzt, der Seeteufel zart gebraten. Man ließ es sich munden. Allein Schwichtenberg stocherte lustlos in seinem Fisch herum, ihm war der Appetit vergangen. Er konnte diese Ehepaare an seinem Tisch, die sich ständig gegenseitig ermahnten, Obacht zu geben auf die Gräten, nur schwer ertragen. Er war fremde Menschen nicht mehr gewöhnt. Am liebsten wäre er hinausgelaufen, aber das konnte er seiner charmanten Nachbarin nicht antun. Das konnte er auch sich selber nicht antun. Sie sah besorgt herüber.
Schmeckt es Ihnen nicht?
Doch, doch, beteuerte er.
Er hob wieder sein Glas und sie das ihre, doch in dem Augenblick, in dem sie es an ihre Lippen führen wollte, sehr schöne, volle Lippen, wie Schwichtenberg fand, just in dem Augenblick, ertönte ein schriller, spitzer Aufschrei. Er kam von Frau Professor Meyer-Böhmler.
Jesses Maria, rief sie entsetzt, Deine Tabletten, Du hast Deine Tabletten nicht genommen!
Frau Stadler kam nicht mehr dazu, aus ihrem Glas zu trinken noch es abzustellen, sie wurde urplötzlich und dermaßen heftig von einem Lachkrampf geschüttelt, daß sie ihr Glas nicht mehr ruhig waagerecht ausbalancieren konnte und einen Teil des Rotweins auf ihr weißes T-Shirt verschüttete. Nun schrie auch Frau Professor Ihlegutt erschrocken auf. Worauf drei Kellner herbeistürzten, drei Salzstreuer ergriffen und mit hektischen Gesten Salz auf das angerötete Shirt streuten. Es war still geworden im Speisesaal, von allen Seiten schaute man zu ihrem Tisch herüber. Frau Stadler rieb hektisch mit ihrer Serviette an den roten Flecken herum. Sie solle um Himmels willen nicht reiben, empfahl ihr Frau Professor Ihlegutt, am besten gleich ins Wasser damit. Frau Stadler reagierte nicht darauf.
Es tut mir leid, sagte Schwichtenberg.
Lassen Sie doch Ihre Sprüche, sagte sie unwirsch, wir sind hier nicht in einer Vorabendserie.
Schwichtenberg zuckte zusammen. Allmählich legte sich die Aufregung, und Meyer-Böhmler nahm unter Anleitung seiner Gattin seine Tabletten ein, eine weiße, eine gelbe und eine grüne. Dann lächelte er freundlich zu ihnen herüber.
Habe ich es nicht gesagt, sprach er, Sie hätten keinen Rotwein trinken sollen, mit Weißwein wäre das glimpflicher abgegangen.
Das war zuviel. Frau Stadler stieß brüsk ihren Stuhl zurück, raffte ihr blaues Jäckchen von der Lehne und schritt grußlos von dannen. Schwichtenberg war versucht, ihr hinterher zu gehen, um sie zu besänftigen, aber er unterließ es, denn wie wäre er dazugekommen, nachdem sie ihn so unbeherrscht angefahren hatte. Er war verstimmt. Den Gesprächen am Tisch folgte er nur noch mit halbem Ohr.
Herrgott, sagte Meyer-Böhmler, es sollte ein Scherz sein, ich wollte sie aufmuntern.
Du immer mit Deinen Scherzen, tadelte ihn seine Gattin.
Inzwischen waren auch die Nachspeisen serviert worden, Süßspeisen oder Torte für die meisten, eine kleine Käseauswahl für ihn. Er aß lustlos, der Mozzarella war ledern wie Schuhsohle. Erst wollte er sagen, es sei ihm durchaus bewußt, daß zu Käse eigentlich am besten Rotwein passe, aber er unterließ auch das. Er hatte sich immer tiefer in sich selber zurückgezogen. Auf den Espresso verzichtete er. Er wünschte allerseits noch einen schönen Abend und verließ den Speisesaal.
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