Titel der Originalausgabe:
WE CALLED IT MUSIC A Generation of Jazz, erschienen 1947,
Henry Holt and Company, New York
Bildnachweis:
Alle Bilder stammen aus dem Condon Privatarchiv
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Überarbeitete und ergänzte Neuauflage
© für die Originalausgabe und das eBook: 2016 LangenMüller in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH
© 1960 Nymphenburger Verlagshandlung GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung nach der Ausgabe von 1960
Übersetzung: Rolf Düdder und Herbert Schüten
Übersetzung der Texte von Maggie Condon und Hank O’Neal: Ursula Bischoff
Satz und eBook-Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-7844-8264-4
VORWORT
ES WAR ANFANG 1969. Ich war noch keine zwölf und hatte begonnen, mich ein bisschen für Jazzmusik zu interessieren.
Also tat ich das Nächstliegende: Ich ging zur Bücherei und schaute nach, ob es ein Regal mit der Überschrift »Jazz« gab. Obwohl es die Stadtbibliothek Münster war, in der ich mich umsah, wurde ich fündig.
Neben den auch schon für damalige Verhältnisse üblichen Nachschlagewerken und historischen Abrissen zum Thema »Jazz« fiel mit ein Buch auf, dessen Cover das Foto eines flott-elegant gekleideten Mannes zierte, der eine Gitarre in der Hand hielt (was – nur vier Saiten?) und heiterversonnen ins Nichts schaute.
Das Buch hieß Jazz – wir nannten’s Musik von Eddie Condon.
Ich lieh es zusammen mit einigen anderen Jazzbüchern aus und nahm es mit nach Hause, wo es direkt nach dem hastigen Studium eines damals allgemein anerkannten Jazz-Geschichtsbuchs dafür sorgte, dass das Thema »Hausaufgaben« in den kommenden Tagen für mich eine eher untergeordnete Rolle spielte.
Eddie Condons Buch machte mit seinen Anekdoten, mit seinen Personenbeschreibungen, mit seinem von mir damals als ungeheuerlich empfundenen Humor die Welt des »Jazz Age« lebendig.
Bix Beiderbeckes Mütze, Fats Wallers Durst, Bud Freemans verrostetes Saxophon, die Partygäste an Red McKenzies Koffer-Schlagzeug … Fußnoten von Fußnoten der Jazzgeschichte, und doch irgendwie unvergessliche Eindrücke, die selbst heute noch automatisch in meinem Kopf auftauchen, wenn ich irgendwo die Namen dieser Größen der frühen Jazzer-Generation lese.
Als die Segnungen des Internets irgendwann (mit allerdings beachtlicher Verzögerung) in mein Leben traten, gehörten »Eddie Condon« und »Red McKenzie« zu den ersten Namen, die ich in die Filmchen-Suchmaschine eingab.
Ich wurde sogleich fündig. Ja – die gab es wirklich! Sogar im Film!
Und all die Red Nichols’, Pee Wee Russells, Paul Whitemans, Fats Wallers, Frank Teschemachers und Mezz Mezzrows aus Eddie Condons Buch auch.
Zurück in das Jahr 1969.
Die Lektüre von Eddie Condons Buch hatte mich so gepackt, dass ich mir zu meinem Geburtstag im Sommer von meinen Eltern ein Banjo wünschte.
Ich spielte zwar schon einige Jahre Klavier (wenn auch noch eher unjazzig und gewiss nicht ganz so wuchtig wie Fats Waller), aber (auch das lernte man aus Eddies Buch): Ein Zweitinstrument konnte auf keinen Fall schaden.
Mein Geburtstag kam – und mit ihm das Banjo. Und dazu gab es noch ein Album von … Eddie Condon.
Meine Eltern hatten wirklich gut aufgepasst.
Es darf bezweifelt werden, ob 1969 bis 1971 irgendein anderer Münsteraner Gelegenheit hatte, »Jazz – wir nannten’s Musik« zu lesen. Ich erneuerte und erneuerte meine Ausleihe, denn ein Leben ohne dieses Buch schien mir öde und sinnlos.
Ich nahm es mit zur Schule, ins Zeltlager und in die Badewanne. Ich konnte es auswendig. Und mein Banjospiel wurde auch etwas besser. Viele Jahre später kam dann noch eine viersaitige Tenorgitarre dazu, das Instrument, das seit den Mittdreißigern als Mr. Condons Markenzeichen galt.
Irgendwie konnte ich nicht aufhören, ein bisschen Eddie Condon sein zu wollen.
Lese ich Eddies Autobiographie heute, fällt mir auf, dass es durchaus Gründe gibt, warum Eddies schriftstellerische Arbeiten nicht in einem Atemzug mit denen von Thomas Mann, Frank Kafka oder Emile Zola genannt werden.
Unstrittig aber ist, dass Eddie Condons Erinnerungen ein wunderbares, warmherziges und humorvolles Buch füllen, das uns die Ära des Hot Jazz näher bringt als sämtliche musikwissenschaftlichen Abhandlungen über die Geschichte der frühen Jazzmusik unter der besonderen Berücksichtigung avancierter Hot-Solistik nebst gründlicher Analyse unterschiedlicher Stilmerkmale der Solisten im Hinblick auf ihr regional-musikalisches Umfeld im Wandel der Zeiten.
Oder so ähnlich.
Herr im Himmel – am Ende zählt doch nur Bix Beiderbeckes Mütze, oder?
Mein erstes Banjo und die Eddie-Condon-LP von damals habe ich heute noch.
Und jetzt auch wieder das Buch. Man kann sich freuen.
Götz Alsmann
IMPRESSIONEN AUS MEINER KINDHEIT
Von Maggie Condon
WENN ICH AN DIE KINDHEIT mit meinem Vater denke, erinnere ich mich an drei Dinge:
Für ihn drehte sich alles um Musik.
Meine Schwester Liza und ich sahen ihn nur in der Zeit zwischen unserer Rückkehr aus der Schule und seinem Aufbruch in den Club gegen 18 Uhr. Wir pflegten im Badezimmer auf dem Rand der großen alten Porzellanbadewanne zu sitzen und zuzuschauen, wie er sich einseifte und rasierte. Dabei versuchte er, uns Lieder mit seinen bevorzugten Akkorden beizubringen, sang uns eine Phrase mit einem wunderbaren Akkordwechsel von Dur zu Moll vor und ermutigte uns, sie so lange zu wiederholen, bis wir sie beherrschten.
Die Badezimmer-Tapeten mit einem Muster aus großen Provence-Rosen waren in musikalische Graffiti umgestaltet worden, angefüllt mit handgeschriebenen Liedtiteln, die das Wort »Rose« enthielten. Es begann damit, dass mein Vater den Text des Songs My Wild Irish Rose auf der Wand notierte. Wenn Pee Wee Russell, Bing Crosby, Johnny Mercer oder Willard Robison zu Besuch kamen, fügten sie ihre jeweiligen Lieblingsmelodien hinzu.
Von unserer Wohnung aus konnten wir die Nebelhörner der Schiffe vernehmen, die in den Hafen von New York einliefen. Mein Vater lauschte oft und erklärte: »Das ist ein Des« oder »Das ist b-Moll«. Wir besaßen keinen Plattenspieler, aber es gab bei uns zu Hause immer viel Live-Musik mit Pee Wee, Wild Bill Davidson, Bobby Hackett und Louis Armstrong, die ständig bei uns zu Gast waren. In seinen eigenen vier Wänden spielte Dad ausschließlich Klavier, und ich erinnere mich, dass Willard Robison und Johnny Mercer ihn inständig baten, seine einzigartigen Akkordkombinationen auf unserem alten Klavier zum Besten zu geben.
Die Trap Line
An den Sonntagnachmittagen in New York nahm er mich gelegentlich auf eine Tour durch seine sogenannte »Trap Line« mit, ein Ausdruck der Hummerfänger für die aufgereihten Fallen, die sie regelmäßig in Augenschein nehmen. Bei Dad war damit der Besuch seiner Lieblingslokale gemeint, von Greenwich Village bis Harlem – das Toots Shor’s, Jimmy Ryan’s, Costello’s, der 21 Club und Small’s. Dort war ich immer das einzige Kind, und ich erinnere mich, dass mein Vater und seine Geschichten stets im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit standen.
Eddie hatte nie Bargeld bei sich, aber er wurde in seinen Stammlokalen auch nie zur Kasse gebeten. Wenn er zufällig von einem Barkeeper bedient wurde, der ihn nicht kannte, nahm er seinen Hut ab, um ihm die Innenseite zu zeigen, wo sein Name vermerkt war, und sagte: »Setzen Sie es auf meine Rechnung.« Auf dem Nachhauseweg ging er nie an einem Bettler vorüber, ohne ihm einen Quarter – einen Vierteldollar – zu schenken.
Später am Abend, vor dem Schlafengehen, pflegte ich vor dem Wohnzimmerfenster zu stehen und ihm nachzuschauen, wenn er mit seiner Gitarre durch den Washington Square Park eilte, bis er meiner Sicht entschwand.
Drei Dinge, die ihn zu Tränen rührten
Dazu gehörten: Mahalia Jackson, die am Weihnachtsabend im Fernsehen The Lord’s Prayer sang. Bix Beiderbecke, der In A Mist auf dem Klavier spielte. Und meine Aquarelle aus dem Kunstunterricht, die ich ihm zeigte. Er war die meiste Zeit damit beschäftigt, zwischen dem Condon Club, Konzerten und Aufnahmeterminen hin und herzupendeln, und ich denke, er war traurig, weil ihm bewusst wurde, dass ihm ein großer Teil meiner Kindheit entging.
Doch an den Sommerwochenenden, die wir an der Atlantikküste von New Jersey verbrachten, waren wir eine richtige Familie. Am Strand gab es jede Menge Live-Musik, Grillfeste, streunende Katzen und Hunde. Mom pflegte sich in einem Gummireifenschlauch in Ufernähe auf den Wellen treiben zu lassen, während sich Dad ins Meer stürzte und geradewegs in Richtung Horizont schwamm, bis er nicht mehr zu sehen war.
Liza, Eddie und Maggie am Monmouth Beach in New Jersey, 1950
DIE FAMILIENTAFEL
DAVID CONDON geboren am 1. Januar 1827 in der Grafschaft Limerick, Irland MARGARET CONDON geb. Hayes, geb. am 15. 12. 1834 in der Grafschaft Limerick, Irland |
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heirateten am 19. August 1855 in Springfield, Mass. |
JOHN CONDON geboren am 1. Januar 1861 in Ottawa, MARGARET CONDON geb. McGrath, geb. am 11. 2. 1865 in Ottawa, Illinois |
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Illinois, heirateten am 11. Februar 1885 in Benton County, Indiana |
CLIFFORD CONDON
geboren am 27. November 1885 in Benton County, Indiana
LUCILLE CONDON
geboren am 17. März 1887 in Benton County, Indiana
FLORENCE (DOT) CONDON
geboren am 2. Oktober 1889 in Benton County, Indiana
GRACE CONDON
geboren am 24. Dezember 1891 in Benton County, Indiana
HELENA CONDON
geboren am 2. Mai 1895 in Benton County, Indiana
MARTINA CONDON
geboren am 10. Mai 1899 in Benton County, Indiana
JOHN CONDON
geboren am 28. Juni 1901 in Benton County, Indiana
JAMES (PAT) CONDON
geboren am 29. Juli 1903 in Benton County, Indiana
ALBERT EDWIN (EDDIE) CONDON
geboren am 16. November 1905 in Benton County, Indiana
Vorne: Helena, Pat, John, jr., Eddie, Martina; Mitte: John, Margaret; Hinten: Clifford, Dot, Lucille, Grace
INHALT
Ein paar englische Schuhe
Momence
Chicago Heights
Peavey’s Jazz Bandits
Junger Mann mit Mütze
Chicago – 1924
Bildung, Bix und Bessie
35. Straße und Calumet
Wohlstand
»Three Deuces«
Das armseligste 7-Mann-Orchester der Welt
Eine Handvoll Harlem
Die Blue Blowers
Geburtstagsfeier für Joe
Panik und Bauchspeicheldrüsenentzündung
Nicks Kneipe und die Revolution
Summa Cum Laude
Town Hall
Der Mann, der den Jazz lebte – Hank O’Neal
Die Chicagoer Bands
Namenverzeichnis
FÜR BIX
ich hoffe, dass er seine Mütze
nicht mehr trägt
Singet ihm ein neues Lied;
machet’s gut auf Saitenspiel mit Schall.
PSALM XXXIII, 3. VERS
Ein Paar englische Schuhe
ES WAR SONNTAG, GEGEN ABEND. Maggie war aus dem Park zurück. Liza war in ihrer Spielecke und bemutterte eine Puppe. Phyllis war in der Küche und färbte einige Lappen um. Ich hatte mich gerade entschlossen, doch keine Zigarette anzustecken; ich war zu faul, um den Rauch zu inhalieren. Das Telefon klingelte. Es war John McNulty, der von irgendwoher nördlich der 42. Straße anrief.
»Nach acht Jahren habe ich gerade zum ersten Mal wieder einen gehoben. Du bist der Erste, dem ich es sage«, erklärte er. »Ich möchte dir meine englischen Schuhe zeigen. Ich komme sofort runter.«
Ich legte auf und teilte Maggie mit: »John McNulty wird uns besuchen.« Sie kannte ihn nicht.
»Ist das ein Mann?«, fragte sie.
»Er ist Schriftsteller«, sagte ich. Sie gab sich mit dieser Erklärung zufrieden. »Darf ich ihn mit meinem Hammer hauen?«, fragte sie.
McNulty hatte sich verändert; sein Gesicht war braungebrannt. Er war vom Tageslicht begeistert. »Man braucht sich nur hineinzulegen. Es füllt einen mit Energie«, erklärte er. »Ich glaubte nicht, dass das möglich sei, aber es klappt.« Wir begutachteten die englischen Schuhe. Sie waren klasse, konservativ und anscheinend von guter Passform. Wir tranken einen. McNulty schaute Maggie an und rückte seinen Stuhl etwas an mich heran.
»Ich konnte mir dich nie als Familienoberhaupt vorstellen«, sagte er mit leichtem Unterton.
»Mein Schwiegervater ist Rechtsanwalt und einer der besten Gewehrschützen des Landes«, antwortete ich. »Er errang schon einmal den Nationalpreis für Kunstschützen.«
McNulty nickte. »Ein Mann sollte zur Ruhe kommen«, sagte er. Wir tranken in Ruhe. »Also, jetzt hast du eine eigene Kneipe«, sagte er, »deine eigene Band, eine Frau und zwei Töchter. Deine Mutter würde stolz auf dich sein.«
Wir tranken noch einen. »Ich hörte dein Programm Eddie Condon’s Jazz Concert, als ich in Kalifornien war«, sagte John. »Warum wird es nicht mehr gesendet? Ich kannte Männer, die samstagnachmittags nicht zum Pokern gingen, damit sie es zu Hause hören konnten.« Ich erzählte ihm die Geschichte. Johnny O’Connor, Fred Warings Manager, hatte uns dem Sender Blue Network aufgeschwatzt. Wir benutzten den Strom und die Studios des Senders, sonst nichts. In der Manuskript-Abteilung hefteten wir jede Woche unsere Programmzettel ab. Später zerrissen wir sie wieder. Wir brachten uns selbst einen Ansager mit, Fred Robbins, ein Mann, der etwas vom Jazz verstand. Wir machten das Programm ad libitum in Text und Musik. Wir holten uns selbst Gastsprecher heran – John O’Hara, den Schriftsteller; Joe McCarthy von der Illustrierten Yank; George Frazier von Life. Die Show wurde jede Woche übertragen und nach Übersee geschickt, um dort für die Truppen gesendet zu werden; sie kam bei den Umfragen der GIs in Europa und auch am Pazifik auf den ersten Platz. Sie lief achtundvierzig Wochen lang; dann wurde etwas frisches Blut in den Vorstand des Blue Network geschüttet und beschlossen, dass mit dem Programm etwas geschehen müsste. Inzwischen stieg dessen Beliebtheit an; überall zogen es die Soldaten der Hit Parade vor, die auf dem zweiten Platz rangierte, und auch der Command Performance, welche den dritten Platz einnahm. Die Einsendungen waren eine Sensation. Die Briefe der Soldaten sagten alle das Gleiche: »Ihre Musik kommt gleich nach einem Heimaturlaub.«
Ernie Anderson und ich trafen uns mit den Leitern der Verkaufs- und Manuskript-Abteilungen und mit dem neuen Vorstand. Es wurde eine Menge geredet. Endlich sagte einer der Vorstandsleute, der Name des Programms müsse geändert werden. »Was meinen Sie, wie es heißen sollte?«, fragte Ernie. »Saturday Afternoon Senior Swing«, sagte der Vorstand. »Warum?«, fragte Ernie. »Der jetzige Titel ist zu lang«, sagte der Leiter. Ernie schaute mich an. Ich zählte an meinen Fingern ab. Eddie Condon’s Jazz Concert enthielt dreiundzwanzig Buchstaben, Saturday Afternoon Senior Swing hatte achtundzwanzig. »Diese Burschen sind wirkliche Vorsteher«, flüsterte ich Ernie zu. »Pass auf!« Ein wenig später sagte ein anderer Geschäftsführer: »Ich denke, wir sollten einen Komiker reinbringen. Ich schlage Jackie Kelk vor.«
»Wer ist Jackie Kelk?«, fragte ich. Das Vorstandsmitglied starrte mich an. »Jackie Kelk ist der Homer in der Aldrich-Familie«, sagte er. »Was ist das?«, wollte ich wissen. Die Lippen des Vorstandsmitgliedes wurden schmaler. »Sie kennen die Aldrich-Familie nicht?«, fragte er und neigte sich etwas zu mir herüber. Ernie trat mich unter dem Tisch. »Ich kenne vom Radio nur zwei Dinge«, sagte ich. »Wie man seine Uhr danach stellt und wie man es ausdreht.« Es wurde noch mehr geredet. Dann wurde das Ultimatum gestellt: Wir könnten die neue Form des Programms akzeptieren, den Komiker inbegriffen, oder wir könnten es aufgeben. Eines der älteren Vorstandsmitglieder wollte uns helfen. »Lasst euch ein paar Tage Zeit zum Überlegen und sagt uns dann Bescheid.«
»Wir brauchen keine paar Tage«, sagte Ernie. »Wir können Ihnen schon jetzt die Antwort geben: Nein, und zwar in Sperrschrift.«
McNulty nickte, als ich fertig war. »Ich befürchtete schon, meine Meinung über den Rundfunk ändern zu müssen, als sie euch Jazz spielen ließen, ohne irgendetwas zu unternehmen, um ihn zu verlausen«, sagte er. »Ich freue mich, dass sich der Rundfunk nicht geändert hat. Das gibt mir ein Gefühl der Sicherheit.«
Maggie kam herüber und lehnte sich an Johns Knie. Wir tranken noch einen. John hatte etwas im Sinn. »Es erscheint ein neues Buch«, sagte er. »Sie sammeln die einzelnen Geschichten, die ich für den New Yorker über Tim geschrieben habe, um einen Band daraus zu machen. Ich glaube, sie wollen es Third Avenue, New York, nennen.« Er drehte sein Glas in der Hand und schaute auf seine englischen Schuhe. Dann kam’s heraus. »Du musst auch ein Buch schreiben«, sagte er. Wir nahmen noch einen Drink. Maggie langweilte sich bei uns. Sie ging zu Liza, um gemeinsam mit ihr den Laufstall auseinanderzunehmen. »Wie soll ich das machen, und worüber soll ich schreiben?«, fragte ich. John stand auf. »Habt ihr eine Schreibmaschine im Haus?«, fragte er. »In der Küche«, sagte ich. »In der Brottrommel.«
Wir gingen in die Küche, machten die Brottrommel auf und holten die Schreibmaschine heraus. John spannte einen Bogen Papier in die Maschine. »Wann und wo wurdest du geboren?«, fragte er. Ich sagte es ihm. Er schrieb auf das Blatt: Goodland, Indiana, 16. November 1905. Dann drehte er ein paar Zeilen weiter und schrieb: Jetzige Adresse: Washington Square North, New York City.
»Du hast jetzt nur noch das auf das Papier zu bringen, was zwischen diesen beiden Zeilen passiert ist«, sagte er. »Versuch es. An was kannst du dich erinnern?«
Ich zog den Küchenstuhl heran. John setzte sich. Wir starrten zusammen auf das Papier. »Schreib auf: Katze«, sagte ich. John tippte das Wort.
Als wir in Momence, Illinois, wohnten, hatten wir eine Katze, die hieß Gieronimo. Eines Tages ging meine Schwester Martina in die Hütte auf dem Hof, in der wir die Maiskolben verwahrten, und setzte sich auf einen Stuhl. Sie fiel hintenüber, schlug auf Gieronimo und brach ihm das Rückgrat. Er war noch nicht tot, darum erschlug ihn mein Bruder mit einem Baseballschläger. Dann buddelten wir ein Grab, begruben ihn und machten ein Kreuz darauf.
Wir nahmen einige Maiskörner und schrieben damit seinen Namen in den weichen Dreck. Als wir vom Essen zurückkamen, hatten die Hühner unseres Nachbarn die Körner aufgepickt und beinahe auch Gieronimo gefressen. »Weißt du noch, wie wir die Hütte am Normandy Beach bei Barnegat Bay nahmen, der Hurricane kam und vier Türen aus der Garage blies, die Lampen ausgingen und das Wasser die Straße heraufkam?«, fragte Phyllis. Sie färbte immer noch ihre Tücher. »Schreib auf: Schuhe«, sagte ich. John tippte das Wort.
Eines Abends kam John Steinbeck in die Kneipe und sagte zu mir: »Eddie, warum spielst du nicht wieder Banjo? Es ist das einzige amerikanische Instrument, und es sollte für die einzige amerikanische Musik benutzt werden. Warum spielst du auf so einem Instrument für Liebhaber, einer Gitarre?« Ich sagte: »John, das Banjo verschwand mit den Knopfschuhen.« John beugte sich herüber und flüsterte mir ins Ohr: »Eddie, Knopfschuhe werden wieder modern.«
»Weißt du noch, als du mit Mezzrow zusammen wohntest? Du hattest mit mir am 4. Juli eine Verabredung. Wir hatten den ganzen Tag nichts zu tun, und Mezzrow sagte: ›Macht euch keine Sorgen. Ich kenne eine Delikatessenhandlung, die um fünf Uhr aufmacht. Da können wir uns ein paar Truthahnhälse kaufen‹«, erinnerte sich Phyllis.
»Schreib auf: Lord«, sagte ich.
John tippte das Wort.
Jimmy Lord war ein Junge aus Chicago, der Klarinette und Saxophon spielte und der auch Arrangements schrieb. Er spielte oft mit uns im Palace Gardens in Chicago; er hatte einen gelben Mormon-Wagen. Als ich den einmal zu fahren versuchte, habe ich ihm die Gangschaltung kaputtgerissen. Einen Sommer lang mietete seine Mutter, Ann Lord, eine Wohnung in New York, im Osten, ganz in der Nähe des River House. Ich war pleite, und sie ließ mich dort wohnen. Ich hatte nicht einmal das Fahrgeld, um quer durch die Stadt zu fahren, aber als ich ankam, war da ein japanischer Butler, der für mich sorgte. In der Wohnung war eine große Bibliothek, mit einem acht Fuß langen Gesellschaftsalmanach. In dem Sommer habe ich für mein Leben genug gelesen.
Jimmy sah ich zuletzt in Princeton, wo ich bei einer Hausparty mit Red McKenzie’s Mound City Blue Blowers spielte. Jimmy hatte Tuberkulose. Er war aus einem Sanatorium mit dem Entschluss entlaufen, sich durch eigene Willenskraft zu heilen. Er wollte mit uns in Princeton spielen und beharrte darauf, dass er es schaffen würde. Nach der Party fanden wir ihn auf der Treppe sitzend. Er ruhte sich aus, bevor er die nächste Stufe in Angriff nahm.
»Komm, wir helfen dir, Jimmy«, sagte McKenzie. »Wir tragen dich hinauf.« Jimmy lehnte ab. »Ich muss es selbst schaffen«, sagte er. »Daran komme ich nicht vorbei.«
In der Woche darauf starb er.
»Weißt du noch, wie wir damals nach Minneapolis fuhren und mein Bruder Sam am Steuer nicht wach bleiben konnte? Du durchwühltest das ganze Gepäck, um die Benzedrin-Tabletten zu finden, die ganz unten im letzten Koffer lagen. Sam nahm sie und schlief sofort ein. Er wachte erst nach zehn Stunden wieder auf«, sagte Phyllis. McNulty ging wieder in das Wohnzimmer. »Warum möchtest du, dass ich ein Buch schreibe?«, fragte ich ihn. »Ich bin so allein«, sagte er.
Nachdem er gegangen war, kletterte Maggie auf meinen Schoß. »Das ist ein netter Mann«, sagte sie. »Ich habe ihn nicht gehauen.« Sie kuschelte ihre Arme zurecht und schlief ein. Ich döste mit ihr.
Was war denn noch? dachte ich. Als Joe McCarthy in der Radio-Show auftrat, mussten wir sein Manuskript vom State Department genehmigen lassen. Dieses einzige Mal sollten wir ablesen, was vorbereitet war. Es war ein Gag darin. Ich sagte: »Joe, ich hörte, dass du aus Boston stammst.« Joe sagte: »Ja, ich gehöre zu den Spitzengardinen-Iren von Massachusetts.« Ich fragte: »SpitzengardinenIren? Was für Iren sind das?« Joe erklärte: »Spitzengardinen-Iren sind Leute, die frisches Obst im Hause haben, selbst wenn kein Mensch krank ist.« Das State Department lehnte die Erteilung einer Genehmigung ab. Irland, ein neutrales Land, könnte verletzt werden.
Vinton Freedley lehnte es ab, eine Genehmigung für das Manuskript einer Bühnenfassung von Dorothy Bakers Young Man With A Horn zu erteilen, ein Roman, der durch die Karriere von Bix Beiderbecke inspiriert worden war. Es war eine weise Entscheidung. Burgess Meredith sollte den Bix spielen, der in dem Buch Rick heißt. Margaret Sullavan war Ricks Freundin Amy North. Mir wurde die Rolle des Banjospielers Bobby LaPorte angeboten; meine Aufgabe sollte es sein, Rick vom vielen Saufen abzuhalten. An einer bestimmten Stelle sollte ich in das Studio kommen, einen Mantel umgehängt, sollte zum Himmel sehen und sagen: »Mann, was ist das hier für eine merkwürdige Kneipe! Ich möchte nur wissen, wie die wohl den Vorhang runterkriegen.« Charles MacArthur wurde gerufen, um das Manuskript zu bearbeiten; er schrieb Pariser Szenen hinein. Dorothy Baker ging dann, weil sie ein Baby bekam, und Freedley kam zur Besinnung. Die Show wurde fallengelassen; Bix war gerettet.
Meredith hatte eine andere Idee. Er rief mich von New York an, als ich in der Brass Rail in Chicago spielte. »Du machst jetzt einen eigenen Club auf«, sagte er. »Du kannst dein eigener Boss sein, dir selbst eine Band aussuchen und Jazz so spielen, wie du ihn gerne spielst. Tyrone Power und ich werden dir den Rücken stärken.«
»Wie viel verstehen Ty und du vom Geschäft?«, fragte ich. »Könnte einer von euch beiden mit einiger Intelligenz ein Stück Rindfleisch aussuchen?«
»Nein«, sagte er.
»Ich auch nicht«, erklärte ich ihm. »Ich weiß, dass ihr beide in Ordnung seid und auch etwas Geld habt. Wenn ich wieder in New York bin, gehen wir damit zum Würfeln. Auf diese Weise verlieren wir es schneller und haben mehr Spaß daran.«
»Wir machen einen Club auf«, sagte Meredith. Er ist immer kurz entschlossen. Aber wir taten es doch nicht. Das Nachtclub-Geschäft ist nichts für Amateure; es ist genauso voller Tricks wie der Börsenhandel mit Gewinn.
Einige Jahre später sagte Pete Pesci, der Miteigentümer von Julius’: »Warum machst du nicht einen eigenen Laden auf?« Dies war das Angebot, auf das ich gewartet hatte. »Willst du mein Geschäftsführer werden?«, fragte ich. Er lächelte. »Warum nicht? Ich mag deine Musik. Ich könnte sie dann da haben, wo ich arbeite.« Pete wusste, wie man Rindfleisch aussucht. Er wusste auch, wie man eine Kneipe aufzieht.
Eddie vor seinem Club in der West Third Street in New York
Wir mieteten den alten Howdy-Club, 47. West Third Street. Ich unterschrieb den Pachtvertrag am Freitag, dem 13. Juli 1945. »Das wird uns Glück bringen«, sagte Pete. »Wir werden ’ne Masse Gäste haben.« Wir eröffneten am 20. Dezember. »Was willst du auf der Bühne tragen?«, fragte Bud Freeman. »Schuhe«, sagte ich. In der Band waren Wild Bill Davison, Joe Marsala, Dave Tough, Gene Schroeder am Klavier, Brad Gowans, Posaune, und Bob Casey am Bass. Joe Sullivan wechselte sich mit der Band ab, er spielte Pianosoli. Jack Bland, Max Kaminsky, Tommy Dorsey und George Wettling kamen herein. In der Menge waren allein sieben Smiths aus Minneapolis. Die Leute standen auf dem Flur und warteten auf den Einlass. Wir hatten das größte Vestibül-Geschäft in der Stadt.
Ein besonderes Trio von Julius’ Stammkunden kam immer wieder – Chelsea Quealey, Dan Qualey (mit langem »a«) und Jake Qualey (mit kurzem »a«). Wenn sie mit mir in der Bar waren, gab mir das ein Gefühl der Sicherheit. Wenn ich sie nicht mehr vorstellen konnte, ohne die Namen durcheinanderzubringen, dann wusste ich, dass es Zeit war, auf Bier umzusteigen.
»Jetzt ist es so weit«, sagte Phyllis und schaute auf die Menge. »Dein Leben beginnt mit vierzig.«
»Es ist ein Kompromiss«, sagte ich. »Town Hall mit Getränken.«
Pa würde seinen Spaß daran gehabt haben; er musste aus seiner Kneipe erst nach Hause gehen, um Musik zu hören und um sie zu spielen. Nach dem Abendessen nahm er dann seine Fiedel; eines der Mädchen begleitete ihn am Klavier. Manchmal spielte mein Bruder Cliff auf dem Althorn. Es war immer Musik im Haus. Ich summte Turkey In The Straw, noch bevor ich Mama sagen konnte; Papa sang es mir vor, wenn er mich auf den Knien schaukelte. Freunde und Verwandte aus Indiana kamen ständig zu uns zu Besuch. Allem Anschein nach hatten sie oft Geschäfte in Illinois abzuschließen.
Indiana war ein trockener Staat. Manchmal kamen meine Onkel. Sie blieben bei uns, und ich hörte zu, wenn sie von der alten Farm in Indiana und von Großvater David Condon erzählten, der aus Irland gekommen war und vor meiner Geburt starb. Er muss ein großer Mann gewesen sein, dachte ich; seine Söhne waren groß und stark, aber sie sprachen über ihren Vater, als ob er noch größer und stärker als sie alle zusammen gewesen wäre. Sie sprachen über den Saloon, den Pa in Indiana, in Goodland, hatte, bevor der Staat trocken wurde. Nach einer Weile standen sie dann auf und besuchten den Saloon, den Pa in Momence, Illinois, hatte. Der Saloon war mal auf dieser oder jener Straßenseite, das hing davon ab, wie die Leute wählten. Range Street lief mitten durch Momence, und mitten durch die Range Street lief …