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Persönliche Nachrichten › Alex › gespeichert

alex: Gerade ist das Programm für das kostenlose Strand-Open-Air veröffentlicht worden, das zum Auftakt des Sommerfilmfestivals läuft. Rate, welcher Hitchcock-Film gezeigt wird – Der unsichtbare Dritte!

mink: Echt?! Ich hasse dich. Aber den hab ich schon letztes Jahr im Kino gesehen, also …

alex: Zählt nicht. Strandkino ist viel cooler. Wie Autokino, bloß ohne Abgase. Und wie kann man sich die Verfolgungsszene am Mount Rushmore ansehen und dabei nicht die Zehen in den Sand bohren wollen? Ich hab eine Idee. Sag deinem Vater, du willst ihn im Juni besuchen, dann können wir uns den Film zusammen anschauen.

mink: Ich steh nicht so auf Strand, weißt du noch?

alex: Dann warst du noch nie an einem richtigen Strand. Die Ostküste kannst du vergessen.

mink: Man kann alle Strände vergessen. *wirft einen Blick aufs Festivalprogramm* Außerdem, wenn ich meinen Vater besuchen würde, dann eher, um mir in der letzten Festivalwoche diese ganzen Georges-Méliès-Filme anzuschauen … in Kinosälen. Will heißen: ohne Sand.

alex: Ich dreh durch. (Meinst du das ernst?! Bitte mein das ernst. Wir könnten uns endlich mal treffen?)

mink: Ich weiß nicht.

alex: Wenn du das ernst meinst, dann müssen wir zusammen Der unsichtbare Dritte ansehen. Draußen, am Strand. Natur kommt einfach am besten.

mink: Wer sagt denn, dass man Filme draußen ansehen soll? Aber gut. Wenn ich es wirklich mache, sehen wir Der unsichtbare Dritte am Strand.

alex: Ein Date! Ein Date!

mink: Bleib locker. Ich sagte, wenn – also falls – ich nach Kalifornien zu meinem Vater fliegen SOLLTE. Ich träume bloß vor mich hin. Vielleicht wird das nie was.

»Darf ich Sie noch mal fragen, wie Ihr Name war?«
CARY GRANT, DER UNSICHTBARE DRITTE (1959)

1

Er könnte irgendeiner von den Leuten hier sein.

Schließlich habe ich keine Ahnung, wie Alex aussieht. Ich weiß nicht mal seinen richtigen Namen. Na ja, wir chatten seit Monaten, ein paar wichtige Sachen weiß ich. Er ist klug und lieb und lustig, und wir haben beide gerade die Elfte abgeschlossen. Wir haben dieselbe Leidenschaft – alte Filme. Und wir sind beide gern allein.

Wären das unsere einzigen Gemeinsamkeiten, würde ich hier allerdings gerade nicht wie ein kopfloses Huhn herumlaufen. Aber Alex lebt in derselben Stadt wie mein Vater und das macht die Sache … kompliziert.

Denn indem ich gerade in einem kalifornischen Flughafen die Rolltreppe hinunterfahre und Fremde beobachte, die in die entgegengesetzte Richtung schweben, begebe ich mich prinzipiell in die Nähe von Alex und in meinem Kopf fechten endlose Möglichkeiten gegeneinander. Ist Alex klein? Groß? Schmatzt er oder hat er irgendeinen nervigen Lieblingsspruch? Popelt er in der Öffentlichkeit in der Nase? Hat er statt Armen bionische Tentakel? (Merken: Kein Ausschlusskriterium.)

Tja. Den nicht virtuellen Alex zu treffen könnte super sein, aber ebenso gut eine fette peinliche Enttäuschung. Und genau aus diesem Grund bin ich nicht sicher, ob ich wirklich mehr über ihn erfahren will.

Ihr müsst nämlich wissen, eigentlich gehe ich prinzipiell jeder Konfrontation aus dem Weg. Schon immer. Dass ich jetzt, eine Woche nach meinem siebzehnten Geburtstag, auf die andere Seite des Landes fliege, um zu meinem Vater zu ziehen, hat nichts mit Mut zu tun. Es ist eine Meisterleistung an Vermeidung. Ich heiße Bailey Rydell und bin eine notorische Ausweicherin.

Als meine Mutter meinen Vater gegen Nate Catlin von Catlin & Partner ausgetauscht hat – ich schwör’s, so stellt er sich ernsthaft vor –, bin ich nicht wegen ihrer Versprechungen bei ihr geblieben: neue Klamotten, ein eigenes Auto, eine Reise nach Europa. Alles ganz nett, klar, aber nichts davon war mir wirklich wichtig. (Oder ist tatsächlich eingetreten. Aber das nur am Rande.) Sondern weil ich nicht wusste, wie ich mich meinem Vater gegenüber verhalten sollte, während er sich an sein neues Leben als sitzengelassener Ehemann gewöhnte. Es hatte auch nichts damit zu tun, dass er mir nichts bedeuten würde. Eher im Gegenteil.

Aber in einem Jahr kann sich vieles ändern, und da sich Mom und Nate mittlerweile ununterbrochen angiften, ist es für mich an der Zeit, den Abflug zu machen. Das ist schließlich die Grundregel einer Ausweicherin. Man muss flexibel sein und wissen, wann der Zeitpunkt zum Verschwinden gekommen ist. Sonst ist am Ende alles zu verfahren. Und es ist für alle Beteiligten angenehmer, wirklich. Ich will schließlich für jeden nur das Beste.

Nachdem ich mein Gepäck vom Laufband genommen habe, spähe ich durch die automatischen Türen, hinter denen mein Vater mich erwartet. Ich ducke mich hinter einen sonnigen California Dreamers!-Aufsteller. Das Wichtigste, um unangenehme Situationen zu vermeiden, ist nämlich der Präventivschlag: Sorgt immer dafür, dass ihr die anderen als Erste seht. Und bevor ihr mich der Feigheit bezichtigt, lasst es euch noch mal durch den Kopf gehen. Es ist nicht einfach, so neurotisch zu sein. Es erfordert Planung und gute Reflexe. Einen undurchsichtigen, verschlagenen Charakter. Meine Mutter sagt immer, ich würde eine 1a-Taschendiebin abgeben, denn bevor jemand auch nur »Wo ist meine Brieftasche?« rufen kann, bin ich schon weg. Wie der Artful Dodger, der Meisterdieb aus Oliver Twist, der sich aus jeder Schwierigkeit herauslaviert. Das bin ich.

Und da drüben ist mein Vater, der alte Schlawiner. Der Artful Dodger senior. Wie gesagt, ich habe ihn vor einem Jahr das letzte Mal getroffen und der dunkelhaarige Mann, der im schrägen Strahl der frühen Nachmittagssonne steht, ist anders, als ich ihn in Erinnerung habe. Dass Dad schlanker und durchtrainierter ist, überrascht mich nicht. Ich habe seinem fitnessstudiogestählten Körper jeden Sonntag Beifall gezollt, wenn er beim Skypen stolz seine Arme präsentiert hat. Die dunkleren Haare sind auch nichts Neues; ich habe ihn wirklich oft genug damit aufgezogen, dass er versucht, die letzten paar Jahre seiner Vierziger ungeschehen zu machen, indem er das Grau wegfärben lässt.

Aber während ich ihn heimlich und gründlich aus meinem Versteck beobachte, wird mir bewusst, dass ich nicht erwartet hatte, dass mein Vater so … glücklich aussehen würde.

Vielleicht wird es doch nicht so kompliziert. Tief Luft holen.

Als ich aus meinem Versteck herauskomme, grinst er von einem Ohr zum anderen.

»Mink«, sagt er, das ist mein alberner pubertärer Spitzname.

Es stört mich nicht, er ist der Einzige, der mich so nennt (abgesehen von Chatfreunden), und alle anderen in der Ankunftshalle sind sowieso zu sehr damit beschäftigt, ihre eigenen verwandten Fremden zu begrüßen, um sich um uns zu kümmern. Bevor ich etwas dagegen tun kann, nimmt mich mein Vater in die Arme und drückt mich so fest, dass meine Rippen knacken. Wir sind beide ein bisschen gerührt. Ich schlucke den Kloß in meinem Hals herunter und zwinge mich, Haltung zu bewahren.

»Bailey.« Er mustert mich scheu. »Du bist ja richtig erwachsen geworden.«

»Du kannst mich als deine jüngere Schwester ausgeben, falls du sonst vor deinem Science-Fiction-Altherrenclub zu alt aussiehst«, spotte ich, um der Situation die Verlegenheit zu nehmen, und tippe auf den Roboter auf seinem Alarm im Weltall-Shirt.

»Niemals. Du bist das Beste, was ich je getan habe.«

Argh. Es ist mir peinlich, wie geschmeichelt ich mich fühle, und mir fällt keine schlagfertige Antwort ein. Es endet damit, dass ich ein paarmal seufze.

Als er mir einige platinblond gefärbte Strähnen meiner langen Lana-Turner-Wellen hinters Ohr schiebt, zittern seine Finger. »Ich freu mich so, dass du hier bist. Du bleibst doch, oder? Du hast während des Flugs nicht deine Meinung geändert?«

»Wenn du glaubst, dass ich freiwillig in diese Schlammschlacht zurückkehre, die sie Ehe nennen, kennst du mich echt schlecht.«

Er kann seine Schadenfreude nur schwer verbergen und ich muss unwillkürlich zurücklächeln. Er umarmt mich noch einmal, aber jetzt ist das in Ordnung. Der schlimmste Teil der krampfigen Begrüßungsszene ist vorbei.

»Wollen wir los? Dann kannst du vergleichen, ob es draußen auch so aussieht«, sagt er und schaut vielsagend zu dem California Dreamers!-Aufsteller.

Ups. Hätte ich mir ja denken können. Einen listigen Artful Dodger kann man nicht überlisten.

Nach einer Kindheit an der Ostküste, während der eine Klassenfahrt nach Chicago meine bisher weiteste Reise in den Westen war, ist es merkwürdig, ins helle Sonnenlicht hinauszutreten und diesen riesigen, so was von blauen Himmel zu sehen. Es wirkt flacher hier ohne all die dichten Baumkronen der nördlichen Ostküste, die den Horizont verdecken – so flach, dass ich rings um das Silicon Valley die Ausläufer der Berge erkennen kann. Da ich nach San José geflogen bin, die einzige große Stadt in der Nähe, haben wir zum neuen Haus meines Vaters an der Küste noch eine Dreiviertelstunde Fahrt vor uns. Nicht gerade eine Strafe, vor allem nicht, als ich sehe, dass wir in einem glänzenden blauen Cabrio mit heruntergeklapptem Verdeck fahren werden.

Mein Vater ist Wirtschaftsprüfer. Früher fuhr er eine brave Familienkutsche. Kalifornien scheint das geändert zu haben. Was wohl noch?

»Ist das dein Flitzer für die Midlife-Crisis?«, frage ich, als er den Kofferraum aufschließt, damit ich mein Gepäck verstauen kann.

Er kichert. Klarer Fall. »Steig ein«, sagt er und wirft einen Blick auf sein Handy. »Und bitte schreib deiner Mutter eine Nachricht, dass du nicht bei einem Flugzeugabsturz im Flammeninferno umgekommen bist, sonst nervt sie mich endlos weiter.«

»Zu Befehl, Captain Pete.«

»Dumme Nuss.«

»Spinner.«

Er rempelt mich mit der Schulter an und ich remple zurück und von einem Moment auf den anderen ist wieder alles wie früher. Zum Glück. Sein neuer (alter) Wagen riecht nach dem Zeug, mit dem irgendwelche Pedanten Leder einsprühen, auf dem Boden stapeln sich ausnahmsweise keine Buchhaltungsunterlagen, offenbar werde ich bevorzugt behandelt. Als er den abartig lauten Motor aufheulen lässt, schalte ich zum ersten Mal seit der Landung mein Telefon ein.

Nachrichten von Mom: vier. Während wir aus dem Flughafenparkhaus fahren, antworte ich das Allernotwendigste. Allmählich lässt der Schock über das, was ich getan habe, nach – verdammte Scheiße, ich bin gerade auf die andere Seite des Landes gezogen. Ich versuche mir einzureden, das sei keine große Sache. Immerhin habe ich, als wir dank Nate & Partner und Mom von New Jersey nach Washington, D. C., gezogen sind, schon vor ein paar Monaten die Schule gewechselt. Und musste deshalb keine Freundschaften dort zurücklassen, in die ich nennenswert investiert hätte. Auch in einen Freund hatte ich nicht investiert. Doch als ich die Nicht-Notfall-Nachrichten auf meinem Telefon durchgehe, sehe ich eine von Alex auf der Film-Community-Seite und werde wieder nervös, weil ich nun in derselben Stadt bin.

alex: Darf man seinen ehemals besten Freund hassen? Bitte rede mir aus, seine Beerdigung zu planen. Wieder mal.

Ich schicke eine kurze Antwort:

mink: Du solltest die Stadt verlassen und dir neue Freunde suchen. Musst du weniger Blut wegwischen.

Trotz gewisser Bedenken muss ich zugeben: Ich finde es ziemlich aufregend, dass Alex keine Ahnung hat, dass ich hier bin. Andererseits wusste er nie genau, wo ich wohne. Da ich mir nicht die Mühe gemacht habe, mein Internetprofil zu aktualisieren, als wir nach Washington, D. C., zogen, lebe ich für ihn nach wie vor in New Jersey.

Als Alex mich das erste Mal gefragt hat, ob ich nach Kalifornien kommen und mir Der unsichtbare Dritte mit ihm ansehen will, wusste ich nicht so recht, was ich davon halten sollte. Es ist nicht gerade der Film, zu dem man ein Mädchen einlädt, das man bezirzen möchte – in den meisten Fällen zumindest. Der Film gilt als eines der Meisterwerke von Alfred Hitchcock, Cary Grant und Eva Marie Saint spielen mit und es geht um eine Verwechslung. Er beginnt in New York und endet im Mittleren Westen, als Cary Grant in einer absoluten Kultszene der Filmgeschichte über die steinernen Präsidentenköpfe des Monuments von Mount Rushmore gejagt wird. Aber nun stelle ich mir dauernd vor, ich wäre die verführerische Eva Marie Saint und Alex wäre Cary Grant und wir würden uns, obwohl wir uns ja eigentlich überhaupt nicht kennen, Hals über Kopf ineinander verlieben. Und ja, ich weiß, das ist ein Wunschtraum und in der Realität könnte es voll in die Hose gehen, deshalb habe ich ja einen Plan: Ich werde heimlich nach Alex suchen, bevor Der unsichtbare Dritte auf dem Sommerfilmfestival läuft.

Ich behaupte nicht, dass es ein guter Plan ist. Oder ein einfacher. Aber es ist besser als ein verlegenes Treffen mit irgendjemandem, bei dem theoretisch alles passt, der aber in der Realität vielleicht meine Träume zunichtemacht. Also verfahre ich nach der Artful-Dodger-Methode – mit sicherem Abstand, so dass keiner von uns verletzt werden kann. Es ist die beste Herangehensweie, glaubt mir. Ich habe eine Menge Erfahrung mit fiesen Fremden.

»Ist er das?«, fragt Dad.

Ich schiebe mein Handy schnell in die Tasche. »Wer?«

»Wie heißt er doch gleich? Dein seelenverwandter Filmfanatiker.«

Ich habe Dad kaum etwas über Alex erzählt. Gut, er weiß, dass Alex hier in der Gegend wohnt, und als ich irgendwann zu dem Schluss kam, dass ich nicht mehr mit Mom und Nate zusammenleben kann, hat er mir diese Tatsache sogar im Scherz als Köder hingeworfen.

»Er überlegt gerade, ob er jemanden umbringen soll«, erzähle ich Dad. »Vielleicht verabrede ich mich also heute Nacht mit ihm in einer dunklen Gasse und springe in seinen Bus ohne Kennzeichen. Hast du doch kein Problem mit, oder?«

Eine Sekunde lang herrscht eine unterschwellige Anspannung zwischen uns. Er weiß, dass ich ihn bloß aufziehe; nach dem, was unserer Familie vor vier Jahren passiert ist, würde ich niemals ein solches Risiko eingehen. Aber das ist Vergangenheit und bei Dad und mir geht es nur um die Zukunft. Auf uns warten bloß Sonnenschein und Palmen.

Er schnaubt. »Wenn er einen Bus fährt, dann mach dir keine Hoffnung, ihn zu finden.« Scheiße. Wieso geht er davon aus, dass das kein Scherz von mir war? »Dort, wo wir hinfahren, haben nämlich alle Busse.«

»Gruselige Busse von Pädophilen?«

»Eher Hippiebusse. Du wirst sehen. Coronado Cove ist anders.«

Und als wir die Interstate verlassen – Entschuldigung, den »Freeway«, so heißt es hier in Kalifornien –, sehe ich, was er mit »anders« gemeint hat. Früher war Coronado Cove eine kalifornische Missionsstation, aber nun ist es eine belebte Touristenstadt zwischen San Francisco und Big Sur. Zwanzigtausend Einwohner und doppelt so viele Touristen. Sie kommen aus drei Gründen: wegen der Mammutbäume, wegen des privaten FKK-Strands und zum Surfen.

Ja, genau: Mammutbäume.

Sie kommen auch aus einem anderen Grund, den ich noch früh genug und aus nächster Nähe sehen werde; schon bei der bloßen Vorstellung grummelt mein Magen. Also denke ich lieber nicht daran. Nicht jetzt. Die Stadt ist nämlich noch hübscher, als sie auf Dads Fotos aussah. Von Monterey-Zypressen gesäumte Straßen, die sich durch die Hügel schlängeln. Spanisch anmutende Häuser mit Dachziegeln aus Terrakotta. In der Ferne dunstverhangene purpurfarbene Berge. Nach einer Weile biegen wir in die Gold Avenue ein, eine gewundene zweispurige Straße entlang der Küste, und da sehe ich ihn endlich: den Pazifischen Ozean.

Alex hatte Recht. Die Strände an der Ostküste kann man wirklich vergessen. Das hier ist … der Hammer.

»Das Meer ist so blau«, sage ich und merke, wie dämlich es klingt, aber mir fällt einfach keine Beschreibung für das strahlend aquamarinblaue Wasser ein, das gegen den Strand schlägt. Selbst im Auto kann ich es riechen. Das Wasser ist salzig und rein, und im Gegensatz zum Strand zu Hause, wo es beißend nach Jod und erhitztem Metall riecht, habe ich nicht das Bedürfnis, das Fenster hochzukurbeln.

»Hab ich’s dir nicht gesagt? Es ist ein Paradies hier«, sagt Dad. »Von jetzt an wird alles gut. Versprochen, Mink.«

Ich drehe mich zu ihm und lächle, ich möchte so gern glauben, dass er Recht hat. Dann schnellt plötzlich sein Kopf auf die Windschutzscheibe zu und wir machen eine Vollbremsung mit quietschenden Reifen.

Als ich nach vorn gerissen werde und mich am Armaturenbrett abstütze, fühlt sich der Sicherheitsgurt an, als würde eine Metallstange auf meinen Oberkörper schlagen. Ein kurzer Schmerz zuckt durch meinen Mund und ich schmecke Eisen. Der schrille Schrei, der mir entfährt, ist viel zu laut und hysterisch, denn außer dass ich mir auf die Zunge gebissen habe, ist niemandem etwas passiert, auch der Wagen ist unversehrt.

»Alles gut?«, fragt Dad.

Vor allem bin ich megaverlegen; ich nicke und drehe mich zum Grund der Fast-Karambolage: zwei Jungs in meinem Alter mitten auf der Straße. Sie sehen beide wie wandelnde Werbung für Kokossonnenöl aus – zerzauste sonnengebleichte Haare, Badeshorts und sehnige Muskeln. Einer dunkel, einer hell. Der Flachsblonde ist allerdings stinksauer und schlägt mit den Fäusten auf die Kühlerhaube.

»Pass auf, wo du langfährst, du Wichser«, brüllt er und deutet auf ein buntes handgemaltes Holzschild, das Surfer zeigt, die im Gänsemarsch mit ihren Boards über einen Zebrastreifen laufen – wie die Beatles auf dem Plattencover von Abbey Road. Darüber steht: Willkommen in Coronado Cove. Darunter: Für ein freundliches Miteinander – geben Sie Surfern Vorfahrt.

Hmm, ja, nein. Das Schild ist in keiner Weise offiziell, und selbst wenn es das wäre, ist hier kein Zebrastreifen und dieser weißhaarige hemdlose Heini trägt kein Surfboard. Aber eher beiße ich mir die Zunge ab, als das zu sagen, denn A) habe ich gerade wie die letzte Hausmutti gekreischt und B) gehe ich Auseinandersetzungen ja grundsätzlich aus dem Weg. Vor allem bei einem Typen, der aussieht, als hätte er sich gerade eine Ladung von irgendetwas reingezogen, das er in einem verdreckten Trailer aufgekocht hat.

Sein braunhaariger Kumpel besitzt zumindest den Anstand, ein Shirt zu tragen, wenn er schon blind über die Straße läuft. Außerdem sieht er einfach nur blendend aus (zehn Punkte) und versucht, seinen bescheuerten Freund von der Straße zu ziehen (zwanzig Punkte). Dabei kommt eine fiese gezackte Linie von dunkelrosa Narben zum Vorschein, die sich vom Ärmel seines ausgeblichenen Shirts bis zu der leuchtend roten Uhr an seinem Handgelenk zieht. Es sieht aus, als hätte jemand seinen Arm vor langer Zeit in Frankensteinmanier zusammengeflickt; aber vielleicht ist es ja nicht das erste Mal, dass er seinen Freund von der Straße zerren muss. Er scheint genauso verlegen zu sein, wie ich mich – mit dem Hupkonzert hinter uns – hier im Auto fühle. Er hebt eine Hand und entschuldigt sich bei meinem Vater. »Sorry.«

Mein Vater winkt freundlich zurück und wartet, bis die beiden von der Straße sind, dann gibt er vorsichtig wieder Gas. Fahr schneller. Bitte. Ich presse meine lädierte Zunge gegen die Zähne und taste die Stelle ab, wo ich draufgebissen habe. Der verstrahlte blonde Typ brüllt noch immer rum, während mich der mit dem vernarbten Arm anstarrt, der Wind bläst seine wilden Locken auf eine Seite. Eine Sekunde lang halte ich die Luft an und starre zurück, bis er schließlich aus meinem Blickfeld verschwindet.

Auf der Gegenspur blinken kurz rote und blaue Lichter. Super. Gilt so was hier als Unfall? Offenbar nicht, der Streifenwagen zuckelt an uns vorbei. Als ich mich in meinem Sitz umdrehe, sehe ich, wie eine Polizistin mit dunkellila Sonnenbrille den Arm aus dem Fenster streckt und die Jungs verwarnt.

»Surfer«, brummt Dad, als wäre das ein Schimpfwort. Während die Polizistin und die Jungs und der goldene Streifen Sand hinter uns verschwinden, überlege ich, ob Dad mit seinem Paradies vielleicht ein bisschen dick aufgetragen hat.

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alex: Hast du heute Abend was vor?

mink: Nur Hausaufgaben.

alex: Wollen wir uns zusammen The Big Lebowski anschauen? Du kannst den Film streamen.

mink: *Verständnisloser Blick* Wer fragt das? Wurde dein Account von einem Studentenverbindungsstreber gehackt?

alex: Das ist EIN GUTER FILM. Ein Klassiker von den Coen-Brüdern, und O Brother, Where Art Thou hat dir gefallen. Komm schon … das wird lustig. Sei nicht so ein Filmsnob.

mink: Ich bin kein Filmsnob. Ich schau mir bloß nicht alles an.

alex: Ich mag dich trotzdem … Los, komm. Ich hab heute Spätschicht. Du kannst mich nicht einfach so einsam und gelangweilt hier rumhängen lassen. Ich schau dich gerade mit Hundeaugen an.

mink: Du siehst dir während der Arbeit Filme an?

alex: Wenn nicht viel los ist. Glaub mir, ich mach immer noch einen besseren Job als der Typ, der mit mir zusammenarbeitet, auch bekannt als »der vom anderen Stern«. Ich glaube, er hat es noch kein einziges Mal geschafft, bei der Arbeit nicht high zu sein.

mink: Oh, ihr liederlichen Kalifornier. *Kopfschütteln*

alex: Und, sind wir jetzt verabredet? Du kannst deine Hausaufgaben während des Films machen. Ich würde dir sogar helfen. Hast du sonst noch irgendwelche Ausreden auf Lager? Meine Gegenargumente lauten: Deine Haare kannst du während des Vorspanns waschen, wir können anfangen, wenn du zu Abend gegessen hast, und wenn es deinem Freund nicht passt, dass du mit einem anderen einen Film im Internet anschaust, ist er ein Idiot und du solltest Schluss machen, sofort. Und, was meinst du?

mink: Na ja, wenn du einen anderen Film auswählst, hast du Glück: Meine Haare sind gewaschen, ich esse normalerweise gegen acht zu Abend und momentan bin ich Single. Nicht dass das irgendwie von Bedeutung wäre.

alex: Aah. Ich auch. Nicht dass das irgendwie von Bedeutung wäre …

»Ich fürchte, ich lasse niemanden an mich ran.
Nimm es nicht persönlich.«
ANNA KENDRICK, PITCH PERFECT (2012)

2

Obwohl ich Dads Bude schon vom Skypen kannte, war es merkwürdig, alles mit eigenen Augen zu sehen. Er wohnt in einer ruhigen schattigen Straße neben einem Wald aus Mammutbäumen und es ist eigentlich eher eine Gartenhütte als ein Haus. Im Erdgeschoss gibt es einen gemauerten Kamin, im Obergeschoss befinden sich zwei kleine Zimmer. Da es früher ein Ferienhaus war, komme ich sogar in den Genuss eines eigenen Bades.

Das Coolste an dem Haus ist der Wintergarten auf der Rückseite, dort gibt es nicht nur eine Hängematte, er ist auch um einen Mammutbaum herumgebaut, der durchs Dach ragt. Was mich allerdings wirklich bei jedem Hinschauen umhaut, ist das, was vor diesem Wintergarten auf einem kleinen Gartenweg steht: eine leuchtend türkisfarbene alte Vespa mit einer Leopardensitzbank.

Ein Motorroller.

Meiner.

Ich und ein Roller.

Huuuuh?

Der kleine Motor und die altmodischen Weißwandreifen schaffen höchstens sechzig Stundenkilometer, aber das Fahrgestell aus den Sechzigern ist komplett überholt.

»Da steht dein Fluchtfahrzeug«, hatte Dad stolz erklärt, als er mich hinters Haus führte und mir den Roller zum ersten Mal zeigte. »Du brauchst schließlich etwas, um diesen Sommer zur Arbeit zu kommen. Im Herbst kannst du dann damit zur Schule fahren. Du benötigst nicht mal einen extra Führerschein dafür.«

»Der ist abgefahren«, sagte ich. Und fantastisch. Aber verrückt. Ich hatte Angst, damit aufzufallen.

»Von den Dingern gibt es Hunderte in der Stadt«, beruhigte er mich. »Ich dachte, entweder Roller oder Bus, aber da du keine Surfbretter herumkutschierst, hielt ich den Roller für praktischer.«

»Er passt super zu einem Artful Dodger«, räumte ich ein.

»Du kannst tun, als wärst du Audrey Hepburn in Ein Herz und eine Krone

Tja, mein Vater weiß wirklich, wie er mich kriegt. Ich habe mir diesen Film bestimmt ein Dutzend Mal angesehen und er erinnert sich daran. »Und die altmodische Leopardensitzbank ist richtig genial.«

Genau wie der türkisfarbene Helm. Wegen der Sitzbank habe ich den Roller Baby getauft, sozusagen als Hommage an einen meiner absoluten Lieblingsfilme, Leoparden küsst man nicht – in der Komödie aus den Dreißigern spielen Cary Grant und Katharine Hepburn ein ungleiches Paar, das durch einen zahmen Leoparden namens Baby zusammenkommt. Sobald ich mich für den Namen entschieden hatte, war ich Feuer und Flamme. Nun gab es kein Zurück mehr. Der Roller gehörte mir. Dad zeigte mir, wie man damit fährt, und nach dem Abendessen kurvte ich tausend Mal die Straße hoch und runter und irgendwann brachte ich den Mut auf, in die Stadt zu fahren, und zwar auf Teufel und drogenumnebelte verkehrsblinde Surfer komm raus.

Am nächsten Tag muss Dad arbeiten, wofür er sich bei mir entschuldigt, aber allein zu sein macht mir überhaupt nichts aus. Ich packe meine Sachen aus und fahre mit meinem Roller herum, zwischendurch mache ich in der Wintergartenhängematte ein Nickerchen gegen den Jetlag. Ich schicke Alex ein paar Nachrichten, halte aber weiterhin daran fest, dass sich meine Sommerpläne komplizierter gestalten als angenommen. Vielleicht fällt es mir leichter, ihm zu sagen, wo ich bin, wenn ich mich hier eingewöhnt habe.

Nach einem Tag Ruhe und einem Spieleabend mit Dad, den wir mit Die Siedler von Catan zubringen (unserem Lieblingsbrettspiel), muss ich meine neue Unabhängigkeit unter Beweis stellen. Einen Ferienjob zu finden hat bei meinen Umzugsüberlegungen zu den Dingen gehört, vor denen mir graute, aber Dad hat seine Beziehungen spielenlassen. In D. C. hatte alles noch okay geklungen. Aber jetzt, da ich hier bin, bedaure ich ein bisschen, dass ich eingewilligt habe. Für einen Rückzieher ist es nun allerdings zu spät. »Ferienjobs sind rar hier«, erklärt mir mein Vater fröhlich, als ich herumjammere.

Dad weckt mich superfrüh, bevor er zur Arbeit geht, aber ich schlafe versehentlich wieder ein. Als ich das nächste Mal aufwache, bin ich spät dran, in rasender Eile ziehe ich meine Klamotten an und stürze aus der Tür. Der morgendliche Küstennebel erstaunt mich jeden Tag von neuem. Er hängt wie ein graues Spitzenlaken in den Mammutbäumen und sorgt bis zum späten Vormittag dafür, dass es kühl ist, danach brennt die Sonne ihn weg. Der Nebel mag einen gewissen beschaulichen Reiz haben, aber wenn man wie ich einen Roller durch Dads bewaldetes Viertel lenken muss, könnte man gut darauf verzichten, denn stellenweise hängt er tief und streckt sich wie Finger durch die Äste.

Mit einer Karte bewaffnet und einem Kloß von der Größe Russlands im Magen trete ich dem Nebel mutig entgegen und fahre mit Baby in die Stadt. Mein Vater hat mir den Weg schon mit dem Auto gezeigt, trotzdem wiederhole ich bei jedem Stoppschild stumm die Wegbeschreibung. Da es noch nicht mal neun ist, sind die meisten Straßen leer, das ändert sich allerdings, als ich die gefürchtete Gold Avenue erreiche. Mein Ziel befindet sich nur ein paar Blocks die gewundene verstopfte Straße hinunter, aber ich muss an der Strandpromenade vorbei (Riesenrad, laute Musik, Minigolf) und auf die Touristen aufpassen, die über die Straße zum Strand gehen, nachdem sie sich im Pancake House mit Frühstück vollgestopft haben – das übrigens o-ber-le-cker riecht –, und Hilfe, wo kommen eigentlich all diese Skater her?

Gerade als ich kurz davor bin, irgendeiner Form von stressinduzierter Hirnüberanstrengung zu erliegen, entdecke ich am Ende der Promenade die felsige Küste sowie das Schild: Höhlenpalast.

Mein Ferienjob.

Ich drücke die Handbremsen und lenke Baby langsam in Richtung Mitarbeiterparkplatz. Rechts ist die Hauptzufahrt, die die Klippe hinauf zum Besucherparkplatz führt, der heute jedoch leer ist. »Die Höhle«, wie die Leute hier in der Gegend sie laut Dad nennen, ist wegen der Einführungsveranstaltung und irgendwelcher Arbeiten an den Außenanlagen geschlossen. Da morgen offiziell das Sommergeschäft beginnt, werden heute die neuen Saisonmitarbeiter eingewiesen. Dazu gehöre auch ich.

Dad hat Buchhaltungsarbeiten für die Höhle übernommen und kennt deshalb den Geschäftsführer. So hat er den Job für mich klargemacht. Ansonsten wären sie von meinem dürftigen Lebenslauf, der exakt einen Sommer Babysitten und ein paar Monate Aktensortieren in New Jersey beinhaltet, wohl kaum beeindruckt gewesen.

Doch das ist alles Vergangenheit. Und obwohl ich gerade so nervös bin, dass ich mich über Babys stylishen Retro-Tacho erbrechen könnte, freue ich mich irgendwie auf die Arbeit hier. Ich mag Museen. Sehr.

Folgendes habe ich im Internet über die Höhle erfahren: Vivian und Jay Davenport aus San Francisco wurden reich, als sie während des Ersten Weltkriegs dieses Stück Land für ein Strandhaus erwarben und dreizehn Millionen Dollar in Goldmünzen in einer Höhle in den Klippen entdeckten. Davon baute sich das exzentrische Paar direkt über dem Eingang zur Höhle ein Hundert-Zimmer-Anwesen am Meer und füllte es mit exotischen Antiquitäten, Raritäten und seltsamen Dingen, die es von seinen Weltreisen mitbrachte. In den Zwanzigern und Dreißigern gaben die beiden extravagante alkoholgeschwängerte Partys und brachten reiche Leute aus San Francisco und Hollywood-Starlets zusammen. In den Fünfzigern endete alles in einer Tragödie, Vivian erschoss Jay und beging anschließend Selbstmord. Nachdem das Anwesen zwanzig Jahre leer gestanden hatte, entschieden die Kinder, dass sich das Haus besser nutzen ließ, indem man eine Touristenattraktion daraus machte.

Okay, das ganze Teil ist definitiv total überkandidelt und skurril und die Hälfte der sogenannten Sammlung besteht aus Replikas, aber angeblich birgt es auch einige Erinnerungsstücke an Hollywoods Glanzzeit. Und mal ehrlich, dort zu arbeiten kann einfach nur tausendmal besser sein, als Gerichtsakten zu archivieren.

Der von Hecken verdeckte Mitarbeiterparkplatz befindet sich hinter einem Seitenflügel des Anwesens. Ich schaffe es, Baby in eine Lücke neben einem anderen Roller zu manövrieren, ohne irgendetwas zu demolieren, anschließend wuchte ich den Roller auf den Hauptständer – tadaa! – und schiebe ein Kettenschloss durchs Hinterrad. Mein Helm passt mit Mühe und Not in das Fach unter der verschließbaren Sitzbank; ich bin startklar.

Da ich nicht wusste, welche Kleidung für die Einweisung als angemessen betrachtet wird, trage ich ein Fünfzigerjahre-Sommerkleid mit einer dünnen Strickjacke darüber. Meine Lana-Turner-Wellen scheinen die Fahrt überlebt zu haben und mein Make-up ist auch unversehrt. Als ich ein paar andere in Flipflops und Shorts in eine Seitentür gehen sehe, komme ich mir aufgedonnert vor. Aber nun ist es zu spät, ich folge ihnen ins Gebäude.

An der Tür sitzt hinter einem Empfangstresen eine gelangweilte Frau. Die Gruppe, der ich gefolgt bin, ist nirgendwo zu entdecken, aber an dem Tresen steht ein Mädchen.

»Name?«, fragt die gelangweilte Frau.

Das Mädchen ist zierlich und ungefähr in meinem Alter, sie hat dunkelbraune Haut und kurze schwarze Haare. Auch sie ist viel zu förmlich angezogen und ich fühle mich schon ein wenig besser. »Grace Achebe«, antwortet sie mit der leisesten und hellsten Stimme, die ich je gehört habe. Sie hat einen starken britischen Akzent und spricht so leise, dass die Frau hinter dem Tresen sie zweimal ihren Namen wiederholen lässt. Zweimal.

Schließlich wird sie auf der Liste abgehakt, erhält einen Schnellhefter mit Formularen und wird angewiesen, in den Pausenraum zu gehen. Ich lasse dieselbe Prozedur über mich ergehen. So wie es aussieht, füllen schon zwanzig oder noch mehr Leute Unterlagen aus. Da es keinen freien Tisch mehr gibt, setze ich mich zu Grace.

Sie flüstert: »Du hast hier auch noch nicht gearbeitet, oder?«

»Nein. Ich bin neu«, sage ich und füge hinzu: »In der Stadt.«

Sie wirft einen Blick auf meine Unterlagen. »Oh. Wir sind gleich alt. Brightsea oder Oakdale? Oder privat?«

Ich brauche eine Sekunde, bis ich kapiere, was sie meint. »Ich fange im Herbst auf der Brightsea High School an.«

»Da sind wir schon zwei«, sagt sie mit einem breiten Lächeln und deutet auf die Zeile für Angaben zur Ausbildung. Nachdem ein weiterer Neuer reingekommen ist, erzählt sie mir noch ein paar Sachen über das Museum. »Sie stellen jeden Sommer ungefähr fünfundzwanzig Leute ein. Es soll langweilig sein, aber unstressig. Jedenfalls besser, als rosa Zuckerwattekotze von der Promenade zu schrubben.«

Zweifellos. Ich habe das Anmeldeformular schon online ausgefüllt, aber sie haben uns noch ein Handbuch und ein paar andere seltsame Formblätter gegeben, die wir unterschreiben sollen. Geheimhaltungsverpflichtungen. Die Einwilligung zu stichprobenartigen Drogentests. Eine Versicherung, dass wir das Museums-WLAN nicht benutzen werden, um Pornos anzusehen. Eine Bestätigung, dass unsere Uniform Eigentum des Museums ist.

Grace ist genauso verwirrt wie ich.

»Vergleichbare Tätigkeit?«, murmelt sie und blickt auf einen Passus, in dem wir versprechen, ein Vierteljahr nach unserer Anstellung hier im Umkreis von hundert Kilometern keinen vergleichbaren Job anzunehmen. »Was betrachten die denn als vergleichbaren Job? Ist das überhaupt zulässig?«

»Vermutlich nicht«, flüstere ich zurück und muss an Nate & Partner denken, der meine Mutter ständig mit irgendwelchen juristischen Ratschlägen zutextet, als wäre sie nicht selbst Anwältin.

»Nun ja, das ist rechtlich betrachtet nicht meine Unterschrift«, sagt sie in ihrem hübschen britischen Akzent, wackelt mit den Augenbrauen und setzt ein unleserliches verschlungenes Gekrakel unter das Formular. »Und wenn sie mich nicht genug Stunden arbeiten lassen, gehe ich schnurstracks zur nächsten Höhlenvilla im Umkreis von hundert Kilometern.«

Ich muss laut auflachen, aber als mich alle anschauen, stelle ich das Gekicher lieber ein und wir füllen weiter unsere Formulare aus. Danach bekommen wir einen Spind zugeteilt und erhalten die hässlichsten Westen, die ich je gesehen habe. Die Farbe erinnert an verfaulte Kürbislaternen. Bei der Einweisung bleiben sie uns noch erspart, dafür müssen wir allerdings Hallo, ich heisse …-Aufkleber tragen. Wir werden den Gang im Verwaltungstrakt hinuntergescheucht und anschließend durch eine Stahltür (auf der uns ein Schild zum Lächeln ermahnt) in die Eingangshalle.

Sie ist riesig, wir verdrehen uns die Hälse, als wir uns umsehen, unsere Schritte hallen von den Felswänden wider. Der Eingang zur Höhle befindet sich im hinteren Teil der Halle, die Stalagmiten und Stalaktiten sind orangefarben angestrahlt, was an einen schlechten Gruselfilm erinnert. Man führt uns an einem runden Informationsschalter vorbei, einem Souvenirladen, der nach London, 1890, aussieht, und einem tiefer liegenden Loungebereich mit Sofas, die man für Diebesgut vom Set von Drei Mädchen und drei Jungen halten könnte. Sie haben die gleiche scheußliche Farbe wie unsere Westen. Ich habe das unbestimmte Gefühl, dass das zu einem Konzept gehört.

Ein Mann mittleren Alters begrüßt uns. Er trägt ebenfalls eine Kürbisweste, außerdem eine mit dem Art-déco-Logo des Höhlenpalastes bedruckte Krawatte. Ich frage mich, ob das für die männlichen Angestellten Pflicht ist oder ob er sie sich mit Mitarbeiterrabatt im Souvenirladen gekauft hat. »Ich bin Mr Cavadini, der Personalmanager. Sie werden zwar alle Teamleitern zugeteilt werden, diese sind jedoch mir unterstellt. Ich mache die Dienstpläne und ich unterschreibe Ihre Zeitkarten. Sie sollten mich also als die Person betrachten, die Sie im nächsten Vierteljahr am stärksten beeindrucken wollen.«

Das sagt er mit der Begeisterung eines Bestatters, außerdem bringt er es tatsächlich fertig, während seiner gesamten Ansprache die Stirn zu runzeln. Was natürlich auch damit zu tun haben kann, dass sein dunkelblonder Haaransatz verdammt tief sitzt – als wäre seine Stirn nur halb so hoch, wie sie sein sollte.

»Was für ein jämmerliches Arschloch«, sagt Grace mit ihrer glockenhellen Stimme neben mir auf Schulterhöhe.

Wow. Die süße kleine Grace ist ganz schön vulgär. Aber sie hat Recht. Als Mr Cavadini anfängt, uns einen Vortrag über die Geschichte der Höhle zu halten und dass sie jedes Jahr eine halbe Million Besucher anziehe, schaue ich mich in der Eingangshalle um und sehe mir gründlich die Arbeitsplätze an, an denen ich eingesetzt werden könnte – Infoschalter, Führungen, Fundbüro, Souvenirladen … Ich überlege, in welcher Position ich möglichst wenig mit verärgerten Besuchern zu tun hätte. In meiner Bewerbung hatte ich angekreuzt, dass ich am liebsten »hinter den Kulissen« und »alleine« arbeiten möchte.

Im ersten Stock stehen Cafétische auf einer offenen Galerie und ich hoffe inständig, dass ich nicht in der Gastronomie lande. Andererseits könnte ich im Café nicht nur ein in Originalgröße nachgebautes Piratenschiff anstarren, das von der Decke hängt, sondern auch das Skelett eines Seeungeheuers, das besagtes Schiff angreift. (Unter den »nicht echten« Teil der Davenport’schen Kuriositätensammlung einsortieren.)

Ich bemerke zwei Museumswächter in identischen schwarzen Uniformen, die die freischwebende Schiefertreppe um das Piratenschiff herunterkommen. Ich blinzle und traue meinen Augen nicht. Wie klein ist diese Stadt eigentlich? Einer der Wächter ist der dunkelhaarige Typ, der an meinem Ankunftstag seinen zugedröhnten Freund von der Straße gezogen hat. Ja, das ist ganz eindeutig er: der heiße Surfer mit den Frankensteinnarben auf dem Arm.

Mein Panikpendel schlägt aus.

»Und nun«, sagt Mr Cavadini, »teilen Sie sich in zwei Gruppen auf und schauen sich das Museum mit einem unserer Sicherheitsmitarbeiter an. Diese Seite folgt bitte unserem Senior Security Officer, Jerry Pangborn, der seit der Eröffnung vor vierzig Jahren für den Höhlenpalast arbeitet.«

Er deutet auf einen gebrechlichen alten Mann, dessen weiße Haare abstehen, als hätte er gerade in einem Labor ein Becherglas mit Chemikalien in die Luft gejagt. Er ist total freundlich und nett und könnte vermutlich nicht einmal einen zehnjährigen Rüpel davon abhalten, einen Schokoriegel aus dem Souvenirladen zu klauen. Eifrig führt er sein Team von Rekruten auf die linke Seite der Eingangshalle, zu einem großen Torbogen mit der Aufschrift »Vivians Flügel«.

Den Surferboy winkt Mr Cavadini zu unserer Gruppe. »Und das hier ist Porter Roth. Er arbeitet seit letztem Jahr oder so für uns. Einge von Ihnen haben vielleicht schon mal etwas von seiner Familie gehört«, bemerkt er mit knochentrockener, unbeeindruckter Stimme, die die Vermutung aufkommen lässt, dass er nicht die beste Meinung von der Familie hat. »Sein Großvater war die Surferlegende Bill ›Pennywise‹ Roth.«

Ein leises Ooh geht durch die Menge, aber Mr Cavadini bringt uns mit einer Hand zum Schweigen und weist uns mürrisch an, in zwei Stunden wieder bei ihm zu sein, damit wir eingeteilt werden können. Eine Seite meines Hirns schreit Zwei Stunden? Die andere versucht sich zu erinnern, ob ich schon einmal was von diesem Pennywise Roth gehört habe. Ist er wirklich berühmt oder bloß irgendeine Lokalgröße, die ihre Viertelstunde Ruhm erlebt hat? Das Schild an diesem Pancake House verkündet schließlich auch, die Mandel-Pancakes dort seien weltberühmt, aber wer’s glaubt, wird selig.

Mr Cavadini eilt in den Verwaltungstrakt zurück und lässt uns mit Porter allein, der in aller Ruhe um die Gruppe herumläuft und uns mustert. Er hat einen Stapel Papier zu einem Rohr zusammengerollt, das er beim Laufen gegen sein Bein schlägt. Beim ersten Mal ist es mir nicht aufgefallen, aber sein Gesicht hat so einen hellbraunen Anflug von Dreitagebart – die Art Unrasiertheit, die nach Draufgänger und sexy und aufsässig aussehen soll, die aber zu gut gestutzt ist, um Zufall zu sein. Und dann auch noch diese zerzausten, von der Sonne ausgebleichten braunen Locken, die für einen Surfer ja okay wären, aber bei einem Wachmann viel zu lässig wirken.

Als er näher kommt, wird der Ausweicherin in mir unbehaglich. Ich versuche ruhig zu bleiben und verstecke mich hinter Grace. Aber da sie locker einen halben Kopf kleiner ist als ich – und ich bin schon nur eins fünfundsechzig –, starre ich stattdessen über ihre kurzen Haare hinweg in Porters Gesicht.

Er bleibt vor uns stehen und hält die zusammengerollten Blätter kurz wie ein Teleskop vors Auge.

»Ah, sieh an«, sagt er in seinem coolen kalifornischen Tonfall und grinst. »Da habe ich ja offenbar Glück gehabt und die hübsche Gruppe erwischt. Hallo, Gracie.«

»Hey, Porter«, antwortet Grace mit scheuem Lächeln.

Aha, sie kennen sich also. Ich frage mich, ob Porter derjenige war, der ihr erzählt hat, dass der Job »langweilig, aber unstressig« sei. Ich weiß überhaupt nicht, warum ich mir darüber überhaupt Gedanken mache. Vermutlich habe ich vor allem Angst, dass er sich an mich im Auto erinnert. Ich bete, dass er meinen feigen Quieker nicht gehört hat.

»Wer ist bereit für die Privatführung?«, fragt er.

Keiner antwortet.

»Bloß nicht alle auf einmal.« Er zieht ein Blatt aus der Rolle – ich sehe das Wort »Übersichtskarte für Mitarbeiter« oben auf der Seite – und gibt ihn mir mit einem Blick auf meine Beine. Will er mich anmachen? Ich weiß nicht, wie ich das finden soll. Ich hätte jetzt jedenfalls gern Hosen an.

Als ich den Plan nehmen will, hält er ihn fest und ich muss zerren. Die Ecke reißt ab. Kindisch, oder? Ich werfe ihm einen giftigen Blick zu, aber er lächelt bloß und beugt sich zu mir. »Na aber«, sagt er. »Du willst doch nicht etwa losschreien wie gestern, oder?«

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Persönliche Nachrichten › Alex › gespeichert

alex: Bist du dir schon mal wie eine Mogelpackung vorgekommen?

mink: Wie meinst du das?

alex: Na ja, wenn von dir erwartet wird, dass du in der Schule eine Person darstellst und vor deiner Familie eine andere und dann noch jemand anderes, wenn du mit deinen Freunden zusammen bist. Ich hab so die Nase voll, die Erwartungen von anderen Leuten zu erfüllen, und manchmal versuche ich, mich daran zu erinnern, wer ich eigentlich wirklich bin, und weiß es überhaupt nicht mehr.

mink: Das geht mir jeden Tag so. Ich finde andere Menschen ziemlich anstrengend.

alex: Ja? Das überrascht mich.

mink: Ich bin nicht schüchtern oder so. Es ist bloß … okay, das klingt jetzt komisch, aber ich gerate nicht gern in Zugzwang. Wenn mich Leute zutexten, laberlaberlaber, ist es so lange in Ordnung, bis sie meine Meinung wissen wollen, zum Beispiel: »Magst du Chocolate Chip Cookies?« Ich hasse CCCs.

alex: Echt?

mink: Es soll Leute geben, die sie nicht mögen. (Ich mag Zuckerkekse, falls du das wissen willst.) Egal, wenn mich jemand fragt, fühle ich mich in die Enge getrieben und weiß nie, was ich sagen soll, und dann versuche ich, dem anderen vom Gesicht abzulesen, was er von mir hören will, und sag genau das. Was bedeutet, dass ich am Ende behaupte, ich würde CCCs mögen, obwohl ich sie nicht ausstehen kann. Und dann fühle ich mich wie eine Mogelpackung und denke: Warum habe ich das gerade getan?

alex: Das mache ich ständig. Und es ist sogar noch schlimmer, denn danach bin ich nicht mal mehr sicher, ob ich Chocolate Chip Cookies mag oder nicht.

mink: Und magst du sie?

alex: Ich liebe sie. Bis auf Hafer mag ich alle Sorten.

mink: Siehst du? Das war einfach. Wenn du rauskriegen willst, wer du wirklich bist, frag einfach mich. Ich zeig es dir. Ohne Druck und Erwartungen.

alex: Abgemacht. Bei dir werde ich mein 100 % echtes, Hafer hassendes Ich sein.