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Auguste Jovert lebt zurückgezogen in seiner Wohnung in Paris. Eines Tages steht ein Fremder vor seiner Tür, der ihm die Geschichte seines Freundes, des Japaners Katsuo Ikeda, erzählt. Ikeda führte ein bewegtes Leben als Schriftsteller, verliebte sich unsterblich in die schöne Mariko. Doch als er ihr wiederholt den Wunsch nach einem Kind ausschlägt, verlässt sie ihn. Er verfällt in tiefe Depressionen, bis er eines Tages die junge Sachiko trifft, die er unbedingt ganz für sich haben will, denn sie erinnert ihn an Mariko. Doch als Sachiko schwanger wird und in einem Schneesturm stirbt, muss er sich einer Wahrheit stellen, die er bislang nicht wahrhaben wollte. Und Auguste Jovert begreift, dass diese Geschichte im fernen Japan mehr mit ihm zu tun hat, als er zunächst ahnte. Denn auch er wird von seiner Vergangenheit eingeholt …

Mark Henshaw, geboren 1951 in Australien, lebte u.a. in Frankreich, Deutschland und in den Vereinigten Staaten. Derzeit ist er in Canberra ansässig. Sein erster Roman, Im Schatten des Feuers, war ein internationaler Erfolg und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Er arbeitete zwischenzeitlich als Kurator in der National Gallery of Australia, bis er sich vor kurzem wieder ganz dem Schreiben zuwandte.

Ursula Gräfe, geboren 1956, lebt in Frankfurt am Main. Sie studierte Japanologie und Anglistik und hat u.a. Werke von Haruki Murakami, Yasushi Inoue und Kenzaburo Oe ins Deutsche übertragen.

Mark Henshaw

Der
Schnee
kimono

Roman

Aus dem Englischen von
Ursula Gräfe

Insel Verlag

eBook Insel Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016.

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2016.
© 2014, Mark Henshaw.

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
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Umschlaggestaltung: hißmann, heilmann, hamburg/Sonja Steven

Umschlagabbildung: Billy & Hells, Berlin

© DEEBEEPHUNKY Agentur, Berlin

eISBN 978-3-458-74903-5

www.suhrkamp.de

Der Schneekimono

Für meine Frau Lee –
ich hätte keine bessere Gefährtin für
dieses große Abenteuer finden können.

»[Ich kann] so gut wie sicher sein, dass auch in dieser scheinbar ganz unbedeutenden Episode alles enthalten ist, was ich erlebt und erlitten habe, meine gesamte Vergangenheit, die vielfältigen Vergangenheiten, die ich vergeblich hinter mir zu lassen mich abgemüht habe …«

Italo Calvino, Wenn ein Reisender in einer Winternacht

»Nach vielen Jahren der Abwesenheit besuchte Kenji seinen blinden Freund Keiichi. Er erzählte ihm von jenem geheimnisvollen Land Abessinien und seinen zahlreichen Abenteuern dort.

›Nun, Keiichi‹, fragte er, als er geendet hatte, ›was hältst du von Abessinien?‹

›Es klingt wie ein magisches Land‹, sagte sein Freund, als erwache er gerade erst aus einem Traum.

›Gleichwohl habe ich gelogen‹, sagte Kenji. ›Ich bin niemals dort gewesen.‹

›Ich weiß‹, erwiderte sein Freund. ›Aber ich.‹«

Otomo no Tsurayuki, Die Nacht der tausend Brokate

Teil I

Fumiko

Kapitel 1

Es gibt Ereignisse im Leben eines Menschen, nach denen er nie mehr derselbe ist. Er mag direkt oder indirekt betroffen sein, vielleicht ist es auch nur etwas, das jemand zu ihm sagt. Doch was es auch sei, danach gibt es kein Zurück mehr. Und unweigerlich geschieht es plötzlich und ohne Vorwarnung.

Paris, im Juli 1989

Es dämmerte bereits, als Auguste Jovert sein Haus in der Rue Saint-Antoine verließ, um sich die Abendzeitung zu holen. Die Straßenbeleuchtung war eingeschaltet. Ein feiner Nieselregen fiel, und der Asphalt glänzte. Jeder andere hätte es gespürt – Unfälle lagen in der Luft, kreisten über der Stadt wie Raubvögel.

Während er im Mantel und mit aufgespanntem Schirm die nasse Straße entlangging, dachte er über einen Brief nach, den er an diesem Morgen erhalten hatte. Er war von einer jungen Frau, der er noch nie begegnet war und die etwas Erstaunliches behauptete. Nämlich, seine Tochter zu sein.

In dem kühlen leeren Hausflur stehend, hatte er den Brief immer wieder gelesen. Die kleine Fotografie, die sich in einer Ecke des Umschlags verfangen hatte, hatte er zuerst gar nicht gesehen. Als er sie schließlich entdeckte, genügte ihm ein Blick in die Augen der jungen Frau, um zu wissen, dass sie die Wahrheit schrieb.

Jovert war dreißig Jahre lang Kriminalkommissar gewesen. Davor hatte er für die französische Geheimpolizei in Algerien gearbeitet. Er war erst kürzlich pensioniert worden und fühlte sich seither merkwürdig verloren. Als er noch im Dienst war, hatte er kaum Zeit zum Nachdenken gefunden. Alles war unter Kontrolle. Doch nun liefen immer wieder Sequenzen aus seiner Vergangenheit in seinem Kopf ab, als wolle sich ihm jetzt, da er sich dem Ende seines Lebens näherte, so etwas wie ein Gesamtplan seiner Existenz offenbaren. Allerdings trat der Augenblick der Offenbarung nie ein. Stattdessen plagten ihn alle möglichen Zweifel und raubten ihm den Schlaf. Überdies hatte er ständig das Gefühl, dass irgendetwas geschehen würde. Und dann geschah tatsächlich etwas. Der Brief traf ein.

Als er sich später an den Unfall erinnerte, war ihm, als hätte er über den Brief nachgedacht und dann im nächsten Moment auf dem Rücken im Rinnstein gelegen – mit Blick auf den verschlungenen Unterboden eines Autos. Er spürte die Hitze des Motors im Gesicht und hörte das tickende Geräusch der abkühlenden Leitungen. Wassertropfen fielen auf den Boden und auf seine Stirn. Ein Reifen stand auf dem Bordstein über seinem Kopf.

Aus der Ferne ertönte das durchdringende Heulen einer Sirene. Als er den Kopf versuchsweise nach rechts drehte, blickte ihm von unterhalb der Karosserie das Gesicht eines bebrillten Mannes entgegen. Sein Hut lag umgedreht neben ihm auf der Straße.

Der Mann kniete.

Jovert fiel auf, dass er eine Glatze hatte und dass sein polierter Schädel glänzte, als ob er mit Tausenden von winzigen hemisphärischen Lichttropfen besetzt wäre. Er blickte von einer verwirrenden kleinen Welt in die nächste.

Der Mund des Mannes bewegte sich. Die Spitze seiner Krawatte berührte die nasse Straße. Ein dunkler Kreis breitete sich um sein Knie aus. Jovert wollte ihn gerade darauf aufmerksam machen, als etwas Seltsames geschah. Alle Lichter gingen aus.

Zwei Tage später verließ Jovert erneut seine Wohnung, um sich die Abendzeitung zu holen. Diesmal auf Krücken. Sechs Wochen, hatte der Arzt gesagt und die Röntgenaufnahmen von Joverts Knie gegen das Krankenhausfenster gehalten. Vielleicht auch etwas länger.

Auf dem Heimweg setzte Jovert sich auf eine Bank gegenüber der Kirche Saint-Paul, um auszuruhen. Er zog den Brief, den er Anfang der Woche bekommen hatte, aus der Manteltasche und las die Adresse.

An

Kommissar A. Jovert

Le Commissariat de Police

36 Quai des Orfèvres

75 001 Paris, France

Erst jetzt, als er die Briefmarke näher in Augenschein nahm, erkannte er, dass der Brief schon vor Monaten abgestempelt worden war.

Er zog ihn aus dem Umschlag und las ihn noch einmal. Sie schrieb, sie wisse nicht, ob er noch am Leben sei. Sie habe erst kürzlich erfahren, dass er ihr Vater sei, und wolle ihm mitteilen, dass es sie gab. Aus welchem Grund sie das wollte, schrieb sie nicht. Sie stelle keine Ansprüche an ihn. Doch am Ende: Wenn Du willst, könntest Du mir vielleicht schreiben. Und sie gab ihren Namen und ihre Adresse an: Mathilde Soukhane, 10 Rue Duhamel, Algier.

Er nahm das Foto aus dem Umschlag und dachte an den Tag vor dreißig Jahren, als er ihrer Mutter zum ersten Mal begegnet war. In Sétif, in einer schmalen Seitengasse. Er war die geborstenen Stufen einer Steintreppe hinaufgegangen, als sie unvermittelt wie eine Erscheinung aus einer unsichtbaren Tür in einer Mauer hervortrat. Ihr Kleid war so gleißend weiß im Licht, dass es wie eine jähe atmosphärische Störung in der Luft wirkte.

Auch nach all den Jahren erinnerte er sich noch an ihr Gesicht und den Kontrast ihrer olivfarbenen Haut zu dem blendend hellen Kleid. Sie hielt einen Stapel Papier im Arm. Sie eilte an ihm vorbei, doch als er sich umwandte, um ihr nachzuschauen, war sie verschwunden.

Das Mädchen auf dem Foto hatte das gleiche Gesicht, die gleichen Augen und die gleiche dunkle Haut.

Lange blieb er in Gedanken versunken auf der Bank sitzen.

Dann, als hätte er plötzlich eine Entscheidung getroffen, knüllte er das Foto und den Brief zu einer festen Kugel zusammen. Er stand auf, warf sie in den Papierkorb neben der Bank und ging davon.

Es war zu spät. Viel zu spät.

An jenem Abend jedoch änderten sich die Dinge. Später, Monate später, erschienen ihm der Brief und der Unfall wie Vorboten einer noch größeren Veränderung in seinem Leben, einer Veränderung, die seit Jahren auf ihn gewartet hatte.

Wieder an seinem Haus angekommen, gab er den Türcode in die Tastatur ein und wartete auf das Klicken. Das Gebäude war alt, die Tür schwer und ihr dicker schwarzer Anstrich rissig. Er musste sie mit der Schulter aufdrücken. Die Leute im Krankenhaus hatten Recht gehabt, die Krücken waren zu kurz für ihn.

Der Aufzug war wieder einmal defekt, wie einem Zettel an dem Metallkäfig zu entnehmen war. Es war das dritte Mal in diesem Monat. Er betätigte den Lichtschalter an der Treppe. Er hatte drei Minuten Zeit für die fünf Treppenabsätze bis zu seiner Wohnung, ehe das Licht ausgehen würde. Unwillig machte er sich an den Aufstieg.

Als er sich endlich die letzte Stufe zu seinem Flur hochstemmte, schmerzte sein rechtes Bein. Und kaum hatte er den Schlüssel aus der Tasche gezogen, glitt er ihm aus den Fingern und fiel zu Boden.

Herrgott noch mal, murmelte er.

Er hörte, wie unter ihm eine Tür zuschlug und Schritte sich durch den Flur entfernten. Er überlegte, ob er rufen sollte, aber es war zu spät. Wer immer es gewesen war, lief bereits die Treppe hinunter. Gegen die Wand gelehnt, schaute er zu der Birne hinauf, die über ihm ihr trübes Licht aussandte. Der staubige, vergilbte Schirm an dem verdrehten Kabel schaukelte ein bisschen. Er malte sich die winzigen Wirbelströme an seinem Rand aus. Er sah, wie sich sein Schatten an der Wand gegenüber bewegte. Jeden Moment würde das Licht ausgehen. Er wartete und zählte die Sekunden.

Dann stand er mit geschlossenen Augen im dunklen Hausflur und lauschte dem nachlassenden Berufsverkehr, dem gedämpften Rumpeln der Metro, dem fernen Heulen einer Sirene. Er dachte an seinen eigenen Unfall und holte tief Luft. Es roch muffig.

In dem schmalen Lichtstreifen, der unter seiner Tür hindurchfiel, sah er seine Schlüssel und zog sie mit einer seiner Krücken heran, als er ein Geräusch am anderen Ende des Korridors vernahm.

Kann ich Ihnen helfen, Herr Kommissar?, fragte eine Stimme, die aus dem Nichts zu kommen schien.

Könnten Sie das Licht einschalten?, fragte er etwas verblüfft. Meine Schlüssel sind mir heruntergefallen.

Sofort flammte die Birne auf. Jovert blinzelte. Im trüben Schein der Lampe konnte er nur den Umriss einer Person ausmachen, die im Schatten an der Treppe stand.

Erlauben Sie, Herr Kommissar? Der Fremde trat näher und bückte sich, um die Schlüssel aufzuheben. Erst als er sich wieder aufrichtete und das Licht auf sein Gesicht fiel, bemerkte Jovert, dass sein Retter Asiate war, Japaner oder Chinese vielleicht.

Er konnte ihn nun ganz deutlich sehen. Er war ein tadellos gekleideter kleiner Mann in den Fünfzigern mit scharfen Gesichtszügen. Eine Brille mit Metallrahmen steckte in seiner Manteltasche. In der einen Hand hielt er einen Hut. Etwas an ihm erinnerte Jovert an Kaiser Hirohito.

Ich danke Ihnen, sagte Jovert.

Keine Ursache, Herr Kommissar. Ich habe auf Sie gewartet.

Auf mich?

Ja. Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle? Mein Name ist Omura. Tadashi Omura, emeritierter Professor für Jura an der Kaiserlichen Universität von Japan. Sie sind Kommissar Jovert, nicht wahr?

Der Mann machte eine kleine Verbeugung. Und jetzt bin ich hier. Es klang wie eine Ankündigung, und Jovert erwartete, dass er fortfahren würde, aber er stand nur ruhig da, die Schlüssel in der Hand.

Jovert, sagte er. Auguste Jovert.

Er fühlte sich genötigt, sich ebenfalls zu verbeugen, doch sofort wurde ihm bewusst, dass ihm dies nicht möglich war. Also wandte er sich Omura mithilfe seiner Krücken ungelenk zu und nickte.

Ihre Schlüssel, sagte dieser.

Danke.

Omura machte keine Anstalten, sich zu verabschieden. Während sie so in dem leeren Hausflur standen, verspürte Jovert zunehmend eine Verpflichtung gegenüber dem seltsamen kleinen Mann, der ihm geholfen hatte und nun erwartungsvoll, wie ihm schien, bei ihm stehen blieb.

Jovert entriegelte die Tür. Als er sie mit dem Ellbogen aufdrückte, beugte Omura sich vor und warf einen Blick in die Wohnung. Dann richtete er sich auf, sah Jovert an, lächelte.

Ja, sagte er.

Einen Moment lang verharrten die beiden Männer an der Schwelle.

Möchten Sie hereinkommen?, sagte Jovert.

Ja, antwortete Omura. Ich habe auf Sie gewartet. Bitte, nach Ihnen. Er streckte seinen Arm aus, um Jovert den Vortritt zu lassen, als wäre es in Wirklichkeit seine Wohnung.

Als Jovert später versuchte die Abfolge der Ereignisse zu rekapitulieren, wollte es ihm nicht gelingen. In einem Augenblick, so schien ihm, hatte er noch, auf seine Krücken gestützt, in der offenen Tür zu seiner Wohnung gestanden und im nächsten schon gegenüber seinem Wohnzimmerfenster gesessen und Tadashi Omuras seltsam fesselnder Stimme gelauscht.

Eines Tages, begann Omura seine Geschichte, beschloss ich, Fumiko das Grab ihrer Mutter zu zeigen. Sie war damals ungefähr drei Jahre alt. Es war mitten im Winter, und es lag noch Schnee auf der Straße. Der Himmel war von einem gleichmäßigen stumpfen Weiß, ein Zeichen, dass es am Nachmittag noch schneien würde.

Wir würden eine Weile unterwegs sein, denn Katsuo hatte darauf bestanden, Sachiko auf einem alten Friedhof vor den Toren Osakas zu bestatten. Wir mussten zuerst mit dem Bus fahren und dann noch mit dem Zug. Nicht, dass das eine große Schwierigkeit gewesen wäre. Wir lebten ohnehin am Stadtrand von Osaka. Aber anschließend musste man noch ungefähr zwei Kilometer durch den Wald gehen. Ich liebte diesen Spaziergang, sogar im Winter. Oft war ich der Einzige auf dem Pfad zum Friedhof. Mir gefiel die fast vollkommene Stille, das Knirschen meiner Schritte auf dem frisch gefallenen Schnee, der Hauch meines gefrorenen Atems. Mitunter sah ich einen Fuchs oder auf einem Ast eine Eule. Über einen Bach führte eine Steinbrücke zum Tempeltor, und ich freute mich immer auf den Widerhall meiner Stiefel auf der Brücke. Nicht weit entfernt flussabwärts lag ein Weiher, der im Winter zugefroren war. Von der Brücke aus konnte man bisweilen Kinder beim Schlittschuhlaufen beobachten.

Bisher hatte ich Fumiko nie auf den Friedhof mitgenommen. Aber meine Haushälterin, Frau Muramoto, hatte in letzter Minute angerufen, um mir mitzuteilen, dass sie krank sei und nicht auf Fumiko aufpassen könne. Ich weiß noch, dass ich sie der Unwahrheit verdächtigte und später tatsächlich herausfand, dass sie nach Nara gefahren war, um Verwandte zu besuchen, was mich sehr verärgerte. Sie wusste, wie abhängig ich von ihr war und dass ich Fumiko nicht allein in der Wohnung lassen konnte. Ich war bereits in Mantel und Handschuhen und merkte schon an ihrem Ton, dass sie log.

Es kommt mir vor wie gestern, dass ich mit der warm in Mäntelchen und Pelzmütze eingemummelten Fumiko auf den Stufen unseres Hauses stand. Ich spüre noch ihre kleine Hand mit den Fäustlingen in der meinen. Sie fragte, wohin wir führen. An der Art, wie sie sich summend von einer Seite zur andern drehte, merkte ich, wie aufgeregt sie war.

Omura unterbrach sich für einen Moment, zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche und schüttelte eine heraus.

Aber ich bin kein guter Erzähler, sagte er.

Ich habe vergessen, Ihnen zu sagen, dass Fumiko nicht meine Tochter ist. Ich war nie verheiratet. Erst habe ich studiert, dann habe ich mir eine Anwaltskanzlei aufgebaut. Ich hatte einfach nie die Zeit dazu. Wie Fumiko zu mir kam, ist eine lange Geschichte, ich werde später mehr darüber erzählen. Zu jener Zeit lebte sie etwa seit einem Jahr bei mir. Für gewöhnlich kümmerte Frau Muramoto sich um sie. Doch schon damals war mir klar, dass es in Zukunft komplizierter werden würde und ich Fumiko einiges zu erklären hätte. Dennoch wollte ich Fumiko zumindest vorläufig in dem Glauben lassen, dass sie meine Tochter sei. Mit anderen Worten, für sie war ich ihr Vater. Doch obwohl sie schon seit einer Weile sprechen konnte, hatte sie mich trotz aller Bitten und Ermutigungen noch nie so genannt. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie wichtig mir das geworden war. Damals schien mir unsere ganze gemeinsame Zukunft davon abzuhängen, dass Fumiko dieses eine Wort zu mir sagte. Ohne dieses Wort würde – könnte – die Welt, die ich für sie zu bauen beschlossen hatte, nie existieren.

Omura verfiel erneut in Schweigen. Er beugte sich vor und schnippte die Asche seiner Zigarette in die kleine Schale vor ihm auf dem Tisch, ehe er wieder einen Zug nahm.

Wo war ich stehen geblieben?, fragte er.

Sie standen mit Fumiko vor Ihrer Haustür, antwortete Jovert.

Stimmt, sagte er. Wissen Sie, ich war noch nicht daran gewöhnt, allein mit Fumiko auszugehen. Sie war schließlich erst drei Jahre alt. Was, wenn etwas passierte? Ich wusste nicht einmal, ob sie richtig angezogen war. Ich weiß noch, dass ich auf die Uhr sah. Es war schon fast zwei. Und so still. Gewiss würde es wieder schneien, wenn auch nicht stark. Nicht, dass eine Gefahr bestanden hätte, daran lag es nicht. Ich war mir nur unsicher. Für gewöhnlich begleitete uns Frau Muramoto oder eine andere Person. Ich ging in die Knie, schaute Fumiko an und fragte sie, ob wir gehen sollten.

Warum nicht? Sie zuckte die Achseln und lächelte.

Ich verharrte in dieser halb hockenden Stellung und blickte sie an. Ich weiß noch, wie niedlich sie in ihrem Mantel und ihrem Hut aussah.

Ist dir warm genug?

Sie nickte.

Sicher?

Ja.

Sie war noch nie mit der Bahn gefahren, und alles war ganz neu für sie. Wir saßen auf einer Bank in dem warmen Wartesaal am Bahnhof. Fumiko ließ ihre bestrumpften Beinchen baumeln. Mir war nie bewusst gewesen, wie neugierig Kinder sind. Ich glaube, damals wurde mir zum ersten Mal klar, wie sehr meine Arbeit als leitender Anwalt einer Kanzlei mich von … ja, von allem, von der Welt, vom Leben abgeschnitten hatte. Ich muss vierzig oder einundvierzig Jahre alt gewesen sein, und plötzlich kam es mir vor, als wüsste ich nichts von der Welt, rein gar nichts.

Auf einmal war ich froh, dass Frau Muramoto abgesagt hatte. Zum ersten Mal, seit Fumiko bei mir lebte, konnte ich erahnen, wie es sein könnte, ein eigenes Kind zu haben.

Ist das Ihre Tochter?, fragte mich eine alte Frau im Zug, die einen Korb mit gefrorenem Fisch bei sich trug.

Ich bejahte.

Sie wirkte keineswegs überrascht. Ich hatte immer angenommen, es sei offenkundig, dass Fumiko nicht mein Kind war. Ich war alt genug, um ihr Großvater zu sein.

Ja, sagte ich noch einmal, sie ist meine Tochter.

So ein hübsches kleines Mädchen, sagte die alte Frau.

Aber das ist es gar nicht, worüber ich mit Ihnen sprechen wollte. Es ist schwer, nicht vom Thema abzuschweifen. Und ich bin sicher, ich habe noch eine Menge anderer Dinge vergessen. Das, an was ich mich erinnere, geschah später.

Wir stiegen in Togetsu aus. Damals war das die Endhaltestelle. Eine Reihe von kleinen, dürftig kultivierten Feldern trennte den Ort von dem umgebenden Wald. Dort lebten hauptsächlich Pachtbauern. Wer nach Togetsu fuhr, war entweder Bauer oder wollte zum Friedhof.

Die wenigen Fahrgäste, die mit uns ausstiegen, waren im Nu verschwunden.

Ich weiß nicht, wie ich beschreiben soll, was ich empfand, als wir über die schneebedeckten Felder und in den Wald gingen. Es war so still, wissen Sie, so vollkommen still. Außer uns war niemand in der Nähe. Es war, als wären Fumiko und ich die einzigen Menschen auf der Welt.

Es dauerte nicht lange und Fumikos Schuhe waren vom Schnee durchnässt. Als wir den Pfad durch den Wald betraten, hob ich sie auf meine Schultern und umschloss ihre Knöchel mit meinen behandschuhten Händen. Ich spürte ihre Fingerspitzen auf meinem Kopf. Aus der Ferne waren die dumpfen Axtschläge eines Waldarbeiters zu hören. Die von der Nässe dunklen Baumstämme um uns herum bildeten einen starken Kontrast zum umgebenden Weiß.

Als Fumiko auf meinen Schultern saß, spürte ich, wie lebendig ihre Beine sich anfühlten – eine ganz neue Erfahrung für mich. Ich schmiedete Zukunftspläne und wollte die Gelegenheit, nach Tokio umzusiedeln, die sich mir geboten hatte, doch ergreifen. So war ich einige Minuten lang völlig in Gedanken versunken.

Es schneit!, rief Fumiko und strampelte mit den Beinen. Ich schaute auf und sah, wie sie die Hand ausstreckte, um nach den großen Schneeflocken zu haschen, die vereinzelt auf uns herniederschwebten. Einen Moment lang überlegte ich, ob wir umkehren sollten. Andererseits würde es noch eine Weile dauern, bis es richtig anfing zu schneien.

Ist alles in Ordnung bei dir, Fumiko?, fragte ich.

Ja, antwortete sie.

Sollen wir umkehren?

Nein!, rief sie energisch.

Erst als in der Nähe ein lautes Krachen ertönte, wurde mir bewusst, dass die anfänglichen Geräusche des Holzfällers verstummt gewesen waren. Jetzt waren sie wieder da. Ich blieb stehen und lauschte. Offenbar kamen sie von der Steinbrücke vor uns, die zur Friedhofstreppe auf der anderen Seite des Baches führte.

Ich ging weiter, und das Geräusch wurde lauter. Alle zwei oder drei Sekunden ertönte nun das Krachen, gefolgt von seinem Echo an der Bergseite. Und jetzt, da wir so nahe waren, erkannte ich, dass es nicht der klare scharfe Schlag einer Axt auf Holz war. Es klang anders, hatte etwas Gedämpftes an sich. Auch der Nachhall war anders. Bei jedem Schritt erfüllte dieses Geräusch nun – regelmäßig, dumpf, massiv – die Luft. Mir war, als könnte ich es durch die Erde spüren. Bei einem besonders lauten Krachen zuckte Fumiko zusammen.

Vater, was ist das?, fragte sie.

Vater. Wissen Sie, Kommissar, es kam so unerwartet, und ich hatte mich so stark auf das Geräusch konzentriert, dass ich es fast verpasst hätte. Endlich hatte sie es gesagt. Das Wort, auf das ich so lange gehofft hatte.

Vater, was ist das?, wiederholte ich innerlich. Sie können sich nicht vorstellen, was ich empfand.

Ich weiß nicht, sagte ich. Aber ich bin sicher, es hat nichts zu bedeuten.

Vielleicht trügt mich auch die Erinnerung, und ich habe es gar nicht gesagt. Womöglich war ich vor Überraschung sprachlos.

Omura stand auf und trat ans Fenster. Das Zimmer lag inzwischen im Halbdunkel. Jovert betrachtete ihn. Er konnte seine Züge nicht mehr erkennen, nur seinen Umriss in der kühlen bläulichen Dämmerung. In einem der Fenster gegenüber ging das Licht an. Ganz kurz sah Jovert die Gestalt einer Frau, sie hob die Arme und zog die Vorhänge zu.

Die Dämmerung ging in Dunkelheit über. Jovert spürte, wie sie beide sich mit dem schwindenden Licht in sich zurückzogen.

Als Omura weiter sprach und Jovert aufblickte, stand der andere nicht mehr am Fenster. Seine Stimme kam nun aus dem Dunkel, losgelöst und unkörperlich. Er sprach langsam, als wäre er wieder dort, an jenem Ort, an dem Jovert nie gewesen war. Zugleich spürte er, wie Omuras Stimme ihn immer mehr an einen Ort in ihm selbst zog, den er im Grunde nie verlassen hatte.

Jovert versuchte den Mann im Schatten auszumachen, doch es gelang ihm nicht. Vielleicht täuschte ihn das Quadrat aus schwindendem Licht am Himmel, neben dem Omura vermutlich stand, und die seltsam melancholische Stimme, die in der Dunkelheit zu schweben schien.

Ich weiß nicht, ob Sie es sich vorstellen können, sagte Omura. Das fällt Ihnen sicher schwer, denn Sie waren noch nie dort. Wie könnte ich also erwarten, dass Sie mich verstehen? Er klang enttäuscht.

Es ist seltsam, fuhr er fort. Wenn ich an diesen Moment denke, ist mir nicht, als hätte ich ihn selbst erlebt. Natürlich spüre ich noch Fumikos Gewicht auf meinen Schultern und den Kragen meines Mantels am Hals. Anscheinend hatte ich meine Handschuhe ausgezogen, denn ich weiß noch, wie Fumikos Strümpfe und ihre Schuhe sich anfühlten. Die Schuhe waren neu, schwarz mit silbernen Schnallen.

Offenbar hatte ich Fumiko abgesetzt, denn ich sehe, wie ich vor ihr knie, ihr Mäntelchen zurechtzupfe und ihr ins Gesicht schaue. Sie hat unglaublich dunkle Augen. Auf meinem Hut liegt Schnee, und Fumiko will ihn entfernen. Sie sagt, ich soll den Kopf senken. Ich spüre, wie sie den Schnee von meinem Hut bürstet. Sehe, wie sie ihr Werk begutachtet. Aus irgendeinem Grund lacht sie, den Kopf schräg gelegt. Als ich aufstehe und ihr meine Hand entgegenstrecke, greift sie danach. Ich sehe vor mir, wie wir beide, ein kleiner – ich kann kaum glauben, wie klein ich bin – angespannter, schon nicht mehr junger Mann und das kleine Mädchen …, wie diese beiden sich wieder aufmachen, um dem schneebedeckten Pfad zu folgen.

Verstehen Sie, Herr Kommissar, das Seltsame ist, dass ich mich an diesen Moment erinnere, als hätte ich ihn von außen beobachtet. Ich sehe zwei Gestalten, einen Mann und seine kleine Tochter. Sehe, wie die Schneeflocken durch die kahlen Äste der Bäume fallen und auf meinem Rücken landen. Sehe unseren Atem. Und unerklärlicherweise spüre ich sogar jetzt noch meine wachsende Anspannung. Dann zerreißt ohne Vorwarnung ein gewaltiges Krachen die Stille um uns. Ein erschreckendes, Furcht einflößendes Krachen.

Und doch gehen wir weiter.

Wir hören sie, lange bevor wir sie sehen. Das Echo, das von den Bergen widerhallt, hat uns getäuscht. Doch ihre gedämpften Stimmen verraten sie. Eine Gruppe dunkel vermummter Gestalten, winzig im Angesicht der Bäume, hat sich am Ufer des zugefrorenen Weihers versammelt. Ein Mann, größer als die übrigen, steht in geringem Abstand vor ihnen auf dem Eis. Ich erkenne sofort, wie kräftig er gebaut ist.

Er hält eine Axt in der Hand, die Klinge ruht auf dem Eis. Scheint außer Atem. Die Axt an einen Schenkel gelehnt, spricht er zu den anderen, schüttelt den Kopf. Dann hält er die Hände vors Gesicht und bläst hinein. Ich kann die Wolken seines Atems sehen. Nun reibt er die Handflächen an seinen Hosenbeinen und hebt die Axt. Er trägt schwere, beschlagene Stiefel.

Ich weiß noch, dass er die Oberfläche des Eises ritzt. Anschließend richtet er sich auf, schwingt die Axt hoch über seinen Kopf. Die große, polierte Klinge schwebt einen Moment lang in der Luft, bevor sie aufs Eis herunterkracht. Und noch einmal. Vier oder fünf Schläge in rascher Folge. Der Lärm verhallt in Richtung der Berge.

Bei jedem seiner mächtigen Schläge stieß der Mann ein Grunzen aus. Und immer stob eine kleine Wolke aus Eissplittern vom Weiher auf.

Schwer zu sagen, was er da tat. Er schien eine Furche in das Eis zu hacken. Ich erinnere mich, dass er noch einmal innehielt.

In dem Moment waren wir ihnen schon recht nahe. Doch niemand schien uns zu bemerken, oder zumindest schien unsere Anwesenheit niemanden zu kümmern.

Wir blieben in einigen Metern Entfernung zu dem Halbkreis der dunklen Gestalten stehen. Aus irgendeinem irrationalen Grund durchfuhr mich eine Woge von Panik, als sollte ich lieber kehrtmachen und verschwinden, als ginge mich das, was hier geschah, nichts an.

Eine der Gestalten, ein Mann in meinem Alter, der am Rand des Halbkreises stand, schaute auf, und unsere Blicke trafen sich. Ein oder zwei andere sahen ebenfalls in meine Richtung. Einen Moment lang herrschte vollkommene Stille.

Ich kann den Ausdruck auf ihren Gesichtern nicht beschreiben, er war nicht feindselig, auch nicht neugierig, sondern unbewegt. Wissen Sie, es war fast, als hätten sie auf mich gewartet.

An dieser Stelle brach Omura ab, und Jovert verspürte ebenfalls eine Welle von Panik, als würde den Worten des Mannes sogleich eine katastrophale Offenbarung folgen, katastrophal nicht nur für Omura, sondern auch für ihn selbst.

Es war, als könnten diese Leute erst jetzt, da ich anwesend war, beenden, was sie begonnen hatten. Ich merkte, wie Fumiko mich fortziehen wollte. Und doch konnte ich nicht gehen. Mein Blick wanderte von einem zum anderen.

In diesem seltsamen tranceartigen Zustand beugte ich mich hinunter, um Fumiko hochzuheben. Als ich wieder aufschaute, hatten sich alle von mir abgewandt. Der Mann griff wieder nach der Axt und machte sich zum nächsten Schlag bereit. Ich wollte mich gerade zum Gehen wenden, als ein Schrei ertönte. Er klang so verzweifelt und verloren, dass er mich durchdrang und mein Herz umschloss.

Abermals hob der Mann die Axt und ließ sie auf das Eis herunterkrachen. Doch nun hörte ich zwischen jedem Schlag unentrinnbar das leise Winseln einer Frau. Auch die Gruppe schien zum Leben erwacht. Ich stand da, gebannt vom Fallen der Axt.

Beim letzten Schlag erstarrte die Gruppe wie in einem Krampf. Aus ihrer Mitte brach eine Frau hervor, vermutlich die, die geweint hatte, und stürzte auf das Eis. Mit wilden, fast wahnsinnigen Bewegungen ihrer Arme begann sie die Eissplitter von der gefrorenen Oberfläche des Teiches zu fegen. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, und es dauerte einen Moment, bis ich erkannte, dass ihre Hände gefesselt waren, weshalb jede neue Bewegung wieder die Stelle bedeckte, die sie gerade freigelegt hatte, was ihre Verzweiflung wiederum zu steigern schien. Alle paar Mal hielt sie inne und starrte auf das Eis, wie um es bis ins letzte Molekül zu durchdringen. Plötzlich brach sie, besiegt von der Vergeblichkeit ihres Tuns, auf der Eisfläche zusammen.

Unweigerlich angezogen von diesen Vorgängen, hatte ich mich genähert und stand nun ebenfalls bei den dunklen Gestalten, die auf die Frau hinunterblickten. Alle schienen wie erstarrt. Ich weiß nicht, wie lange sie dort auf dem Eis lag, eine halbe oder eine Minute vielleicht. Schließlich trat einer aus der Gruppe vor, der Mann, dessen Blick mich zuvor getroffen hatte. Er bückte sich, griff unter ihren Arm und zog sie auf die Füße. Dabei erhaschte ich einen Blick auf ihr Gesicht und erkannte, dass sie keine Frau, sondern ein junges Mädchen war.

Ich war so verblüfft, dass ich kaum dazu kam, ihre Züge wahrzunehmen. In diesem Moment stieß eine alte Frau einen lauten Schrei aus und schlug die Hand vor den Mund. Es dauerte eine Sekunde, bis ich merkte, dass sie auf etwas zu ihren Füßen starrte. Nahezu gleichzeitig richteten sich aller Augen auf die Stelle, an der das junge Mädchen gelegen hatte. Ich begriff nicht sofort, was die alte Frau dort gesehen hatte. Zuerst fiel mir nur das Eis auf. Die dünne Frostschicht, die den Teich bedeckte, war geschmolzen, und das transparente Eis darunter lag frei.

Der Eindruck war so überwältigend, dass ich nicht genau weiß, wann ich erkannte, worum es sich bei der bleichen, verdrehten Wurzel handelte, die nur wenige Zentimeter unter der starren Oberfläche ruhte: der Fuß und das Bein eines winzigen neugeborenen Kindes.

In einem Anflug von Entsetzen wandte ich mich ab, sodass ich den Rest des kindlichen Körpers mehr oder weniger als eine Art Nachbild jenseits der Vollkommenheit des winzigen Fußes mit seiner ordentlichen Reihe knötchenartiger Zehen vor mir sehe. Es wirkte, als wäre das Kind just in dem Augenblick zu Eis erstarrt, als es auf das Wasser traf. Ein Arm war seltsam nach hinten verdreht, wie um den Fall abzufangen. Ich sehe noch immer den Scheitel des kleinen Kopfes mit dem feingezeichneten dunklen Haar vor mir.

Außergewöhnlicher noch ist jedoch, dass ich seine Augen vor mir sehe. Sie sind geöffnet, als hätte das Kind nach hinten über die Schulter seine Mutter angeblickt, die es gerade ins Wasser geworfen hatte.

Ehe mir all dies klar wurde, hatte ich mich schon von der Gruppe entfernt. Ich hörte das gepeinigte Aufheulen des Mädchens, das inzwischen sehen musste, was wir alle sahen.

Was ist, Vater?, fragte Fumiko. Was ist da?

Doch ich war zu erschüttert, um zu antworten, und machte kehrt, um wieder den Pfad zum Friedhof einzuschlagen.

Omura verstummte. Es war nun ganz dunkel im Zimmer. Draußen in der Ferne konnte Jovert für eine Sekunde die Umrisse der Türme von Notre-Dame sehen, die von den Scheinwerfern eines vorüberfahrenden Bateaux Mouches beleuchtet wurden. Dann waren sie verschwunden.

Kapitel 2

Wie auf Knopfdruck setzte sich Jovert genau um 2.56 Uhr am nächsten Morgen abrupt im Bett auf und starrte in die Dunkelheit, die nur von den blassgrünen Zahlen des Weckers auf seinem Nachttisch erhellt wurde. Er hatte geträumt, auch wenn ihm das Geträumte nun entglitten war.

Er stieg aus dem Bett, zog seinen Mantel an und nahm seine Krücken. Fünf Minuten später stand er in der gläsernen Stille auf der Straße, eine einsame Gestalt in der schlafenden, sepiagetönten Stadt.

Schon als er sich näherte, wusste er, dass der Mülleimer leer sein würde. Dennoch spähte er hinein, versuchte das Dunkel zu durchdringen. Nichts. Er ließ den Blick über die verlassenen Straßen, die stumme steinerne Fassade von Saint-Paul, den geschlossenen Zeitungskiosk schweifen. Das grüne Kreuz der Apotheke gegenüber blinkte unregelmäßig. Er beobachtete, wie das Neonlicht aufleuchtete und dann unregelmäßig flackerte. Verlosch. Aufleuchtete. Irgendwo tutete die Alarmanlage eines Wagens.

Er beugte sich vor, berührte den Rand des Eimers mit der Hand. Sein Schatten verschob sich. Und da sah er es, verborgen in der Dunkelheit, ganz unten im Eimer: ein Stück zerknittertes Papier, wie eine halbgeöffnete Blüte. Er griff hinein und holte es hervor. Es war ihr Foto. Der Brief war verschwunden. Aber er hatte ihr Foto. Wenigstens etwas.

Als Jovert später am Morgen erwachte, brannte seine Nachttischlampe. Er griff nach seinen Zigaretten, sah das zerknitterte Foto unter der Lampe liegen und nahm es in die Hand. Strich es glatt. Ihr Gesicht blickte ihn durch ein Netz feiner blasser Risse an.

Er lag da, dachte nach. Über das Foto. Über die vergangene Nacht – Omura. Versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, was Omura gesagt hatte, jede flüchtige Geste, jede Veränderung der Stimmlage. Das meiste wusste er noch. Dennoch gelang es ihm nicht zu rekapitulieren, was geschehen war, nachdem Omura sich wieder dem schneebedeckten Pfad zugewandt hatte.

Jovert beugte sich zu seinem Nachttisch und schnippte die Asche seiner Zigarette in die Tasse, die darauf stand. Noch einmal ging er zurück, fand sich wieder am Rande des selben Abgrunds, schwankend, in die selbe Leere starrend. Alles, was er sah, war, wie Omura und seine kleine Tochter den Pfad hinuntergingen. Er blickte ihnen nach, bis sie im Schneegestöber verschwanden.

Der träge zur Decke steigende Rauch seiner Zigarette war die einzige Bewegung im Raum.

Es war Winter gewesen, als Jovert die Wohnung besichtigt hatte. Am frühen Abend. Er hatte in der Kälte warten müssen, weil der Makler sich verspätete.

Als der ungewöhnlich korpulente Mann endlich eintraf, schüttelte er ihm die Hand. Er trug einen überdimensionalen olivgrünen Anzug. Seine Wangen waren gerötet, und er schwitzte.

Die Metro, die Metro, klagte er und deutete auf die Treppe.

Der Mann schaute Jovert nicht in die Augen. Stattdessen schien sein gehetzter Blick von ihm abzufedern, huschte über die Straße und die Mauer des gegenüberliegenden Gebäudes hinauf.

Schauen wir uns die Wohnung an?, sagte Jovert.

Ja, ja, die Wohnung, sagte der Mann zu Joverts Hemd und fuhr mit dem Finger unter seinen eigenen verschwitzten Kragen.

Sie gingen ins Haus und warteten auf den Aufzug.

Das Appartement war größer, als Jovert es erwartet hatte. Durch die Wohnungstür gelangte man direkt in den Salon, an dessen anderem Ende eine zweiflüglige Glastür auf einen kleinen Balkon führte. Zwei alte, einst elegante Ledersofas standen einander gegenüber. Im Licht der Lampen schimmerte ein verschlissener Orientteppich in gedämpften Rot- und Blautönen. An einer Wand stand eine große gedrungene Kommode, deren graue, wellige Oberfläche den Eindruck erweckte, sie sei aus Elefantenhaut geschnitzt.

Möblierte Wohnung zu verkaufen, hatte in der Anzeige gestanden.

Es gab zwei Schlafzimmer und eine kleine altmodische Küche. Als Nächstes standen sie auf dem Balkon. Schauen Sie nur, die Aussicht, schwärmte der Makler. Jovert nickte. Er kannte das alles schon.

Geistesabwesend blickte er in die andere Richtung – und da sah er es, das eine Moment, angesichts dessen die gesamte Trübsal der Wohnung unwichtig, flüchtig, nichtig und bedeutungslos wurde. In zweihundert Metern Entfernung schwebte im schwindenden Licht vor der Mondsichel die angestrahlte Gestalt eines Jünglings mit goldenen Schwingen, der wie ein Nijinsky über eine dunkle, von Schornsteinen übersäte Ebene glitt.

Natürlich, dachte er, die Julisäule auf der Place de la Bastille mit Dumonts nacktem goldenem Genius der Freiheit auf der Spitze. Ihm fiel ein, dass er in der Schule einmal einen Aufsatz darüber geschrieben hatte. Wie die Statue fast zu Boden gestürzt wäre, als man sie anbrachte, und die goldenen Schwingen des Jünglings sich als nutzlos gegen seinen Fall erwiesen hätten.

Er betrachtete die verzauberte Gestalt des Jünglings mit den frisch vergoldeten Flügeln, der siegesgewiss erhobenen Fackel, den gesprengten Ketten, die ihn einst gefesselt hatten, den sechsfachen Stern über seinem Kopf. Er war so etwas wie ein anderer Ikarus. Für immer erstarrt, unwirklich, bizarr vielleicht und dennoch zauberhaft.

Victor Hugo hat hier ganz in der Nähe gewohnt, sagte der Makler.

Ich nehme die Wohnung, sagte Jovert.

Der Makler verstummte.

Sie nehmen sie?, fragte er verdutzt und folgte Joverts Blick.

Ich verstehe, sagte er dann.

Doch er verstand nicht und würde vermutlich auch nie verstehen.

Jovert stand nach vorn gebeugt im Bad und betrachtete sein Gesicht im Spiegel. Fuhr mit der Hand über sein stoppliges Kinn. Zog die Lidränder herunter, um das Weiße seiner Augen zu untersuchen, betastete die Wunde am Kopf, wo er auf dem Rinnstein aufgeschlagen war. Er stellte sich vor, wie sein Kopf leise auf die Bordsteinkante traf, der Riss im Fleisch sich langsam mit Blut füllte, sah, wie es überquoll und die ersten roten Tropfen auf die Straße trafen. Mittlerweile war die Wunde verschorft. Behutsam fuhr er mit den Fingerspitzen über die raue Oberfläche.

Er setzte sich auf den Badewannenrand und löste die Manschette von seinem Knie. Die Schwellung ging bereits zurück, aber der Bluterguss wirkte schlimmer denn je. Er erinnerte ihn irgendwie an ein Bild von Monet.

Eine Viertelstunde später war er wieder im Wohnzimmer und zog die Vorhänge zurück. Es war noch früh und der Himmel unstet. Tiefliegende, eiweißfarbene Wolkenbänke trieben am Horizont. In den windgeschützten Dachrinnen der Kuppel von Saint-Paul kauerten kläglich die Tauben.

Er kochte sich eine Kanne Kaffee. Und trug zuerst sie, dann eine Tasse hinaus auf den Balkon. Unter ihm, wo die Straße zur Place de la Bastille abbog, kroch ein vereinzelter grün-weißer Straßenreinigungswagen den Bordstein entlang. Das monotone Brummen des Motors tönte zu ihm herauf. Ein großer dünner Nordafrikaner in Overall und Mütze tänzelte mit einem grünborstigen Besen neben ihm her.

Er stellte fest, dass es ein Fehler war, über das Ende von Omuras Geschichte am Abend nachzugrübeln – was geschehen war, nachdem er zurück zum Weg gegangen war – und zu versuchen, die Lücke zu füllen. Er sollte nicht nach dem forschen, was seinem Gedächtnis entfallen war, sondern sich lieber mit dem beschäftigen, was sich so beharrlich darin festgesetzt hatte – das Bild von Omura und seiner kleinen Tochter auf dem verschneiten Pfad.

Den Großteil des Tages verbrachte er damit, nachdenklich zwischen Balkon, Küche, Sofa und Schlafzimmer hin- und herzupendeln und eine Zigarette nach der anderen zu rauchen. Er dachte an den Brief, den Unfall und an Omura. Er nahm das Foto von seinem Nachttisch, legte es zurück, griff wieder danach und starrte in Mathildes Augen.

Im Laufe des Tages wuchs in Jovert die Gewissheit, dass Omura sich am späteren Abend abermals unangekündigt und ungebeten vor seiner Tür einfinden würde. In seiner gegenwärtigen Gemütsverfassung war der Mann der Letzte, den er zu sehen wünschte. Er beschloss, sich trotz allem das Feuerwerk anlässlich des 14. Juli anzuschauen. Außerdem war ihm gerade eingefallen, dass er Geburtstag hatte. Seinen dreiundsechzigsten.