1 760 000 000 000 US-DOLLAR.
In Worten: einskommasiebensechs Billionen. Auf diese Summe schätzte Oxfam kürzlich das Vermögen der 62 wohlhabendsten Menschen der Welt. Ein paar Dutzend Milliardäre verfügen über so viel Geld wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung – oder wie 3600000000 Menschen.
Von Barack Obama bis zu Thomas Piketty, die führenden Köpfe unserer Zeit sind sich einig: Ungleichheit ist eines der drängendsten Probleme der Gegenwart. Anhand neuer, haushaltsbasierter Daten zu Einkommen und Vermögen untersucht Branko Milanović die Ursachen und Folgen differenzierter als alle anderen Forscher vor ihm. Er zeigt, dass zwar der Abstand zwischen armen und reichen Staaten geringer geworden ist, das Gefälle innerhalb einzelner Nationen jedoch dramatisch zugenommen hat.
Armut und Perspektivlosigkeit sind treibende Kräfte für internationale Migrationsbewegungen. Noch immer ist das Geburtsland eines Kindes der entscheidende Faktor für die Höhe seines zukünftigen Einkommens. Milanovi´c analysiert den Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Migration – und plädiert für ein liberales Einwanderungsrecht. Ein aktuelles, ein engagiertes Buch, das die Art und Weise, wie wir über unsere ungleiche Welt denken, verändern wird.
Branko Milanović, geboren 1953, ist Wirtschaftswissenschaftler und zählt zu den weltweit angesehensten Experten auf dem Gebiet der Einkommensverteilung. Er war unter anderem leitender Ökonom der Forschungsabteilung der Weltbank. Zurzeit ist er Senior Scholar am Luxembourg Income Study Center und Visiting Presidential Professor an der City University of New York.
Branko Milanović
DIE UNGLEICHE WELT
Migration, das Eine Prozent und die Zukunft
der Mittelschicht
Aus dem Englischen von Stephan Gebauer
Suhrkamp
Die Originalausgabe dieses Buches erschien 2016 unter dem Titel Global Inequality. A New Approach for the Age of Globalization bei The Belknap Press of Harvard University Press (Cambridge/Massachusetts und London).
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016.
© Suhrkamp Verlag Berlin 2016
© Branko Milanović 2016
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Umschlaggestaltung: Brian Barth, Berlin
eISBN 978-3-518-74782-7
www.suhrkamp.de
Einleitung
1 Der Aufstieg der globalen Mittelschicht und der globalen Plutokraten
2 Ungleichheit innerhalb der Länder
3 Ungleichheit zwischen den Ländern
4 Die ungleiche Welt in diesem und im nächsten Jahrhundert
5 Wie geht es weiter?
Anmerkungen
Dank
Bibliographie
Register
Dies ist ein Buch über die Ungleichheit in der Welt. Ich untersuche sowohl die ungleiche Verteilung der Einkommen als auch die damit zusammenhängenden politischen Fragen in einer globalen Perspektive. Doch da es keine Weltregierung gibt, können wir nicht umhin, uns auch mit den einzelnen Nationalstaaten zu beschäftigen. Tatsächlich werden die politischen Antworten auf viele globale Fragen auf einzelstaatlicher Ebene gesucht. Daher wirkt sich größere Offenheit (ein intensiverer wirtschaftlicher Austausch zwischen Personen aus verschiedenen Ländern) nicht auf einer abstrakten globalen Ebene, sondern in den Ländern politisch aus, in denen die von diesem Austausch betroffenen Menschen leben. Beispielsweise könnte die Globalisierung dazu führen, dass chinesische Arbeiter von ihrer Regierung verlangen, ihnen das Recht zum gewerkschaftlichen Zusammenschluss zuzugestehen, und amerikanische Arbeiter könnten ihre Regierung drängen, Schutzzölle zu verhängen.
Aber obwohl die Entwicklungen in den einzelnen Volkswirtschaften wichtig sind und fast alle politischen Maßnahmen auf dieser Ebene ergriffen werden, hat die Globalisierung zusehends Folgen für unser Einkommen, unsere Berufsaussichten, den Umfang unseres Wissens und unserer Information, die Kosten unserer Verbrauchsgüter und die Verfügbarkeit frischen Obstes im tiefsten Winter. Und die Globalisierung ändert die Spielregeln, indem sie die im Entstehen begriffene globale Governance fördert, sei es durch die Welthandelsorganisation, Vereinbarungen über den Klimaschutz oder Maßnahmen gegen die internationale Steuerhinterziehung.
Daher dürfen wir die Einkommensungleichheit nicht länger nur als nationales Phänomen betrachten, wie wir es in den vergangenen hundert Jahren getan haben. Sie ist ein globales Problem. Ein Grund dafür, dass wir diese Perspektive wählen sollten, ist die Neugierde (ein Wesenszug, den Adam Smith sehr schätzte), das heißt, der Wunsch zu wissen, wie andere Menschen in anderen Ländern leben. Aber neben bloßer Neugier dienen Erkenntnisse über das Leben und Einkommen anderer Menschen auch einem praktischen Zweck: Sie können uns die Entscheidungen darüber erleichtern, was wir wo kaufen oder verkaufen sollen, sie können uns helfen zu lernen, wie wir Aufgaben besser und effizienter erfüllen können, und sie können nützlich sein, wenn wir darüber nachdenken, in welches Land wir auswandern sollen. Oder wir können daraus lernen, wie die Dinge anderswo in der Welt gemacht werden: wenn wir mit unserem Chef über eine Gehaltserhöhung verhandeln, wenn wir uns gegen das Passivrauchen wehren oder wenn wir im Restaurant die Essensreste mit nach Hause nehmen wollen (die Doggy Bag hat sich von Land zu Land ausgebreitet).
Ein weiterer Grund dafür, dass wir uns auf die globale Ungleichheit konzentrieren sollten, ist einfach, dass wir mittlerweile die Möglichkeit dazu haben: In den letzten zehn Jahren sind erstmals in der Geschichte der Menschheit Daten verfügbar geworden, die uns in die Lage versetzen, die Einkommen von Menschen in aller Welt miteinander zu vergleichen.
Ich bin jedoch überzeugt, dass die Leser wie ich der Meinung sein werden, dass der wichtigste Grund für die Auseinandersetzung mit der Ungleichheit in der Welt darin besteht, dass uns ihre Entwicklung in den vergangenen zwei Jahrhunderten und insbesondere im letzten Vierteljahrhundert vor Augen führt, wie sich die Welt verändert hat. Die Veränderungen der globalen Ungleichheit geben Aufschluss über den wirtschaftlichen (und oft politischen) Aufstieg und Niedergang von Nationen, über die Entwicklung der Ungleichheit innerhalb der einzelnen Länder und über die Verdrängung eines gesellschaftlichen oder politischen Systems durch ein anderes. Der Aufstieg Westeuropas und Nordamerikas nach der industriellen Revolution verschärfte die globale Ungleichheit. In jüngerer Zeit hat das rasche Wachstum mehrerer asiatischer Länder eine ähnlich große Wirkung gehabt und die Ungleichheit in der Welt wieder verringert. Und das Ausmaß der nationalen Ungleichheit hat sich global ausgewirkt, zum Beispiel, als sie in England zu Beginn der Industrialisierung oder in China und den Vereinigten Staaten in den letzten Jahrzehnten zunahm. Die Entwicklung der Ungleichheit ist ein wichtiger Bestandteil der Wirtschaftsgeschichte der Welt.
Am Anfang dieses Buchs steht eine Beschreibung und Analyse der bedeutsamsten Veränderungen in der globalen Einkommensverteilung seit 1988. Dabei stützen wir uns auf Daten aus Haushaltserhebungen. Das Jahr 1988 ist ein geeigneter Ausgangspunkt, weil ziemlich genau zu diesem Zeitpunkt die Berliner Mauer fiel und die kommunistischen Volkswirtschaften wieder in die Weltwirtschaft eingegliedert wurden. Wenige Jahre zuvor hatte die ökonomische Öffnung Chinas begonnen. Dass heute mehr Haushaltserhebungen zur Verfügung stehen, die wiederum die entscheidende Quelle zur Erforschung der globalen Ungleichheit sind, hängt mit diesen Entwicklungen zusammen. Gegenstand der Untersuchung in Kapitel 1 sind insbesondere (1) der Aufstieg der »globalen Mittelschicht«, die überwiegend in China und anderen aufstrebenden asiatischen Ländern zu Hause ist, (2) die Stagnation jener Gruppen, die im globalen Vergleich wohlhabend sind, in den reichen Ländern jedoch als Mittel- oder untere Mittelschicht eingestuft werden, und (3) die Entstehung einer globalen Plutokratie. Diese drei herausragenden Entwicklungen im vergangenen Vierteljahrhundert werfen bedeutsame Fragen zur Zukunft der Demokratie auf, mit denen ich mich in Kapitel 4 beschäftigen werde. Aber bevor wir beginnen können, über die Zukunft nachzudenken, müssen wir verstehen, wie sich die Ungleichheit in der Welt langfristig entwickelt hat.
Die globale Ungleichheit, das heißt die Einkommensungleichheit zwischen den Bürgern der Welt, kann formal als Gesamtheit der Ungleichverteilungen innerhalb der einzelnen Länder plus die Summe der Unterschiede zwischen den Durchschnittseinkommen der verschiedenen Länder betrachtet werden. Der erste Bestandteil ist die Ungleichverteilung der Einkommen zwischen reichen und armen Amerikanern, reichen und armen Mexikanern usw. Der zweite Bestandteil entspricht den Einkommensunterschieden zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko, Spanien und Marokko usw. In Kapitel 2 werden wir uns die Ungleichheit innerhalb der Länder, in Kapitel 3 die Ungleichheit zwischen den Ländern ansehen.
Bei der Analyse in Kapitel 2 stütze ich mich auf Langzeitdaten zur Einkommensungleichheit. Diese Daten reichen in einigen Fällen bis ins Mittelalter zurück. Das Ergebnis dieser Analyse ist eine Neuformulierung der Kuznets-Hypothese, die so etwas wie das Arbeitspferd der Ungleichheitsforschung ist. Die in den fünfziger Jahren von dem Nobelpreisträger Simon Kuznets formulierte Hypothese besagt, dass Industrialisierung und steigende Durchschnittseinkommen zunächst mit wachsender Ungleichheit einhergehen; anschließend nimmt diese jedoch wieder ab. Setzt man die Ungleichheit in Beziehung zum Einkommen und stellt das Verhältnis grafisch dar, so erhält man eine umgekehrte U-Kurve. In den letzten Jahren hat sich jedoch gezeigt, dass die Kuznets-Hypothese nicht geeignet ist, ein neues Phänomen in den Vereinigten Staaten und anderen reichen Ländern zu erklären: Nachdem die Einkommensungleichheit über weite Strecken des 20. Jahrhunderts zurückging, nimmt sie seit einigen Jahren wieder zu. Diese Entwicklung ist nicht mit der Kuznets-Hypothese in ihrer ursprünglichen Form vereinbar: Träfe sie zu, hätte es nicht zu dieser Zunahme der Ungleichheit in den reichen Ländern kommen dürfen.
Auf der Suche nach einer Erklärung für die jüngste Zunahme der Ungleichheit und für ihre Entwicklung in der Vergangenheit gehe ich bis in die Zeit vor der industriellen Revolution zurück und führe das Konzept der Kuznets-Wellen (oder Kuznets-Zyklen) ein. Tatsächlich können die Kuznets-Wellen nicht nur die jüngste Zunahme der Ungleichheit erklären, sondern sie eignen sich auch, um die zukünftige Entwicklung in reichen Ländern wie den Vereinigten Staaten und in Schwellenländern wie China und Brasilien vorauszusagen. Ich unterscheide bei der Anwendung der Kuznets-Zyklen zwischen Ländern mit stagnierendem Einkommen (vor der industriellen Revolution) und Ländern mit stetig steigendem Durchschnittseinkommen (in der Moderne). Sodann unterscheide ich zwischen zwei Arten von Kräften, die der Ungleichheit entgegenwirken: Dies sind »bösartige« Kräfte wie Kriege, Naturkatastrophen und Epidemien sowie »gutartige« Kräfte wie eine Ausweitung der Bildung, erhöhte Sozialtransfers und eine progressive Besteuerung. Insbesondere widme ich mich der Rolle von Kriegen, die in einigen Fällen das Ergebnis einer ausgeprägten Ungleichheit in den Ländern, einer zu geringen aggregierten Nachfrage und des Bemühens sind, andere Länder unter Kontrolle zu bringen, um neue Profitquellen zu erschließen. Kriege können die Ungleichheit verringern, führen jedoch auch zu einer Verringerung der Durchschnittseinkommen.
Kapitel 3 ist den Einkommensunterschieden zwischen Ländern gewidmet. Hier stoßen wir auf die interessante Tatsache, dass die globale Ungleichheit zum ersten Mal seit der industriellen Revolution vor zwei Jahrhunderten nicht in erster Linie die Folge eines wachsenden Einkommensgefälles zwischen den Ländern ist. Mit dem Anstieg des Durchschnittseinkommens in einigen asiatischen Staaten ist die Kluft zwischen den Ländern kleiner geworden. Setzt sich die wirtschaftliche Konvergenz fort, so wird nicht nur die globale Ungleichheit abnehmen, sondern die Ungleichheit innerhalb der einzelnen Länder wird deutlicher zutage treten. Möglicherweise werden wir uns in fünfzig Jahren wieder in derselben Situation wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts befinden: Damals hatte die Ungleichheit in der Welt weniger mit unterschiedlichen Durchschnittseinkommen im Westen und in Asien zu tun, sondern war in erster Linie auf die Einkommensunterschiede zwischen reichen und armen Briten, reichen und armen Russen sowie reichen und armen Chinesen zurückzuführen. Eine solche Welt käme jedem Leser von Karl Marx, ja jedem Leser der kanonischen europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts bekannt vor. Aber so weit sind wir noch nicht. Gegenwärtig leben wir noch in einer Welt, in der unser Geburts- oder Aufenthaltsort großen Einfluss auf unseren Wohlstand hat. Bis zu zwei Dritteln unseres Lebenseinkommens können davon abhängen, wo wir geboren wurden. Ich bezeichne den Vorteil, den die in reicheren Ländern geborenen Menschen genießen, als »Ortsrente«. Am Ende von Kapitel 3 erkläre ich, worin diese wirtschaftliche Rente besteht, welche Relevanz sie für die politische Philosophie hat und was ihre direkte Konsequenz ist: Sie erhöht den Druck, von einem Land in ein anderes auszuwandern, um ein höheres Einkommen zu erzielen.
Nachdem wir uns die einzelnen Bestandteile der globalen Ungleichheit angesehen haben, werden wir sie in ihrer Gesamtheit betrachten. In Kapitel 4 beschäftige ich mich mit der zu erwartenden Entwicklung der Ungleichheit in diesem und dem nächsten Jahrhundert. Dabei vermeide ich scheinbar exakte Prognosen, weil diese in der Realität trügerisch sind: Wir wissen, dass sogar allgemeine Voraussagen zur Entwicklung des Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukts einzelner Länder zumeist nicht einmal das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt wurden. Ich halte es für nützlicher, die grundlegenden Kräfte (Einkommenskonvergenz und Kuznets-Wellen) zu isolieren, von denen die heutigen Einkommen von Ländern und Personen abhängen, um ausgehend davon Vermutungen dazu anzustellen, in welche Richtung die zukünftige Entwicklung gehen könnte. Es muss jedoch klar sein, dass derartige Prognosen oft spekulativ sind.
Bei der Arbeit an Kapitel 4 warf ich einen Blick auf einige erfolgreiche Bücher aus den sechziger, siebziger und neunziger Jahren, deren Autoren, gestützt auf die Extrapolation damaliger Trends, versuchten, die Zukunft vorauszusagen. Verblüfft stellte ich fest, wie sehr diese Autoren in der Realität ihrer Zeit gefangen waren.
Am Ende von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit beschreibt Marcel Proust fasziniert, wie alte Menschen mit ihrer eigenen Person die sehr unterschiedlichen Epochen zu berühren scheinen, die sie durchlebt haben. Nirad Chaudhuri bemerkt in seiner wunderbaren Autobiografie Thy Hand, Great Anarch!, dass es nicht unmöglich ist, im Lauf eines Lebens sowohl den Höhepunkt als auch den Tiefpunkt einer Zivilisation zu sehen: die Pracht Roms zur Zeit von Mark Aurel und grasende Schafe auf dem verlassenen Forum. Mag sein, dass wir mit zunehmendem Alter ein gewisses Maß an Weisheit und die Fähigkeit erlangen, verschiedene Epochen zu vergleichen, so dass wir die Zukunft besser voraussehen können. Aber in den Schriften jener Autoren, die vor dreißig oder vierzig Jahren großen Einfluss genossen, war von solcher Weisheit nichts zu sehen. Ich hatte den Eindruck, dass einige Autoren, die vor einem Jahrhundert oder früher schrieben, unsere heutigen Dilemmata besser einschätzten als jene, die sich vor wenigen Jahrzehnten Gedanken über die Zukunft machten. Lag es daran, dass sich die Welt Ende der achtziger Jahre mit dem Aufstieg Chinas (den kein einziger jener Autoren in den siebziger Jahren vorausahnte) und dem Ende des Kommunismus (den ebenfalls keiner von ihnen kommen sah) dramatisch veränderte? Können wir ausschließen, dass sich in den nächsten Jahrzehnten ähnlich unerwartete Geschehnisse ereignen werden? Ich würde sagen, das können wir nicht. Trotzdem hoffe ich, dass Leser dieses Buchs darin in dreißig oder vierzig Jahren die mit dem Alter erworbene Weisheit entdecken werden, von der Proust und Chaudhuri sprechen. Aber natürlich ist das alles andere als sicher.
Am Ende von Kapitel 4 behandle ich drei politische Dilemmata, mit denen wir heute konfrontiert sind: (1) Wie wird China mit der Forderung seiner Bevölkerung nach demokratischer Beteiligung umgehen? (2) Wie werden die reichen Länder eine möglicherweise mehrere Jahrzehnte dauernde Stagnation der Einkommen ihrer Mittelschicht bewältigen? (3) Wird der Aufstieg des reichsten einen Prozent der Menschen dazu führen, dass plutokratische politische Systeme entstehen oder dass der Weg des Populismus beschritten wird, um die »Verlierer« der Globalisierung zu beschwichtigen?
Im letzten Kapitel gehe ich die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung noch einmal durch, fasse die Lehren zusammen, die daraus gezogen werden können, und unterbreite Vorschläge dazu, wie die Ungleichheit innerhalb der einzelnen Länder und in der Welt insgesamt in diesem und im folgenden Jahrhundert reduziert werden kann. Zur Verringerung der Ungleichheit innerhalb der einzelnen Volkswirtschaften schlage ich vor, die vorhandene Ausstattung (endowments) der Bürger (das heißt den Kapitalbesitz und das Bildungsniveau) zu nivellieren, anstatt das aktuelle Einkommen zu besteuern. Um für eine gerechtere Verteilung des Wohlstands in der Welt zu sorgen, muss meiner Meinung nach ein beschleunigtes Wachstum der ärmeren Länder gefördert und die Hindernisse für die Migration abgebaut werden. Über die erste Forderung besteht im Grunde Konsens, die zweite ist eher umstritten. In diesem Kapitel stelle ich fünf spekulative Fragen zu Globalisierung und Ungleichheit und gebe Antworten, die anders als das übrige Buch weniger auf spezifischen Daten, sondern eher auf meiner persönlichen Einschätzung beruhen.
Um die Organisation und Symmetrie dieses Buchs zu verstehen, können wir uns die schematische Darstellung seiner Gliederung in Schaubild I.1 ansehen.
Wie der Leser unschwer erkennen kann (wenn er eine Druckversion des Buchs in der Hand hält oder die Gesamtzahl der Worte in einem elektronischen Exemplar betrachtet), ist dies ein relativ kurzes Buch. Es enthält eine Reihe von Schaubildern, die jedoch, wie ich hoffe, leicht zu verstehen sind und dem Leser dabei helfen werden, sich einen Überblick über die wichtigsten Erkenntnisse zu verschaffen. Ich denke, dieses Buch können sowohl Fachleute als auch Laien mit Gewinn lesen, seien sie nun gut oder weniger gut informiert (wobei zu bezweifeln ist, dass sich irgendjemand der zweiten Kategorie zurechnen wird).
Ich schulde dem Leser eine Erklärung zu Verwendung der Pronomen in diesem Buch. Ich wechsle relativ oft vom Plural der ersten Person in den Singular. Im Allgemeinen verwende ich die bei Autoren eher übliche Form wir, und zwar überall dort, wo ich denke, dass meine Einschätzung von einem Großteil der Ökonomen, Sozialwissenschaftler, Zeitschriftenleser oder einer anderen relevanten Gruppe geteilt wird. Es liegt auf der Hand, dass nicht jeder, den ich dem wir zuschlage, im spezifischen Fall derselben Meinung sein wird. Es ist mir nicht nur bewusst, dass ich großen Personengruppen bestimmte Meinungen zuschreibe, sondern ich weiß auch, dass sich die Zusammensetzung dieser Gruppen laufend ändert. Aber ich versuche, zwischen wir und ich zu trennen: Den Singular verwende ich, wenn ich klarstellen will, dass es sich um meine persönliche Meinung, Entscheidung, Vorstellung oder Terminologie handelt. Ein Beispiel: »Wir« (das heißt die Ökonomen, die sich mit der Ungleichheit beschäftigen) mögen der Meinung sein, dass die Kuznets-Hypothese diskreditiert ist, weil sie nicht geeignet war, die jüngste Zunahme der Einkommensungleichheit in den reichen Ländern vorauszusagen, aber »ich« habe versucht, die Hypothese so umzuformulieren, dass »wir« in Zukunft möglicherweise unsere Meinung über ihren Nutzen ändern werden. Es dürfte allerdings noch eine Weile dauern, bis aus diesem »ich« ein »wir« wird.
Schaubild I.1: schematischer Aufriss von Die ungleiche Welt
Nun überlasse ich es dem Leser, den ersten Schritt auf dem Weg zum Verständnis unserer ungleichen Welt zu tun. Vielleicht kann ich damit einen Beitrag dazu leisten, dass wir irgendwann in der Lage sein werden, die Entwicklung der Menschheit global zu gestalten und gemeinsam in einer Welt zu leben.