ISBN: 978-3-95428-613-3
1. Auflage 2015
© 2015 Wellhöfer Verlag, Mannheim
info@wellhoefer-verlag.de
www.wellhoefer-verlag.de
Titelgestaltung: Titelgestaltung: Uwe Schnieders, Fa. Pixelhall, Mühlhausen
Der Roman ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit wirklichen Personen oder tatsächlichen Ereignissen sind nicht beabsichtigt und somit rein zufällig.
Alle Rechte vorbehalten.
Ralf Kurz
Den geborenen Pfälzer, Jahrgang 1961, verschlug es nach dem Abitur nach Freiburg, wo es ihm so gut gefiel, dass er die Stadt zu seiner Wahlheimat erkor. Er erlernte den Kaufmannsberuf, spielte jedoch nebenbei viele Jahre als Gitarrist und Bassist in Rock- und Bluesbands, bevor er mit dem Schreiben begann.
Seine ersten beiden Romane »Sdaiv – die Entführung der Fußball-Nationalmannschaft« (Krimi, 2005) und »Die Ziege im Anzug« (Liebeskomödie, 2008) sowie einige Kurzgeschichten in verschiedenen Anthologien veröffentlichte er unter seinem Pseudonym FREEMAN. Im Jahr 2008 erschien unter seinem eigenen Namen der große, historische Portraitroman »Der Diplomat« über den Staatsmann und Minister Johann Christian von Hofenfels (1744 – 1787). Mittlerweile ist Kurz zum Krimigenre zurückgekehrt.
Bereits im Wellhöfer Verlag erschienen:
Die Honigspur – Kommissar Bussards erster Fall
Im Schatten der Wahrheit – Kommissar Bussards zweiter Fall
Tödlicher Triumph – Kommissar Bussards dritter Fall
Nicht noch einmal - Kommissar Bussards fünfter Fall
Für Rolf
Das silberfarbene Klebeband schmückte seine Handgelenke wie die Armreifen eines antiken Helden. Selbst im gedämpften Licht der Deckenlampe leuchtete es mit einer Strahlkraft, die er bis zu diesem Augenblick nicht gekannt hatte. Er fragte sich, ob Alexander solcherart bewehrt in die Schlacht von Issos gezogen war. Vielleicht waren es die Armreifen gewesen, denen der Feldherr seinen Sieg über Dareios III. verdankte, weil sie die Perser geblendet hatten. Es war jedoch ebenso gut möglich, dass Hector die Armreifen bei der Schlacht um Jerusalem getragen hatte. Jerusalem? Irgendetwas stimmte nicht mit dieser Stadt. Wieso trug sie einen falschen Namen?
»Wer weiß etwas darüber?«
Jerusalem konnte nichts wissen, aber vielleicht gab es jemanden namens Jeru Salem, der die Antwort berechnen konnte. Die Araber hatten schon immer eine Schwäche für Mathematik gehabt, aber eigentlich hätte es doch Stärke heißen müssen. Sie hatten eine Stärke für Mathematik gehabt, das zeigten die Pyramiden. Die Pyramiden waren die große Stärke der Araber gewesen, Pyramiden und Falkenjagd. Es waren wirklich schöne Vögel, schnell, wendig, präzise und tödlich. Ihre Augen waren berühmt, ja, sie hatten berühmte Augen. Falkenaugen nannte man sie, Falkenaugen!
»Zu wem hatten Sie Kontakt?«
Kon … takt … Kon … takt … Kon … takt … Das Wort hatte ein Zuhause. Es wohnte in einem Metronom. Kon … takt … drei … vier … Kon … takt … drei … vier … Kon …
»Konzentrieren Sie sich!«
Die Stimme war wie Musik, wie eine Sinfonie von Beethoven, lieblich, engelsgleich im einen Augenblick und vernichtend im nächsten. Sie schmeckte süß und ein wenig fruchtig, wie Quittengelee, eine fruchtig-süße Stimme.
»Ich will einen Namen!«
Das war verblüffend. Er konnte die Stimme hören und er konnte sie schmecken, nur sehen konnte er sie nicht, obwohl sie ihn einhüllte, engelsgleich vernichtend und fruchtig-süß. »Haben Sie denn keinen Namen?«
Er hatte eine törichte Frage gestellt, denn Namen war ungeeignet, völlig unbrauchbar, aber Kon … takt war eine Offenbarung. Kon … takt … Kon … takt … Kon … takt … Das war der Rhythmus des Universums!
Ignaz Baer spürte einen Druck auf seinem Hinterkopf. Er leistete keinen Widerstand, weil Kon … takt keinen Raum für andere Gedanken ließ. Kon … takt füllte ihn vollständig aus und mit gesenktem Kopf lauschte er fasziniert dem erhabenen Rhythmus, der wahren Ursache für die Expansion des Universums.
Die Wucht des einschlagenden Projektils zertrümmerte den zweiten Halswirbel, während das Hohlspitzgeschoss deformiert wurde und stark aufpilzte. Die Verformung raubte dem Projektil einen erheblichen Teil seiner kinetischen Energie, doch die vergrößerte Oberfläche riss einen entsprechend großen Wundkanal in das weiche Gewebe des Gehirns. Erst der harte Schädelknochen der Stirnpartie leistete erfolgreich Widerstand. Er splitterte zwar, erwies sich für das verlangsamte Geschoss jedoch als undurchdringlich. Ignaz Baer spürte lediglich einen harten Schlag im Genick, bevor sein Zentralnervensystem zusammenbrach, während er noch immer dem Rhythmus des Universums lauschte.
Kon … takt … Kon … takt … Kon … takt …
Anja lehnte sich zurück und schloss die Augen. Drei Jahre lang war sie für die Ermittlungsgruppe Wirtschaftskriminalität tätig gewesen, doch an diesem Montag würde die Kollegin aus dem Mutterschaftsurlaub zurückkehren und damit endete die Vertretungsstelle, die Anja übernommen hatte. Der achtundzwanzigjährigen Kommissarin stand ein neuer Abschnitt ihres Berufslebens bevor. Ihren neuen Chef, Kriminalhauptkommissar Bussard, kannte sie bereits flüchtig, doch sie wusste kaum etwas über den Mann, der die Ermittlungsgruppe Gewaltverbrechen leitete. Heidi Peters, ihre bisherige Chefin, hielt große Stücke auf den Mann, dessen Aufklärungsquote die höchste bei der Freiburger Kriminalpolizei war. Manche Kollegen bezeichneten Bussard als kauzig, andere hielten ihn für nicht teamfähig, weil er in dem Ruf stand, als Ermittler ein Einzelgänger zu sein. Wenn Anja ihm hin und wieder begegnete, sei es im Treppenhaus oder in der Kantine, trug er stets das gleiche Outfit: Lederjacke, Jeans und Stiefel. Obwohl er die Vierzig schon überschritten hatte, zeigten seine fast schulterlangen, dunkelblonden Haare noch keine grauen Strähnen, aber sie verrieten, dass er selten einen Friseur aufsuchte. Bussard schien ein sportlicher Typ zu sein, doch damit erschöpfte sich bereits das Bild, das Anja von dem Mann hatte, für den sie in Zukunft arbeiten sollte.
»Abschiedsschmerz?«
Die Kommissarin öffnete die Augen und sah überrascht auf. Sie hatte nicht bemerkt, dass ihre bisherige Chefin, die Leiterin der Ermittlungsgruppe Wirtschaftskriminalität, das Büro betreten hatte. »Ja, irgendwie schon. Ich habe gerne hier gearbeitet. Schade, dass ich den Schreibtisch jetzt räumen muss.«
Heidi Peters, die fast einen ganzen Kopf kleiner war als Anja und die vor allem wegen ihrer Frisur eine gewisse Ähnlichkeit mit Liza Minelli hatte, trug wie fast immer einen dunklen Hosenanzug mit Nadelstreifen. Auf den ersten Blick hätte man nicht vermutet, dass die Leiterin der Abteilung, die ein abgeschlossenes Wirtschaftsstudium vorweisen konnte, beruflich auf Verbrecherjagd ging, doch Kriminalhauptkommissarin Peters war gut in ihrem Job und Anja hatte in den drei Jahren viel bei ihr gelernt.
»Du bekommst einen neuen Schreibtisch.«
»Ja, und einen neuen Chef.« Anja stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte und den Kopf in die Hände. »Eigentlich will ich keinen neuen Schreibtisch und auch keinen neuen Chef.«
Heidi setzte sich Anja gegenüber und schlug die Beine übereinander. »Du kannst dich glücklich schätzen, dass Bussard dein neuer Chef wird.«
»Ich weiß, du magst ihn.«
»Ja, ich mag ihn. Er ist zwar etwas eigen, aber er ist ein hervorragender Ermittler. Du wirst viel bei ihm lernen.«
Nachdenklich fuhr Anja mit den Fingerspitzen über die Tischplatte. »Es gibt viele Kollegen, die Papierkram nicht mögen, aber ich fand es immer aufregend, gegen jemanden zu ermitteln, der seine Spur in seinen Geschäftsbriefen oder seiner Buchhaltung hinterlassen hat. Die Täter, die wir überführt haben, saßen immer auf einem ziemlich hohen Ross und sind deshalb auch immer ziemlich tief gefallen. Für mich war es jedes Mal eine Genugtuung, einen von denen zu erwischen, die glauben, sie wären unantastbar und stünden über dem Gesetz.«
»Du meinst Leute wie Kälble?«
»Ja, zum Beispiel.« Bei der Erinnerung an den Fall leuchteten Anjas Augen. »Weißt du noch, wie er immer von seinen Freunden im Wirtschaftsministerium gesprochen hat und wie sich seine Freunde urplötzlich verpissten, als wir nachgewiesen haben, dass seine Bilanzen das Papier nicht wert sind, auf das er sie gedruckt hat?«
»Natürlich weiß ich das noch.«
»Und erinnerst du dich auch noch an das Gesicht dieses Staatssekretärs, als er erfahren hat, dass Kälble Subventionsbetrug im großen Stil begangen hat?«
»Und du meinst, das wird dir fehlen?«
»Ja, diese Detektivarbeit wird mir fehlen.« Anja lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir haben wochenlang ermittelt und ein Mosaiksteinchen nach dem anderen gefunden, bis wir am Ende das ganze Bild vor Augen hatten. Jeden Tag habe ich mich darauf gefreut, nach einem weiteren Puzzleteil zu suchen, weil ich wusste, dass wir ihn am Ende kriegen würden.«
Die Leiterin der Ermittlungsgruppe Wirtschaftskriminalität nickte lächelnd. Anja hatte sich regelrecht in den Fall verbissen und sie hatte nicht locker gelassen. Oft war sie abends die Letzte gewesen, die das Büro verlassen hatte und nicht selten hatte sie morgens schon wieder am Schreibtisch gesessen, wenn Heidi gekommen war. Unermüdlich hatte Anja Tausende von Seiten gewälzt, bis sie endlich alle Beweise gefunden hatte, die später zu einer Verurteilung des Subventionsbetrügers geführt hatten.
»Stimmt, wir haben ihn gekriegt und du hast großartige Arbeit geleistet. Ich war ziemlich stolz auf dich.« Heidi hatte nach dem Fall eine Beurteilung geschrieben und empfohlen, die Kollegin, die in ihrer Abteilung lediglich eine Mutterschaftsvertretung übernommen hatte, später in einen Bereich zu versetzen, in dem sie ihr großes Potential ausschöpfen konnte. Anja war klug, verfügte über einen analytischen Verstand, eine erstaunliche Allgemeinbildung und einen ausgeprägten kriminalistischen Spürsinn. Bei einem Gespräch mit Polizeirat Neudörfer, dem Chef der Freiburger Kripo, hatte Heidi erfahren, dass die Ermittlungsgruppe Gewaltverbrechen aufgestockt werden sollte. Eine seit drei Jahren vakante Stelle sollte endlich besetzt werden und eine weitere Stelle war zusätzlich geschaffen worden. Nach Heidis Meinung war für eine dieser beiden Stellen niemand besser geeignet als Anja Hill.
»Soll ich dir mal etwas verraten?« Anja begutachtete den Lack ihrer Fingernägel. Für den stylischen Ombré Look hatte sie die Farben Mahagoni und Gold ausgewählt, die gut zu ihren braunen Haaren passten. »Ich habe überhaupt keinen Bock auf die neue Stelle.«
»Warum nicht?«
»Weil das ein richtiger Absturz ist. In deiner Abteilung muss man akribisch arbeiten und nach versteckten Details suchen, um die großen Zusammenhänge zu finden. Man muss dieselbe kriminelle Energie aufwenden wie die Täter, um zu verstehen, wie sie ihre Täuschungsmanöver angelegt haben. Das ist ziemlich anspruchsvoll, aber Gewaltverbrechen?« Sie hob die Hände in einer hilflosen Geste und ließ die Arme auf die Tischplatte sinken. »Soll ich wirklich gegen Schläger und Vergewaltiger ermitteln, die meist noch zu blöd sind, ihren eigenen Arsch zu finden, selbst wenn sie darauf sitzen? Wenn ich mir vorstelle …«
»Ich habe dich für die Stelle ausdrücklich empfohlen.« Heidi lächelte aufmunternd, doch Anja glaubte einen Moment lang, sich verhört zu haben.
»Du hast was?«
»Als Neudörfer davon sprach, dass in Bussards Team zwei Stellen zu besetzen seien, habe ich ihn überredet, eine dieser Stellen mit dir zu besetzen. Er war zwar nicht begeistert, wollte dir aber eine Chance geben.«
»Sag ich doch! Neudörfer weiß genau …« Anja wollte erklären, dass der Polizeirat das Niveau ihrer bisherigen Arbeit richtig einschätzte, doch Heidi ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Nein, weiß er nicht. Neudörfer hält dich für eine Büromaus, eine intelligente Büromaus zwar, aber nicht unbedingt geeignet für den Außendienst bei der Ermittlungsgruppe Gewaltverbrechen.«
»Büromaus? Ich fasse es nicht!« Anja schüttelte ungläubig den Kopf. Sie konnte nicht verstehen, was sich der Chef ihrer Chefin einbildete. Auch wenn sie in den letzten drei Jahren ausschließlich mit Wirtschaftsdelikten beschäftigt gewesen war, hatte sie trotzdem jede Woche einen Nachmittag mit Schieß- und einen zweiten mit Nahkampftraining verbracht. Sie hatte keine Angst davor, auf die Straße zu gehen, um dort als Staatsmacht aufzutreten. »Was glaubt Neudörfer eigentlich? Hast du schon einmal eine Maus gesehen, die besser schießt als die meisten männlichen Kollegen?«
Anjas Augen funkelten und auf der Stirn ihres schmalen, ebenmäßigen Gesichts bildete sich eine steile Zornfalte. Bisher hatte sie Neudörfer immer für einen anständigen und fairen Chef gehalten, aber »Büromaus« war inakzeptabel.
Heidi hob ihre Hände in einer abwehrenden Geste und schüttelte den Kopf. »Mich musst du nicht überzeugen. Ich weiß, dass du es schaffen könntest.«
»Was heißt hier könntest? Ich habe drei Jahre lang für dich gearbeitet und du weißt, dass ich eine gute Polizistin bin!«
»Ja, schon …«
»Du hast mich doch selbst empfohlen!« Anja hatte sich in Rage geredet und ihre Stimme wurde immer lauter. Grundsätzlich war es nicht so schlecht, wenn man unterschätzt wurde, denn das machte Gegner meist überheblich und verleitete sie zu Fehlern. Die Einschätzung des Polizeirats jedoch war ein heftiger Tritt gegen das Schienbein ihres Selbstbewusstseins. »Glaubst du etwa auch, dass ich Angst vor Männern habe, die Fäuste statt Scheckbücher benutzen? Meinst du, ich würde mich nicht trauen, Gewalttäter ebenso zur Strecke zu bringen wie Wirtschaftskriminelle?«
Heidi wartete, bis Anjas Sturm der Entrüstung abgeflaut war. »Du traust es dir also auch selbst zu?«
»Natürlich traue ich es mir selbst zu!«
»Na, also!«
»Was, na also?« Das verschmitzte Lächeln der Chefermittlerin kam Anja spanisch vor. Es schien, als habe sich Heidi über Neudörfers Beleidigung amüsiert, doch dann erkannte die Kommissarin den wahren Grund. »Du hast mich verarscht, du hinterhältiges Biest!«
»Vorsicht, ich bin immer noch deine Chefin.« Heidis Ermahnung war nicht ganz ernst gemeint und beide Frauen wussten es.
»Die Büromaus war …«
»… eine ziemlich freie Interpretation.«
Die Kommissarin schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Heidi hatte genau gewusst, wie Anja auf eine Herausforderung reagieren würde. Sie hatte ihren Ehrgeiz gekitzelt und aus der anfänglichen Unlust war innerhalb weniger Augenblicke ein Job geworden, in dem sich Anja beweisen wollte, selbst wenn sie befürchtete, in der neuen Abteilung unterfordert zu sein. »Also gut, Frau Chefpsychologin, erzähl mir etwas über diesen Bussard.«
Heidi zog einen ihrer High Heels aus und begann, ihre Zehen zu massieren. Beide Frauen teilten eine Vorliebe für elegante Kleidung, echten Schmuck und Schuhe mit hohen, schmalen Absätzen. »Bussard macht seinem Namen alle Ehre. Er ist wie ein Raubvogel, der so lange über einem Fall kreist und mit seinen scharfen Augen alles beobachtet, bis er am Ende herabstößt, um seine Beute zu erlegen.«
In ihrer Erinnerung stieg das Bild des Mannes auf, mit dem sie zwei Jahre zuvor gemeinsam an einem Fall gearbeitet hatte. Ein betrügerischer Finanzberater war ermordet worden und während sich Bussard auf die Suche nach dem Täter gemacht hatte, war Heidi der Spur des Geldes gefolgt. Durch einen zweiten Mord an einem widerwärtigen Kriminellen mit vielfältigen Unterweltkontakten war Bussard auf eine Querverbindung zu einem Mädchen gestoßen, das in den Höhen des Schwarzwalds erfroren war. Mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit hatte der Kommissar nicht nur die beiden Morde aufgeklärt, sondern auch einen dritten Täter dingfest gemacht, der sich zusammen mit den beiden Ermordeten an jungen Mädchen vergangen hatte, die auf der Straße lebten.
»Ein Raubvogel? So etwas Ähnliches habe ich schon gehört. Er soll ein Einzelgänger sein, Typ einsamer Wolf.«
Heidi schlüpfte in ihren Schuh und wiederholte das Procedere mit dem anderen Fuß. »Ja und nein. Es stimmt schon, dass er immer alleine ermittelt. Das hat ihn auch schon das eine oder andere Mal in die Bredouille gebracht, wo es besser gewesen wäre, einen Partner an der Seite zu haben. Andererseits ist er wirklich ein liebenswerter Mann, auch wenn er manchmal mürrisch erscheint. Die meisten Kollegen mögen ihn, weil man sich auf ihn verlassen kann und er keine krummen Dinger dreht. Wenn du Hilfe brauchst, kannst du dich immer an ihn wenden. Unter seiner rauen Schale verbirgt sich ein großes Herz. Nur mit Frauen scheint er kein Glück zu haben.«
Anja rief sich das Erscheinungsbild des Kommissars in Erinnerung. »Er sollte mal zum Friseur gehen und sich etwas besser anziehen. Vielleicht hat er dann mehr Glück bei den Frauen.«
»Möglich. Bussard legt nicht viel Wert auf Äußerlichkeiten.« Die Chefermittlerin hatte die Massage beendet und zog den zweiten Schuh wieder an. »Er hatte eine Partnerin, Sylvia Harter. Soweit ich weiß, waren die beiden ein gutes Team. Als sie zum LKA nach Stuttgart ging, muss ihn das ganz schön mitgenommen haben. Seither spielt er den einsamen Wolf.«
Anja bedachte ihre Chefin mit einem vielsagenden Blick, doch Heidi zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ob sie etwas miteinander hatten, aber einige Zeit nach Silvia Harters Weggang ging Bussards Ehe in die Brüche. Er hat sich von seiner Frau getrennt oder besser gesagt, sie sich von ihm. Sie hatte wohl schon einen Neuen, als er ausgezogen ist. Ob er ihr noch eine Träne nachweint, kann ich nicht sagen, aber ich weiß, dass es ihm das Herz gebrochen hat, seine Kinder verlassen zu müssen. Er liebt seine Töchter über alles.«
»Hat er eine neue Beziehung?«
»Nein. Er kann zwar ziemlich charmant sein und manchmal spielt er sogar den Gentleman, aber eigentlich lässt er niemanden so richtig an sich heran.«
»Hast du es versucht?«
Heidi schüttelte den Kopf und seufzte. »Ich habe gleich am ersten Tag gespürt, dass sein Interesse an mir rein beruflich war. Man kann gut mit ihm reden, aber wenn man glaubt, einen Zugang zu ihm gefunden zu haben, erscheint plötzlich eine Art unsichtbare Mauer. Bussard bleibt dahinter und wahrscheinlich sind seine Kinder die Einzigen, die wissen, wo die Tür in dieser Mauer ist.«
Die Leiterin der Ermittlungsgruppe Wirtschaftskriminalität stand auf, zog ihr Jackett glatt und sah auf ihre Armbanduhr. »Ich bin froh, dass du in seine Abteilung kommst. Bussard hat ein gutes Gespür für Menschen. Außerdem ist er ein hervorragender Ermittler, dem man genauso wenig etwas vormachen kann wie dir. Ihr beiden wärt ein gutes Team.«
»Wieso Team? Er wird mein neuer Chef.«
»Und es wird Zeit, dass er dich kennenlernt. Neudörfer will die Vorstellung persönlich vornehmen. Es ist gleich acht Uhr und er wartet bestimmt schon.«
»Morgen, Bussard, hast du ein neues Auto?« Sasha Wegner lehnte an seinem Schreibtisch und hielt einen Becher dampfenden Kaffee in der Hand. »Ich habe vorhin gesehen, wie du damit auf den Hof gefahren bist.«
»Morgen, Susanne, Morgen, Sasha.« Bussard nickte seinen beiden Kollegen zu und schloss die Tür des Büros. »Neu ist nicht der richtige Ausdruck für ein Fahrzeug mit historischen Kennzeichen.«
»Ein Oldtimer?« Susanne Bauer, die EDV-Spezialistin der Abteilung, sah hinter ihrem Monitor auf.
»Mehr oder weniger.« Der Kommissar ging zur Kaffeemaschine, füllte seinen Becher mit dem schwarzen Gebräu und gab Zucker hinzu. »Es ist ein BMW 635 CSI.«
»Du hast dir echt einen Oldtimer gekauft?«, fragte Susanne zweifelnd, denn sie kannte den manchmal rasanten Fahrstil ihres Chefs.
»Nein, ich habe ihn quasi geerbt.«
»Was heißt quasi geerbt?«
»Ein Onkel von mir ist vor drei Wochen gestorben. Er hat den Wagen 1978 gekauft, ist aber wenig gefahren. Auf dem Tacho stehen gerade einmal 48.000 Kilometer. Meine Tante fährt einen Ford Ka. Der BMW ist ihr eine Nummer zu groß, außerdem ist sie schon über siebzig und deshalb hat sie mir den Wagen vermacht.«
Schon als Jugendlicher hatte Bussard den BMW geliebt und es war immer ein besonderes Erlebnis gewesen, wenn er mit seinem Onkel hatte mitfahren dürfen. Allerdings war er nur selten in diesen Genuss gekommen, denn sein Onkel hatte den Wagen gehegt und gepflegt, aber nur selten aus der Garage geholt. Bussard hatte das damals nicht verstehen können, denn mehr als zweihundert PS, ein straffes Fahrwerk und Recaro-Sportsitze verlangten förmlich danach, möglichst schnell über den Asphalt bewegt zu werden.
»BMW 635 CSI.« Über eine Suchmaschine hatte sich Susanne Bilder des Fahrzeugs auf den Bildschirm geholt. »Er sieht überhaupt nicht wie ein Oldtimer aus.«
»Es handelt sich um ein historisches Fahrzeug, weil es älter als dreißig Jahre ist. Der Wagen befindet sich im Originalzustand, deshalb war es auch kein Problem, historische Kennzeichen zu bekommen.«
Wegner nickte anerkennend. »Mann, Bussard, da hast du aber echt Schwein gehabt!«
Der Kommissar antwortete nicht. Nüchtern betrachtet hatte Sasha recht, doch auf der anderen Seite war Bussard nur deshalb glücklicher und stolzer Besitzer eines 635er, weil sein Onkel gestorben war.
Nach einem kurzen Klopfen wurde die Tür geöffnet. Polizeirat Ulf Neudörfer betrat das Büro, gefolgt von zwei neuen Kollegen, die bereits vier Wochen zuvor angekündigt worden waren. Neudörfer, dessen einstmals schwarze Locken zunehmend ergrauten, der jedoch noch immer einen jugendlichen Charme versprühte, obwohl er bereits auf die sechzig zuging, strahlte über das ganze Gesicht. »Herr Bussard, Herr Wegner, Frau Bauer, ich darf Ihnen Ihre neuen Kollegen vorstellen. Das sind Frau Anja Hill und Herr Julian Stemmer.«
Die drei Beamten der Ermittlungsgruppe Gewaltverbrechen begrüßten die neuen Kollegen mit Handschlag. Bussard, der als Kriminalhauptkommissar die Abteilung leitete, war froh, dass sein Team aufgestockt worden war. Die Straftaten gegen Leib und Leben hatten im Lauf der letzten Jahre ebenso zugenommen wie die Überstunden, die er, Sasha und Susanne leisteten. Zwei zusätzliche Kollegen waren deshalb mehr als willkommen. Dass die neue Kollegin ebenso wie Susanne atemberaubend gut aussah, entging Bussard nicht.
Für Julian Stemmer war der Montagmorgen Anfang Oktober der aufregendste seines bisherigen Berufslebens. Nach seinem Studium an der Fachhochschule und zwei Jahren bei der Bereitschaftspolizei war der Kommissaranwärter endlich bei der Kripo angekommen. Er freute sich wie ein Schneekönig auf seine neue Stelle, doch Anja Hill sah ihrer näheren beruflichen Zukunft mit gemischten Gefühlen entgegen. Um nicht overdressed zu erscheinen, hatte sie sich an ihrem ersten Arbeitstag für eine schlichte Jeans entschieden, dem, wie sie feststellte, gängigen Dresscode in der Abteilung. Außerdem hatte sie beschlossen, aus der Not eine Tugend zu machen und bei der Ermittlungsgruppe Gewaltverbrechen ihr Bestes zu geben, doch sobald im Wirtschaftsdezernat eine Stelle frei werden würde, wollte sie sich darauf bewerben. Sie wusste, dass Heidi Peters sie sofort wieder nehmen würde. Bis dahin aber musste sie sich damit abfinden, ihren Chef mit »Herr Bussard« anzureden.
»Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Zusammenarbeit.« Polizeirat Neudörfer verabschiedete sich, verließ das Büro und schloss die Tür.
»Nach der offiziellen Vorstellung kommen wir gleich zum ersten Punkt der Tagesordnung.« Bussard sah die beiden neuen Kollegen nacheinander an. »Wir duzen uns hier. Das sind Sasha und Susanne, ich bin Bussard.«
»Und, Bussard«, fragte Anja, »hast du auch einen Vornamen?«
»Ja, aber jeder nennt mich Bussard.« Der Kommissar deutete auf einen Schrank in der Ecke des Büros. »Julian, du musst dich mit Sasha und Susanne einigen. Dein Arbeitsplatz wird hier sein.«
»Kriege ich auch einen eigenen Schreibtisch?«
»Ja, kriegst du. Sasha wird sich darum kümmern.«
Sasha Wegner griff zum Telefon, während Bussard Anja aufforderte, ihn ins Nachbarbüro zu begleiten.
»Das ist dein Schreibtisch. Du kannst den Schrank dahinter benutzen, wenn du irgendwelche persönlichen Sachen verstauen willst.« Bussard musterte die schlanke junge Frau, die High Heels trug und deshalb fast so groß war wie er. Ihre braunen Haare fielen in sanften Wellen bis zu ihren Brüsten und ihr schmales Gesicht mit den geschwungenen Brauen drückte Zurückhaltung aus, doch der Blick aus ihren haselnussbraunen Augen war wach und klar. Die obersten beiden Knöpfe ihrer weißen Bluse waren geöffnet und der Kommissar erkannte eine feingliedrige, goldene Halskette, an der ein kleiner, farbloser Stein in einer ebenfalls goldenen Fassung funkelte. Bussard vermutete, dass es sich um einen echten Diamanten handelte. Auch wenn Jeans und Bluse leger wirkten, verrieten das sparsam, aber sorgfältig aufgetragene Make-up und der zweifarbige Nagellack, dass sie viel Wert auf ihre äußere Erscheinung legte. Bei der Begrüßung hatte er ihre zartgliedrige Hand geschüttelt, die nicht so wirkte, als könne die neue Kollegin damit problemlos eine Waffe abfeuern, doch ihr Händedruck war überraschend fest gewesen.
Anja stellte ihre Schultertasche ab und begutachtete ihren neuen Arbeitsplatz, der sich kaum von ihrem vorherigen unterschied. Es war der gleiche Schreibtisch und ein ähnlicher Drehstuhl, der jedoch über Armlehnen verfügte. Nur die EDV-Anlage war nicht gerade das neueste Modell.
»Auf dem Stuhl hat schon lange niemand mehr gesessen.« Bussard setzte sich auf die Kante seines Schreibtischs. Für einen kurzen Moment sah er ein anderes Gesicht, doch die Erinnerung verflüchtigte sich sofort wieder. »Ich werde mich auch erst wieder daran gewöhnen müssen, mein Büro mit jemandem zu teilen. Meine frühere Partnerin ist jetzt in Stuttgart.«
»Sylvia Harter, nicht wahr? Ich habe gehört, dass sie beim LKA ist. Sie soll eine ziemlich gute Beamtin gewesen sein.«
»Das ist sie immer noch, auch wenn sie jetzt für einen anderen Verein arbeitet.« Der Kommissar hatte es bedauert, dass Sylvia die Freiburger Kripo verlassen hatte. Sie waren ein gutes Team gewesen, nicht nur Kollegen, sondern Freunde. Er bezweifelte, dass Anja Hill diese Rolle einnehmen konnte, denn sie hatte noch keinerlei Erfahrung mit der Arbeit in seiner Abteilung, die sich sehr von der im Wirtschaftsdezernat unterschied. Seinen Vorsprung von fünfzehn Berufsjahren konnte sie nicht wettmachen und an eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe war vorerst nicht zu denken. Er würde viel mehr ihr Lehrer sein und er hoffte, dass sie sich als gelehrige Schülerin erweisen würde. Heidi Peters zumindest schien von ihr überzeugt zu sein. Das hatte er in Anjas Personalakte gelesen, doch erst in der Praxis würde sich zeigen, ob sie für den Job geeignet war. Gewaltverbrecher waren andere Kaliber als Anlagebetrüger und in seiner Ermittlungsgruppe blies zuweilen ein ziemlich rauer Wind. Bussard war gespannt, ob sich die neue Kommissarin bewähren würde.
Die Bestatter legten den Deckel auf den Zinnsarg, packten die Griffe und trugen den Leichnam aus der Wohnung. Halb wehmütig und halb ungläubig sah Frau Dr. Singh ihnen nach.
»Ich kann es immer noch nicht glauben. Ihr hat doch überhaupt nichts gefehlt.« Martha Lorenz, die Nachbarin der Verstorbenen, wischte sich mit einem zerknüllten Taschentuch die Tränen aus den Augen. »Woran ist sie denn gestorben?«
»Wenn ich das wüsste«, erwiderte die Ärztin unschlüssig.
»Ich mache mir solche Vorwürfe. Vielleicht hätte ich viel früher …«
»Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen, Frau Lorenz. Menschen sterben nun einmal. Das hat die Natur so vorgesehen.«
»Aber sie war doch erst achtundsechzig. Das ist doch noch kein Alter.«
Frau Dr. Singh seufzte. Gemessen an der Lebenserwartung, die bei Frauen in Deutschland deutlich über achtzig Jahren lag, war Ursula Steiert tatsächlich früh gestorben. Frau Lorenz, die einen Schlüssel zur Wohnung der Nachbarin besaß, hatte die Ärztin angerufen, nachdem sie Frau Steiert leblos auf dem Fußboden gefunden hatte. Die Allgemeinmedizinerin, die mit ihrem indischen Ehemann eine Gemeinschaftspraxis in der Schwarzwaldgemeinde Oberried betrieb, hatte sich sofort in ihren Wagen gesetzt und war in den Ortsteil Hofsgrund gefahren. Zwischen dem Telefonat und ihrem Eintreffen in der Wohnung von Frau Steiert waren kaum mehr als fünfzehn Minuten vergangen, doch Frau Dr. Singh war viel zu spät gekommen. Sie hatte nur noch den Tod ihrer ehemaligen Patientin feststellen können.
»Ich hätte Mund-zu-Mund-Beatmung machen müssen, dann wäre sie vielleicht noch am Leben.«
»Sie hätten ihr nicht mehr helfen können.« Die Ärztin legte Frau Lorenz, die ebenfalls ihre Patientin war, die Hand auf den Arm. »Frau Steiert ist schon mindestens einen Tag tot. Niemand hätte noch etwas für sie tun können.«
»Die arme Ursula.« Wieder wischte sich Frau Lorenz die Tränen aus den Augen. »Wer kümmert sich jetzt um die Beerdigung und das alles? Außer Michael hat sie überhaupt keine Verwandten.«
»Ich sage im Rathaus Bescheid. Die Gemeinde wird sich darum kümmern. Vielleicht gibt es ja doch irgendjemanden, einen entfernten Cousin oder so.«
»Ja, vielleicht, wer weiß?« Frau Lorenz reichte der Ärztin die Hand und hielt sie fest. »Danke, dass Sie so schnell gekommen sind, Frau Doktor, auch wenn …«
»Schon gut, Frau Lorenz. Leider konnte ich nichts mehr für Frau Steiert tun. Es tut mir wirklich leid.«
Frau Dr. Singh wollte ihre Hand zurückziehen, doch Frau Lorenz hielt sie immer noch fest. Die Trauer in den Augen der Nachbarin hatte sich innerhalb eines Augenblicks in Angst verwandelt. »Nächstes Jahr werde ich auch achtundsechzig!«
»Da machen Sie sich mal keine Sorgen.« Frau Dr. Singh lächelte aufmunternd. »Abgesehen von der leichten Arthrose, die Ihre Gelenke befallen hat, sind Sie so gesund und munter wie ein Fisch im Wasser. Sie können hundert Jahre alt werden.«
»Aber Ursula hat doch auch nichts gefehlt und dann fällt sie einfach um und ist tot. Wie konnte das denn nur passieren?«
Die Ärztin zuckte mit den Achseln und schüttelte den Kopf. Frau Steiert war organisch gesund gewesen. Gegen ihren Bluthochdruck hatte sie seit mehr als zehn Jahren ein Medikament eingenommen, auf das sie gut angesprochen hatte. Eine fast volle Flasche mit den entsprechenden Kapseln stand auf dem Wohnzimmertisch. Bei ihren vierteljährlichen Besuchen in der Praxis hatte sie nie über Schmerzen geklagt, die auf eine innere Erkrankung hätten schließen lassen. Ihr Herz war gesund und kräftig gewesen, ihre Blutwerte hatten stets im Normbereich gelegen und auch für einen Hirntumor hatte es nicht die leisesten Anzeichen gegeben. Der plötzliche Tod der älteren Dame war ein Rätsel, denn bei der Untersuchung des Leichnams hatte Frau Dr. Singh auch keine äußeren Verletzungen entdeckt. Gedankenverloren blieb der Blick der Ärztin an der Medikamentenflasche hängen. Sie selbst hatte in der Woche zuvor das Rezept ausgestellt und der Aufkleber auf der Flasche verriet, dass Frau Steiert die blutdrucksenkenden Kapseln in der Apotheke in Oberried geholt hatte.
»Hat Frau Steiert noch andere Medikamente genommen, vielleicht etwas, das ich nicht verschrieben habe?«
Martha Lorenz schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, aber ich glaube es nicht. Ursula war doch immer gesund.«
Frau Dr. Singh wandte sich ab und ging ins Badezimmer. Im Spiegelschrank über dem Waschbecken fand sie nichts, was ihre Aufmerksamkeit erregt hätte. Weder Mundwasser oder Aspirin noch Wund-, Brand- und Mückensalbe führten selbst bei extremer Überdosierung zum Tod. Sie schloss die Tür des Spiegelschranks und ging in die Küche, doch auch dort entdeckte sie nichts, was geeignet gewesen wäre, die Frage nach der Todesursache zu beantworten. Der Leichnam hatte keine Anzeichen einer Vergiftung aufgewiesen, weder Auswurf noch Verfärbungen der Haut. Typische Erstickungsmerkmale wie eine aufgequollene Zunge oder Punktblutungen in den Augen fehlten ebenso wie Würgemale. Es gab nicht den leisesten Verdacht auf einen gewaltsamen Tod und auch keinerlei Hinweise auf einen Suizid. Frau Steiert war einfach tot umgefallen, was außer einem Hirnschlag oder einem ziemlich unwahrscheinlichen Herzinfarkt kaum eine andere Ursache haben konnte. Da die Ärztin beim Ausfüllen des Totenscheins mit ihrem sprichwörtlichen Latein am Ende gewesen war, hatte sie eine unklare Todesursache bescheinigt und die Bestatter angewiesen, den Leichnam in die Freiburger Rechtsmedizin zu bringen. Ein histologischer oder ein toxikologischer Befund konnte wahrscheinlich Licht ins Dunkel bringen.
Die Allgemeinmedizinerin kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo Frau Lorenz noch immer in der Mitte des Raumes stand und nicht wusste, was sie tun sollte.
»Ich muss zurück in meine Praxis.« Frau Dr. Singh nahm ihren Mantel, den sie beim Eintreten achtlos auf einen Sessel geworfen hatte, und schlüpfte hinein. »Am besten gehen Sie auch nach Hause. Jemand von der Gemeinde wird sich bestimmt bei Ihnen melden.«
»Warum bei mir?«
»Weil Sie einen Schlüssel für die Wohnung haben.« Die Ärztin nahm ihren Koffer und sah sich noch einmal im Wohnzimmer um, doch nirgends deutete sich eine Antwort auf die Frage an, woran Frau Steiert gestorben war. Kopfschüttelnd nahm sie die noch fast volle Medikamentenflasche vom Tisch.
Frau Lorenz deutete auf die Flasche in der Hand der Ärztin. »Ist sie vielleicht daran gestorben?«
»Nein, sicherlich nicht. Da hätte Frau Steiert schon mindestens die halbe Flasche auf einmal schlucken müssen.«
»Aber woran ist sie dann gestorben?«
»Tja, wenn ich das wüsste …«
»Nein, Helen, ich habe keine Lust, eure Koffer zum Flughafen zu fahren.« Bussard sprach leise, doch der Unmut in seiner Stimme war unüberhörbar. Als Helen ihn angerufen hatte, war er davon ausgegangen, dass sie mit ihm über den bevorstehenden Scheidungstermin sprechen wollte, doch für ihre Bitte, er möge ihre Koffer nach Stuttgart fahren, brachte er kein Verständnis auf. Helen besaß einen Peugeot 206. Eigentlich sollte der Wagen groß genug sein, um sie, ihren neuen Lebenspartner und die beiden Kinder samt Gepäck für einen zweiwöchigen Urlaub von Freiburg in die baden-württembergische Landeshauptstadt transportieren zu können. Da Helen aber fünf Koffer mitnehmen wollte, wovon einer ihr eigenes Bettzeug beinhaltete, hätte sie einen Kombi mieten sollen. Dafür wollte sie jedoch kein Geld ausgeben. Dass ihr seine Weigerung missfiel, brachte sie wortreich zum Ausdruck und jeder Satz verstärkte den Ärger, der in Bussards Eingeweiden rumorte. »Nein, Helen, das hat nichts mit den Kindern zu tun und es ist auch nicht richtig, dass ich euch den Urlaub missgönne, aber ich fahre doch keine vierhundert Kilometer, nur weil du so viel Gepäck hast. Ihr wollt doch ans Meer und nicht zu einer Himalaja-Expedition. Kommt ihr da nicht auch mit zwei oder drei Koffern aus?«
Bussard bereute die Frage im gleichen Augenblick. Sein Unverständnis fasste Helen als persönlichen Angriff auf und sein Vorschlag kam für sie einer Bevormundung gleich. Natürlich wollte er ihr nicht vorschreiben, was sie mitnehmen durfte, aber er war auch nicht ihr Kofferträger.
»Es ist euer Urlaub, Helen, und euer Gepäck. Schick die Sachen meinetwegen mit der Post oder miete dir einen Übersee-Container, aber lass mich aus dem Spiel. Wir sehen uns nächste Woche!« Er unterbrach die Verbindung und warf sein Handy auf den Schreibtisch.
»Rosenkrieg?«
Der Kommissar bedachte seine neue Partnerin mit einem ärgerlichen Blick. Eigentlich hatte er sich mit der Situation längst abgefunden. Bei ihrer Trennung anderthalb Jahre zuvor hatten Helen und er das gemeinsame Sorgerecht für die beiden Kinder vereinbart. Er verbrachte jedes zweite Wochenende mit seinen Töchtern und einen Teil der Ferien. Daran lag ihm sehr viel und er wusste, dass auch seinen Kindern das Zusammensein mit ihm wichtig war. Vom bevorstehenden Scheidungstermin abgesehen wollte er von seiner zukünftigen Exfrau jedoch nichts mehr wissen. Sie hatte einen neuen Mann an ihrer Seite und er wünschte ihr, dass sie mit ihm glücklich wurde. Er selbst wollte jedoch nicht mehr Teil ihres Lebens sein und noch viel weniger wollte er, dass sie noch immer Teil seines Lebens war. Helens Frage nach einem kleinen Freundschaftsdienst erschien ihm völlig absurd. Ihre Scheidung stand bevor und sie waren keine Freunde mehr.
»Nein, kein Rosenkrieg.« Bussard schüttelte den Kopf. »Die Scheidung ist nur noch Formsache. Eigentlich haben wir schon alles geregelt.«
»Eigentlich?«
Anjas spitze Frage war nicht geeignet, Bussards Laune wieder zu heben. Er hatte keine Lust, sich zu rechtfertigen, schon gar nicht vor einer Kollegin, die er gerade einmal eine Stunde kannte. Helen hatte ihn während der Arbeitszeit angerufen und er hatte den Fehler begangen, mit ihr zu diskutieren, anstatt das Telefonat auf den Abend zu verschieben. Wenn man Privates und Dienstliches nicht voneinander trennte, handelte man sich immer Ärger ein und Bussard war froh, dass Sasha den Kopf durch die halbgeöffnete Tür streckte. »Wir haben einen Leichenfund in der Mozartstraße.«
»Gibt es Hinweise auf einen gewaltsamen Tod?«
»Zwei Kollegen der Streife sind vor Ort. Anscheinend handelt es sich um ein Tötungsdelikt. Mehr weiß ich allerdings auch nicht.«
Bussard stand hinter seinem Schreibtisch auf, ging zur Garderobe, zog seine Lederjacke an und steckte sein Handy ein. »Ist die KTU schon informiert?«
»Smirna und Mallmann sind unterwegs.«
»Haben wir einen Namen?«
»Das Opfer ist ein gewisser Ignaz Baer. Er wurde tot in seiner Wohnung aufgefunden.«
»Okay, danke, Sasha. Du nimmst Julian mit, Anja fährt mit mir.«
Der Leiter der Ermittlungsgruppe Gewaltverbrechen nickte seiner Partnerin zu. »Erster Tag, erster Einsatz. Vergiss deine Waffe nicht.«
Danke für den Tipp, Cowboy, dachte Anja. Während ihrer Zeit bei der Ermittlungsgruppe Wirtschaftskriminalität hatte sie nie von der Schusswaffe Gebrauch machen müssen und deshalb verwahrte sie ihre Dienstpistole immer in ihrer Tasche, anstatt sie wie Bussard in einem Gürtelholster zu tragen.
Die beiden Kommissare verließen das Präsidium, stiegen in Bussards BMW und fuhren von der Heinrich-von-Stephan-Straße nach Herdern. Der Stadtteil, der sich im Norden Freiburgs an den Stadtgarten anschloss und von dem aus man in wenigen Minuten die Altstadt zu Fuß erreichen konnte, war für seine Jugendstilvillen bekannt. Viele der einst vornehmen Häuser wurden von parkähnlichen Gärten eingefriedet und der Anteil großer, alter Bäume lag deutlich höher als im Westteil der Stadt, wo Bussard wohnte. Der Kommissar parkte seinen BMW hinter einem Einsatzwagen der Kollegen, der mit eingeschaltetem Blaulicht vor einer der Villen stand. Bussard erkannte das vor dem Einsatzwagen geparkte Fahrzeug der KTU. Offensichtlich waren Smirna und Mallmann schon bei der Arbeit.
Das mondäne Gebäude lag wie die meisten anderen ein Stück von der Straße zurückversetzt und war von einer kleinen Parkanlage umgeben, die das Anwesen durch eine drei Meter hohe Buchsbaumhecke vor den Blicken Neugieriger schützte. Bussard öffnete das schmiedeeiserne Tor, dessen ehemals schwarze Farbe langsam abblätterte und das an einigen Stellen Rost angesetzt hatte. Ein knarrendes Quietschen, fast wie ein Seufzen, begrüßte die Beamten. Sie folgten einem geraden Weg aus Natursteinplatten und stiegen die fünf Stufen zu der schweren Eingangstür hinauf, deren Blatt von einem quadratischen, auf der Spitze stehenden, vergitterten Fenster durchbrochen war. Auf einem postkartengroßen Messingschild an der Hauswand prangte in geschwungenen Lettern der Name »Baer«. Die Haustür war nur angelehnt und als Bussard mit den Fingerspitzen dagegendrückte, wurde sie plötzlich von innen aufgezogen. Ein junger, uniformierter Kollege, den der Kommissar noch nie gesehen hatte, verstellte ihnen den Weg. Bussard zückte seinen Dienstausweis. Der junge Mann, dessen Gesicht blass wirkte, nickte und trat wortlos zur Seite.
Bussard und Anja betraten die Eingangshalle, deren Einrichtung ausschließlich aus Antiquitäten bestand. Die zumeist dunklen Holzmöbel bestätigten den Eindruck, den der Kommissar beim Betrachten des Gebäudes gewonnen hatte und selbst der Geruch verriet, dass in diesem Haus altes Geld des gehobenen Bürgertums wohnte. Neben einer breiten Treppe, die im rechten Winkel zum Obergeschoss führte, thronte eine altertümliche Standuhr, ohne ein Geräusch von sich zu geben, obwohl die beiden Messinggewichte, die man durch die gelbliche Scheibe sehen konnte, noch auf halber Höhe hingen. Offensichtlich hatte jemand um zwanzig Minuten nach acht das Pendel angehalten. Vier geschlossene Türen führten zu dahinterliegenden Räumen. Bussard wandte sich um und warf dem Kollegen bei der Tür einen fragenden Blick zu.
»Die Tür links neben der Treppe.«
Bussard dankte mit einem Kopfnicken und ging auf die Tür zu. Als er sie öffnete, erkannte er Klaus Mallmann von der KTU, der Fotos vom Tatort schoss.
»Morgen, Bussard.« Bertold Smirna, der Leiter der Abteilung Kriminaltechnische Untersuchung, der wie sein Kollege einen weißen Overall trug, griff in seinen Koffer und zog ein paar blaue Überzieher hervor. Bussard wartete, bis Smirna zu ihm kam und ihm die Überzieher reichte.
»Morgen, Bertold. Das ist Anja Hill, meine neue Partnerin.«
»Bertold Smirna.« Seiner Latexhandschuhe wegen verzichtete der Kriminaltechniker auf einen Händedruck. Er schenkte der neuen Kollegin lediglich ein halbes Lächeln. Der Anblick, den sein fülliger Körper noch vor ihr verdeckte, hatte die andere Hälfte des Lächelns aus seinem Gesicht verbannt.
Bussard zog die Überzieher über seine Stiefel. »Gib ihr bitte auch ein Paar.«
Smirna ging zu seinem Koffer zurück, holte ein zweites Paar Überzieher und reichte es Anja, während Bussard sich einen ersten Eindruck vom Tatort verschaffte. Der Raum war zweifellos ein Arbeitszimmer. In zwei deckenhohen Regalen aus dunklem Holz, die jeweils die gesamte Länge einer Wand einnahmen, standen Hunderte von Büchern. Den Platz vor dem Fenster mit dem heruntergelassenen Rollladen beanspruchte ein riesiger alter Schreibtisch aus massivem Eichenholz. Auch das Sideboard, das auf geschnitzten, geschwungenen Beinen stand und dessen Oberfläche und Schubladen mit Intarsien verziert waren, stammte aus einem früheren Jahrhundert. Der einzige Einrichtungsgegenstand, der einen neuzeitlichen Eindruck erweckte, war ein Computertisch samt Monitor, Tastatur und Maus. Den ledernen Bürodrehsessel, der eigentlich beim Schreibtisch oder beim Computertisch hätte stehen sollen, hatte jemand in die Mitte des Raumes direkt unter die eingeschaltete Deckenleuchte geschoben. Auf dem Sessel saß ein Mann mit vornüber geneigtem Oberkörper. Seine Handgelenke waren mit einem breiten, silberfarbenen Gewebeklebeband an den Armlehnen des Sessels fixiert. Der Mann trug lederne Hausschuhe, eine graue Hose und ein weißes Hemd. Sein Kopf hing über den Knien, wo der Stoff der Hose rotbraun verfärbt war. Von der Wange des Mannes war Blut getropft, denn ein getrocknetes Rinnsal führte unterhalb des linken Ohres zum Genick. Die nahezu kreisrunde Wunde direkt am Haaransatz verriet, woran der Mann gestorben war.
»Eine Hinrichtung.« Bussard beugte sich vor, um die Wunde genauer zu betrachten. »Man sieht keine Brandspuren.«
Smirna imitierte mit den Fingern seiner rechten Hand eine Pistole und richtete die imaginäre Waffe auf das Genick des Toten. »Entweder stand der Täter mindestens einen Meter vom Opfer entfernt oder er hat einen Schalldämpfer benutzt.«
»Der Tote ist Ignaz Baer?«
»Ja, seine Putzfrau hat ihn gefunden. Sie ist in der Küche. Eine Kollegin ist bei ihr.«
Bussard trat einen Schritt zurück und ließ seinen Blick über das Opfer schweifen. Die mit Klebeband an den Armlehnen fixierten Handgelenke und das Loch im Genick des Toten ließen keinen Zweifel daran, dass Ignaz Baer ermordet worden war.
»Können wir reinkommen?« Wegner und Stemmer standen am Türrahmen und betrachteten die Szenerie im Arbeitszimmer.
»Mir wäre es lieber, wenn ihr wartet, bis wir hier fertig sind«, erwiderte Smirna, »sonst stehen wir uns hier nur gegenseitig auf den Füßen.«
Bussard löste seinen Blick vom Opfer und nickte Wegner zu. »Ruf Susanne an. Sie soll sich um das Umfeld des Opfers kümmern, Verwandte, Arbeitsplatz, Finanzen und so weiter, und gib auch der Staatsanwaltschaft Bescheid. Danach schaut ihr euch im Haus um.«
»Alles klar, Bussard.« Wegner und Stemmer verließen ihren Platz beim Türrahmen, wo wenige Sekunden später ein neues Gesicht erschien.
»Guten Morgen.« Professor Münchrath wartete, bis Smirna ihn ebenfalls mit Überziehern ausgestattet hatte, streifte sie über seine Schuhe und trat ins Arbeitszimmer.
»Morgen, Professor.« Bussard nickte dem Leiter der Rechtsmedizin zu, der seinen schwarzen Koffer auf dem Schreibtisch abstellte.
Münchrath knöpfte seinen Mantel auf und stellte sich neben Bussard. »Wie ich höre, haben Sie sich auch der Blues-Musik verschrieben.«
Der Kommissar sah den Pathologen überrascht an. Münchrath, der früher in seinem Institut ausschließlich klassische Musik gehört hatte, war mittlerweile selbst ein Fan der einstigen Negermusik, die man heute politisch korrekt nicht mehr so nennen durfte. Er könne, so hatte Münchrath einmal behauptet, mit dem Blues im Hintergrund ganz entspannt arbeiten. Bussard bezweifelte, dass jemand ganz entspannt Leichen sezieren konnte, doch wann immer er die Pathologie betrat, lief Musik von Muddy Waters, John Lee Hooker oder B. B. King. »Hat sich das bis zu Ihnen herumgesprochen?«
Der knapp sechzigjährige Pathologe, dessen dichter, grauer Lockenschopf schon fast weiß war, lächelte den Kommissar an. »Die Antwort auf Ihre Frage ist doch offensichtlich, oder?«
»Vielleicht wird unser Kollege beim nächsten Kripoball die Bude rocken.« Mallmann ließ seine Kamera sinken und grinste. »Wie sieht‘s aus, Bussard? Habt ihr schon ein paar fetzige Nummern drauf?«
»Unsere Band existiert erst seit vier Wochen.« Bussard, der die vierzig schon überschritten gehabt hatte, bevor er zum ersten Mal aktiv mit einem Musikinstrument in Berührung gekommen war, sah Mallmann fragend an. »Wie weit bist du eigentlich?«
»Fertig.« Der Kriminaltechniker schaltete seine Fotokamera aus und wandte sich an den Rechtsmediziner. »Er gehört ganz Ihnen, Doc.«