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Robert Fleck

 

 

Kunst und Natur

Hundertwasser, Neuseeland und der Enwurf
einer ästhetischen Ökologie

Vorwort von Hans Ulrich Obrist

 

 

Edition Konturen

Wien · Hamburg

Mit freundlicher Unterstützung durch das Bundeskanzleramt Österreich, Sektion Kunst und Kultur, und die Kulturabteilung der Stadt Wien (MA 7)

 

Mit freundlicher Unterstützung durch das Hundertwasser Archiv der Hundertwasser Gemeinnützigen Privatstiftung, Wien

 

 

 

Bildnachweis

© für die Werke von Friedensreich Hundertwasser: Namida AG, Glarus, Schweiz, 2016

© 2016 Hundertwasser Archiv für die dokumentarischen Bild 1, Bild 2, Bild 8, Bild 11, Bild 12, Bild 13, Bild 15, Bild 21, Bild 27, Bild 33, Bild 34, Bild 35, Bild 37

© Richard Smart für die dokumentarischen Bild 4, Bild 5, Bild 22, Bild 24, Bild 25, Bild 26, Bild 41

© Robert Fleck für die dokumentarischen Bild 6, Bild 14, Bild 28

© Alfred Schmid für die dokumentarischen Bild 7, Bild 19, Bild 23

© Peter Femfert für das dokumentarische Bild 9

 

Wir legen Wert auf Diversität und Gleichbehandlung. Im Sinne einer besseren Lesbarkeit der Texte werden manche Begriffe in der maskulinen Schreibweise verwendet. Grundsätzlich beziehen sich diese Begriffe auf beide Geschlechter.

 

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

 

Copyright © 2016 Edition Konturen

Mediendesign Dr. Georg Hauptfeld GmbH – www.konturen.cc

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Georg Hauptfeld, dressed by Gerlinde Gruber.

Umschlagbild: © Alfred Schmid, Klosterneuburg

Layout: Mediendesign, 1020 Wien

Lektorat: Christa Hanten

ISBN 978-3-902968-23-4

Vorwort

Bei einer weltweiten Befragung von Student_innen nach den Künstlern, die die Fragen des 21. Jahrhunderts stellen, wurde Friedensreich Hundertwasser sehr oft genannt. Ausgehend vom Lebensprojekt des Künstlers in Neuseeland, rekonstruiert Robert Fleck in diesem Buch die innige Verzahnung von Kunst und Ökologie bei Hundertwasser, dessen Werk so auf neue Weise lesbar wird. Bereits in frühen Arbeiten wie Die Werte der Straße, Die unendliche Linie und dem Verschimmelungsmanifest wurde deutlich, dass es sich bei Hundertwasser um einen Künstler handelt, dessen Vision und künstlerisches Denken kein Limit kennt. Hundertwasser als einen der großen konkreten Utopisten der Kunst unserer Zeit zu rehabilitieren, war längst überfällig. Ebenso wichtig ist die Analyse, dass Hundertwasser nicht nur Kunst und Ökologie verwob, sondern Ökologie von der Kunst her bzw. auf ihrer Grundlage dachte. Mit dieser Idee einer „ästhetischen Ökologie“ entstand ein Weltentwurf, der eine Werkzeugkiste für unser 21. Jahrhundert ist.

 

Hans Ulrich Obrist

1. Der Natur zurückgeben

Die Bäume sind unter sich, nichts und niemand stört sie. Der Wald ist so dicht wie möglich angelegt, das Dickicht undurchdringlich, für Menschen ebenso wie für große Tiere. Jedes Biotop besteht aus mehreren Arten von Bäumen und Sträuchern unterschiedlicher geografischer Herkunft. Wer sich in einen der unüberschaubaren Bereiche mit ihrer eng verwobenen, kreuz und quer wachsenden Vegetation vorwagt, ist gezwungen, sich Meter für Meter durchzukämpfen, über Äste zu steigen, über gefallene Bäume zu klettern oder eine sumpfige Lichtung mit mannshohem Gras zu durchwaten. Besonders nach einem Regen zeigt sich, wie viele Mikroklimazonen mit unterschiedlicher Temperatur, Feuchtigkeit und Bepflanzung auf dem 400 Hektar großen Gelände in enger räumlicher Verbindung stehen.

Erst auf den zweiten Blick fällt auf, dass es hier ausschließlich Gewächse mit Blättern oder Nadeln sowie Bambus und Farne gibt. Da auf dem Gelände bewusst nichts gepflanzt wurde, was Früchte hervorbringt, sind in dem vierzig Jahre alten Wald weder Blüten noch Blumen zu finden, hingegen Grüntöne in zahllosen Variationen. Nur unterbrochen von der Farbpalette der Stämme von Bäumen und Sträuchern, die von hellem Weiß bis zu Pechschwarz reicht.

Die zahllosen Baum- und Straucharten stehen in unsystematischer Durchmischung. Mit jedem Blick nimmt man ein halbes Dutzend unterschiedlicher Baumtypen wahr. Dreht man sich um die eigene Achse, zählt man ihrer zwanzig bis dreißig, manchmal mehr. Die Bäume und Sträucher stammen aus allen Teilen der Erde und existieren hier in einem gleichsam zufällig entstandenen Chaos auf dichtem Raum nebeneinander. Zahlenmäßig die größte Gruppe stellen Gewächse, die in Neuseeland selbst vorkommen. So gut wie alle Grünpflanzen und Bäume sind vertreten, die man auf der Doppelinsel im südlichen Pazifik antrifft. In Summe die Mehrheit bilden allerdings Baumarten anderer geografischer Herkunft, aus Europa, Asien, Nord- und Südamerika, Afrika und Australien. An keiner Stelle steht eine Baumart als Gruppe für sich allein. Was in jedem Biotop hinzugepflanzt wurde, kommt mit großer Wahrscheinlichkeit aus anderen Regionen der Erde als die unmittelbaren Nachbarn.

Dieser gigantische Mischwald aus unzähligen Gewächsen aus der ganzen Welt entwickelt sich selbständig. Man könnte von einem „Urwald“ sprechen, obwohl es mit Ausnahme eines Hektars, auf dem der ursprüngliche Waldbestand nie von den Farmern gerodet wurde,1 die das Land über drei Generationen bewirtschafteten, nicht um einen „Primärwald“, einen „Urwald“ im strengen Wortsinn handelt, sondern um einen „Neo-Urwald“, der zwischen 1976 und 2000 gepflanzt wurde. Seine Dichte schließt wandelndes Spazierengehen aus. Sein Zweck kann also nicht in pflanzenkundlichen, biologischen oder ökologischen Studien bestehen oder in der ästhetischen Erbauung für Einzelbesucher und Besuchergruppen wie in den mehr oder weniger exotischen Parkanlagen der nördlichen Hemisphäre. Seinem Schöpfer ging es vielmehr darum, ein ganzes Tal an der Bay of Islands im Norden Neuseelands, am Übergang in die Meeresbucht, mit den anliegenden Höhenzügen, der Natur zurückzugeben. Das Gelände wurde so dicht und vielfältig bepflanzt, dass der Wald rasch selbstgenügsam wurde. Anders als ein europäischer Forstwald benötigt er den Menschen nicht nur nicht zur Pflege, sondern lässt ihn gar nicht in sich ein.

Kommt man auf dem Wasserweg zum Gelände, durch einen zunächst breiten, dann zunehmend enger werdenden Kanal, den Friedensreich Hundertwasser 1977 von der Meeresbucht der Bay of Islands durch zuvor trockengelegtes Weidegebiet angelegt hat, wechselt mit einem Mal die Vegetation. Auf einen etwa 50 Hektar großen Hain aus Mangrovensträuchern, der nach der Wiederherstellung des Spiels der Gezeiten spontan, ohne irgendwelche Pflanzung, wieder aufwuchs, folgt jenes Dickicht aus Bäumen, Sträuchern, Bambusgruppen und Farngewächsen, welches das Tal wie auch die angrenzenden Hügelformationen des Geländes überzieht. Die Anlage des „Neo-Urwaldes“ samt Ebbe und Flut in den flachen Teilen des Geländes schließen auf der gesamten Fläche jede land-, forst- und sogar hauswirtschaftliche Produktion aus. Auch von 1976 bis 2000, als sich Hundertwasser jeweils mehrere Monate im Jahr in seinem Tal aufhielt, gab es nicht einmal einen Gemüsegarten. Der undurchdringliche Wald hat lediglich einen Zweck: da zu sein. Er ist nicht mehr dem Menschen zu Diensten, durch Produktion von Früchten und Holz oder die ästhetische Erbauung. Friedensreich Hundertwasser hat ihn bewusst so angelegt, als eine realisierte Utopie und ein Manifest. Wie in allen ästhetischen Setzungen des Künstlers findet sich in einem konkreten Sachverhalt eine Geste symbolisch konzentriert und gleichsam überhöht, sodass sie programmatischen Charakter erhält.

 

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In seinem Tal 1976.

 

Ein ähnlicher Eindruck ergibt sich, wenn man sich auf dem Landweg nähert. Sobald man Hundertwassers Refugium betritt, ist die Vegetation so in sich selbst verflochten, dass man kaum noch vorankommt. Hätte der Künstler nicht den alten Fahrweg vom Talboden aufwärts belassen, der zu einer hundert Meter höher gelegenen, öffentlichen Erd- und Schotterstraße führt, wäre das Gelände nur über die Meeresfläche der Bay of Islands zu erreichen. In den höheren Waldbereichen glaubt man sich bisweilen in ein europäisches Mittelgebirge versetzt, so vertraut scheinen Birken, Fichten, Eichen, Kiefern, Pappeln und Tannen. Dazwischen, als Kontrast, befinden sich ebenso viele Bäume, Sträucher und Farne neuseeländischer und anderer subtropischer Fauna.2 An mehreren Stellen des Fahrwegs hatte Hundertwasser offensichtlich Spaß an ästhetisch reizvollen oder bewusst absurden Gegenüberstellungen. Im Anstieg, der so steil ist, dass ein PKW bei Regen nicht hochkommt, kombinierte er europäisch dominierte Pflanzengruppen mit einer neuseeländisch geprägten Gruppe. Im Übergang zum Talbereich sind zwei tunnelartige, dunkle Zonen des Fahrwegs ähnlich gestaltet. Ein Hain aus armdicken, engstens gepflanzten Bambusstauden in Verbindung mit einer Palmengruppe ließ ein dachartiges Geflecht nach oben und am Boden einen weichen, angenehm zu begehenden Teppich aus vergilbten Bambusblättern entstehen. Auch hier gibt es abseits des Fahrwegs selbst für geübte Wanderer kein Durchkommen. Die Bäume sind tatsächlich unter sich.

Ein großes Gebiet der Natur zurückzugeben und den darauf gepflanzten, variantenreichen Wald so weit zu lenken, bis er „selbstgenerierend“ wird, beschloss Friedensreich Hundertwasser, als er am 3. Februar 1976 die ersten 200 Hektar an der Bay of Islands erwarb.3 So entstand ein verblüffendes Stück Natur. Umgekehrt impliziert dies, dass der Baumbestand nicht dazu angelegt ist, genutzt oder besichtigt zu werden. Er akzeptiert den Menschen bisweilen, wenn dieser bescheiden auftritt, den Rhythmus der Vegetation respektierend, wie der Künstler, der ihn gepflanzt hatte, häufig hier weilte und aus dieser Umgebung wesentliche Ideen für sein malerisches und architektonisches Werk bezog. Man ist gezwungen, sich der Natur unterzuordnen, von der man zu jedem Zeitpunkt umgeben ist, so weit das Auge reicht, beziehungsweise sich ihr einzufügen, wobei keine Erscheinung und kein Geräusch der technischen Zivilisation auftritt. Das nächste Haus ist zwei Kilometer und hundert Höhenmeter entfernt, die nächste geteerte Landstraße vier Kilometer, zu Lebzeiten Hundertwassers sogar zehn Kilometer, und die nächste Siedlung, die Kleinstadt Kawakawa, zwölf Kilometer. Zudem schließt die dichte Vegetation das Ensemble nochmals visuell und akustisch nach innen ab. Wenn man sich als Mensch hierher begibt, ist man rund um die Uhr mit den Bäumen allein.

 

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Hundertwasser beim Durchstreifen des subtropischen Walds auf seinem Land an der Bay of Islands, 1976.

 

Im Februar 1976, als er das erste Farmland in Kaurinui an der Bay of Islands erwarb, war Friedensreich Hundertwasser 47 Jahre alt. Seit dem großen Erfolg seiner Ausstellung im österreichischen Pavillon bei der Biennale di Venezia im Sommer 1962, einer 1964 von Wieland Schmied und Pontus Hulten organisierten Retrospektive in der Kestner-Gesellschaft in Hannover, weiteren Ausstellungen im Moderna Museet in Stockholm, im Stedelijk Museum in Amsterdam und im Museum des 20. Jahrhunderts in Wien, einigen der bedeutendsten europäischen Institutionen, sowie einer großen Ausstellung, die 1968 und 1969 ausgehend vom University Art Museum in Berkeley in bedeutenden US-Museen bis hin zur Philipps Collection in Washington gezeigt wurde, war er einer der meistbeachteten Künstler der Gegenwart. Ab 1974/1975 tourten eine von der Wiener Albertina organisierte Retrospektive seines grafischen Werks und eine groß angelegte „Welt-Wander-Museumsausstellung“, die im Musée d’art moderne de la Ville de Paris begann, über ein Jahrzehnt hinweg um den Globus.

Friedensreich Hundertwasser war damals international der bekannteste lebende Österreicher neben dem Bundeskanzler Bruno Kreisky und dem Formel 1-Weltmeister Niki Lauda. Zugleich versuchte er, die Grenzen des Kunstbetriebs zu überschreiten. 1972 hatte er dem traditionellen Galeriewesen den Rücken gekehrt.4 Die Verwaltung seines künstlerischen Werks und seiner gesamten Lebensumstände übergab er seinem Freund Joram Harel, womit er an Gepflogenheiten der Musikbranche und der darstellenden Kunst anknüpfte, das gesamte Management einem Bevollmächtigen zu übertragen. Damit nahm er eine Praxis vorweg, die im Kunstbetrieb erst ein Vierteljahrhundert später von großen interna­tionalen Kunstgalerien für ihre wichtigsten Künstler übernommen wurde, und war mit einem Schlag niemandem mehr verpflichtet, keiner Galerie, keinem Museum, keinem Sammler. Als erstes Anliegen äußerte Hundertwasser zu Joram Harel den Wunsch, in Neuseeland auszustellen.

Anfang der 1970er-Jahre spielte Neuseeland im internationalen Kunstgeschehen keine Rolle. Seine Museen und Ausstellungshäuser waren finanziell viel zu schwach, um die Einzelausstellung eines auf dem Kunstmarkt anerkannten Künstlers aus der nördlichen Erdhälfte zustande zu bringen. Die deutsche Galeristin Hertha Dabbert, Leiterin der Europa Gallery, Melbourne, hatte 1970 die erste Hundertwasser-Ausstellung in Australien veranstaltet. Sie sorgte nun auch für die Logistik vor Ort in Neuseeland. Joram Harel schuf die finanziellen Voraussetzungen. Die Ausstellung „Hundertwasser. 1973 New Zealand“ wanderte ab Mai 1973 von der City of Auckland Art Gallery ausgehend nach New Plymouth, Wellington, Palmerston North, Christchurch und Dunedin. Sie zog viele Menschen an5 und erzielte ein großes Presseecho. Die „Evening Post“ in Wellington berichtet vier Mal während der Ausstellung und zitiert den Bildhauer Guy Ngan: „The most exciting happening in New Zealand art in the past 20 years.“6 Während dieser Tournee in einem Land, das ihm sofort zusprach, war der Künstler, der in Westeuropa durch spektakuläre Fernsehauftritte bereits als Polemiker in Sachen Architektur und Umweltfragen bekannt war, drei Monate vor Ort. Er fand einen natürlichen Stil der Argumentation für den Erhalt des vegetativen und klimatischen Potenzials der Doppelinsel am anderen Ende der Welt. Als Reaktion auf seine Appelle betraute ihn die neuseeländische Regierung mit der Gestaltung des Plakats für die „Conservation Week“ vom 3. bis 11. August 1974, eine landesweite Aktionswoche zur Bewahrung der natürlichen Umwelt. Neuseeland war das einzige selbst erklärte atomwaffen- und atomenergiefreie Land der Erde und stand an der Spitze der Umweltschutzbewegung.

 

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Friedensreich Hundertwasser, Image - img_03000004.png Conservation Week, Mixed media 1974.

 

Neuseeland gehörte zu den wichtigen Kindheitserlebnissen von Hundertwasser. Er berichtete mehrfach, dass seine Mutter ihm in seiner frühen Jugend in Wien von dem wundersamen Land auf der anderen Seite der Erde erzählt hat, in dem alles anders sei. In einem Tonbandbrief an seine Studenten, aufgenommen in Neuseeland im Mai 1982, ein Jahr nach seiner Berufung als Leiter einer Meisterschule für Malerei an der Akademie der bildenden Künste in Wien, findet sich ein Echo dieser früh aufgenommenen Beschreibungen.

 

„Liebe Freunde,

heute ist der 12. Mai 1982. Ich bin in Neuseeland.

Es ist jetzt schon ziemlich kalt hier, denn Mai ist ungefähr, was in Europa November ist. Es ist jetzt 10 Uhr 15 abends, in Wien ist es eine Viertelstunde nach Mittag. Es ist hier alles verkehrt. Hier sieht man das Kreuz des Südens, die Wärme kommt aus dem Norden, die Kälte kommt aus dem Süden. (...) Es ist jetzt Mitternacht geworden in Neuseeland. In Wien ist es zwei Uhr nachmittags. Ich werde jetzt auch schlafen gehen und morgen weitersprechen.“ Sein Künstlerbuch über das Tal in Neuseeland eröffnet er 1979 mit den Worten: „Wo Winter ist, wenn hier Sommer ist, wo Tag ist, wenn hier Nacht ist.“7

 

Früh las er zudem die Berichte des österreichischen Naturforschers Andreas Reischek (1845–1902), die von dessen Sohn zum 25. Todestag des Zoologen im Jahr 1927 auszugsweise im Verlag Brockhaus in Leipzig unter dem Titel „Sterbende Welt“ herausgegeben wurden. Reischek beschrieb zwischen 1877 und 1889 ein einzigartiges, naturbelassenes Land voller in Europa unbekannter Tiere und Pflanzen, das bereits von der europäischen Kolonisierung überformt wurde: „Es war mir, als unternehme ich eine Fahrt in eine längst versunkene Vergangenheit. Aus dem Lärm und der banalen Geschäftigkeit der europäischen Stadt (gemeint ist Auckland, Anm. d. A.) entführten mich Urväter des Menschengeschlechts in ein Zeitalter der Rechtlichkeit und der Zusammengehörigkeit mit Gott und Natur. (...) Der Aufenthalt im Urmaoriland war mein tiefstes Erlebnis auf Neuseeland. Ich hatte hier nicht nur Einblick in eine dem Untergange geweihte edle Rassenkultur eines Naturvolkes gewonnen, sondern auch die heimische Tierwelt, die hier noch in paradiesischer Sorglosigkeit in ausgedehnten Urwäldern hauste, so genau studieren können, wie dies vor und nach mir wohl wenigen beschieden gewesen ist.“8 Diese Beschreibung von Andreas Reischek bezieht sich auf die Bay of Islands, an der Hundertwasser 1976 das erste Land erwarb.

Bei der ersten Station seiner Ausstellung, in der Auckland City Art Gallery, lernte er in einem Kaffeehaus den Maler Henry Kelliher kennen, woraus eine enge Freundschaft entstand. Kelliher zeigte Hundertwasser Neuseeland und brachte ihn nach Northland, auch an die Bay of Islands ganz im Norden, wo sie mit einem gemieteten Boot Mangrovenzonen, Inseln und Buchten abfuhren. Dabei lernte der Künstler die Familie Fagan kennen, deren Farm an der Bay of Islands nahe der kleinen Hafenstadt Opua lag. Den Eltern Peter und Gill Fagan, den Söhnen Craig und Andrew und der Tochter Gabriele, mit der er eine längere Beziehung hatte, blieb er zeitlebens verbunden und sie arbeiteten für ihn. An der zu diesem Zeitpunkt noch nicht vom Tourismus berührten Bucht hatte 1769 James Cook bei seiner Entdeckung der Südsee die Doppel­insel Neuseeland zuerst betreten. 1814 begann hier die Missionierung und schließlich die Übernahme beider Inseln durch die britische Krone. Andreas Reischek beschrieb diese Ereignisse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch aus erster Hand: „Der erste, der auf Neuseeland landete, war der Holländer Abel Jansen Tasman. (...) (Er wurde) 1642 (...) von Eingeborenen überfallen und mußte sogleich wieder absegeln. (...) Das Ziel aller Seefahrer war damals die Entdeckung eines großen Kontinents, der Terra australis, des Südlandes, das man in diesen Gegenden vermutete. (...) jenes utopischen Festlandes (...) Erst im Jahre 1769 erfolgte die eigentliche Entdeckung Neuseelands durch James Cook. Er landete an der Ostseite der Nordinsel und betrat als erster Europäer den Boden Neuseelands, umsegelte die Nord- und Südinsel (...) trat mit den Maori in Berührung, denen er die ersten europäischen Nutzpflanzen und Haustiere brachte. Zu einer regelrechten Kolonisation kam es (...) 1814 durch den Missionar Samuel Marsden (...) in dem Gebiete der Bay of Islands (...) Die eingeschüchterten Maori unterzeichneten am 28. Oktober 1835 in Waitangi (an der Bay of Islands, Anm. d. A.) einen Vertrag, die sogenannte ‚Declaration of the Independence of New Zealand‘.“9 Heute sagt Andrew Fagan, ein Bruder von Gabriele: „Hundertwasser mochte Northland. Er äußerte bald die Absicht, sich da eine property zu suchen.“10

 

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Blick über die von Hundertwasser gepflanzten Waldungen in Kaurinui Valley (Ausschnitt).

 

Schon im darauffolgenden Jahr wurde die Familie Fagan fündig. Die Farmer befanden sich noch in einer Pioniersituation, einerseits isoliert voneinander aufgrund der großen Ausdehnung der Farmen, andererseits regelmäßig in Kontakt, weil man Rodungen zur Bereitstellung von Weideland nur gemeinschaftlich durchführen konnte. Der Bruder eines Nachbarn war mit seiner Farm auf dem östlichen Abhang eines Hügelzugs an der Bay of Islands in Schwierigkeiten. Das tief eingeschnittene Tal der vulkanischen Erdformation ließ nicht viel Platz für Weideland. In den flachen Bereichen des Geländes, die in zwei Generationen der Meeresbucht abgerungen worden waren, befand sich die Natur wieder im Vormarsch. „Ralph Shortridge war sehr froh, einen Käufer zu finden, zu einem guten Preis. Frederic trug sogleich ganz viele Ideen vor, wie er den Ort verändern würde. Ein anderer Farmer wäre empört gewesen, dass der neue Besitzer auf dem mühevoll gerodeten Land so viele Bäume wie möglich pflanzen wollte. Doch Ralph wusste, dass sein Land sich ohnedies längst wieder in diese Richtung bewegte. Er hatte dem Wachstum der früheren Vegetation zuletzt nicht mehr Einhalt gebieten können.“11

Zur Bezeichnung seines 1974 erstmals besichtigten und 1976 in Kawakawa erworbenen ersten Landbesitzes in Neuseeland benutzte Hundertwasser den bei den Nachbarn verwendeten Namen „Kaurinui Valley.“ „Anfangs gab es da nur Grasflächen.“12 Doug Shepherd, ein benachbarter Farmer, begann ihm zu helfen und wurde rasch zum Farm-Manager. Er kümmerte sich auch in Abwesenheit des Künstlers um das Land. Mit den ersten Baumpflanzungen war eine Baumschule aus dem 65 Kilometer entfernten Whangarei beauftragt worden. Sie sandte zehn Leute und einige hundert Baumpflanzen, die der Künstler ausgesucht hatte. Ihre Mitarbeiter waren aufwendig in Hotels in Pahia und Opua untergebracht. Farmernachbar Doug Shepherd meinte, das sei doch finanziell verrückt. Bäume einsetzen könnten er und andere Farmer aus der Nachbarschaft ebenso gut. Anschließend realisierte er Hundertwassers Absicht einer massiven Bepflanzung seines Landes nach und nach mit Freunden und lokalen Arbeitern, stets in detaillierter Abstimmung mit dem Künstler, selbst wenn für die Baumbepflanzung bestimmter Teile des Geländes gezielt Großbetriebe eingesetzt wurden. Noma Shepherd, seine Frau, ist bis heute mit Kaurinui und Hundertwassers Vermächtnis in Kawakawa verbunden. Richard Smart, Farm Manager seit dem Tod von Doug Shepherd im Jahr 2008, kam ab 1994 als junger „handyman“ hinzu. Er hatte in Südafrika in einem Büro für technische Architekturaufgaben gearbeitet und in einem Segelboot den Atlantik und den Pazifik bis Neuseeland überquert. Zur Struktur der Vegetation in Kaurinui Valley bemerkt er: „Frederic wollte absolut keine blütentragenden Bäume und keine Blumen. Nur unterschiedliche Grüntöne.“13

 

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Der Kanal bei Flut und Bank aus dem Wiener Stadtpark.

 

Es gibt auf dem Gelände unglaublich schöne Stellen. Beispielsweise hundert Meter vom Farm House entfernt, dem alten Fertigteilhaus der Farmerfamilie, in dem Hundertwasser bis 1994 bei seinen Aufenthalten an der Bay of Islands wohnte. Das Haus war nach dem Brand der ersten Holzhütte der Farmerfamilie in den 1940er- oder 1950er-Jahren per Floß aus der Bay of Islands möglichst nahe an den heutigen Standort gebracht worden. Mit Seilwinden und gleichzeitigen Muskeleinsatz vieler Farmer, die unentgeltlich mithalfen, zog man es an einen möglichst hohen Punkt des Geländes, wo es vor Überschwemmungen aus der Meeresbucht weitgehend geschützt bleibt. Hinter dem Farm House befindet sich ein durch Aufstauen der Rinnsale auf dem Abhang geschaffener Süßwasserteich. Davor steht eine von vier Bänken aus dem Wiener Stadtpark, die Hundertwasser in den 1980er-Jahren der Wiener Stadtverwaltung abkaufte und nach Kaurinui Valley bringen ließ. Es handelt sich um eine gusseiserne Bank mit spiralenartigen, ornamentalen Formen und einer wohlgeformten, hölzernen Sitzfläche aus der Werkstatt von Otto Wagner, entstanden um 1900.

Von dieser Wiener Parkbank aus ergibt sich ein nach hinten und oben gestaffeltes Ensemble, an dem man sich kaum sattsehen kann. Im Vordergrund liegt der untere Doppelteich, mit gebündeltem Süßwasser aus den umliegenden Hügeln gespeist und von baumhohen Farngewächsen mit schwarzen Stämmen umstellt, die mit den hellgrünen Blattforma­tionen der gleichen Pflanzen dramatisch kontrastieren. Auf dem dahinter steil ansteigenden Hügel entwickeln sich höher wachsende Bäume nicht­europäischer Arten, die geradlinige Stämme entwickeln, aber strauch­artig enden, mit dichten, grünen Gipfeln aus Stacheln. Nochmals dahinter erscheinen noch höher wachsende Fichten und andere Bäume aus Europa, gemischt mit ebenso schnell und ebenso hoch wachsenden afrikanischen Bäumen. Das Ensemble beginnt am Fuß des Betrachters und endet 120 Höhenmeter darüber, in einem Panorama, das 180 Grad der Rundsicht einnimmt, mit freiem Blick in den neuseeländischen Sommerhimmel.

Nur wenige Teile des Geländes sind auf solche Übersichten angelegt. Ein zweites, ebenso hohes und umwerfendes Panorama entfaltet sich auch hinter dem Farm House. An diesen Stellen könnte man denken, Hundertwasser habe malerische Situationen angelegt und wollte mit dem spektakulären Umgang mit dem natürlichen oder landschaftlichen Raum konkurrieren, den die amerikanische „Land Art“ seit den späten 1960er-Jahren betrieb. Anders als die „Land Art“ ist das Tal von Hundertwasser in Neuseeland gleichwohl weder auf eine bildhafte noch auf eine öffentliche Wahrnehmung ausgelegt. Die Orte des Sitzens und der kontemplativen Betrachtung beschränken sich auf einige Stellen rund um die insgesamt sechs Behausungen, die nach und nach auf dem Gelände entstanden.

 

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Tropische Waldlandschaft in Kaurinui (Ausschnitt).

 

In den Expeditionsberichten von Andreas Reischek liest man: „Es war wie im Märchenwald. Der von den mächtigen Pfeilern der Baumriesen umschlossene grünschimmernde Saal war von allen Stimmen der lebendigen Natur erfüllt; dumpf mischte sich ins Rauschen des Wasserfalles das Brausen der Meeresbrandung, und von allen Zweigen und aus allen Winkeln klang der Vogelsang.“14 Das hört sich für unsere Sprachvorstellung kitschig an, entspricht aber der Utopie der bewahrten Landschaft bei Adalbert Stifter und anderen österreichischen Autoren der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in deren Tradition Hundertwassers Gelände in Neuseeland zu verstehen ist.

Sinkt die Sonne, nimmt man es zunächst am langsam abnehmenden Lärm der Zikaden wahr. Der Künstler hat die direkte Sonneneinstrahlung in seinem Tal durch die Bepflanzung überwiegend ausgegrenzt. Die Insekten reagieren auf den abnehmenden Lichteinfall rascher, kontinuierlicher und nachhaltiger als der Mensch. Man hat den Eindruck, Lichtquelle und Lautsprecher würden gleichzeitig über zwanzig Minuten absolut gleichmäßig abgedreht. Daraufhin ist bis zum nächsten Sonnenaufgang nichts von beiden mehr präsent, kein Licht und kein Laut. Mit dem Einbruch der Dunkelheit entstehen Situationen des Zwielichts in einer sich selbst zurückgegebenen Natur, mit Verbindungen von schwachem Sonnenlicht und vegetativen Farben, die man zum ersten Mal sieht. Der Moment, ab dem sich alles beruhigt, ist ruhig und intensiv zugleich.

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Der neu gepflanzte Urwald ist ohne Masterplan angelegt, aus unzähligen, nacheinander erfolgten, überlegten, jedoch spontanen Entscheidungen. Wie sehr diese Tätigkeit aus einem enzyklopädischen pflanzenkundlichen Detailwissen hervorging, ist an der Handbibliothek Hundertwassers in den drei Behausungen auf seinem Gelände zu sehen. Die Hälfte dieser etwa 150 Bücher sind Abhandlungen über Bäume und Pflanzen aus der ganzen Welt und über die Vegetation in Neuseeland und ihre Geschichte. In diesem Bestand findet sich kein einziges theoretisches Buch zu Fragen von Landschaftsschutz und Ökologie. Dies geht aus einer bewussten Entscheidung des Künstlers hervor, alles Sekundärwissen auszuschalten und den Wald aus dem Primärwissen über die Eigenschaften und Entwicklungsmöglichkeiten jeder einzelnen Pflanze anzulegen. Die vergleichsweise große Anzahl japanischer Pflanzenbücher erklärt sich daraus, dass Hundertwasser 1961 in Tokio lebte, mit der japanischen Künstlerin Yuko Ikewada vier Jahre lang verheiratet war, eine tiefe Beziehung zu Japan, seiner Kunst, Grafik und Naturvorstellung bewahrte und auch seine letzte Freundin Yuka Japanerin war. Er las zwar nicht japanisch, schätzte aber die Abbildungen in diesen Pflanzenbüchern besonders, was einen Hinweis auf die unausgesprochene Philosophie seines Waldes in Neuseeland ergibt. Diese Arbeitsbibliothek macht auch überaus deutlich, dass er genau wusste, was er tat, und lange darüber nachdachte, was er wie und wo pflanzte und welche Folgen das haben würde.17

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1980 erweiterte Hundertwasser nochmals seinen Landbesitz an der Bay of Islands um 100 Hektar. Doug Shepherd, sein Helfer bei den Pflanzungen und auf dem Gelände, wollte Land verkaufen, das weit von seiner eigenen Farm unmittelbar nördlich an Hundertwassers Kaurinui-Tal anschließt. Da der Künstler keinen neuen Nachbarn haben wollte, kaufte er den Grund selbst, der linksseitig an den Kanal rührt, auf dem man aus seinem Tal in die Bay of Islands hinauspaddeln kann. Hier wurde nun die Vegetation pragmatischer angelegt. Ein weit gezogener Pinienwald ist mit verschiedenen neuseeländischen Baumarten durchsetzt. Hundertwasser liebte Pinienwälder ob ihrer hoch wachsenden, klaren und offenen Form, ob des Teppichs aus Nadeln auf ihrem Boden, auf dem es sich gut geht, und weil diese schnell wachsenden Bäume in kurzer Zeit einen imposanten Wald ergeben.

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28Friedenspakt mit der Natur2930

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