Manfred Lafrentz

Der Weg des Vagabunden

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

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Impressum neobooks

1


Ein Erdklumpen kam geflogen, und ich duckte mich.

„Das werdet ihr noch bereuen!“, schrie ich.

Weitere Geschosse der gleichen Art folgten, daneben Obst und Gemüse in verschiedenen Stadien des Zerfalls. Daher zog ich es vor, die Auseinandersetzung abzubrechen und mich davonzumachen.

Undankbares Gesindel!, dachte ich verbittert.

Nachdem ich wochenlang versucht hatte, diese Bauern auf den neuesten Stand medizinischer Kenntnisse zu bringen, indem ich meine unfehlbaren Elixiere und Tinkturen für einen Spottpreis geradezu verschenkt hatte, jagten mich diese Hinterwäldler mit empörender Grobheit aus ihrem hässlichen Dorf! Wenn der eine oder andere meiner Kunden sich in tumber Einfalt nicht an die Einnahmevorschriften hielt und dann mit Haarausfall oder Pusteln gestraft wurde – was konnte ich dafür?

„Lass dich nie wieder in dieser Gegend blicken, du Halunke!“, hatte der Dorfbüttel gesagt und tatenlos zugesehen, als der Mob auf gemeinste Weise das Gastrecht mit Füßen trat. „Such dir woanders ein paar Dummköpfe, denen du dein Giftzeug verkaufen kannst.“

Ein Rat, den ich gerne befolgt hätte, nur leider wurden die Dörfer, in denen ich nicht schon auf ähnliche Weise verabschiedet worden war, allmählich knapp. In den größeren Städten des Südens konnte ich mich schon gar nicht mehr sehen lassen, nachdem Missverständnisse und infame Verleumdungen dazu geführt hatten, dass ich an nahezu jeder Straßenecke einen Aushang fand, auf dem sich unfreundliche Worte zu einem unvorteilhaften Porträt von mir gesellten.

Immer weiter nach Norden hatte mich daher der Drang, den Menschen meine Wohltaten zu erweisen, getrieben, und jetzt befand ich mich schon am Rand von dem, was man gemeinhin für die zivilisierte Welt hielt.

„Ach was!“, sagte ich mir. „Alles Vorurteile! Auch außerhalb der belebten Regionen gibt es sicherlich freundliche Leute, die meiner Hilfe bedürfen, und wenn sie ein bisschen argloser und vertrauensvoller sind als dieses abgebrühte Pack im Süden, dann umso besser!“

Also beschloss ich, mich weiter nach Norden zu wenden, zum großen Grenzwald, in dessen Nähe ich mich ohnehin schon befand. Ich hatte eine vage Idee, dass sich hinter dem Wald eine große Ebene erstreckte, aber Genaueres war mir nicht bekannt. Visionen von endlosem Grasland waren nicht sehr verlockend, aber wenn man keine Wahl hat, leuchtet auch der einzige Weg, der einem offen steht, recht hell.

Ein Bauer, den ich noch nie gesehen hatte, nahm mich ein Stück auf seinem Pferdekarren mit. Ein Angebot, ihm mein bewährtes, alle Arten von Gicht, Hexenschuss und ähnlichen Beschwerden vertreibendes Generalelixir zu verkaufen – denn seine gebeugte Haltung und seine mühsam wirkenden Bewegungen hatte ich sachkundig zur Kenntnis genommen –, verlief allerdings ergebnislos. Also war anscheinend zumindest ich ihm nicht völlig unbekannt. Ein engstirniger Menschenschlag, wie schon erwähnt, daher genoss ich einfach den Sonnenschein und den sommerlichen Duft nach Heu in diesen letzten Tagen des siebten Mondes und ließ mich in der warmen Luft zwischen Feldern und Obstbäumen in meine ungewisse Zukunft fahren, bis ich absteigen und ihr von da an zu Fuß entgegentreten musste.

Den Wald hatte ich bald erreicht, doch trat ich etwas zögerlich zwischen die Baumstämme seines äußeren Randes. Ein bisschen arg düster und undurchdringlich kam er mir vor, aber schon bald hatte ich mich an die Umgebung gewöhnt und schritt beherzt zwischen bemoosten Stämmen dahin, ließ mich von Farnen streicheln und lauschte entzückt dem Gezwitscher und Geschnatter der Fauna.

So sehr genoss ich meine Wanderung durch diese kühlen grünen Hallen, dass mich regelrecht Verachtung ergriff für das verweichlichte und verdorbene Geschmeiß in den Städten, mit dem ich mich so lange hatte abplagen müssen und von dem meine empfindliche und leicht verletzliche Seele so viele schändliche Grausamkeiten zu erdulden gehabt hatte. Nein, dies hier, diese unverstellte Präsenz der natürlichen Ordnung des Lebens war es, der man sich stellen musste, und nur hier konnte man eins sein mit ihr, wie es das Ziel alles menschlichen Daseins sein sollte, dachte ich aufgewühlt und den Tränen nahe.

Trotzdem war ich froh, als ich die dunkelsten Stellen hinter mir gelassen hatte und sich die Baumreihen allmählich wieder lichteten. Hier und da war mir die Präsenz der natürlichen Ordnung etwas aufdringlich erschienen, vor allem, wenn sie mit einem bedrohlichen Knurren oder verstohlenem Geraschel verbunden gewesen war. Ich hatte nicht vor, mein Streben nach Einssein mit der Natur so weit zu treiben, dass ich es im Wanst eines Untieres verwirklichen wollte.

So begrüßte ich die sonnendurchfluteten Ausläufer des Waldes, die schon in die Grasebene übergingen, mit der entspannten Freudigkeit, die mit der Verlangsamung vormals rasenden Herzklopfens und dem Trocknen von Angstschweiß auf der Stirn einhergehen.

Neben einem Baum sah ich einen Mann stehen, mit einem langen Hut auf dem Kopf und einem Stab, auf den er sich stützte. Ich hatte solche Männer früher schon gesehen und nahm an, dass es sich um einen Zauberer handelte. Sie waren leicht zu erkennen, da sie immer wichtigtuerisch mit ihren Stäben herumfuchtelten und ihre Augenbrauen grotesk in die Höhe bürsteten. Dieser hier schien völlig in eine Beschwörung versunken, denn er regte sich nicht. Es empfiehlt sich nicht, einen Zauberer bei der Arbeit zu stören. Das mögen sie nicht, und sie haben auch keine Skrupel, dem Störer entstellende und demütigende Verwandlungen anzuhexen, sodass man womöglich als Frosch mit Vogelbeinen oder als Eichhörnchen mit Krötenkopf durchs weitere Leben watscheln muss. Also trat ich sehr behutsam an ihn heran. Immerhin war ich neugierig, was er in dieser verlassenen Gegend trieb.

Als ich mich ihm näherte, merkte ich, dass er einfach nur schlief. Der Wind bewegte sacht seinen grauen Kittel und seine ebenso grauen Haare, die aus dem nicht mehr so spitzen Spitzhut herabhingen. Leise und friedlich schnarchte er vor sich hin. Die Regeln für das Wecken von Zauberern waren mir nicht bekannt, also räusperte ich mich vorsichtig. Als nichts geschah, räusperte ich mich etwas heftiger. Der Zauberer zuckte zusammen und öffnete blinzelnd die Augen.

„Hm …? Was gibt´s?“

„Seid gegrüßt, Meister!“, sagte ich respektvoll und zog meinen Hut. „Ich sah Euch hier so einsam stehen und wollte nicht unhöflicherweise an Euch vorübergehen, ohne Euch meiner Ehrerbietung zu versichern.“

Der Zauberer kratzte sich unter seinem langen Bart. „Das ist sehr freundlich von Euch. Ihr scheint ein wohlerzogener Wandersmann zu sein.“ Er sah sich um und streckte sich. „Ich wollte eigentlich nur einen Augenblick ausruhen, aber in meinem Alter schläft man leicht ein, wenn man erst mal steht.“

Während er ausgiebig gähnte, wies ich auf meine Schultertasche.

„Ich habe Eure gebeugte Haltung bemerkt. Ihr habt nicht zufällig Verwendung für ein äußerst wirksames Rückenbalsam, das ich Euch gegen ein geringes Entgelt überlassen könnte?“

„Nein, nein, mein Freund. Sehr zuvorkommend von Euch, aber nicht notwendig.“

„So ein Zaubermeister wie Ihr“, sagte ich verdrossen, „hat sicher viele Möglichkeiten, mit allerlei Zipperlein fertig zu werden …“

Er packte seinen Holzstab fester und hielt ihn hoch. „Ganz recht, ganz recht, Freund! Mit der Kunst, die ich beherrsche, ist man allen anderen immer einen Schritt voraus.“

Was für ein Angeber, dachte ich, nickte aber beifällig und fragte ihn, wohin sein Weg wohl führen mochte.

„Nun“, sagte er, „ich bin unterwegs zum Haus von Lord Sylvan. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr mich gern begleiten. Allzu weit kann es nicht mehr sein.“

Ich fragte mich, wo in dieser Einöde das Haus eines Lords sein sollte, aber ich hatte sowieso kein rechtes Ziel, und vielleicht erwies sich die Bekanntschaft mit einem hohen Herrn als gewinnbringend. Also folgte ich dem Zauberer.

Bald hatten wir den Wald endgültig verlassen, und nur noch einzelne kleine Baumgruppen unterbrachen die Eintönigkeit der Grasebene, die sich bis zum Horizont erstreckte.

„Ihr seid wohl ein guter Bekannter des Lords, wie hieß er gleich?“, fragte ich neugierig.

„Keineswegs.“ Der Zauberer runzelte die Stirn. „Ich kenne Lord Sylvan gar nicht. Aber es gibt Gerüchte, die von seltsamen Dingen berichten, die in seinem Haus vorgehen sollen, deshalb will ich dort nach dem Rechten sehen.“

„Seltsame Dinge?“, fragte ich beunruhigt. „Welcher Art?“

Der Zauberer zupfte an seinem Hut. „Nun, diejenigen, die dorthin gehen, kommen nicht mehr zurück.“

Ich blieb stehen. „Sie kommen nicht mehr zurück? Dann geh ich gar nicht erst dahin.“ Ich drehte mich um und stapfte davon, aber der Zauberer hielt mich fest.

„Nun wartet mal, Freund!“, rief er beschwichtigend. „Kein Grund, davonzulaufen. Schließlich habt Ihr in mir einen Begleiter, der Eure Sicherheit garantiert. Ein Meister der Magie, wie ich es bin, wird spielend leicht mit jeder Situation fertig, in die wir dort hineingeraten könnten.“

Ich war nicht überzeugt, wollte andererseits aber auch nicht die Gunst eines Meisters verlieren, die ich vielleicht noch zu meinen Vorteil ausnutzen konnte.

„Ihr seid sicher, dass Ihr gegen alles gewappnet seid?“

„Natürlich, Freund, vertraut mir!“, sagte er, und sein Lächeln war in der Tat beruhigend und Vertrauen erweckend.

Wir gingen weiter in die Richtung, in der das Haus von Lord Sylvan liegen sollte. Ich war immer noch verunsichert. Schließlich wusste ich nicht mit Bestimmtheit, ob es sich bei dem Burschen wirklich um einen Zauberer handelte oder ob er nur so tat.

„Vielleicht könntet Ihr mir eine kleine Probe Eurer Kunst vorführen? Nur damit ich weiß, dass Ihr wirklich ein Zauberer seid. Versteht mich nicht falsch, ich glaube Euch natürlich alles, was Ihr sagt.“ Ich machte ein bekümmertes Gesicht, in dessen Ausdruck ich allen Schmerz legte, den ich durch die Gemeinheit der Welt erfahren hatte. „Aber das Leben hat mich misstrauisch gemacht, versteht Ihr?“

Er sah mich fragend an. „An was denkt Ihr?“

Ich überlegte und wies dann auf einen niedrigen Busch. „Verwandelt doch einen dieser Zweige in eine blühende Blume. So ein kleines Kunststückchen dürfte Euch nicht schwerfallen, oder?“

Der Zauberer wirkte nicht erfreut. „So was ist schwieriger als Ihr denkt. Es erfordert höchste Konzentration, und ich will meine Kräfte nicht vergeuden. Wer weiß, was wir …“

„Nun macht schon!“, rief ich ungeduldig dazwischen. „So eine kleine Sache kann doch nicht so schwer sein. Und ich wäre ruhiger, wenn Ihr mir Eure Fähigkeiten beweisen könntet.“

Er kniff ärgerlich die Augen zusammen. „Also gut, also gut!“

Er hob seinen Holzstab, hielt ihn mit ausgestrecktem Arm in die Richtung des Busches und murmelte unverständliches Zeug. Die Luft schien ein wenig zu flimmern, und als ich danach auf den Busch sah, trug dieser tatsächlich anstelle eines Zweiges einen Stängel mit leuchtend roten Blüten. Es sah auf komische Weise unpassend aus.

„Alle Wetter!“, rief ich lachend. „Das ist ja großartig!“

Der Zauberer strahlte. „Seht Ihr? Seht Ihr?“, rief er triumphierend. „Es hat funktioniert! Ich hielt den Stab hoch, so, und sagte einen Zauberspruch, und schon geschah´s. Na also, haha!“

„Ihr scheint ein wenig überrascht“, sagte ich verwundert. „Als würdet Ihr das Gelingen Eurer Zauberei eher selten erleben.“

„Was soll das heißen?“, fragte er grimmig und hob den Stab gegen mich. „Wollt Ihr meine Meisterschaft bezweifeln?“

„Keineswegs, keineswegs“, versicherte ich eilig. „Ihr habt sie eindeutig bewiesen, und ich gehe jetzt zuversichtlicher mit Euch mit.“

Wir gingen weiter, er etwas mürrisch, ich eher verwirrt. Eine Weile sagten wir beide kein Wort, sodass ich begann, mich unbehaglich zu fühlen. So wie es aussah, konnte ich allerdings keinen Rückzieher mehr machen. Er wäre vermutlich beleidigt gewesen, wenn er es nicht schon war, und mit beleidigten Zauberern ist nicht zu spaßen. Ein Eichhörnchen mit Froschbeinen ist keine schöne Existenz.

Schließlich brach ich zaghaft das Schweigen. „Woher wisst Ihr eigentlich, in welche Richtung Ihr gehen müsst?“ Ich konnte auf der Grasebene nichts erkennen, was als Orientierungspunkt hätte dienen können.

„Gute Zauberer wissen das“, knurrte er unwirsch. Aber dann wurde seine Miene etwas freundlicher. Er holte einen Gegenstand aus einer Tasche seines ausgebeulten Gewandes.

„Seht Ihr? Das ist ein Richtungsstein“, sagte er und zeigte mir ein flaches rundes Ding aus grauem Stein, in dessen Mitte sich eine Vertiefung befand, worin ein zitterndes Stäbchen aus Metall immer in die gleiche Richtung wies.

„Das Stäbchen zeigt nach Norden“, sagte der Zauberer und drehte den Stein bis das Zeichen für Norden am Rand des Steins in die selbe Richtung wie das Stäbchen wies. „Von der Stelle aus gesehen, wo wir uns trafen, liegt das Haus von Lord Sylvan nordwestlich, so viel weiß ich. Unsere Richtung stimmt also, und wir müssten bald da sein.“

„Wenn Ihr das sagt.“ Eigentlich hatte ich es nicht so eilig, diesen verrufenen Ort zu erreichen. Stattdessen hatte ich Hunger. „Ihr habt nicht zufällig etwas Nahrhaftes dabei, das uns erquicken und für den Rest des Weges stärken könnte?“, fragte ich hoffnungsvoll.

Er seufzte. „Also gut, lasst uns kurz rasten und etwas essen.“

Während wir uns aufs Gras setzten, holte er aus einer weiteren verborgenen Tasche seines interessanten Gewandes einen Beutel hervor und reichte mir etwas von seinem Inhalt. Bröckelige Teigfladen und getrocknete Früchte, wie ich verdrossen feststellte.

„Ihr habt wohl exquisitere Leckereien erwartet?“, fragte er, als er meinen Gesichtsausdruck bemerkte. „Wenn Ihr etwas Schmackhafteres zum Mahl beisteuern könnt, dann nur heraus damit!“

„Es ist äußerst wohlschmeckend“, versicherte ich eilig. „Und es ist sehr großzügig von Euch, dies mit mir zu teilen.“ Ich kaute begeistert, um meine Worte zu unterstreichen, und schluckte das trockene Zeug herunter. Viel zu kauen gab es aber nicht, daher brachen wir bald wieder auf.

Wir waren noch nicht lange unterwegs, als mich der Zauberer am Arm packte und mit der anderen Hand zum Horizont wies.

„Ich glaube, das ist es“, sagte er.

Ich konnte nur eine Bauminsel erkennen, nicht anders als andere, die immer mal wieder die Grasebene unterbrachen. Aber nachdem wir eine Weile weitermarschiert waren, sah ich, dass mein Begleiter recht hatte. Umstanden von einigen hohen Laubbäumen, befand sich mitten in der Ebene ein Haus, dessen weiße Wände unter dem Grün der Blätter hervorleuchteten.


2


An der Vorderfront des Hauses führte eine Treppe zum Eingangstor hinauf. Darüber erhoben sich unregelmäßig rechteckige Aufbauten und Türme, deren höchster weit über das Dach hinausragte. An den Seiten des trotz seiner seltsamen Form geräumig wirkenden Hauses befanden sich niedrigere Anbauten, die nach hinten hinaus lagen und die ich für Stallungen hielt. Das ganze Gebäude wirkte verlassen und still und auf beunruhigende Weise – so empfand ich es jedenfalls – lauernd.

„Also“, sagte ich, als wir im Schatten der Bäume vor dem Tor stehen geblieben waren, „Ihr wollt sicher hineingehen und nach dem Rechten sehen. Ich werde hier auf Euch warten, und wenn etwas ist, macht Euch bemerkbar, damit ich davonlaufen kann.“

„Aber, aber!“, Der Zauberer schmunzelte. „Ihr seid doch nicht wirklich so ein Hasenfuß, oder?“

„Ich will einfach keinen Ärger, und wenn ich ihn vermeiden kann, ist es ein Zeichen von großem Verstand, es auch zu tun“, sagte ich und wählte beiläufig am Horizont die Richtung aus, in die ich verschwinden wollte.

„Jetzt lasst uns erst mal hineingehen, oder seht Ihr vielleicht irgendeine Gefahr, die uns droht?“ Damit schob der Zauberer mich auf den Eingang zu.

„Gefahren kann man nicht immer auf den ersten Blick erkennen, und ich habe den Eindruck“, sagte ich, während ich mich gegen seine Drängelei zu wehren versuchte, „dass Ihr einfach Angst habt, allein dort hineinzugehen!“

„Ach was!“, keuchte er. „Stellt Euch nicht so an!“ Dabei schob er mich weiter, und während wir so miteinander rangen, stolperten wir über die ersten Treppenstufen. Als wir beide auf unserem Hintern landeten, öffnete sich plötzlich über uns die Eingangstür.

Der Zauberer schrie, und ich schrie auch – aber nicht so laut wie er –, wir klammerten uns aneinander – er klammerte fester als ich – und starrten gebannt zum Eingang hinauf. Dort war niemand zu sehen.

„Lasst mich los!“, schrie ich. „Ich will hier weg!“

„Nein, nein, Ihr seht doch, da ist nichts!“ Er hielt mich fest.

„Aber drinnen ist etwas!“ Ich versuchte mich loszureißen. „Warum wäre sonst die Tür aufgegangen?“

„Das war nur der Wind, der durch das Haus pfeift!“

„Hier weht kein Wind. Da pfeift was anderes!“

„Jetzt reißt Euch endlich zusammen, oder muss ich Euch mit Magie wieder auf den Pfad der Vernunft führen?“ Dabei hob er drohend seinen Holzstab gegen mich.

Die Drohung wirkte. Ich hatte keine Ahnung, was er mit mir anstellen konnte, und wollte es auch nicht herausfinden. Ich verfluchte voll Selbstmitleid meine Höflichkeit, die es mir nicht gestattet hatte, an dem Zauberer vorbeizugehen, als ich ihn schlafend unter dem Baum hatte stehen sehen – nicht einmal meine Salbe hatte er kaufen wollen! –, und stieg in dem sicheren Gefühl, einem schrecklichen Unheil entgegenzutreten, neben, nein eigentlich vor meinem tyrannischen Weggefährten die restlichen Stufen zur Tür hinauf und trat ein.

Zitternd und angestrengt ins Ungewisse spähend, durchquerte ich einen Gang, der mich in einen großen, lichtdurchfluteten Raum führte. Das Licht strömte durch breite Fenster in der hinteren Wand des Raumes herein, die Ausblick auf einen entzückenden Garten gewährten. Ganz bezaubert von der Idylle vergaß ich augenblicklich meine Befürchtungen und betrachtete bewundernd die mit kostbaren Stoffen überzogenen Stühle und Liegen, die Tische, einige aus Marmor, andere aus Holz, mit kunstvoll geschnitzten Verzierungen. An den Wänden standen Schränke voller Vasen, Figuren und ähnlich schöner Dinge, die auch überall im Raum verteilt standen, ohne dass dieser überladen gewirkt hätte. Zwischen den Schränken hingen Musikinstrumente und breite Wandteppiche mit szenischen Darstellungen. Ihre Farben leuchteten hell, wo das Sonnenlicht auf sie traf, und glühten geheimnisvoll dort, wo Schatten auf sie fiel. Auch ein Gemälde hing dort. Es zeigte eine ausnehmende schöne und bezaubernden Frau mit einem verklärten, von langen Locken umgebenen Gesicht. Kurz gesagt, die Behausung gefiel mir außerordentlich, und ich war gerade dabei, mir träumerisch auszumalen, wie behaglich und angenehm es sich hier leben ließe, als ich weit hinter mir die Stimme des Zauberers vernahm.

„Ist da was?“, rief er mit zittriger Stimme.

„Wie man´s nimmt“, antwortete ich versonnen.

Der alte Magier trat mit einem Grunzen ein und riss mich in die Wirklichkeit zurück.

„Hier ist Unheil geschehen“, sagte er.

Ich hatte keine Ahnung, wie er in dieser Umgebung so eine Behauptung aufstellen konnte, und wollte gerade auf die ästhetischen Vorzüge der Einrichtung hinweisen, als es mich plötzlich eiskalt anwehte, mehrmals und aus verschiedenen Richtungen. Dabei war ein Seufzen und Wimmern zu vernehmen, das mich womöglich noch mehr erschauern ließ.

„Geister“, sagte der Zauberer und packte mich am Arm, denn dieses eine Wort hatte genügt, um mir die Notwendigkeit augenblicklicher, würdevoller, aber zügiger Flucht vor Augen zu führen.

„Wartet! Wir müssen mit ihnen reden.“

„Wie bitte?“, japste ich. „Wir sollen mit Geistern reden? Seid Ihr von allen guten …“ Ich brach ab, denn die Redewendung schien plötzlich unangebracht.

Der Alte hob seinen Holzstab. „Sie können uns sagen, was hier passiert ist. Ihre Anwesenheit ist unnatürlich und dürfte nicht sein.“

Das fand ich allerdings auch, aber trotz seines Alters hatte der Mann einen eisenharten Griff, und da ich mich nicht losreißen konnte, musste ich mit ansehen, wie er anfing Beschwörungen zu murmeln und dabei mehrmals seinen Stab auf den Boden zu stoßen. Die Luft vor uns begann zu flimmern, an einigen Stellen des Raumes wurde das Licht der Nachmittagssonne dunstig, bis ich schließlich vermeinte, dort menschliche Umrisse erkennen zu können.

„Geister dieses Hauses!“, rief der Zauberer mit tiefer Stimme. „Erzählt uns, wodurch ihr gebannt worden seid!“

Die flackernden Umrisse – es mögen acht oder neun gewesen sein, durch die Überlagerungen war es schwer erkennbar – wanden sich unruhig hin und her und gaben murmelnde Laute von sich, von denen sich allmählich eine deutliche Stimme abhob.

„Ihr Herren, hört unser Unglück!“, sagte sie. „Dieses Haus gehört Lord Sylvan, ein guter und gerechter Mensch, der den Süden mit seinem geliebten Weib verließ, als dieses sehr krank wurde, und die Einsamkeit suchte, um sich in Studien zu vergraben, von denen er sich die Heilung seiner Gattin erhoffte. Wir waren seine Diener und versorgten dieses Haus, aber wir bekamen ihn immer seltener zu Gesicht. Wir sorgten uns, doch blieb er unzugänglich. Manchmal öffnete er tagelang die Tür seines Studierzimmers nicht. Dann aber starb seine Gemahlin. Lord Sylvan war untröstlich, klagte sich selbst an, weil er versagt hätte, und zog sich wie rasend in sein Studierzimmer zurück.

Am nächsten Morgen – es mag einen Mond her sein – sprang die Tür auf, und ein Ungeheuer kam heraus, wütete unter uns und fraß uns alle auf. Unsere Seelen aber spie es wieder aus, und seitdem sind wir an dieses Haus gebunden und können die Welt nicht verlassen und dahin gehen, wohin wir gehören.

Das Ungeheuer aber war Lord Sylvan. Wir wissen nicht, wie es zur Verwandlung kam, seine Studien haben ihn wohl auf unglückselige Abwege geführt. Vielleicht hat er versucht, seine Gemahlin aus dem Totenreich zurückzuholen, und ist zum Opfer seines Frevels geworden. Ihr Leichnam war verschwunden. Vielleicht hat er auch ihn gefressen.

Seitdem hält er sich nicht weit von hier im Wald versteckt, und wann immer jemand sein Haus betritt, eilt er herbei, und es geht den Unglücklichen wie uns. Schon vier oder fünf haben unsere Zahl vermehrt. Auch Euch wird dieses Schicksal jetzt ereilen. Bald werdet Ihr mit uns klagend durch diese Räume wehen!“

Ich erschrak, als ich dies hörte. „Wir müssen fort!“, schrie ich.

Der Zauberer nickte und schaute verwirrt um sich.

„Zu spät!“, rief die Geisterstimme mit hohlem Klang. Viele flackernde Formen umdrängten uns jetzt. „Er ist schon fast hier!“

Die Worte wurden leiser und gingen in dem allgemeinen Gewimmer unter, das uns in den Ohren klingelte, während mir Eiseskälte in die Knochen fuhr.

„Was machen wir jetzt?“, rief ich verzagt, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Die trügerische Idylle der Schönheit, die uns umgab, der lichtdurchflutete Raum, nun ward er zum Albtraum, zu einer tödlichen Falle.

Der Zauberer sah sich hastig um und deutete auf eine Wendeltreppe in einer Ecke des Raumes. „Lasst uns nach oben gehen und sehen, was draußen vor sich geht!“ Er rannte mitten durch die flackernden Lichtgebilde der Geister, und mir blieb nichts übrig, als ihm zu folgen.

Wir hasteten die Treppe hinauf und kamen zu einer geborstenen Tür. Ich nahm an, es war diejenige, die Lord Sylvan zerstört hatte, und tatsächlich, als wir über die Schwelle liefen, kamen wir in ein rundes Turmzimmer, dessen Wände ringsum mit dicken Folianten vollgestellt waren. Auf Tischen standen unzählige Schalen und Behältnisse, manche mit Korken verschlossen, andere offen und leer, einige lagen zerbrochen auf dem Boden. Herabgebrannte Kerzenstummel waren überall in der Kammer verteilt, manche sogar mit Totenschädeln als Untersetzer. Über allem lag eine undefinierbare muffige Mischung aus Gerüchen.

„Da!“, rief der Zauberer und zeigte auf eine schmale Tür zwischen den Bücherregalen. Er sprang zu ihr hin und riss sie auf. Wir stolperten hinaus und erreichten einen Ausguck, einen schmalen Gang, der um den Turm herumlief und von einer hüfthohen Mauer umgeben war. Von dort, wo wir nun standen, dem höchsten zugänglichen Punkt des Gebäudes, hatten wir einen uneingeschränkten Ausblick auf die Ebene, die uns umgab.

„Da kommt er“, sagte der Zauberer und wies mit einem zittrigen Finger zum Horizont.

Ich konnte nichts erkennen und hoffte, dass mein Gefährte einer Täuschung unterlag, aber dann entdeckte ich einen dunklen Fleck im Grün der Ebene, der sich beängstigend schnell näherte. Bald konnte ich eine seltsame Gestalt ausmachen, deren massiger Körper Ähnlichkeit mit dem eines Stieres hatte, jedoch war der Kopf riesig. Aus dem weit aufgerissenen Maul ragten fürchterliche Hauer von der Größe meiner Hand. Je näher das Monstrum kam, desto deutlicher konnte ich die wild rollenden Augen erkennen und die grenzenlose Wut und Mordlust, die uns aus ihnen entgegensprühte.

„Wir sind des Todes!“, schrie ich, und alle Glieder schlotterten mir bei dieser Aussicht. „Ich will nicht gefressen werden und in diesem verfluchten Haus herumspuken!“

„Nun ja“, sagte der Zauberer düster, „auch ich hatte nicht vor, meine Tage in der Welt so zu beenden.“

„Tut was! Benutzt Magie!“

„Das ist nicht so einfach, mein Freund. Meine Magie dient dazu, verborgene Dinge hervorzubringen.“

„Dann bringt ein Hindernis hervor, das dieses Ungeheuer nicht überwinden kann!“

„Ich will es versuchen.“ Er hob seinen Holzstab und begann vor sich hin zu murmeln.

Auf der Ebene erhoben sich vor dem heranstürmenden Monstrum plötzlich Erdwälle, gespickt mit Felsbrocken und halb vermoderten Knochen. Wutschnaubend übersprang es sie und wurde nicht einmal langsamer dabei.

„Ist das alles?“, rief ich verzweifelt.

„Leider ja“, sagte der Zauberer kläglich. „Hier ist einfach nicht so viel verborgen, das ich hervorbringen könnte.“ Seine Stimme nahm einen quengeligen Ton an. „Außerdem bin ich auch nicht für solche Situationen ausgebildet worden. Ich habe …“

„Warum seid dann ausgerechnet Ihr hierhergeschickt geworden?“, schrie ich aufgebracht.

„Es hatte gerade kein anderer Zauberer Zeit!“, schrie er zurück.

„Ihr seid ein nichtsnutziger alter …“ Ich bezwang meine Erregung. In unserer Lage waren Beleidigungen nicht hilfreich.

Während mein Blick wie gebannt auf dem immer näher kommenden Ungeheuer hing, rasten meine Gedanken. Die Worte der Geister kamen mir in den Sinn. Dieses Untier war Lord Sylvan, und er hatte versucht, seine verstorbene Gemahlin wieder zum Leben zu erwecken.

Gemahlin! Gemahlin!

Eine Idee traf mich wie ein Blitz, und ohne lange zu überlegen rannte ich zurück ins Haus. Der Zauberer rief mir etwas hinterher, aber ich achtete nicht darauf und flog stattdessen die Wendeltreppe hinunter in den großen, herrlich ausgestatteten Raum. Ich riss das Bildnis der Frau, das dort hing, von der Wand und rannte augenblicklich die Treppe wieder hoch und hinaus auf den Ausguck. Den Zauberer, der mir im Weg stand, schubste ich ohne viel Federlesens beiseite und hielt das Gemälde mit beiden Händen hoch über meinen Kopf.

Das Ungeheuer war inzwischen vor dem Haus angekommen. Ich wedelte mit dem Bild in der Luft herum, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Das Monstrum blieb abrupt stehen und starrte das Bild an. Dann geschah etwas Seltsames. Dieses schreckenerregende Untier fing an, herzzerreißend zu heulen. Es klang so klagend und trauervoll, dass mir fast selbst die Tränen gekommen wären. Während ich mit zitternden Armen weiterhin das Gemälde hochhielt, beobachtete ich, wie das Ungeheuer immer weiter in sich zusammensank, bis es einem Häuflein Unglück glich. So hockte es eine Weile im Gras und dann schlich es davon. Jawohl! Es schlich davon wie ein geprügelter Hund und verschwand in die Richtung, aus der es gekommen war, vermutlich, um sich im Wald gründlich auszuweinen.

Erleichtert ließ ich die Arme sinken und stellte das Bild ab. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Dem sicheren Tod von der Schippe gesprungen! Meine Knie zitterten so heftig, dass ich mich auf den Boden des Ausgucks sinken ließ und mich mit dem Rücken an die Wand lehnen musste.

Der Zauberer setzte sich neben mich. An seinem bleichen Gesicht konnte ich die gleiche Erschütterung ablesen, die auch mich erfasst hatte. Eine Weile lang saßen wir nur da und schwiegen.

Schließlich ergriff der Zauberer das Wort.

„Das war sehr geistesgegenwärtig von Euch!“, sagte er. „Alle Achtung!“

Ich war zu erledigt, um mich von seinem Kompliment beeindrucken zu lassen, und winkte nur ab.

„Nein, nein“, versicherte er. „Ihr seid ein kluger Bursche, klüger als Ihr ausseht, wenn ich das bemerken darf, und habt instinktiv und schnell das Richtige erfasst.“

„Das habe ich wohl“, sagte ich, etwas gekränkt wegen seiner Bemerkung über mein Aussehen.

„Dieser Lord Sylvan muss in seiner Verzweiflung dunkle Magie angewandt haben, um seine Gemahlin nicht ans Totenreich zu verlieren. Das ist eine schwerwiegende Angelegenheit.“ Er wirkte plötzlich sehr ernst. „Durch solch eine unnatürliche Gestaltwandlung, wie er sie bewirkt hat, kann ein Riss in der natürlichen Ordnung des Weltengefüges entstehen.“

„Aha“, sagte ich, hörte aber nur halb hin, da ich mich immer noch darüber freute, am Leben zu sein.

Der Zauberer schlug mit der rechten Faust in seine linke Hand. „Also habe ich recht gehabt, als ich in Lord Sylvans Haus die Quelle dunkelmagischer Vorgänge lokalisierte. Das ist nämlich die wichtigste Aufgabe eines Zauberers, müsst Ihr wissen. Dazu braucht es die höchste Konzentration des gesamten Rates der Zauberer. Ihr müsst das verstehen“, sagte er eindringlich. „So ein Riss ist eine ernste Sache. Die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und der der Toten könnte fallen. Die Anwesenheit der Geister ist ein Indiz dafür, dass es schon begonnen hat. Sie können nicht ins Totenreich gehen, also wird der Weg dahin anscheinend blockiert.“ Er schien kurz nachzudenken. „Vor einem Mond hat Lord Sylvan sich verwandelt, und zu der Zeit muss auch der Riss im Weltengefüge entstanden sein.“ Er packte mich am Arm. „Versteht Ihr, was das bedeutet?“

„Ich habe überhaupt keine Ahnung, wovon Ihr redet“, antwortete ich müde.

„Es bedeutet“, rief der Zauberer und verstärkte dabei seinen Griff so sehr, dass ich empört aufstöhnte, „dass die Toten seitdem aus dem Totenreich hervorströmen und dadurch den Weg dahin versperren!“

„Das klingt beunruhigend“, sagte ich und zerrte meinen geplagten Arm aus seinem Griff.

„Beunruhigend, allerdings!“, rief er. „Je mehr Tote aus dem Totenreich hervorkommen, desto größer wird die Gefahr, dass die bestehende Ordnung der Welt zerstört wird und ein Chaos entsteht, in dem alles versinken wird. Das wird der Untergang der Welt sein, wie wir sie kennen.“

„Das wäre schade“, sagte ich und versuchte Bestürzung zu mimen.

Der Zauberer starrte mich eine Weile lang an.

Schade?“, schrie er dann. „Schade? Ihr begreift offenbar nicht, was das alles zu bedeuten hat! Möglicherweise wird die Welt in ein paar Tagen untergehen, und Ihr findet es schade?“

„Also gut!“, sagte ich ungeduldig. „Es ist entsetzlich! Aber was wollt Ihr eigentlich von mir?“

„Wir müssen etwas dagegen unternehmen“, sagte er. „Vor allem müssen wir Lord Sylvan von dem Fluch erlösen, den er auf sich geladen hat, um dadurch den Riss im Weltengefüge zu schließen, der so lange weiterbestehen wird wie der Lord in dieser Gestalt gefangen ist.“

„Wir?“, fragte ich, nun sehr aufmerksam geworden. „Wir?“

„Natürlich“, sagte der Zauberer streng. „Euch geht das doch genauso an.“

„Was habe ich damit zu schaffen?“, fragte ich. „Ich verstehe nichts von Weltgefügen und derlei Dingen. Das ist doch wohl eher etwas für gelehrte Leute wie Euch. Und überhaupt“, fügte ich hastig hinzu, „muss ich jetzt gehen. ich wünsche Euch viel Glück und gutes Gelingen beim Erlösen von Lord Sylvan. Ich für mein Teil möchte ihm nie wieder begegnen.“ Damit wollte ich aufstehen, um dieses unglückselige Haus zu verlassen, aber er packte mich wieder am Arm, und sein Griff war bekanntlich von eisenharter Beschaffenheit.

„Nichts da, Freund! Da Ihr nun von der Sache wisst, seid Ihr aufgerufen, alles zu tun, um das Schicksal der Welt zum Guten zu wenden. Ihr könnt Euch nicht einfach davonmachen. Und wozu wäre das auch gut? Über kurz oder lang wäret Ihr wie alle anderen Menschen dem Untergang geweiht, begreift Ihr das nicht? Jemand muss versuchen, das Unheil aufzuhalten.“

„Aber was kann ich schon tun?“, jammerte ich. „Ich würde Euch keine Hilfe sein.“

„Ihr könntet mir die Unterstützung gewähren, die ich brauche. Eben gerade habt Ihr Euch als sehr klug und geistesgegenwärtig erwiesen.“

„Aber nur weil mein Leben unmittelbar in Gefahr war“, beteuerte ich. „Ich bin nicht klüger als ich aussehe, glaubt mir!“

„Wie auch immer“, sagte der Zauberer, „ich nehme Euch in meine Dienste. Ich werde nach Osten gehen und das Problem vor den Rat der Zauberer bringen. Je mehr Leute von der Sache erfahren, desto besser. Falls mir etwas zustoßen sollte, müsst Ihr die Botschaft weitertragen. Das ist wichtig und dringend geboten. Wollt Ihr Euch der Verantwortung entziehen?“

Das hätte ich gerne getan, sah aber im Moment keine Möglichkeit dazu.

„Also gut“, brummte ich. „Ich komme erst mal mit Euch.“ Diese vage Absichtserklärung fiel mir umso leichter, als ich ohnehin nach Osten wollte, denn im Westen erstreckte sich offenbar nur diese Grasebene und in den Süden konnte ich aus bekannten Gründen vorläufig nicht wieder zurück. Ich hoffte, dass ich bald Gelegenheit finden würde, dem alten Zausel zu entwischen.

„Na also!“, sagte er erfreut. „Wir bleiben heute Nacht in diesem Haus und brechen morgen früh auf. Ich nehme an, der Anblick seiner Gemahlin hat Lord Sylvan so mitgenommen, dass er eine Weile Ruhe geben wird.“

Ich fragte mich beunruhigt, ob er recht hatte. War das Ungeheuer wirklich gezähmt oder würde seine Wut schnell wieder aufflammen, wenn es sich beruhigt hatte?

Als ich kurze Zeit später, eingewickelt in eine kostbare Samtdecke, auf einem Diwan in dem Raum lag, den ich ein Weilchen zuvor so bewundert hatte, dachte ich, dass ich nach diesem seltsamsten aller Tage sicher keinen Schlaf finden würde.

Dann schlief ich ein.


3


„Ihr seid so schweigsam, mein Freund.“

Ich grunzte mürrisch während ich sowohl an diesem Vorwurf als auch an einem dicken Stück Schinken kaute.

Als wir am Morgen von Lord Sylvans Haus aufgebrochen waren, hatten wir von den Geistern nichts mehr gesehen. Nur ein gelegentlicher eisiger Lufthauch und einige hohle Seufzer ließen auf ihre fortgesetzte Anwesenheit schließen. Ich für mein Teil konnte auf ihren Anblick und weitere Gespräche mit ihnen gut verzichten und war froh, von diesem merkwürdigen Ort wegzukommen.

Die Stallungen beim Haus hatten sich allesamt als leer erwiesen. Immerhin hatten wir in der Speisekammer einiges entdeckt, das noch nicht verdorben war und das wir als Proviant gut gebrauchen konnten, und so deckten wir uns mit geräuchertem Fleisch und Würsten ein. Wir nahmen so reichlich, dass wir dies als Entschuldigung für eine frühe Rast hernahmen, denn es erschien uns sinnvoll, die Last aus unseren Taschen in unsere Bäuche zu verfrachten, wo sie, nach entsprechender Ruhezeit, leichter zu tragen war.

Als wir jetzt satt im Gras der Ebene saßen, träge angelehnt an sonnengewärmte Felsbrocken, musste ich zugeben, dass ich in den letzten Stunden sehr einsilbig gewesen war. Mir gingen natürlich die Ereignisse des Vortages im Kopf herum.

„Sagt mal“, begann ich endlich, „wenn ich das richtig verstanden habe, gibt es also zwei Welten, und durch das, was Lord Sylvan heraufbeschworen hat, ist ein heilloses Durcheinander entstanden?“

Der Zauberer nickte zögerlich. „Ja, so ungefähr. Es gibt nicht wirklich zwei Welten, sondern eher zwei Aspekte derselben Welt. Der eine ist die Welt wie wir sie kennen, der andere ist die dinglose Welt des Lichts. Der erste geht aus der zweiten hervor, und nach dem Tod gehen die Seelen der Menschen dorthin zurück, deshalb nennt man diesen Aspekt der Welt das Totenreich, weil sich dort der Zugang zum Licht befindet. Ich vermute, Lord Sylvan konnte sich nicht mit dem Tod seiner Gemahlin abfinden und wollte sie durch eine Beschwörung ins Leben zurückrufen. Dabei ist etwas wirklich schiefgegangen.“

„Warum hat er es überhaupt versucht?“

„Verzweiflung“, sagte der Zauberer bekümmert, „kann einen Mann zu den verrücktesten Taten treiben.“

„Und nun?“, fragte ich. „Geht die Welt jetzt unter?“

„Das befürchte ich. Das Totenreich liegt zwischen den beiden Aspekten der Welt. Dort, an der Grenze, ist der Riss im Weltgefüge durch Lord Sylvans Untat entstanden. Sie hat die natürliche Ordnung der Dinge zerstört. Er muss bei seinen Beschwörungen bis zu jener Grenze zwischen den Welten vorgedrungen sein, und seine monströse Gestalt, die es nicht geben dürfte, ist der sichtbare Ausdruck des Risses, den er dabei verursacht hat.“

„Das heißt, Lord Sylvan selbst ist der Riss?“

„Nein, der Riss besteht zwischen den Welten, aber der Lord ist durch einen Bann an ihn gebunden.“

„Also müsste das Ungeheuer getötet werden?“

„Nein, das würde nicht genügen. Die Untat des Lords muss rückgängig gemacht und dadurch der Riss geschlossen werden, sonst wird sich das Weltgefüge immer weiter auflösen, und nichts wird mehr sein wie es war. Die Toten werden mit uns wandeln, und die Lebenden werden wie Tote sein.“

Bei diesen Worten lief mir ein Schauer über den Rücken, obwohl sie mir recht theatralisch vorkamen.

„Und was sollen wir nun tun?“, fragte ich unbehaglich. „Was können wir überhaupt tun?“

Der Zauberer kratzte sich am Kopf. „Das ist mir auch nicht ganz klar.“

„Ich denke, Ihr wisst über diese Dinge Bescheid“, sagte ich ungehalten.

„Ja, ja, das weiß ich auch“, brummte er. „Aber das will alles gut bedacht sein. Ihr Laien stellt euch das zu einfach vor.“

„Mit anderen Worten, Ihr habt keine Ahnung, was zu tun ist.“

„Nicht im Moment“, sagte er kleinlaut.

„Großartig!“, rief ich und schleuderte einen Wurstzipfel ins hohe Gras. „Ihr müsst die Welt retten und habt keinerlei Plan. Aber was soll´s? Vielleicht ist es ja ganz lustig, wenn die Toten mit den Lebenden wandeln!“

„Erspart mir Euren Sarkasmus“, sagte der Zauberer. „Natürlich habe ich einen Plan. Was sucht Ihr da eigentlich?“

„Ich suche einen Wurstzipfel“, knurrte ich und fand ihn. „Wie lautet denn Euer famoser Plan?“

„Wir müssen den Rat der Zauberer aufsuchen. Zusammen werden wir sicher eine Lösung finden, denn meine Kollegen besitzen umfangreiche Kenntnisse über diese Dinge.“

„Wohl mehr als Ihr, was?“, rief ich höhnisch.

„Seid nicht so vorlaut!“, sagte er streng. „So ein kompliziertes und ungewöhnliches Problem erfordert bedächtiges Vorgehen und tiefes Nachdenken. Je mehr kluge Köpfe sich daran beteiligen, desto besser.“

„Und wo finden wir diese klugen Nachdenker?“

„Das ist allerdings eine Schwierigkeit“, gab er zu. „Wir Zauberer sind selten zusammen an einem Ort. Unsere Aufgaben bringen es mit sich, dass wir ständig in alle Himmelsrichtungen verstreut sind. Am besten ist es, wir gehen einfach los. Irgendwann werden wir auf einen von ihnen stoßen, dann auf den nächsten und so weiter.“

„Das nenne ich mal einen Plan!“, sagte ich feixend. „Wir gehen einfach los, und alles wird sich finden.“

„Genau.“ Er stand auf und reckte sich. „Packt Eure Wurst und Eure Spottlust ein und lasst uns aufbrechen.“

Wir wanderten den ganzen Tag über in östlicher Richtung und rasteten oft, was unsere Vorräte erheblich dezimierte. Meine Besorgnis, das Monstrum könnte uns verfolgen, versuchte der Zauberer zu zerstreuen.

„Es scheint, als wäre er an den Ort seiner Tat gebunden und könnte ihn nicht verlassen. Das wäre nicht ungewöhnlich, denn Flüche hängen oft an dem Ort fest, an dem sie entstehen.“

„Glaubt Ihr, er hat seine Gemahlin tatsächlich gefressen?“, fragte ich.

„Das kann ich nicht sagen, aber ich bezweifle es. Ihr Verschwinden ist sicher ein Resultat der unseligen Experimente ihres Gatten. Auch das werden wir aufklären müssen. Vielleicht ist es sogar notwendig, dass wir herausfinden, wo sie abgeblieben ist.“

Am späten Nachmittag stießen wir auf dichtere Baumbestände. Die Grasebene ging allmählich in Wald über. „Vor uns liegt der Wald von Yorn“, sagte der Zauberer. „Er ist ziemlich ausgedehnt. Wir werden Tage brauchen, um ihn zu durchqueren.“

„Was liegt jenseits davon?“

„Nach Osten hin fruchtbare Ländereien, das Hügelland, das ebenfalls Yorn genannt wird. Nach Norden hin liegen Sümpfe und Steppen, die sich bis zu den Bergen am Nordmeer erstrecken. Yorn ist ziemlich dicht besiedelt. Ich hoffe, dort auf einen meiner Kollegen zu treffen.“

„Was ist, wenn die Zauberer alle im Süden sind? Immerhin bewegen wir uns von dort weg.“

„Möglich wär´s. Aber eigentlich meiden wir die großen Städte des Südens. Zauberer werden dort gern in politische Geschäfte verwickelt. Eine Beschwörung hier, eine Intrige dort, man hat nur Ärger damit, denn Feinde macht man sich immer. Trotzdem kann es sein, dass sich Zauberer dort aufhalten, aber irgendwo müssen wir ja anfangen, nach ihnen zu suchen, und wenn wir erst mal einen gefunden haben, wird sich unser Wissen schon verdoppeln.“

Oder verzehnfachen, dachte ich, denn ich hegte den Verdacht, dass sich mein Begleiter nicht gerade am oberen Ende der Rangordnung seiner Kollegen befand. Außerdem beschäftigte mich der Gedanke, was eigentlich für mich bei der ganzen Sache heraussprang. Die Welt retten, na schön, aber wer dankt es einem und in welcher Form?

Als ich den Zauberer fragte, ob wir denn im Erfolgsfall eine Belohnung zu erwarten hätten, schmunzelte er.

üößäüüüßü