Cover

 

Louise Bourbon

Die Sonnenkönigin

Frankreichs vergessene Königin

 

 

Über die Autorin

Louise Bourbon hat französische und deutsche Wurzeln und pendelt bevorzugt zwischen beiden Ländern hin und her.

Ihre Großmutter brachte ihr drei Leidenschaften nahe: die französische Sprache, Geschichte und Literatur. Insbesondere über Geschichte schrieb sie bereits zu Schulzeiten, noch auf einer alten mechanischen Schreibmaschine, ihr Tagebuch führte sie in französischer Sprache.

Regelmäßige Aufenthalte in Frankreich prägen noch heute ihr Leben, und ihr größter Wunsch ist es, dorthin zurückkehren zu können.

20 Jahre der historischen Recherche über das Frankreich des Sonnenkönigs und seiner vergessenen Königin haben genügend Material für mehrere Bücher hervorgebracht.

Bevorzugt erzählt sie die Dinge, die nicht im Geschichtsbuch stehen. Vielleicht sind sie gerade deshalb wahr.

SocialMedia-Accounts und Websiten von Louise Bourbon:

http://versaillessecret.com - dreht sich hauptsächlich um Versailles und seine Geheimnisse

http://lareynesoleil.com - die Seite zum Buch

Facebook: https://www.facebook.com/ReyneSoleil/

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Twitter: www.twitter.com/bourbon_louise

Instagram: www.instagram.com/Louise.bourbon/

Louise Bourbon
Die Sonnenkönigin - Frankreichs vergessene Königin

ISBN Print:

978-3-946376-12-5
ISBN eBooks:
978-3-946376-13-2 (ePub)
978-3-946376-14-9 (mobi)

© 2016 Lysandra Books Verlag (Inh. Nadine Reuter),
Overbeckstraße 39, 01139 Dresden
www.lysandrabooks.de

Coverfoto: © Louise Bourbon; Sonnenmotiv: stock.adobe.com Nr.19504347

Coverdesign/Umschlaggestaltung: Takezo Graphic Dirk Schröck,
www.takezo-design.de

Lektorat: Bücherseele Natalie Röllig, www.lektorat-buecherseele.de

Layout/Satz: Lysandra Books Verlag


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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

 

 

Pour mon soutien, mon mainteneur, mon tout.

Préface

Lieber Leser,

die Geschichte, deren Buch Sie gerade in den Händen halten, ist wahr. Sie ist das Ergebnis von zwanzig Jahren Recherche. Mir ist bewusst, dass das Geschichtsbuch die Geschichte anders erzählt. Doch die langen Jahre des Suchens und Findens lassen mich sagen, dass sich die Geschichte so zugetragen hat, wie sie hier zu lesen ist.

Wenn ich meiner Sache so sicher bin, warum dann ein Roman? Nun, die Antwort ist einfach. Biografien werden meist mit Blick auf die Vergangenheit geschrieben; da die historischen Fakten ja bekannt sind oder bekannt zu sein scheinen, weiß man im wahrsten Sinne des Wortes, wie die Geschichte ausgeht.

Doch die handelnden Personen wussten dies nicht, ihre Entscheidungen beeinflussten aus ihrer Sicht die Zukunft und wurden in der Gegenwart getroffen. Als ich zu schreiben begann, war mein Ziel, die Geschichte des Sonnenkönigs so aufzuzeichnen, wie er sie selbst erlebt haben mag, wie er sie empfunden und gedacht hat.

Doch diese Geschichte erzählt von zwei Personen, und im Laufe der Jahre und des Schreibens geschah es dann, dass die vorgeblich verschollenen Informationen über Louise de La Vallière so faszinierend waren, dass ich den großen König ein Stück habe zurücktreten und Platz machen lassen für seine vergessene Königin. Gerade weil die offiziellen Informationen hier um einiges dürftiger sind als im Falle des Königs, ist es mir besonders wichtig, ihren Lebensweg so aufzuzeichnen, wie sie ihn selbst erlebt und empfunden haben mag. Denn, davon bin ich überzeugt, man darf Geschichte nicht mit den aktuellen Kenntnissen bewerten, sondern mit denen, die die handelnden Personen zu ihrer Zeit hatten.

Entgegen der offiziellen Geschichtsschreibung gehe ich von folgenden Tatsachen aus:

Die Marquise de Montespan war niemals königliche Maîtresse. Das Ganze war ein einstudiertes, von ihr gefordertes Schauspiel.

Die natürlichen Kinder des Königs stammten von Louise de La Vallière. Der Duc du Maine beispielsweise trägt deutlich ihre Gesichtszüge. Da die Geschichte manchmal Humor hat, hinkte er übrigens, wie seine Mutter Louise.

Ein Kind der Montespan aus dieser Zeit wurde von ihr selbst zur Welt gebracht, der Vater ist aber nicht der König.

Die Marquise de Maintenon ist die Erzieherin, niemand sonst.

Der französische König ist Herr über die katholische Kirche in Frankreich und kann Gelübde lösen.

Louis XIV hat ein weiteres Mal geheiratet, und zwar Louise de La Vallière, die durch ihren neuen Namen die gleichen Initialen besitzt wie er. Hinsichtlich der Embleme an verschiedenen Bauwerken ist das von Interesse.

Louise de La Vallière ist Frankreichs vergessene Königin.

 

Ihre

Louise Bourbon

Prologue I

Alles hat seine Stunde1.

 

Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit:

Eine Zeit, geboren zu werden

Und eine Zeit zum Sterben

Eine Zeit zum Pflanzen

Und eine Zeit zum Ernten

Eine Zeit zum Töten

Und eine Zeit zum Heilen

Eine Zeit zum Niederreißen

Und eine Zeit zum Bauen

Eine Zeit zum Weinen

Und eine Zeit zum Lachen

Eine Zeit für die Klage

Und eine Zeit für den Tanz

Eine Zeit zum Steinewerfen

Und eine Zeit, um die Steine einzusammeln

Eine Zeit zum Umarmen

Und eine Zeit, die Umarmung zu lösen

Eine Zeit zum Suchen

Und eine Zeit zum Verlieren

Eine Zeit zum Behalten

Und eine Zeit zum Wegwerfen

Eine Zeit zum Zerreißen

Und eine Zeit zum Zusammennähen

Eine Zeit zum Schweigen

Und eine Zeit zum Reden

Eine Zeit zum Lieben

Und eine Zeit zum Hassen

Eine Zeit für den Krieg

Und eine Zeit für den Frieden.

Wenn jemand etwas tut, welchen Vorteil hat er davon, dass er sich anstrengt?

Ich sah die Arbeit, die Gott den Menschen gegeben hat, dass sie sich damit plagen.

Gott hat das alles zu seiner Zeit auf vollkommene Weise getan.

Überdies hat er die Ewigkeit in alles hineingelegt,

Doch ohne dass der Mensch das Tun, das Gott getan hat,

Von seinem Anfang bis zu seinem Ende wiederfinden könnte.

Alles, was Gott tut, geschieht in Ewigkeit.

Man kann nichts hinzufügen und nichts abschneiden.

Was auch immer geschehen ist,

war schon vorher da,

und was geschehen soll,

ist schon geschehen.

 


1 Die Bibel, Buch Kohelet, 3,1–15, nach der freien Bibel von 1912.

 

 

Prologue II

Ce sont les hommes qui écrivent l’histoire, mais ils ne savent pas l’histoire qu’ils écrivent.

 

Es sind die Menschen, die die Geschichte schreiben, aber sie kennen die Geschichte nicht, die sie schreiben.

Raymond Aron

 

 

Manchmal geschehen Dinge in der Geschichte, Dinge, die solch großes Unrecht sind, dass die Personen, die es betrifft, keine Ruhe finden. Sie kehren zurück, bis die wahre Geschichte erzählt ist und unter das Licht der Sonne gefunden hat.

Eine solche Geschichte ist die vorliegende. Sie ist die Wahrheit, nichts als die Wahrheit. Eine Wahrheit, die, zugedeckt durch die Jahrhunderte, verfälscht, geschnitten, nun an den hellen Tag tritt, erzählt durch Erinnerungen der beiden, denen eben dieses Unrecht widerfahren ist. Es ist eine Geschichte, in der der Hass von der Liebe besiegt und die Schuld von der Vergebung gereinigt wird. Es ist die Geschichte einer Bestimmung.

 

Teil 1

 

1886

 

Oh, il est nécesaire de se construire de tels paradis, de tels lieux de refuges poétiques où l’on puisse oublier, pendant quelques temps, l’époque épouvantable où nous vivions.

 

Es ist notwendig, sich Paradiese zu schaffen, poetische Zufluchtsorte, wo man auf einige Zeit die schauderhafte Zeit, in der wir leben, vergessen kann.

Ludwig II. von Bayern

Kapitel 1

Au jeu d’échecs, ce sont toujours les fous qui se trouvent près du Roy.

Beim Schachspiel sind es immer die Läufer, die sich in der Nähe des Königs befinden2.

Louise de La Vallière

 

 

Starnberger See, 13. Juni 1886

Die beiden Männer gehen am Ufer entlang. Trotz des Junitages ist es zu früher Stunde schon dämmerig. Regen kündigt sich an, ein Sturm.

Der König3 ist blass, eine ungesunde Blässe, fast grau.

»Seid Ihr noch immer überzeugt, dass Ihr das Richtige tut?«, fragt der Mann, der ihn begleitet.

Das Gesicht Ludwigs II. von Bayern wird hart. »Mehr als je zuvor, Herr Doktor

Spöttisch speit er sie aus, die letzten Worte. Er weiß, was sie ihm vorwerfen. Er weiß, dass man ihn loswerden will, ihn, den Unbequemen, dessen Gedankengänge so gar nicht in die neue Zeit passen wollen.

Er weiß, dass sie ihn für verrückt halten oder zumindest so tun. Ein verrückter König ist schließlich leichter zu kontrollieren, nicht wahr? Manchmal fragt er sich, ob es nicht seine Umgebung ist, die wahrlich verrückt ist.

Beim Schachspiel sind es die Verrückten, die in der Nähe des Königs sind. Au jeu d’échecs, ce sont toujours les fous qui sont près du Roy. Er lacht auf. Das Wortspiel amüsiert ihn. Les fous, so heißen im Französischen die Läufer beim Schach. Fou bedeutet aber auch: verrückt.

Der Arzt mustert ihn, will verstohlen nach seinem Notizbüchlein greifen, in dem er alles notiert, was der König tut, was ihn wirr erscheinen lässt. Lachen aus heiterem Himmel gehört dazu. Doch Ludwig II. von Bayern ist stark. Er weiß um seine Aufgabe, und er wird für diese kämpfen, bis zu seinem letzten Atemzug.

»Ja. Ich halte daran fest. Unverrückbar.« Fester umklammert er die Kassette unter seinem Arm.

»Das könnt Ihr nicht tun!« Von Gudden4 schreit es beinahe. Er fasst den König beim Arm. Dieser zuckt zurück. Dabei wird die unter seinem Mantel verborgene Kassette sichtbar.

»Mein Gott«, sagt der Arzt, »Ihr habt sie mit hierhergebracht?«

»Glaubt Ihr«, spuckt ihm der König entgegen, »ich lasse Dokumente von solchem Wert aus den Augen? Ich weiß doch, was man mit mir vorhat.«

»Majestät«, sagt der Arzt begütigend, »man hat gar nichts mit Euch vor. Das ist nur wieder eine Eurer Vorstellungen.«

»Pah«, macht Ludwig II. von Bayern. »Meine Vorstellungen, wie Ihr es nennt, kommen der Realität sehr nahe, mein Lieber. Daher werde ich tun, was meine Aufgabe ist.«

Der König deutet auf die Kassette. »Ich werde sie veröffentlichen. Alle. Es tut not, dass die Welt weiß.«

»Das könnt Ihr nicht tun!« Dieses Mal schreit der Arzt tatsächlich. »Wisst Ihr denn nicht, wie instabil das Gleichgewicht in Europa geworden ist? Deutschland ist in den Händen der Preußen. Frankreich ist wieder einmal Republik. Die Monarchie in Spanien wankt erneut. Man weiß noch nicht einmal genau, wer der Vater des spanischen Königs Alfonso XII5 ist!«

Der bayrische König lacht auf. Schon wieder ein Bourbone, der vermeintlich nicht königlicher Abstammung ist, zumindest nicht vonseiten des Vaters. Die Geschichte hat Sinn für Humor.

»All das wisst Ihr selbst, Majestät!«, fährt der Arzt fort. »Was wollt Ihr erreichen, indem Ihr Eure Funde der Welt präsentiert? Für die Gegner der spanischen Monarchie produziert Ihr Wasser auf deren Mühlen. Es wird keine Monarchie in Frankreich mehr geben. Die spanische gefährdet Ihr mit Eurem Tun! Also, Majestät, was treibt Euch an?«

»Gerechtigkeit«, sagt der König hart. »König Louis und Königin Louise haben lange genug gelitten. Ich will, dass die Welt weiß. Ich will, dass insbesondere die Königin ihren Platz erhält. Ich will, dass Frankreich von seiner vergessenen Königin erfährt. Von der liebenden Ehefrau. Von der Mutter, der man ihre Kinder nahm. Ich will, dass die Welt von einer Liebe hört, die größer ist als alle Beispiele der Literatur. König Louis ist einen steinigen Weg gegangen, um seine Frau an ihren Platz zu stellen. Ich werde einen steinigen Weg gehen, um die Geschehnisse zu bewahren; sie zugänglich zu machen.«

Der Arzt schnaubt. »Was seid Ihr doch für ein Idealist! Majestät, so begreift doch: Die Welt ist kein Märchen! Was kümmert Euch die Geschichte einer Frau, die vor mehr als einhundertfünfzig Jahren verstorben ist? Was kümmert Euch ein französischer König, der so tot ist wie die Monarchie in Frankreich?«

»Schweigt«, unterbricht der König barsch, »ich dulde nicht, dass Ihr so über die beiden sprecht. Solange man ihr Erbe bewahrt, ihrer gedenkt, sind sie nicht tot. Zudem äußert Ihr Euch da über meine Familie, mein Teurer.«

Der Arzt pfeift durch die Zähne. »Weil Euer Großvater6 Patenkind des unglücklichen Königs Louis XVI7 war? Majestät, das sind alles keine Gründe!«

»Ich denke doch«, erwidert der König entschlossen. »Das sind sehr gute Gründe. Ich bin geboren am Todestag von Saint Louis8. Ich bin mit den Bourbonen verwandt. Mir sind sie zugänglich gemacht worden, diese verschollenen Dokumente. Von anderen, die es noch gibt, hat man mir lediglich berichtet, ich habe sie nicht gesehen. Aber ich weiß, dass es sie gibt. Doch, mein Lieber, all das sind sehr gute Gründe. Bessere als das Bewahren eines Europa, das ohnehin in den letzten Zügen liegt.« Der Blick des Königs schweift über den See. »Europa wandelt sich«, sagt er leise, »da habt Ihr recht. Aber nicht zum Guten, mein Lieber, nicht zum Guten.«

»Ihr seid hoffnungslos in einer Zeit gefangen, die längst nicht mehr existiert!«, ereifert sich der Arzt.

Der König richtet den Blick auf sein Gegenüber. »Mein Lieber, wenn Ehre und Ehrenhaftigkeit keine Rolle mehr spielen, dann habt Ihr recht. Wenn Wahrheit nicht mehr zählt, habt Ihr recht. Dann, mein Lieber, bin ich gern aus einer vergangenen Zeit. Es ist meine Aufgabe, diese Dokumente der Welt zugänglich zu machen. Es ist meine Verpflichtung. Ich werde alles tun, ihr gerecht zu werden.«

Das Gesicht des Arztes verrät nichts. »Dann, Majestät«, er tritt auf den König zu, »bleibt mir keine andere Wahl. Ich muss Euch zurückhalten. Mit allen Mitteln.«

 


2 Französisches Wortspiel: le fou ist der Läufer beim Schachspiel, aber auch der Verrückte.

3 Ludwig II. (1845–1886), König von Bayern, siehe Personenverzeichnis.

4 Johann Bernhard Aloys Ritter von Gudden (1824–1886), siehe Personenverzeichnis.

5 Alfonso XII (1857–1885), spanischer König, siehe Personenverzeichnis.

6 Ludwig I. (1786–1868), König von Bayern, siehe Personenverzeichnis.

7 Louis Auguste (1754–1793), als Louis XVI ab 1774 Roy de France et de Navarre, König von Frankreich und Navarra, siehe Personenverzeichnis.

8 Saint Louis, Ludwig der Heilige (1214–1270), ab 1226 als Louis IX König von Frankreich, Dynastie Capet. Sein Namenstag ist der 25. August, der auch als sein Todestag gilt.

 

Kapitel 2

Le premier précepte d’un Roy, c’est de savoir supporter la haine.

Die erste Lehre für einen König: wissen, wie man Hass erträgt.

Seneca

 

Ludwig II. von Bayern, 13. Juni 1886

Was habe ich getan? Das werde ich erklären müssen, wenn ich es noch kann. Ich umklammere die Kassette fester. Nicht mehr weit vom rettenden Ufer entfernt. Ich vermeide den Blick in die Richtung des treibenden Leibes. Flucht. Das Einzige, was mir noch bleibt. Flucht. Doch wie? Und wohin? Ich sehe zum Strand. Er scheint mir weiter entfernt zu sein, nicht näher.

Ich verdoppele meine Anstrengungen. Plötzlich durchzuckt mich ein brennender Schmerz. Ich will mein Herz halten, doch dann müsste ich sie loslassen, die Truhe, diese so kostbare Truhe. Ich darf es nicht.

Dieser Schmerz, noch einmal, er lässt mich nicht aus seinen Fängen. Ein Ring legt sich um meine Brust.

Heinrich, der Wagen bricht. Nein, Herr, der Wagen nicht, es ist ein Band von meinem Herzen, das da lag in großen Schmerzen ...9

Auch mein Herz liegt in Schmerzen. Ich gebe der Natur nach, lasse die Kassette los. Sie versinkt in den Fluten des Starnberger Sees. Gott sei Dank ist sie dicht verschlossen.

Das Ufer, ich muss das Ufer erreichen. Meine Brust fühlt sich an wie in einem Schraubstock. Keine Kraft. Ich habe keine Kraft mehr. Plötzlich überkommt mich tiefe Ruhe. Ich drehe mich auf den Rücken, lasse mich treiben im aufgewühlten Wasser. Der Regen klatscht mir ins Gesicht und vermischt sich mit meinen Tränen. Habe ich versagt? Ich weiß es nicht.

Ich denke an das Versteck. Die Dokumente in der Truhe? Kopien. Die Originale? Verborgen unter den Böden von Herrenchiemsee, Hommage an Roy Louis XIV le Grand10 et son épouse Louise. Sa Reyne Louise11. Seine Königin.

Ich muss vertrauen auf den Lauf der Welt. Eines Tages werden Menschen kommen, welche die Zeichen verstehen. Eines Tages werden Menschen die Botschaft von Herrenchiemsee lesen. Man wird sie finden, die Dokumente, die ich nicht mehr zeigen kann. Dann endlich wird die Welt verstehen und sie kennen, die wahre Geschichte des Sonnenkönigs und seiner Königin.

Ich gebe meinen Geist in Gottes Hand.

 


9 Zitat aus »Der Froschkönig« oder »Der eiserne Heinrich«, ein Märchen, in dem es primär um den Gedanken der Treue geht, aus den »Kinder- und Hausmärchen« der Gebrüder Grimm, Berlin 1825 bzw. 1843 mit angepasster Rechtschreibung

10 Louis XIV (1638–1715) dit le Grand, seit 1643 Roy de France et de Navarre, König von Frankreich und Navarra, siehe Personenverzeichnis.

11 Louise de La Vallière, fut. de Bourbon (1644–1714), zweite Ehefrau des Königs Louis XIV, siehe Personenverzeichnis.

 

Kapitel 3

La vérité attend. Seul le mensonge est pressé.

Die Wahrheit kann warten. Nur die Lüge hat es eilig.

Alexandru Vlahuta

 

 

München, Juni 1886

Am Pfingstsonntag, dem 13. Juni 1886, findet man den entseelten Leib des Königs Ludwig II. von Bayern im seichten Wasser des Starnberger Sees. Sein Psychiater, Bernhard von Gudden, wird ebenfalls tot geborgen.

Am 15. Juni 1886 erfolgt die pathologische Untersuchung des königlichen Körpers in der Residenz zu München. Der Leibarzt des Königs, Dr. Max Joseph Schleiß von Löwenfeld12, ist nicht von einer Geisteskrankheit Ludwigs II. überzeugt. Dennoch wird offiziell die Verrücktheit des Königs bestätigt. Die Ergebnisse der Autopsie sind bis heute nicht vollumfänglich der Öffentlichkeit zugänglich.

 


12 Dr. Max Joseph Schleiß von Löwenfeld (1809–1897), siehe Personenverzeichnis.

 

 

Teil 2

1714 – 1739

 

Ayez une cassette pour mettre ce que vous aurez de particulier, dont vous aurez seul la clé.

 

Habet eine Kassette, in der Ihr alles einschließt, was Ihr für bedeutsam erachtet, und zu der Ihr allein den Schlüssel besitzt.

 

Louis XIV,
Instructions au Duc d’Anjou13

 


13 Anmerkungen am Ende in den »Erläuterungen zum Text«.

Kapitel 4

L’Esprit fait durer l’heure pendant les siècles et fait que l’Âge du monde se résume à une heure.

Der Geist erweitert die Stunde zum Jahrhundert und zieht ein Weltalter in eine Stunde zusammen.

Ralph Waldo Emerson

 

Marie Anne14, 1739

Alles geht zu Ende. Ich bin die letzte Hinterbliebene; die letzte, von der man weiß, will ich sagen. Ich werde bald sterben, ich spüre es. Ich muss meine Angelegenheiten regeln. In diesem Zusammenhang habe ich sie wieder hervorgeholt – die gemeinsamen Aufzeichnungen, Notizen, Berichte, Briefe meines Vaters und meiner Mutter.

Ich habe wahrhaft illustre Eltern: Mein Vater ist der verblichene König von Frankreich und Navarra, meine Mutter die verstorbene Madame de La Vallière, wie man sie mittlerweile wieder nennt – noch nicht einmal ihren Namen hat man ihr gelassen, geschweige denn ihren Titel – und ich, ich bin ein Bastard. Ein königlicher Bastard zwar, aber immer noch ein Bastard. Was zählt, ist meine uneheliche Geburt, nicht, wie meine Eltern zueinander standen. Man glaube mir, die Welt vergisst nie. Sie verzeiht, aber sie vergisst nie. Viele Dinge werden Königen vergeben, solange sie am Leben sind, und manche noch nicht einmal dann. Die Erben bezahlen für die Sünden ihrer Eltern – für gewöhnlich. Meine Eltern bezahlten bereits zu ihren Lebzeiten.

Die Truhe befindet sich auf meinen Knien. Ich lese, wahllos. Die Worte verschwimmen vor meinen Augen. Ich betrachte die Handschriften, die mir so bekannt sind, die großen geschwungenen Lettern meiner Mutter, sehr fein, sehr weiblich, die markanten Schriftzüge meines Vaters. Ich weine. Erinnerungen, lange aus meinem Kopf verdrängt, kommen unaufhaltsam an die Oberfläche.

Die Zeiten haben sich geändert.

Ich lebe zurückgezogen, weg von diesem Hof, der sich seit dem Tod meines Vaters so sehr verändert hat, dass dort meines Bleibens nicht mehr war. Diese schwarze Sonne, die wir nun unseren König nennen, mag nicht über meinen Vater sprechen, und eine Person wie ich ist persona non grata, wie man so schön sagt – alle Bastarde des verstorbenen Königs sind eine permanente Beleidigung für unseren neuen Herrn. Mehr noch aber die Kinder, die ehelich sind.

Ich habe viel Zeit, seitdem ich mich zurückgezogen habe. Zeit, um meine eigenen Aufzeichnungen zu beenden, die beinhalten, was ich noch weiß, was ich erlebt habe.

Was soll ich tun? Diese Dokumente, die meiner Eltern, meine eigenen, sie sind der größte Wert in meinem Leben. Ich kann nicht erlauben, dass sie in falsche Hände fallen. Mein Erbe, dieser Karrierist? Niemals! Louis César de La Baume Le Blanc15, Großneffe meiner Mutter und damit ein entfernter Cousin von mir, wird meine Hinterlassenschaften bekommen.

Er, der sich lieber Duc de Vaujours16 nennt, weil der Name de La Vallière Unmut beim neuen König auslöst, wird meinen Nachlass nicht bewahren, ich weiß es. Diesem Nutznießer ist es gelungen, sich beim König zu etablieren. Sein Fortkommen hat er im Kopf und das seiner Familie. Der Inhalt dieser Truhe auf meinen Knien ist das größte Erbe meiner Eltern, mehr noch das Zeugnis einer großen Liebe. Er gibt auch Zeugnis einer wahren Geschichte, die in Vergessenheit geraten wird, wenn sie niemand behütet. Ich habe den Inhalt vor den Händen des Herzogs17 bewahrt, er hätte alles zerstört. Ich habe sie vor den Händen des neuen Königs bewahrt. Dies dem Duc de Vaujours überlassen? Niemals. Er würde alles ruinieren. Und nun? Wem vertraue ich sie an?

Als ich noch ein Kind war, fiel es mir schwer, zu verstehen, dass zwar mein Vater der König von Frankreich war, meine Mutter aber nicht die Königin. Meine Mutter – diejenigen, die noch am Leben sind und sich ihrer erinnern, kannten sie zeitweilig unter dem Namen Louise de la Miséricorde, wie man sie nannte, als sie der Welt entsagte und sich in einen Konvent zurückzog.

Unter dem Namen Louise de La Vallière geboren, war sie eine Zeit lang die bekannteste gefallene Frau Frankreichs. Sie war aber auch die, deren Geschichte ein großes Wunder ist. Ein einfaches Mädchen von kleinem Adel aus der Provinz wird Königin. Doch bis dahin war es ein weiter Weg.

Sie war es, die das alles ertragen musste, den Schimpf, die Schande. Sie, nicht mein Vater, der unangreifbar war, sacro-sainct, auf dem Zenit seiner Macht. Diejenigen, die sie als die Frau kennen, die sie wirklich war, sind tot und haben eine unglaubliche Geschichte mit ins Grab genommen.

Ich weine erneut. Bei Gott, ist dies alles, was von ihr geblieben ist? Von der gefallenen Frau zur Büßerin, schrieb diese Klatschbase, die Marquise de Sévigné18, einmal. Zu meiner Trauer gesellt sich Zorn. Diese Menschen, die nichts wissen und nichts wussten, schwätzen nach ihrem Gutdünken.

In Wahrheit ist meine Mutter die einzige Frau, die mein Vater jemals liebte – so sehr, dass er Dinge tat, die man ihm nicht vergibt.

Die offizielle Geschichtsschreibung erzählt von vielen Begeben­heiten und verschweigt noch einige mehr. Nur wenn man denjenigen lauscht, die sie wirklich erfahren haben, wird man die Wahrheit erkennen. Um die Geschichte zu verstehen, muss man über die Anfänge im Bilde sein.

Hier ist sie nun also: die gemeinsame Geschichte meiner Eltern – die wahre Geschichte über all das, was wirklich geschehen ist. Und die wahre Geschichte meiner Mutter, die so viel mehr war als eine gefallene Frau oder Büßerin. Die wahre Geschichte der Sonne des Königs. Die wahre Geschichte der Reyne Soleil, der Sonnenkönigin.

Ich atme tief. Ich nehme die ersten Seiten zur Hand.

 


14 Marie Anne de Bourbon (1666–1739), Princesse de Conti, siehe Personenverzeichnis.

15 Louis César de La Baume Le Blanc (1708–1780), siehe Personenverzeichnis.

16 Anmerkungen am Ende in den »Erläuterungen zum Text«.

17 Philippe Duc d’Orléans (1674–1723), Regent für den minderjährigen Louis XV, siehe Personenverzeichnis. Er war daran beteiligt, die Geschichte umzuschreiben.

18 Marie de Rabutin-Chantal, Marquise de Sévigné (1626–1696), siehe Personenverzeichnis. Zu ihrer Rolle siehe Finis III – Postface.

 

Kapitel 5

Rappelle-toi que l’avenir n’est ni à nous ni pourtant tout à fait hors de nos prises, de telle sorte que nous ne devons ni compter sur lui comme s’il devait sûrement arriver, ni nous interdire toute espérance, comme s’il était sûr qu’il dût ne pas être.

Wir dürfen nie vergessen, dass die Zukunft zwar gewiss nicht in unsere Hand gegeben ist, dass sie aber ebenso gewiss doch auch nicht ganz außerhalb unserer Macht steht.

Epikur

 

 

Briefe, drei Jahre zuvor

Sceaux, Mai 1736

Madame,

Erlaubt mir, dass ich mich mit diesem Brief an Euch wende. Ich habe lange Zeit das Schweigen bewahrt über eine Sache, die Euch ebenso betrifft wie mich. Ich spreche von unserem Erbe, Madame.

Gestattet zunächst, dass ich Euch meinen Namen in Erinnerung rufe, der lange Zeit in Vergessenheit geraten ist. Ich bin es, Louis Auguste Duc du Maine19, der Euch schreibt, meine Schwester. Ja, meine Schwester, meine teure Schwester. Ich weiß es, Madame, ich weiß alles.

Ich weiß sehr genau, wer mein Vater ist, das ist ja bekannt, aber noch wichtiger; ich weiß, wer meine Mutter ist, meine wahre Mutter. Ihr und ich, wir teilen nicht nur dasselbe Schicksal, sondern auch dieselben Eltern. Ich glaube, dass auch Ihr es wisst, doch wagt Ihr noch, es auszusprechen?

Ich weiß, Madame, dass nicht diese Teufelin in Menschengestalt meine Mutter war, diese Pest, deren Namen ich bis heute nicht aussprechen kann. Lasst uns von Madame la Marquise sprechen, ein Titel, der sie nie befriedigte. Ihr keine weiteren Ehren, keine Titel zuzugestehen, war eine der kleinen Freuden, eine der kleinen Rachefeldzüge meines Vaters. Diese Frau, Madame meine Schwester, war nicht meine Mutter. Es ist die Eure; wir beide und einige andere wissen dies noch.

Madame, meine Vorahnungen sagen mir, dass Ihr die wahre Geschichte bewahrt, Ihr ebenso wie ich. Ihr habt nie vergessen, wer sie wirklich war – sie, unsere Mutter. Unter dem Namen Louise de La Vallière geboren, ist sie die zweite Frau unseres Vaters, war Königin, ein Titel, den sie sich zu führen sträubte.

»Ich bin nicht würdig, einen Titel solchen Werts zu tragen«, sagte sie.

Mein Vater, wenn er es denn hörte, geriet stets in Zorn. »Ihr weist ein Geschenk zurück, das ich Euch gab, Madame. Ihr weist die Ehren zurück, derer ich Euch würdig schätze«, entgegnete er.

Unsere Mutter, sanfter zwar, aber bisweilen ebenso dickköpfig wie er, ließ sich davon nicht beirren. »Sei es, wie es sei«, sagte sie, »noch bleibt es mir überlassen, welchen Namen ich trage – oder welchen Titel.«

Unter Tränen muss ich lachen. Diese sanfte Frau wagte es als Einzige, den Löwen zu zähmen. Unvergessen, wie sie die Lippen kräuselte, wenn ihr etwas missfiel, sich umdrehte, unserem Vater den Rücken zukehrend, und den Saal verließ, wenn sie nichts mehr sagen wollte. Oft genug ließ sie ihn in völliger Verblüffung zurück.

Wie dem auch sei, Madame, nicht ein einziges der Kinder meiner vorgeblichen Mutter ist auch das Kind unseres Vaters. Fragt denn niemand nach dem Grund, warum der König uns als seine Kinder anerkannte, ohne aber den Namen der Mutter zu nennen? Nicht viele von uns sind mehr am Leben, Madame, und wir Überlebenden haben keine Bedeutung mehr.

Madame, ich trage eine große Schuld – ich bewahrte Stillschweigen, wie die anderen, wie unsere übrigen Schwestern20, die noch am Leben sind. Bei ihnen bin ich noch nicht einmal sicher: Wissen sie es? Wir Kinder haben untereinander nie gesprochen, Madame, lediglich wir beide ab und an. Das war falsch, das hätten wir tun sollen. Marie Anne, ma bien-aimée soeur, wo sind die Dokumente, die Beweise für diese unglaubliche Geschichte?

Ich will nicht, ich kann nicht glauben, dass unser »Cousin«, der regierende König21, alles vernichtet hat. Ma soeur, diese Geschichte ist es wert, bewahrt zu werden. Ich bitte Euch, Marie Anne, ich flehe Euch an, erzählt. Schreibt auf, was Ihr noch wisst, ich werde Gleiches tun. Offenbart die Dokumente.

Ma chère, ich liebte sie, unsere Mutter, diese so sanfte, so liebevolle, so zartfühlende Frau. Sie verdient es nicht, in der Vergessenheit zu versinken. Die Geschichte ist ein großer Witzbold, nicht wahr? Wisst Ihr, erinnert Ihr Euch noch, dass ich als Kind hinkte? Man nannte mich Hinkebein. Welche Ironie! Hinkend wie meine Mutter. Glaubend wie meine Mutter. Belesen wie meine Mutter.

Meine teure Schwester, ich will, dass die Welt weiß. Ich habe nicht die Mittel und die Zeit. Aber Ihr, Ihr habt sie, ich weiß es. Erzählt, meine Schwester. Für uns. Für unsere Mutter. Für den Frieden unseres Vaters.

Euer Diener, Madame.

 

 

 

Château de Choisy-le-Roy, Mai 1736

Mein teurer Bruder,

Glücklich bin ich, Euch zu Diensten zu sein. Euer Wunsch ist auch der meine. Ich tue, was in meinen Mächten steht.

Marie Anne, votre soeur

 


19 Louis Auguste de Bourbon (1670–1736), Duc du Maine, siehe Personenverzeichnis.

20 Louise Françoise de Bourbon (1673–1743) und Marie Françoise de Bourbon (1677–1749), gemeinsame Kinder des Königs Louis XIV und der Louise de La Vallière, siehe Personenverzeichnis.

21 Louis XV (1710–1774), König von Frankreich und Navarra, siehe Personenverzeichnis

 

 

Kapitel 6

Voici mon secret. Il est trop simple: On ne voit bien qu’avec le coeur. L’essentiel est invisible pour les yeux.

Hier mein Geheimnis. Es ist ganz einfach: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.

Antoine de Saint-Exupéry

 

 

Marie Anne erfährt von den Briefen

Aus den Aufzeichnungen der Marie Anne de Bourbon

Château de Versailles, August 1715

 

Der König und ich sind allein.

»Nimm sie, Marie Anne, ich bitte dich!«

Meine Augen schauen auf eine Kassette, eine Dokumententruhe offenbar. Sie ist verschlossen. Ich starre meinen Vater an, verblüfft.

»Sie enthält deine eigene Geschichte, Marie Anne.«

Stumm nicke ich Zustimmung. Keine Zeit für Fragen. Er ist schwach.

»Und der Schlüssel?«

Er löst ein Band, das er um den Hals getragen hat, unter der Halsbinde verborgen. Er löst den Schlüssel ab, reicht ihn mir.

»Öffne sie.«

Er ist schwach, aber seine Stimme ist volltönend wie immer. Seine Augen starren mich an, zeigen mehr Lebhaftigkeit als in den letzten Tagen. Ich sehe ihn an, nehme den Schlüssel aus seinen zitternden Händen.

Plötzlich fürchte ich mich. Was werde ich finden?

»Schnell«, insistiert er. »Wir haben nicht viel Zeit.«

Ich öffne die Truhe. Papiere, Dutzende von Papieren. Ich erkenne die Handschrift auf dem obersten. Es ist die seine.

»Mein Vater?«, frage ich.

»Es ist beendet«, murmelt er. »Es ist mir gelungen, merci de Dieu. Es ist …«

Er weint. Es macht mir Angst. Seine Augen sind vor langer Zeit ausgetrocknet.

»Dies ist die Geschichte deiner Mutter – und die meine. Erinnerst du dich, Marie Anne? Du gabst mir ihre Aufzeichnungen, nach ihrem Tod. Dies sind die ihren, ergänzt um die meinen. Marie Anne, in den Nächten, die wir allein verbrachten, versunken in unsere Trauer, habe ich sie dir erzählt, die Geschichte.« Er wirkt unruhig. »Aber es gab nichts Geschriebenes aus meiner Hand. Ich habe es beendet, Marie Anne, ich habe alles schriftlich niedergelegt, die Geschichte deiner Mutter und die meine. Jetzt ist es vollendet. Alles steht auf Papier. Ich muss gehen, Marie Anne. Bald.«

Ich breche ebenfalls in Tränen aus.

»Es ist an der Zeit. Ich bin müde, meine geliebte Tochter, seit langer Zeit bereits, und ich habe genug. Ich habe meine Aufgabe erfüllt. Es verbleibt mir nur noch ein einziger letzter Wunsch: mit deiner Mutter vereint zu werden. Sie fehlt mir so sehr, Marie Anne.«

Er weint noch immer. Richtet sich auf, mühsam, seine Hand umfasst meinen Arm.

»Sie hat viel erlitten durch mich, aber du musst mir glauben – sie war die einzige Frau, die ich jemals liebte. Und ich liebe sie noch immer, Marie Anne.«

Er sieht mir in die Augen.

»Hüte diese Papiere, Marie Anne. Bewahre sie. Und eines Tages, wenn die Zeit gekommen ist, lasse die Welt wissen, was wirklich geschehen ist. Die Wahrheit.«

Ich bin übermannt von Trauer.

»Adieu, Marie Anne, meine über alles geliebte Tochter. Du musst nun selbst auf dich aufpassen, ich werde es nicht mehr tun können. Die Zeiten werden sich ändern, ich weiß es. Vergiss niemals, was ich dir am heutigen Tage übergeben habe.«

Er sinkt in die Kissen zurück, schließt für einen kurzen Moment die Augen, sieht mich wieder an, eindringlich.

»Dem Herrn sei gedankt für dich, Marie Anne. Du bist das schönste Geschenk, das mir deine Mutter gemacht hat.«

 

Kapitel 7

Il est sans comparaison plus facile de faire ce qu’on est que d’imiter ce qu’on est pas.

Es ist ohne Zweifel um vieles leichter, zu sein, was man ist, als darzustellen, was man nicht ist.

Louis XIV

 

Wie Louis Auguste Duc du Maine von den Aufzeichnungen erfährt

Château de Versailles, August 1715, durch den Duc du Maine erzählt

 

Mein Gott, er ist schwach. Wer ist dieser schwache und kranke Mann in dem Bett, das viel zu groß für ihn scheint? Das Leben weicht aus ihm, das ist offensichtlich. Schläft er? Ich nähere mich ihm leise.

»Mon père?«

Er richtet sich mühselig auf. »Louis Auguste. Mein Sohn. Du bist gekommen.«

»Ich bin gekommen, Vater.«

»Ich habe Angst, Louis Auguste.«

Ich bin starr vor Schreck. Mein Vater, immer so stark, so furchtlos, hat Angst.

»Louis Auguste, ich muss gehen. Bald. Ich habe alles getan, was ich konnte, aber ist dies genug? Wenn ich doch die Geschichte korrigieren, meine Handlungen berichtigen könnte! Ich wollte die Krone bewahren, und was tat ich tatsächlich? Die Krone ist in Gefahr, Louis Auguste.«

Ich verstehe nichts. Er macht mir Angst. Er scheint mir verwirrt.

»Nein, Louis Auguste, ich habe nicht den Verstand verloren«, fährt er mich an.

Für einen Moment sind seine Augen wieder lebendig, seine Stimme kräftig.

»Höre gut zu, mein Sohn, wir haben nicht viel Zeit.« Er atmet tief. »Es gibt wenig Glück für die Bourbonen, Louis. Das Unheil zeigt sich stets. Mein Großvater22, ha!«, er lacht sarkastisch auf, »ermordet. Mein Vater«, er lacht erneut, »Louis XIII23, an seinem Unglück zugrunde gegangen, mich als Kindkönig zurücklassend. Meine Mutter24 brauchte ihn nicht, für nichts, also ging er, und sie zeigte, dass sie ihn tatsächlich nicht brauchte. Mich brauchte sie, ich war der Schlüssel zu ihrer Macht, aber liebte sie mich?«

Er fasst mich am Arm, starrt mich an.

»Nein, Louis Auguste, sie liebte mich nicht. Sie liebte den Titel, den ich trug, sie liebte es, Mutter des regierenden Königs zu sein, Regentin, aber mich? Mich liebte sie nicht. Viel lieber als mich hätte sie Philippe25 auf dem Thron gesehen, den ewig lachenden, fröhlichen Jungen, nicht mich, den stillen, nachdenklichen Eigenbrötler. Ja, so nannte sie mich. Eigenbrötler, sprichst du nicht? Wenn es nicht so ironisch wäre, könnte man sagen, du wärst debil wie dein Vater.«

Tränen verklären seinen Blick. Die Erinnerung schmerzt ihn noch immer. Ich verharre, stumm, gelähmt von dem, was ich da höre. Die große Anne d’Autriche, deren Andenken bis zum heutigen Tag bewahrt wird – alles Schein? Was ist echt? Er ist versunken in seiner Beichte. Lächelt ein trauriges Lächeln.

»Die wahre Ironie ist, dass er mich liebte. Meinen Vater meine ich, den König. Sooft er konnte, entzog er mich des Einflusses meiner Mutter. Er war es, der mir Versailles zeigte, dieses einstige Prunkstück, das ich entweiht habe durch das, was es jetzt ist. Ihm zu Ehren ließ ich es herrichten. Zu Ehren deiner Mutter ließ ich es aufbauen.«

»Meiner Mutter?«

»Louis Auguste, ich bitte dich. Ich weiß, dass du es weißt. Wir sprachen darüber, einmal, vor langer Zeit. Du weißt, wer deine Mutter ist.«

»Es ist ungewohnt, es auszusprechen. Ja, ich weiß es. Und ich bewahre es in meinem Herzen. Ich bewahre sie in meinem Herzen.«

Mein Vater lächelt, diesmal echt, versunken in seiner Erinnerung. Für einen Augenblick sehe ich den jungen Mann, der er damals gewesen ist.

»Louise, mein Engel, meine Einzige.« Er sieht mir ins Gesicht, fasst mich am Arm. »Louis Auguste, mein Sohn, ich liebte sie. Ich liebe sie noch. Sie ist das größte Wunder, das mir je geschah, denn sie liebte mich.« Er lacht unter Tränen. »Mich, Louis Auguste, mich selbst. Keinen Titel, keine Figur, keinen Schauspieler auf dieser Bühne namens Versailles. Mich selbst liebte sie, mein Sohn, mein wahres Selbst. Welch ein Glück mir beschieden war, von einer solchen Frau geliebt zu werden, und wie dankte ich es?«

»Ihr tatet, was Ihr tun musstet, Vater. Ich bin sicher, sie verstand.«

»Sie verstand, ja. Aber vergab sie mir auch? Louis, mein Sohn, mein einziger ehelicher Sohn aus meiner ersten Verbindung, er ist tot. Meine Enkel, außer dem König von Spanien26, sind tot, und er kann die Krone Frankreichs nicht erben. Wer bleibt mir? Mein Urenkel, ein kleiner Junge, nicht fähig, seiner Aufgabe gewachsen zu sein.« Er atmet erneut tief. Was will er mir sagen? »Louis Auguste, ich habe mein Testament geändert – zu deinen Gunsten. Du sollst mir folgen, Louis.«

Ich fahre auf, vor Schreck, vor Staunen.

»Pardon? Ich verstehe nicht.«