DIE NEUEN FÄLLE DES MEISTERDETEKTIVS
SHERLOCK HOLMES
In dieser Reihe bisher erschienen:
3001 – Sherlock Holmes und die Zeitmaschine von Ralph E. Vaughan
3002 – Sherlock Holmes und die Moriarty-Lüge von J. J. Preyer
3003 – Sherlock Holmes und die geheimnisvolle Wand von Ronald M. Hahn
3004 – Sherlock Holmes und der Werwolf von Klaus-Peter Walter
3005 – Sherlock Holmes und der Teufel von St. James von J. J. Preyer
3006 – Dr. Watson von Michael Hardwick
3007 – Sherlock Holmes und die Drachenlady von Klaus-Peter Walter
3008 – Sherlock Holmes jagt Hieronymus Bosch von Martin Barkawitz
3009 – Sherlock Holmes und sein schwierigster Fall von Gary Lovisi
3010 – Sherlock Holmes und der Hund der Rache von Michael Hardwick
3011 – Sherlock Holmes und die indische Kette von Michael Buttler
3012 – Sherlock Holmes und der Fluch der Titanic von J. J. Preyer
3013 – Sherlock Holmes und das Freimaurerkomplott von J. J. Preyer
3014 – Sherlock Holmes im Auftrag der Krone von G. G. Grandt
3015 – Sherlock Holmes und die Diamanten der Prinzessin von E. C. Watson
3016 – Sherlock Holmes und die Geheimnisse von Blackwood Castle von E. C. Watson
3017 – Sherlock Holmes und der Wiedergänger von William Meikle
3018 – Sherlock Holmes und die Kaiserattentate von G. G. Grandt
3019 – Sherlock Holmes und die Farben des Verbrechens von Rolf Krohn
Rolf Krohn
SHERLOCK HOLMES
und die Farben des Verbrechens
Erzählungen
Basierend auf den Charakteren von
Sir Arthur Conan Doyle
© 2017 BLITZ-Verlag
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Lektorat: Dr. Richard Werner
Satz: Winfried Brand
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-95719-218-9
„Vielleicht haben Sie von den bemerkenswerten Forschungsergebnissen eines Norwegers mit Namen Sigerson gehört, aber ich bin sicher, Sie sind nie auf die Idee gekommen, dass Sie auf dem Wege Nachricht von Ihrem Freund erhielten.“
Arthur Conan Doyle
Das blaue Licht
Der rote Edelstein
Der grüne Dunst
Der gelbe Tropfen
Crossburgh, am 7. September 1904
Lieber Sherlock Holmes,
es ist nun drei Jahre her, dass wir uns zuletzt sahen. Sie hatten damals in unserer Gegend nach Spuren eines Giftmörders namens Carrington gesucht und bei mir vorgesprochen. Doch da Ihr getreuer Chronist Doktor Watson bisher nichts über den Fall veröffentlicht hat, sind mir alle Hintergründe bis heute unbekannt. Ich möchte nicht abermals Jahre warten, bis uns wieder eine Ihrer Recherchen zusammenführt. Andererseits verbietet mir meine neuerdings schlechte Gesundheit, nach London zu reisen, um in der Baker Street anzuklopfen.
Indirekt geht es darum: Als Doktor Creighton vor drei Wochen die Geschwulst an meinem Oberarm mit einer neuen Tinktur behandelte, sprachen wir von diesem und jenem und von den guten Zeiten Queen Victorias. Auch von jenen Tagen. Sie wissen, dass er damals auch Sie verarztet hat. Speziell darüber hätte er natürlich nicht das Mindeste sagen dürfen. Aber Sie werden gleich einsehen, dass dieser Bruch der Schweigepflicht zu Ihrem Besten sein wird. Ich glaube es jedenfalls … Immerhin könnte es auch Ihr Verderben bedeuten. Aber das müssen Sie selbst beurteilen, entscheiden und verantworten.
Sie würden, das weiß ich, telegrafieren. Was Sie erfahren sollen, drängt aber einerseits nicht dermaßen, dass jeder Tag zählte, und es ist schlicht zu viel für ein Telegramm. Sie verstehen, ein Bankdirektor gehorcht auch in solchem Zusammenhang der Ökonomie.
Ich beschloss, Ihnen zu schreiben. Der Brief ist lang, weil ich ausholen muss, vielleicht aber immer noch nicht ausführlich genug. Sie haben im Trubel Ihrer vielen Aufträge sicher viele Details jenes Ereignisses vergessen, anders als ich. Meine Frau riet mir, deshalb und der Objektivität wegen die Dinge ganz neutral zu beschreiben. Ich folgte wie meist ihrem Rat. Beim Stil orientierte ich mich an Doktor Watsons Berichten, auch wenn ich Ihren Freund weder erreichen kann noch will. Ich hoffe, alles kommt klar heraus. Am besten wäre ohnehin, Sie suchten mich auf und erfragten all das, was niederzuschreiben ich vergaß.
*
„Es ist gleich Mittag.“
„In präzise sechs Minuten.“ Die Antwort erfolgte rasch, und obgleich mein Begleiter überhaupt nicht auf die Uhr geschaut hatte, war mir sein phänomenaler Zeitsinn doch durch mehrere Demonstrationen so vertraut, dass ich nicht zweifelte. An der Uhrzeit lag mir ohnehin nicht wirklich; meine Bemerkung meinte stattdessen, dass wir diesen Platz verlassen und heimkehren dürften. Wozu uns erkälten und auch noch an der Grippe erkranken wie halb England? Nutzlos obendrein! Denn was eventuell geschehen sollte – es müsste anderntags geschehen.
Gestern noch hatte sich der Himmel wolkenlos über Crossburgh gewölbt, in allenfalls trübem Blau. Im Südwesten, wo das Hügelland nach Devonshire hin schroffere Formen bildete, hatte sich der Dunst geballt und die Berge bei Exeter verborgen. Doch in der Nacht war das bisschen Wind eingeschlafen. Auch hatte sich die Luft abgekühlt, und als die Sonne erscheinen sollte, verlegte ein lauwarmer Nebel ihren Strahlen den Weg. Er würde ein, zwei Tage anhalten.
Wem lauert Holmes auf?, rätselte ich. Ich habe nicht die mindeste Ahnung, und er will es offenkundig für sich behalten. Aber wer auch immer, heute bleibt selbst ein Landstreicher in seinem Versteck. Er würde sich verirren. Und falls sich der Jemand trotzdem rührt … Sind wir denn Füchse, die mit Hilfe der Nase jagen? Wir sehen nichts, erkennen nichts und fangen schon gar nichts.
Was ringsum quirlte, war zwar nicht Dirty Old Londons Nebel; niemand würde straucheln oder in einen Graben fallen. Trotzdem ließ sich nur ahnen, was weiter entfernt war, als eine Pistole trug. Hatte Sherlock Holmes gehofft, die steigende Sonne werde die Sichtverhältnisse bessern? Der Stadtmensch durfte sich irren, ich aber kannte die Witterung dieser Region. Ich hätte den Ausflug verschoben, auf morgen, spätestens auf übermorgen. Solch ein Wetter hielt nicht durch.
Freilich drängten die Umstände.
*
Noch elf Tage zuvor hätte ich ausgeschlossen gehabt, je in solch eine Situation zu geraten. Seit meinem Examen in Oxford war ich Angestellter. Aufregungen und Ungewissheit waren mir ein Gräuel. In diesem Sinn befremdete es mich, als montags früh ein Konstabler vor der hiesigen Filiale des Bankhauses Cox & Co. stand. Ich hielt es für Zufall, zumal er mich und die beiden anderen Mitarbeiter stumm passieren ließ. Aber im Vorraum wartete Sir Impey Medman-Scott, der Filialleiter, auf den Füßen wippend. Das und seine Miene ließen meine Laune jäh erstarren.
„Ah, Addleton, gut, dass Sie da sind. Kommen Sie mit zum Tresor.“
Ich folgte ihm ins Nebenzimmer. Dort, beim ersten Blick, begannen meine Knie zu schlottern. Die große Stahltür stand offen, die Fächer gähnten leer, und was von ihrem Inhalt nicht Geldeswert hatte, lag auf dem Boden verstreut.
Ein magerer, spitzgesichtiger Mann hockte dazwischen, betrachtete die Fundstücke durch eine gezückte Lupe, kritzelte Notizen in ein Buch und sagte mehrmals: „Aha!“ und „Interessant!“ und „Höchst merkwürdig!“ Erst nach einer Weile nahm er meine Anwesenheit zur Kenntnis, erhob sich und fixierte mich misstrauisch aus seinen dunklen Augen.
„Inspektor Lestrade von Scotland Yard“, stellte Sir Impey vor. „Er war einer anderen Sache wegen in Crossburgh und hat den Fall gleich übernommen. – Mein Stellvertreter Richard Addleton.“
„Einbrecher! Um Gottes willen! Haben sie viel gestohlen? Alles?“
„Zweimal ja.“
„Die Tresorfirma hat doch aber heilige Eide geschworen, niemand könnte ihren Stahl aufbohren!“
Lestrades Blick haftete auf mir. „Aufbohren? Der Geldschrank weist keinen einzigen Kratzer auf. Er wurde aufgeschlossen!“ Er deutete auf den Zähltisch, auf ein Schlüsselbund. „Die gehören Sir Impey. Zeigen Sie bitte die Ihren!“
Ich tat es. Er verglich sie. „Die richtigen. Danke. Mit den Herstellern dieser Tresore hatte ich schon zu tun. Sie setzen stets Protektorschlösser ein und machen immer nur drei Schlüssel. Zwei bekommt der Kunde, der dritte bleibt in der Firma und liegt in einem Stahlschrank, den nur der Seniorchef selbst öffnen kann. Ich habe bereits telegrafiert. Wenn dort alles in Ordnung ist, muss der Einbruch mit einem dieser beiden Schlüssel ausgeführt worden sein.“
Ich starrte erst ihn, dann Sir Impey an. Jetzt dämmerte mir, was er meinte.
Auch der Filialleiter lief rot an. „Sie wollen sagen, einer von uns …?“
Der Inspektor zuckte die Achseln. „Ich kenne viele Bankräuber. Keiner kann ein Protektorschloss öffnen. Alle müssten zu Brecheisen oder Bohrer greifen.“ Er lächelte flüchtig. „Bevor wir Knaller-Jack nach Dartmoor geschickt haben, benutzte er sogar das neumodische Sprengöl. Aber Sie sehen selbst, hier wurde keine Gewalt angewendet.“
Eine Zeit lang war es drohend still.
Dann, ich setzte eben an, meiner Empörung ob solcher Verdächtigung Worte zu verleihen, fuhr Lestrade in anderem Ton fort: „Verstehen Sie mich richtig, Gentlemen, noch wird niemand beschuldigt. Am Anfang jeder Ermittlung stehen Fragen. Sie werde ich ausfragen, die Mitarbeiter und die Nachbarn. Irgendeiner hat bestimmt etwas gesehen. Solch eine Untersuchung ist peinlich, das weiß ich. Es liegt auch in Ihrem Interesse, sie abzukürzen. Helfen Sie dabei, indem Sie ein Alibi vorweisen. Vielleicht beginnen Sie, Sir!“
*
Es musste sonntags geschehen sein. Am Samstagabend hatte Konstabler White einen Blick durchs Gitterfenster des Tresorraums geworfen. Da war alles in Ordnung.
Doch nun waren Geld und Wertpapiere im Wert von reichlich fünfzigtausend Pfund verschwunden, und der, gegen den zumindest ein Verdacht sprach, war ich. Addleton gehörte dazu. Er hat den Räubern seinen Tresorschlüssel geliehen, so dachten viele.
Andere verdächtigten meine Frau. Doch Lucille konnte ein halbes Dutzend Zeugen benennen. Sie traf sich, weil ich an jedem Sonntagnachmittag Karten spiele, derweil mit anderen Damen reihum zu einer Teegesellschaft. Diesmal war man bei den Rathbones versammelt.
Zu meinem Entsetzen stand es um mein Alibi nicht so gut. Colonel Blimp lag mit Grippe darnieder, darum fiel unsere Bridgerunde aus, und ich musste daheim bleiben.
Da das so war … Seit Mittag hatte ich unter dem Fliederstrauch hinter dem Haus gesessen und eine Ausarbeitung über moderne Buchungsverfahren studiert. Pflicht und Neigung befahlen das, aber wer konnte es bezeugen? Keiner. Unser neues Hausmädchen hatte frei bekommen; Mary wollte ihre Schwester in London besuchen und sie überreden, auch bei uns in Stellung zu treten.
Niemand und nichts entlastete mich.
Natürlich belastete mich auch keiner, und ich wusste mich ja unschuldig. Doch außer den Meinen glaubten das wenige. Argwöhnische Blicke folgten mir fortan. Sie wurden nicht milder, als Lestrade mein Haus durchsuchte und gänzlich erfolglos abzog – eher im Gegenteil.
Meine Stellung in der Bank wankte. Wie sollte ich sie festigen? Sobald man die Diebe gefunden hätte, wäre alles in Ordnung; doch was, wenn das nicht so bald geschähe? Oder wenn gar nicht? Manche Verbrechen blieben leider unaufgeklärt. Sollte ich wegziehen, nach Schottland oder gleich nach Südafrika? Das sähe nach einem Schuldeingeständnis aus. Und das böse Gerede holte mich irgendwann ein und wäre dort noch ärger. Was sollte ich tun?
Selbst die tüchtige Mary deutete an, ihr halbes Jahr Probezeit nicht verlängern zu wollen.
Schon dem Ende meiner Fassung nahe, half mir ein Zufall. In der Times entdeckte ich eine Notiz. Unter der Überschrift „Privatmann findet Mörder – Was ist aus Scotland Yard geworden?“ berichtete sie von einem früheren Kommilitonen aus Oxford. Ich hatte Sherlock Holmes längst vergessen, zumal wir nicht zum gleichen Jahrgang gehörten und verschiedenen Studienrichtungen und Interessen nachgingen, aber prompt fiel mir sein Faible für Detektivspiele ein. Er hatte also einen Beruf daraus gemacht!
Ich schrieb sogleich an ihn und besuchte ihn in seiner Wohnung in der Montague Street. Holmes, nur in den Gesichtszügen älter wirkend als damals, stellte mir viele und oft nahezu absurde Fragen. Hinterher nannte er meine Situation durchaus nicht hoffnungslos. „Ich brauche erst einmal zwei, drei Tage. Dann weiß ich Bescheid.“
*
Tags zuvor hatte Holmes mich in der Bank unter dem Vorwand aufgesucht, eine Fünf-Pfund-Note prüfen zu lassen. Ich hielt die Maskerade für überflüssig, aber darüber zu streiten lohnte nicht. Jedenfalls bewirkte das Gespräch, dass wir an diesem nebligen Mittag wie Geier auf einer felsigen Kuppe über der Straße hockten, die von Crossburgh nach Westen führte.
Hinter uns, vom Strauchwerk verdeckt, lagen unsere Fahrräder. Wir hatten sie gebraucht, denn bis zu den Gärten am Stadtrand waren es reichlich zwei Meilen, ziemlich viel für einen Spaziergang, zumal unter diesen Umständen. Ohnehin gingen die Landleute selten hierher, wo der Boden anstieg und, steinig und felsig, nicht zum Ackerbau taugte. Schafe weideten auf den Hängen und Kuppen, und im Frühjahr setzten die Imker hier ihre Bienenstöcke aus, aber die Region westlich von Crossburgh wurde fast gemieden.
„Warum hat Lloyd Pendragon sein Anwesen ausgerechnet hinter dem Hügel gebaut? Das habe ich nie verstanden.“ Ich deutete mit dem Daumen die Straße entlang. „Von ihm sind es drei Meilen bis zur Stadt. Er kann es auch nicht gemacht haben, um angenehm im Grünen zu wohnen. Ich kenne schönere Stellen. Das Geld …“ Ich unterdrückte ein Auflachen. Allein was Cox & Co. für Pendragon verwaltete, sicherte ihm ein mehr als bequemes Leben. „Er ist eben menschenscheu.“
„Eventuell mehr als das. Wer sich absondert, verbirgt oft etwas. Darum habe ich mich als ein stellungssuchender Gärtner umgehört. Ich musste prüfen, wer nichts mit diesem Raub zu tun hat. Pendragon ist ein Außenseiter; doch selbst die ältesten Leute sagen, er wohnte schon immer da. Das heißt, er spielte als Kind in dem Haus, und er erbte es dann. So einer gewöhnt sich schwer um.“
Dagegen ließ sich nichts einwenden.
Plötzlich kicherte der Detektiv; es klang gezwungen wie alles an ihm, was man Emotion nennen durfte. „Wissen Sie übrigens, Addleton, dass die Landleute das Haus fürchten? Einige bekreuzigen sich dreimal, wenn sie die Gartenmauer sehen; andere schwören Stein und Bein, sie würden keinen Fuß auf das Grundstück setzen. Es zieht blaues Wetterleuchten an, sagen sie; und sogar die Blitze, behaupten sie, zucken dort von unten nach oben.“
„Ungebildetes Volk! Der Rest gesunder Menschenverstand wurde in Gin und Whisky ertränkt.“
Seltsam! Jetzt, da ich das aussprach, fiel mir ein, auch ich hatte es mehrmals blau über diesem Hügel aufleuchten sehen. Er verdeckte Pendragons Haus gegen die Stadt.
Holmes antwortete nicht.
„Dabei ist Pendragon doch …, doch kein …“ Mir fehlte ein passendes Wort. Was war Lloyd Pendragon, was war er nicht? Je länger ich nachdachte, desto klarer formte sich zu meiner Verwunderung die Einsicht in mir, dass ich diesen Mann zutiefst ablehnte. Ihn zu einer Gesellschaft einladen? Gott bewahre mich!
Warum eigentlich?
Meine Stellung brachte mich zuweilen mit ihm zusammen. Wie und wovon er bei solcher Gelegenheit sprach, das zeigte, dass er keiner jener Leute war, die in Kalifornien oder Australien Reichtum, aber keine Lebensart erworben hatten. Ohnehin beherzigte ich das Erste Gebot der Bank: Jeder wohlhabende Mann ist dem Angestellten sympathisch. Dennoch! In Pendragons empfindungslosen graugrünen Augen, in den ausgemergelten Zügen unter den dünnen, aschefarbenen Haaren lag etwas, das Unbehagen erzeugte. Da waren keine entstellenden Narben, keine Hautmakel, wie mancher sie aus der Fremde mitbrachte. Da war nichts Benennbares. Trotzdem war es da. Eben dieses nicht Fassbare entfachte in den einfachen Leuten jenes Vorurteil. Selbst ich spürte den Einfluss.
Sie übertrugen die Abneigung auf den alten Anthony Clarke, seinen Hausdiener. Der kam oft in die Stadt gefahren, um einzukaufen, aber von meinem Bürofenster aus hatte ich nie beobachtet, dass jemand mit ihm, der doch gut und prompt zahlte, mehr als das Notwendigste sprach.
„Die Quelle der bösen Nachrede auszumachen ist eine elementare Aufgabe“, bemerkte Holmes lässig. „Meist steckt hinter dem Geschwätz von einem verrufenen Haus etwas durchaus Reales. Nein, kein Spuk. Wir waren doch in Oxford! Bevor ich solch eine Erklärung heranziehe, schöpfe ich sämtliche natürlichen Ursachen aus – und es gibt viele. Oft diente so ein Haus früher als Schmugglertreff, manchmal wurden dort Verbrechen verübt, und die instinktive Ablehnung böser Taten wirkt sich so aus.“
„Ich habe nie von dergleichen gehört.“
„Der Anlass liegt lange zurück“, pflichtete er mir bei. „Obendrein beantwortet das Haus alle Fragen selbst mit der wünschenswerten Deutlichkeit. Da Sie länger im Ort leben als ich, kennen Sie die Ursache.“
„Wie? Was? Ich war einmal in The Temple und habe alles gesehen, aber …“
„Gesehen haben Sie es, aber nicht beobachtet. Das Haus steht auf alten Fundamenten; irgendein Vorfahr Pendragons hat Säulen und Pfeiler aus der Römerzeit eingebaut. Das ist evident, und der Name The Temple wurzelt natürlich darin. Die Frage, ob die böse Nachrede daher stammt, fällt zwar in den Bereich reiner Mutmaßung. Aber es ist wohl mehr als bloß wahrscheinlich: Wenn jener Mann seinem Nachkommen ähnelte, hat er sich mit der Geistlichkeit von Crossburgh verzankt. Die streute zur Rache Gerüchte aus.“
Glaubhaft, dachte ich. Und wenn kein Wunder geschieht, wird es mir kaum besser ergehen, da mich die öffentliche Meinung verurteilt. Zum Teufel mit Lloyd Pendragon und seinen Ahnen! „Sagen Sie mir endlich, was wir hier wollen!“
Er zögerte. „Es ist noch zu früh. Sie werden die Erklärung mit eigenen Augen sehen.“
Das ließ mich hochfahren. „Sie haben den Fall gelöst? Obwohl die Polizei keinen Schritt vorangekommen ist?“
„Hätte man mich gleich hinzugezogen, wäre Ihre Unschuld längst erwiesen. Ich würde bereits am Tatort all das festgestellt haben, was ich so erst mühsam rekonstruieren musste.“
„Der Inspektor von Scotland Yard …“
Um Holmes’ Lippen zuckte ein Lächeln. „Lestrade ist ein guter Mann, ein Praktiker. Was zu finden ist, findet er. Aber ihm fehlt jede schöpferische Phantasie, darum begreift er nicht, was sein Auge sieht. Dabei ist es einfach. Folgen Sie Schritt für Schritt der elementaren Logik!“ Er zählte an den Fingern ab. „Ein Geldschrank wird auf rätselhafte, quasi phantastische Weise geöffnet. Solch eine Tat ist nur wenigen zuzutrauen. Zweitens, der Dieb musste einen Tresorschlüssel haben. Es gibt nur zwei, Ihren und den Sir Impeys. Ihr Chef war zu Besuch in Wales und hatte den Bund bei sich. Also waren es Ihre Schlüssel. Wer kommt am leichtesten daran? Das Dienstpersonal! Wovon höre ich als Erstes? Von Ihrem neuen Hausmädchen.“
„Mary?“ Ich merkte, dass ich keuchte.
„Mary, pah! Auf dem Markt zeigte man sie mir, ich erkannte sie gleich. Cecilia Burton heißt sie, und ihr Bruder ist vielleicht der gerissenste Bankräuber von London. Den Lord nennen sie ihn. Zweimal hatte Scotland Yard ihn … fast. Nie konnten sie ihm etwas beweisen. Das ist sein Plan.
Mary stahl den Tresorschlüssel nicht, was ihre Schuld sofort gezeigt hätte. Sie drückte ihn in Wachs oder Paraffin und ließ den Abdruck ihrem Bruder zukommen. Der machte einen neuen Schlüssel.
Am bewussten Wochenende fuhr Ihr Hausmädchen angeblich nach London. In Wahrheit traf sie mit ihrem Bruder zusammen, und in der Nacht von Samstag auf Sonntag räumten beide gemeinsam den Tresor aus.“
Mir schwindelte. „Wenn das wahr ist, warum ist Mary dann noch hier? Ich hätte gedacht, Räuber flüchten mit ihrem Raub.“
„Räuber tun das. Aber nicht dieses Pärchen! Burton weiß, seinesgleichen steht unter Verdacht. Bestimmt hat der eifrige Lestrade bei ihm jeden Winkel umdrehen lassen und natürlich nichts gefunden. Prompt strich Lestrade ihn auch von der Liste der Verdächtigen. Ebendarum kehrte Burton nach London zurück, ohne etwas mitzunehmen. Geld, Juwelen und Wertpapiere sind noch hier versteckt. Selbstverständlich soll die Beute da nicht bleiben, seine Schwester schafft sie peu à peu und unauffällig weg. Sie nennt das Fahrradtour zur Gesundheitsförderung. Das ist die Handschrift des Lords. Denn …“ Plötzlich hob Holmes, er hatte die ganze Zeit hindurch gesprochen, ohne mich anzuschauen, die Hand. „Jemand kommt.“
Kam jemand? Weiß und grau lag der Dunst über dem Land, verwischte die Konturen der Sträucher und Baumgruppen. Kein Wind wisperte im Gezweig. Nur das Blut pulsierte in den Ohren.
Da war ein Knirschen, ein Quietschen! Anfangs konnte es ich es nicht einordnen, doch dann erwachte eine Erinnerung: ein Fahrrad!
Im gleichen Moment sah ich eine schemenhafte Bewegung auf der Landstraße.
„Sie wissen jetzt, was Sie erwartet, Addleton! Nehmen Sie sich zusammen, bleiben Sie im Versteck! Nicht bewegen, nicht reden!“, zischte Holmes neben mir.
Betroffen schaute ich ihn an. Wozu das? Wir sollten hinaustreten und sie anhalten. Aber als er sich hinter einen Busch duckte, tat ich dasselbe.
Die Straße war in schlechtem Zustand. Innerhalb Crossburghs war sie gepflastert, aber auf dem offenen Land stellte sie sich so dar, wie Fuhrwagen und Pferdehufe sie gemacht hatten. Zwar war der zumeist steinige Boden nützlich, weil er keine Schlammkuhlen zuließ. Dennoch fiel es schwer und strengte an, mit dem Fahrrad darauf zu fahren. Das hatten wir gespürt, und jetzt erlebte es jemand anderes.
Gewiss war Holmes’ Prophezeiung schuld. Ich meinte sofort zu wissen, dass da eine Frau angeradelt kam. Schwer atmend fuhr sie dem höchsten Punkt der Strecke entgegen. Im Nebel sind, wie das Sprichwort sagt, selbst die persischen Katzen grau, und die Fahrerin hatte der Dunsttröpfchen wegen einen Schleier vor dem Gesicht, darum war ich meiner Sache nicht sicher. Dennoch siegte die Überzeugung: Mein Hausmädchen!
Längst war die Erinnerung erwacht, wie Mary bei der Anstellung ein paar Stunden in der Woche herausgehandelt hatte. „Der Arzt hat mir geraten, viel zu fahren. Das hilft gegen die Bleichsucht; das und die Stellung in einer kleinen Stadt.“ Hatte ich damals nicht beifällig genickt? Aber ja. Ich schätze Menschen, die beizeiten an ihre Gesundheit denken. Inzwischen beurteilte ich ihr Motiv kritischer. Es bedurfte gar nicht des Umstands, dass sie im Nebel fuhr, was keiner Lunge gut tun würde, zumal jetzt, wo die Grippe durchs Land flog.
Wir selbst hatten hier das Tempo gemäßigt. Mary hingegen trat kräftig in die Pedale und passierte unser Versteck. Fast hätten wir zugreifen können. Wie sie sich mühte! Gerade so hatte sie vor vier Wochen im Keller gearbeitet, als sie einen Verschlag entrümpelte und für ihr Fahrrad herrichtete.
„Uff!“, rief sie, als die Höhe erreicht war. Nun durfte ihr Rad auf der anderen Seite eine halbe Meile lang rollen. Danach ging es nochmals so weit fast eben bis zum Haltepunkt Little Merton. Spätestens dort würde Mary umkehren, damit sie beizeiten wieder daheim war. Sie musste Lucille und mir zur Teezeit servieren, und zuvor war einiges vorzubereiten. Dass sie das Rad nicht schon hier oben umgedreht hatte!
Aber Mary fuhr weiter, und das Geräusch verlor sich.
Ich erhob mich. Mir war nicht nur wegen des Nebels kalt. Jemand, dem ich vertraut hatte, gehörte zu den Bankräubern!
Auch Holmes stand auf. „Das war’s. Wir können gelassen zurückfahren. Der Fall ist quasi abgeschlossen. Ich suche Lestrade auf, damit der Inspektor tut, was getan werden muss.“
Mir schwirrte der Kopf. „Sie meinen, das ist schon alles? Aber das Geld? Die fünfzigtausend Pfund?“
„Die Polizei wird das meiste noch im Versteck vorfinden. Bei Ihnen im Keller.“
„Bei …?“
„Präzise im dem Winkel, wo Cecilia Burton ihr Fahrrad unterstellt. Ich würde eine Guinee wetten, dass Lestrade, der Ihr Haus umgestülpt hat, eigens diese Ecke aussparte, weil dort ja nicht Ihre, sondern Sachen Ihres Hausmädchens stehen. Wie gesagt, ihm fehlt die Vorstellungsgabe, um … He!“
*
Auch ich hatte das Geräusch gehört. Ein Knall, womöglich ein Schuss? Die Lautstärke sprach dafür, auch wiederholte sich der Laut nicht. Andererseits wusste ich: Der Nebel verfälschte, und … Hatte hinterher nicht etwas geklappert und geknirscht? War die Radfahrerin gestürzt?
Doch ebenso, wie uns der Nebel die Sicht raubte, erstickte er alle Geräusche.
„Jemand hat gerufen, Holmes.“ Unwillkürlich sprach ich leise. „Wir sollten antworten. Oder glauben Sie, es hat sich bloß ein Stein gelockert?“
Der Detektiv schüttelte den Kopf. „Später.“ Mit den Handflächen die Ohren vergrößernd, horchte er ringsum.
Es ging ihm wie mir. Woher kam das Geräusch? Die verfluchten Dunstschwaden irritierten ungemein! Zumindest sah er den Laut nicht für natürlich an, genau wie ich.
Eine unbestimmte Spanne verstrich, in der ich kaum zu atmen wagte.
Endlich öffnete Holmes den Mund. „Wir könnten annehmen, Cecilia Burton kam im Nebel von der Straße ab und stürzte in den Graben. Allerdings kennt die gewandte Fahrerin die Strecke mittlerweile.“ Jetzt schaute er mich an. „Sie sehen die Alternative? Gerade so wie wir mag jemand anders ihre Fahrt beobachtet haben. Eventuell ahnt oder weiß er, dass sie in irgendeiner Tasche ein paar hundert oder gar tausend Pfund verwahrt. Dass wir hier sind, ist dem, der ihr auflauerte, zum Glück unbekannt, sonst hätte er einen anderen Tag gewählt.
Wenn Sie jetzt nach Crossburgh zurückfahren, Addleton, mache ich Ihnen keinen Vorwurf. Ich begrüße es sogar. Jemand muss die Polizei benachrichtigen.“ Er wartete meine Reaktion nicht ab. „Andererseits brauchen wir zu zweit wohl nichts zu fürchten.“
„“