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Curt Riess

Prozesse,
die unsere Welt bewegten

Von der Antike bis ins 20. Jahrhundert

hockebooks

Die Säuberungen von Moskau

1938

Der große Säuberungsprozess, der dritte, von den kleinen Prozessen in der Provinz abgesehen, beginnt am 7. März 1938 in Moskau, der kaiserlich-altrussischen, jetzt neuen Hauptstadt Russlands, respektive der Räterepublik, in dem in unmittelbarer Nähe des Kreml stehenden Adelsclub, in einem sehr geräumigen Saal, wo sich früher die Großfürsten und Bojaren trafen, in der guten alten Zeit, die noch goldstrotzende Uniformen gesehen hat und die tiefdekolletierten Balltoiletten der Damen der sogenannten Gesellschaft oder gar Kostümbälle der Zaren. Das alles ist ja gar nicht so lange her.

Auch die ersten Säuberungsprozesse, die ersten großen Prozesse der Räterepublik, der Sowjetunion überhaupt, hatten dort – jetzt All-Unions-Gewerkschaftssaal – stattgefunden, aber der hatte sich schon bald als zu klein erwiesen, und auch heute ist er nicht groß genug. Denn weit mehr als 2000 Zuschauer sind gekommen, aber sie haben wenig gemein mit denen früherer Prozesse, noch zu Lenins Zeiten, es sind nicht die typischen Zuschauer bei Revolutionstribunalen, sie sind gutbürgerlich gekleidet, die Männer tragen steife Kragen, die Frauen sogar Nerz-, ja auch Zobelpelze, ihre Füße stecken in kostbaren Kordian- und Saffian-Stiefelchen. Warum wohl?

Nun, es hat sich herumgesprochen, dass die jetzt Herrschenden, die Großen der Partei, die Mitglieder der sogenannten »neuen Klasse«, übereinander zu Gericht sitzen, und da will man mit dabei sein. »Man«, das sind diejenigen, die in den ersten Revolutionsjahren nicht emigriert sind, sondern hoffen, dass alles doch wieder gut werden wird, gut, das heißt so, wie es früher gewesen ist – vor 1917.

Ganz »vorn« erhöht thront das Gericht: der Vorsitzende, die von der Parteispitze delegierten Geschworenen, die überhaupt keine Rolle spielen werden, sowie der Mann, der die Hauptrolle spielen wird, der öffentliche Ankläger, Generalstaatsanwalt Andrei Januarjewitsch Wyschinski, ein mittelgroßer Mann mit einem sehr scharfen, mageren, gewissermaßen angespannten Gesicht, das irgendwie böse wirkt, Mitte fünfzig, früher Rektor an der Universität Moskau. Seit 1935 Generalstaatsanwalt der UdSSR, noch nicht, aber bald Mitglied des Zentralkomitees der Partei, der die Angeklagten selbst befragt, und zwar aufgrund des Paragraphen 58 des jetzt geltenden Strafgesetzes der Sowjetunion – Ugolownyj-Kodeks –, dessen 14 »Punkte« genannten Absätze eigentlich so formuliert sind, dass man damit faktisch jeden wegen Staatsverbrechens verurteilen kann, den man verurteilen will, und dies – daran kann gar kein Zweifel sein – ist hier und heute der Fall.

Die Angeklagten: Alexei Rykow, Nikolai Bucharin, Genrich Jagoda, Gregori Grinko, Nikolai Krestinski, und noch mehr als ein Dutzend andere, die meisten ehemals prominente Mitglieder der Partei, Rykow, ein ehemaliger Premierminister, Bucharin, der Chefideologe, Mitglied des Politbüros, Jagoda der ehemalige Chef der GPU, der politischen Staatspolizei. Geradezu unglaublich, dass diese noch vor Kurzem Allmächtigen vor Gericht stehen, eine noch größere Sensation wohl die Wahrscheinlichkeit, die schon an Sicherheit grenzende, dass man sie verurteilen wird. Es handelt sich hier nicht um Arbeiterführer im strengsten Sinne des Wortes, weit gefehlt, es handelt sich um Männer des Schreibtisches, hochgebildete, nervöse Typen, durchaus nicht Generalbeispiele für den »neuen Menschen«, von dessen Notwendigkeit sie in ihren Schriften und Reden gepredigt haben und dem Volk so fremd, als wären sie Ausländer.

Jetzt können sie zeigen, was sie können, wenn man sie es zeigen lässt. Denn sie verteidigen sich allein. Nach den neuen Gesetzen gibt es keine Verteidiger für diese Angeklagten.

Um es gleich hier zu sagen, der Prozess wird bis zum 13. März dauern und mit Todesurteilen für 18 Angeklagte enden; nur drei können ihren Kopf retten, und schon das ist erstaunlich.

Allein die Sicherheit des Endes gibt dem Ganzen etwas Besonderes, etwas Unheimliches, etwas, was die Zuschauer erschauern lässt – und das ist wohl nicht der letzte Grund dafür, dass sie so zahlreich erschienen sind. Wie kann man diese besondere Atmosphäre näher beschreiben? Am besten vielleicht so, dass man während der Verhandlungen eine nicht vorhandene Uhr ticken zu hören vermeint und weiß, dass, wenn sie aufhört zu ticken, die Sache zu Ende ist, das heißt, das Leben der meisten Angeklagten zu Ende sein wird; dass man eine nicht vorhandene Guillotine sieht und weiß, irgendwann einmal wird das scharfe Messer herunterfallen und die Köpfe von den Rümpfen trennen.

Denn die Angeklagten sind eben nicht nur angeklagt, sie sind die bereits vorbestimmten Opfer, wie das ja auch bei den früheren großen Säuberungsprozessen der Fall war. Dafür, dass nicht alles so ist, wie es sein sollte. Da die Bevölkerung sich vielleicht nicht zu Unrecht über die Zustände beklagt, wenn sie es überhaupt wagt, sich zu beklagen, müssen nicht irgendwelche Leute zur Rechenschaft gezogen werden, sondern Leute, die vor Kurzem noch in Amt und Würden für vieles verantwortlich waren, wenn vielleicht auch nicht für alle Fehler, die Stalin gemacht hat. Doch solche Gedanken wagt niemand auszusprechen, wagt niemand auch nur zu denken. Alle wissen, das wäre lebensgefährlich. Und, vor allem, es wäre nutzlos.

Der Fall oder die Fälle, die hier zur Verhandlung stehen, haben schon rund vier Jahre vorher begonnen: am 1. Dezember 1934. An diesem Tag fiel in Leningrad ein Schuss, im historischen Smolny-Institut, einer ehemaligen Schule für die Töchter der Adligen und während der Revolution Lenins Hauptquartier, jetzt das Hauptquartier der Partei in Leningrad. Das Opfer des Schusses war Sergei Kirow, der prominenteste Mann der Partei in Leningrad, ein kleiner Mann, dessen Haare bereits ausgingen, kein wichtiger, es sei denn, dass man die ihm von Stalin verliehene Leitung der Leningrader Partei für bemerkenswert hielt, und, was sicher der Fall war, die Freundschaft Stalins. Und allen denen, die es erfuhren, war von Anfang an klar, der Täter wollte nicht so sehr Kirow treffen als Stalin. Der raste denn auch, kaum, dass er von der Bluttat erfuhr, nach Leningrad, um die Angelegenheit persönlich zu verfolgen. In seiner Begleitung befand sich der Leiter der geheimen Polizei GPU, Genrich Jagoda, von dem viele glaubten, er sei der mächtigste Mann in der Sowjetunion um diese Zeit, was er vielleicht auch war, mit Ausnahme natürlich seines Chefs, Stalin.

Betroffenheit in der ganzen Sowjetunion.

Kirow, mit 46 Jahren noch recht gut aussehend, war also ein Mitglied der kommunistischen Hierarchie, wenn auch wenig bekannt außerhalb der Sowjetunion, vermutlich der dritte Mann im Staat, und viele hielten ihn für den Kronprinzen, den vermutlichen Nachfolger von Stalin. Er war unter anderem Vorsitzender der Säuberungskommission der Partei gewesen, die ursprünglich noch als relativ demokratisch arbeitendes Gremium gelten konnte.

Der Mörder Kirows war leicht zu eruieren. Es handelte sich um einen gewissen Leonid Nikolajew, der mehr einem Affen ähnelte als einem Menschen, wie viele spöttisch meinten, mit einem riesigen Wasserkopf, einem kleinen Körper, zu langen Armen, der in der Parteibürokratie irgendeinen kleinen Posten innegehabt hatte, dort aber nicht guttat, weil er wenig oder überhaupt nicht arbeitete. So beschloss er schon vor einiger Zeit den Tod zu suchen, wie, darüber machte er seinen Bekannten gegenüber kaum ein Hehl, nämlich indem er einen der Höheren, die er alle verachtete, um die Ecke bringen würde. Anderthalb Monate vor dem verhängnisvollen Schuss hatte ihn die Polizei festgenommen, das »Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten« (die NKWD) ihn aber wieder freigelassen und, wenn man Gerüchten glauben durfte, wurde er mit dem Revolver in der Tasche sozusagen in Kirows Vorzimmer geschleust. Dies alles sollte später in den fünfziger Jahren, also erst nach Stalins Tod, bekannt werden.

Nicht nur er wurde verhaftet, sondern zugleich 77 sogenannte »Weißgardisten« nahm man fest, und zwar wenige Stunden nach Stalins Eintreffen in Leningrad, und diesen Opfern, von denen keineswegs bewiesen war, dass sie irgendwie schuldig waren, folgten weitere 66 ebenfalls gänzlich unschuldige Missliebige.

Damit das Volk sah, dass Stalin nicht mit sich spaßen lasse. Und damit das Volk wisse, wer daran schuld war, dass alles nicht so gut ging, wie es hätte gehen können, vor allem, wie Stalin es versprochen hatte.

1929 bis 1934 war der erste 5-Jahr-Plan gelaufen, dessen Hauptpunkte die Zwangskollektivierung und die Industrialisierung waren. Fazit: Millionen Hungernder und Verhungerter, ein Fiasko. Obwohl Stalin den abschließenden Kongress den »Kongress der Sieger« getauft hatte, musste er zugeben, dass es da gewisse Schwierigkeiten gegeben habe und noch gäbe, und wer war schuld – wenn nicht übereifrige Funktionäre? Nicht schuld war auf jeden Fall er selbst. Seine Idee von der Kollektivierung war ganz richtig gewesen und sollte auch weiterhin gelten. Man habe ja nur zwei Möglichkeiten, die Arbeiter des Staates zu ernähren, entweder die Großgrundbesitzer zurückzuholen und die Bauern wieder zu Leibeigenen zu machen oder eben zu kollektivieren.

Schon damals hatten gewisse hohe Funktionäre zu widersprechen gewagt, vor allem auch Bucharin und Rykow, aber Stalin hatte sie nicht angerührt, vielleicht auch nicht gewagt, sie anzurühren. Als Hauptschuldiger galt damals, schon vorher und auch noch Jahre später, einer, der sich nicht mehr wehren konnte, nämlich der aus Moskau verbannte und schließlich aus der Sowjetunion vertriebene Leo Trotzki.

In den illegalen Jahren der Partei noch Student, Freund Lenins, Verfasser unzähliger Schriften, die heimlich über ganz Russland verbreitet wurden, dann, als Lenin die Oktoberrevolution machte, der zweite Mann nach ihm. Oder, wenn es auch Leute gab, die das bezweifelten, auf jeden Fall derjenige, dem die Revolution ihr Überleben verdankte, weil er 1917, sofort nach der Revolution aus wilden Kriegshaufen eine Armee schuf, der es gelang, die Bürgerkriegszeit zu überstehen, ja siegreich zu beenden. Erst unmittelbar danach war er dann mit Stalin in Konflikt geraten, vor allem, weil er für die sogenannte »permanente Revolution« eintrat, weil er im Gegensatz zu Stalin die Priorität der Internationalen propagierte, übrigens zusammen mit Bucharin, Kamenjew und Zinowjew, um nur einige zu nennen.

1924, beim Tode Lenins, war Leo Trotzki noch der zweitwichtigste, das heißt, nun eigentlich der wichtigste Mann der Partei, aber schon 1925 verlor er seinen Posten als Kriegsminister, wurde bald darauf aus der Partei entfernt, dann aus Moskau verbannt und schließlich aus der Sowjetunion ausgewiesen.

Aber im Grunde genommen werden alle die Säuberungsprozesse, die rund ein Jahrzehnt später einsetzen, nur gegen ihn, den Entmachteten den man vor Gericht stellen kann, geführt.

Zahl und Ausmaß der Prozesse wurden nie glaubwürdig festgestellt, geschweige denn, von Regierungsseite aus publiziert oder bestätigt. Gewisse Quellen behaupteten später, zwischen 1934 und 1938 seien, ganz abgesehen von gewöhnlichen Sterblichen, allein von 1966 Delegierten des Obersten Sowjets 1108 verhaftet und die meisten von ihnen erschossen worden; von den 139 Mitgliedern des Zentralkomitees mussten 98 mit dem Leben bezahlen, aber das geschah erst während der ersten Welle der Prozesse, die der Ermordung Kirows folgte.

Warum er eigentlich ermordet worden war, kam nie heraus, auch nicht, wer hinter dem Täter stand, nachdem seinerzeit Stalin und Jagoda ein kleines Blutbad angerichtet hatten, gingen die Verurteilungen, nein, das Morden nach befohlenen Verurteilungen oder auch ohne sie weiter. Aber es handelte sich nicht mehr um Hunderte oder Tausende, sondern um Hunderttausende, die dran glauben mussten. Bald nicht mehr nur um Männer, deren Vergangenheit sie zu möglichen oder wahrscheinlichen Gegnern der Kommunisten stempelte, sondern es wurden auch alte Kommunisten verhaftet und hingerichtet, deren einziges Verbrechen nicht etwa darin bestand, dass sie sich gegen die neue Linie, die Stalins, stellten, sondern der Umstand, dass Stalin sie für mögliche »Abweicher« hielt, und, was wohl schlimmer war, für Aspiranten auf Nachfolge oder Nachfolger derjenigen Getreuen, auf die er sich stützte.

Die Prozesse begannen am 15. August 1936, das heißt, die reinen Schauprozesse. Die vorgeführten Angeklagten saßen zum Teil schon anderthalb Jahre in Untersuchungshaft, und Stalin hatte sie bereits zur Zeit ihrer Verhaftung, nämlich im Januar 1935 öffentlich für schuldig erklärt, was einer späteren Verurteilung gleichkam. Zu der Gruppe der damals Schuldigen und auch Hingerichteten gehörten Gregori Zinowjew, Leo Kamenjew und Alexei Smirnow, um nur die prominentesten der durchwegs prominenten Männer zu nennen, darunter solche, die sich in den Bürgerkriegen 1917–1920 ausgezeichnet hatten und von Lenin hoch geschätzt wurden.

Mittlerweile waren Karel Radek und Nikolai Bucharin verhaftet worden, aber der Chef der Geheimpolizei Genrich Jagoda hatte diese Verhaftungen für zu riskant gehalten und die Männer laufen lassen, was Stalin in einen Wutanfall versetzte, und, ohne dass es irgendeiner wusste, wohl den Anfang vom Ende des Geheimdienstchefs Jagoda bedeutete.

Anstelle dieses Prozesses, der vorläufig nicht stattfand, gab es andere Prozesse, die kaum so genannt werden durften. Es wurden hier und dort Männer verhaftet, nicht zuletzt auch viele deutsche Kommunisten, die vor Hitler in die Sowjetunion geflohen waren, von denen also doch wohl kaum zu befürchten stand, dass sie gegen Stalin konspirieren und an seinem Untergang arbeiten würden.

Nicht alle wurden umgebracht, aber alle mussten eine langwierige, oft jahrelange Untersuchungshaft erdulden. Die Umstände waren in jeder Beziehung menschenunwürdig. Die Zellen, allenfalls fünf Meter lang und zwei Meter breit, zwei Reihen durchgehende Holzpritschen übereinander und auf jeder Seite, darauf zwölf, unten sogar dreizehn Mann, zusammen also etwa fünfzig in diesen Zellen zusammengepfercht. Das Fenster war schmal und niedrig, fünfzig mal fünfzig Zentimeter. Die Erholung bestand aus einem Spaziergang, der zehn Minuten pro Tag dauerte und um den Hof herum führte. Die sanitären Anlagen spotteten jeder Beschreibung, das Essen war so, dass die Gefangenen nicht gerade verhungerten: um zehn Uhr Kohlsuppe mit Fischresten, mittags Getreidekörnersuppe mit einer Scheibe Brot, abends ein Becher Tee und eine Scheibe Brot. Verhöre je nach Lust und Laune des Untersuchungsrichters, mindestens einmal in der Woche, manchmal auch siebenmal, wobei als zusätzliche Folter der Gefangene zwei Salzheringe vorgesetzt bekam, aber danach keinen Schluck Wasser erhielt.

Unter drei Monaten Haft kam kaum einer davon. Während dieser Zeit, die auch manchmal weit über ein Jahr dauerte, war der Untersuchungsrichter, oder wie die genaue Übersetzung des russischen Wortes lautet, der Operationsbevollmächtigte, sozusagen allmächtig. Und nicht nur grausam, er musste grausam sein, er hatte ein Soll zu erfüllen, eine gewisse Anzahl von Staatsfeinden zu entlarven und dafür Sorge zu tragen, dass sie gestanden. Wenn er nicht auf sein Soll kam, wurde ihm, unter irgendwelchen Vorwänden, etwas vom Gehalt abgezogen, und wenn er mehr als sein Soll schaffte, erhielt er eine Geldprämie.

Aber auch der Untersuchungsrichter war keineswegs gegen Unheil gefeit, und es gab nicht wenige Gefangene, die zu ihrem Erstaunen, aber auch zu ihrer heimlichen Genugtuung beim Gang um den Gefängnishof herum ihrem ehemaligen Untersuchungsrichter begegneten. Er war nun auch dran.

Das meiste Aufsehen, zumindest außerhalb der Grenzen der Sowjetunion, erregte ein Prozess, der gar keiner war, der Prozess gegen Michail Tuchatschewski, Marschall der Sowjetunion. 1893 geboren, trat er in die Armee als Gardeoffizier ein, natürlich noch unter dem Zaren, nicht zuletzt, weil er adliger Herkunft war. Groß, schlank, ausgesprochen gut aussehend, gehörte er zu den wenigen Offizieren, die sich 1917 sofort den Bolschewiken anschlossen. Er war auch damals Oberleutnant der kaiserlichen Garde und machte rasant Karriere. 1917 noch wurde er Hauptmann, ein Jahr später, nach Ende des Bürgerkriegs General, im polnischen Feldzug von 1920 war er der Führer der gesamten Roten Armee. 1931 wurde er stellvertretender Kriegsminister, wurde, wie es offiziell hieß, Volkskommissar für den Krieg und Marschall. Aber 1937 wurde er ohne alle Formalitäten abgesetzt und in die Provinz geschickt. Unterwegs verhaftete man ihn. Das Kriegsgerichtsverfahren gegen ihn fand nie statt, das war eine spätere Erfindung Stalins.

Der Grund? Die Gründe? Tuchatschewski hatte sich doch als vorzüglicher Offizier erwiesen und als loyaler. Er hatte außerordentliche organisatorische Arbeit geleistet, und aus einem führerlosen Haufen zu Beginn der Revolution wieder so etwas wie eine ausgezeichnete Armee gemacht, wie die Militärattachés der ausländischen Botschaften in Moskau zu wissen glaubten.

Und dann, am 12. Juli 1937 erfuhr die Sowjet-Öffentlichkeit durch einen Artikel in der Parteizeitung »Prawda«, ein geheimes Militärgericht habe den Marschall Tuchatschewski und sieben seiner bekanntesten Heerführer zum Tode verurteilt. Sie seien erschossen worden wegen »gewohnheitsmäßigen und niedrigen Verrates militärischer Geheimnisse an eine gewisse feindliche, faschistische Macht, sowie wegen Spionagearbeit zur Bewirkung des Sturzes der Räteregierung und der Wiederherstellung des Kapitalismus«.

Um es gleich hier zu sagen, von den acht Generälen, die das Urteil gefällt haben sollen, wurden sechs während der nächsten Monate selbst erschossen.

Was lag nun also wirklich gegen Tuchatschewski vor? Man warf ihm – aber dies alles, soweit es die Öffentlichkeit angeht, erst nach seinem Tod – vor, dass er zur deutschen Wehrmacht enge Beziehungen unterhalten habe. Und die deutsche Wehrmacht, das war, zumindest in den Augen Stalins, damals Hitler, der ja unter anderem ständig davon sprach, den Kommunisten ein Ende zu bereiten.

Nun ja, es gab da Beziehungen zwischen der deutschen Wehrmacht und der Roten Armee. Aber das war keineswegs etwas Neues, was sich Tuchatschewski da ausgedacht hatte. Das ging auf die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg zurück. Damals war es den Deutschen durch »Versailles« verboten, wieder eine stärkere Wehrmacht – mehr als 100.000 Soldaten – aufzustellen, von Flugzeugen, von Panzern, von moderneren Waffen ganz zu schweigen. Um dieses Verbot zu umgehen, hatten sich die Deutschen unter Leitung des Generals von Seekt ein Zusammenspiel mit den Russen ausgedacht. Damit er die erlaubten 100.000 Mann ständig auswechseln konnte, musste laufend frisches soldatisches Material herangebildet werden, und das war in Deutschland natürlich unmöglich, das hätten die Siegermächte des Ersten Weltkrieges sofort unterbunden. So wurden sie auf russischem Gelände exerziert und ausgewechselt. In Russland wurden die verbotenerweise gebauten Flugzeuge eingestellt, in Russland machten die Panzer ihre Geländeübungen. Für den Fall der Fälle …

Das alles war zwar ein militärisches Geheimnis, aber kein Geheimnis für Lenin und für die regierenden Kommunisten. Schon gar kein Verrat an der sowjetischen Sache. Im Gegenteil, die führenden Männer in Moskau waren froh, dass sich Deutschland militärisch wieder etwas erholte – alles war besser als das militärische Übergewicht eines einzigen Landes auf dem Kontinent, nämlich Frankreichs.

Da mitgemacht zu haben, konnte man Tuchatschewski kaum vorwerfen, und das warf ihm auch niemand vor. Was man ihm vorwarf, sollte niemals an die Öffentlichkeit gelangen. Aber zu vermuten, was Stalin gegen Tuchatschewski haben musste und hatte, ist nicht weiter schwer. Stalins Streben nach sozusagen absoluter Macht – wenn er dieses Wort auch nie in den Mund nahm – konnte eine starke, vielleicht überstarke Armee nicht sympathisch sein, und schon gar nicht unter einem Mann, der diese Armee unter Umständen auch gegen ihn einsetzen könnte. Dass Tuchatschewski das nie probiert hatte, bedeutete nicht, dass er nicht eines Tages zu Stalins Gegnern, oder zu denjenigen, die Stalin für seine Gegner hielt, überlaufen würde. Aber ohne Tuchatschewski – was war da noch die Rote Armee?

Genau die gleiche Frage stellten sich, als Tuchatschewskis unrühmliches Ende bekannt wurde, die fremden Militärattachés in den Moskauer Botschaften. Welche Rolle würden die Heeresführer in einem Krieg, der ja ausbrechen konnte, wohl spielen? Leistete Stalin mit der Ausrottung Tuchatschewskis und seiner wichtigsten Männer Hitler nicht geradezu Schützendienste?

So fragte man sich noch lange, denn sowohl die problematische Rolle der mächtigen Sowjetunion im kommenden Krieg gegen das kleine Finnland als auch der Beginn des deutschsowjetischen Feldzuges im Jahre 1941 schien den Skeptikern recht zu geben. Hatte der überkluge Stalin zu hoch gepokert?

Der dritte große Schauprozess, der vom März 1938, ist in mancher Hinsicht sensationell. Nicht nur, dass die bereits erwähnten Nikolai Bucharin und Alexei Rykow auf der Anklagebank sitzen, dort befinden sich auch neben anderen Prominenten scharfe Konkurrenten Stalins im Politbüro, noch aus der Zeit Lenins, wie etwa Christian Rakowski, ehemals Regierungschef der Ukraine, dann Botschafter in Paris, sowie Arkadi Rosengoltz, vor allem aber Genrich Jagoda. Ja, Jagoda, der an der Seite Stalins 1934 nach Leningrad geeilt war, um die Mörder Kirows ausfindig zu machen und zu bestrafen. Jagoda, bisher Chef der GPU, der Allmächtigen?

Jawohl, eben dieser Jagoda. Nur wenige erkennen ihn wieder. Er ist ein völlig gebrochener Mann, einer, der mit den gleichen Mitteln fertiggemacht worden ist, die er so oft anwandte, in jedem Sinne des Wortes »fertig«. Er hat alles »gestanden«, was man von ihm an Geständnissen verlangte, zum Teil auch die Sünden seiner Vorgänger. Jawohl, er habe Morde begangen, noch und noch, aber nicht etwa auf Befehl von Stalin, sondern dem von Trotzki, der ja nicht einmal mehr im Lande weilt. Jagoda ist nur zu gern bereit, Trotzki zu belasten oder überhaupt jeden, den er belasten soll. Er scheint alles gewusst zu haben, auch Dinge, die er gar nicht gewusst haben konnte.

Bei einigen der anderen Angeklagten muss der Staatsanwalt oder der Richter einen Widerruf befürchten. Es kommt auch zu gelegentlichen Widerrufen, die freilich, nachdem die betreffenden Angeklagten es sich in ihren Zellen – und vielleicht nicht nur in ihren Zellen – eine Zeitlang überlegen konnten, ihrerseits widerrufen werden. Jagoda gibt sich dem Gericht bedingungslos preis. Er löscht sich selbst aus.

Das kann man von dem ohne Zweifel wichtigsten Mann des Prozesses, Nikolai Bucharin, nicht behaupten.

Nikolai Iwanowitsch Bucharin, der kleine, zierliche Mann mit dem Spitzbart à la Lenin, 1888 in Moskau geboren, Sohn eines in misslichen kleinbürgerlichen Verhältnissen lebenden Privatdozenten, hat sich früh, schon als Achtzehnjähriger, dem linken Flügel der zerstrittenen russischen Sozialdemokraten zugeseilt, der sich später Bolschewiki nannte. 1911 wurde er zur Haft in Sibirien verurteilt, floh aber von dort ins Ausland, lebte längere Zeit in Wien, dann in Lausanne, in Stockholm, schließlich sogar in New York. Lenin lernte er erst 1912 in Krakau kennen – das war damals noch österreichisch.

Er übernahm die Wirtschaftsredaktion der Parteizeitung »Prawda«, die, natürlich, nur illegal erscheinen konnte. Er kritisierte ohne Unterlass die bürgerlichen Wirtschaftstheorien. Man hielt ihn in der Partei – darüber hinaus kannte ihn kaum einer – für einen bedeutenden Theoretiker; das war er wohl auch.

Während des Ersten Weltkrieges lebte er in der Schweiz. Frauen schienen ihn nicht zu interessieren, Cafés mied er, teils aus finanziellen Gründen, teils weil er nicht mit Männern gesehen werden wollte, deren Bekanntschaft ihn hätte kompromittieren, das heißt, die Polizei auf ihn aufmerksam machen könnten.

1917 kehrte er, um die gleiche Zeit wie Lenin, nach Russland zurück, aber während Lenin sich in Petrograd niederließ, ging er sogleich nach Moskau, wo er half, den Novemberaufstand zu inszenieren. 1918 machte er sich gegen einen Sonderfrieden mit Deutschland stark, der sei überflüssig, er würde nur die Weltrevolution verzögern. Viele hielten ihn für linksstehender als Lenin, mit dem er übrigens gelegentlich Zusammenstöße hatte, obwohl die beiden sich sehr mochten, oder, wie Trotzki es einmal schrieb, »der naive und feurige Bucharin verehrte Lenin, ja liebte ihn, wie ein Kind seine Mutter und bewahrte, wenn er auch gegen ihn polemisierte, stets die kniefällige Haltung eines Schülers. Bucharin, weich wie Wachs, um Lenins Ausdruck zu gebrauchen, hatte und konnte keinen persönlichen Ehrgeiz haben«.

Nach 1921, als Lenin die ökonomischen Fesseln des Kommunismus vorübergehend etwas lockerte, wurde Bucharin sein engster Vertrauter, und viele hielten ihn für den möglichen Nachfolger Lenins. Das mochte stimmen oder nicht, jedenfalls machte es ihn in den Augen Stalins nicht sympathischer. So musste er 1929 aus dem Politbüro ausscheiden, wurde 1934 allerdings, wenn auch nur vorübergehend, Chefredakteur der Iswestija.

Aus den Protokollen des zweiten großen Säuberungsprozesses:

Wyschinski: »Ist es richtig oder falsch zu sagen, dass in den Jahren 1932–33 eine Gruppe organisiert wurde, die man Anti-Räte-Block der Rechten und Trotzkisten nennen könnte?«

Rykow: »In der Tat, es war so. Ihr organisatorischer Ausdruck, seit etwa 1933 bis 1934, war das sogenannte Kontakt-Zentrum.«

Wyschinski: »Das ist es.«

Rykow: »Politisch ist es richtig, das zu sagen.«

Wyschinski: »Und dieser Block setzte sich welches Ziel? Wie formulieren Sie es?«

Rykow: »Er setzte sich selbst das Ziel, das Sowjetsystem mit Gewalt zu stürzen, durch Verrat und durch Vereinbarung mit den faschistischen Kräften im Ausland.«

Wyschinski: »Unter welchen Bedingungen?«

Rykow: »Unter der Bedingung der Zerstückelung der Sowjetunion und der Abtrennung der nationalen Republiken.«

Wyschinski: »Sie geben also glatt eine so verräterische Handlung zu, wie die geplante Abtrennung von Westrussland zugunsten Polens?«

Rykow: »Zugunsten seiner Unabhängigkeit. Westrussland sollte ein polnisches Protektorat werden.«

Wyschinski: »Sie meinen, ein Vasall.«

(Zu Bucharin): »Angeklagter Bucharin, stimmen Sie in dieser Frage mit Rykow überein?«

Bucharin: »Ich kann nur sagen, dass Rykow anscheinend das Gedächtnis verloren hat.«

Wyschinski: »Nahmen Sie wie Rykow eine defätistische Haltung ein?«

Bucharin: »Nein, aber ich bin für diese Sache verantwortlich.«

Wyschinski: »Und war Tuchatschewski Mitglied dieser Gruppe?«

Bucharin: »Ich habe schon erklärt …«

Wyschinski: »Ich frage nochmals: Waren Tuchatschewski und der Block militärischer Verschwörer Mitglieder Ihres Blocks?«

Bucharin: »Sie waren es.«

Wyschinski: »Und Sie diskutierten mit den Leuten des Blocks?«

Bucharin: »Jawohl!«

Wyschinski: »Wenn Mitglieder eines Blocks solche Sachen diskutieren, könnte man das einen Plan nennen?«

Bucharin: »Einen Plan, wenn auf jedem i ein Punkt ist.«

Wyschinski (zu Rykow): »Können wir sagen, dass Bucharins Projekt war, der Sowjetunion eine Niederlage zu bereiten?«

Rykow: »So, wie ich Bucharin kenne, würde ich eher sagen, vielleicht sah er das nicht als das einzige Ziel an, eher als etwas, über das man diskutieren könnte, etwas, was unter bestimmten Bedingungen auch verwirklicht werden könnte.«

Wyschinski: »Ich sage nicht, der einzige mögliche Weg, aber eines der Mittel, dem Feind die Tore zu öffnen. Ist das so?«

Rykow: »Ja, aber als eine Möglichkeit, nicht als unbedingte Notwendigkeit.«

Wyschinski: »Natürlich, als Möglichkeit, nicht unbedingt, das heißt, es war nicht der einzige Weg, auf dem er sein Ziel verfolgte. Ist das nicht Verrat?«

Rykow: »Ja.«

Wyschinski: »Halten Sie Bucharin für einen Verräter?«

Rykow: »Einen Verräter, wie mich selbst.«

Wyschinski: »Also, wenn Bucharin sagt, er war gegen die defätistische Haltung, hat er recht, oder nicht.«

Rykow: »Hier verstand und verstehe ich Bucharin nicht. Die Hauptsache ist, dass ein Politiker seine Handlungen verantwortet und auch deren Folgen. Dies eine ist von ihm wie von mir zu verlangen, aber nicht so, wie er denkt. Dann wird es von Interesse sein.«

Und nun Bucharin selbst.

Wyschinski: »Erlauben Sie mir, mit dem eigentlichen Verhör des Angeklagten Bucharin zu beginnen: Bucharin, formulieren Sie kurz, wessen Sie sich schuldig bekennen!«

Bucharin: »Erstens der Zugehörigkeit zum konterrevolutionären Block der Rechten und Trotzkisten.«

Wyschinski: »Seit wann?«

Bucharin: »Von dem Augenblick der Bildung des Blocks an. Selbst für die Zeit davor bekenne ich mich schuldig, zur konterrevolutionären Organisation der Rechten gehört zu haben.«

Wyschinski: »Seit wann?«

Bucharin: »Etwa seit 1928. Ich bekenne mich schuldig, einer der exponierten Führer des Blocks der Rechten und Trotzkisten gewesen zu sein. Dementsprechend bekenne ich mich verantwortlich für die Gesamtheit der Verbrechen, die diese konterrevolutionäre Organisation beging, ohne Rücksicht darauf, ob ich davon wusste oder nicht, ob ich an einer bestimmten Handlung nun teilnahm oder nicht. Ich bin nämlich als einer der Führer dieser konterrevolutionären Organisation verantwortlich und nicht nur irgendein Zahnrädchen in ihrem Getriebe.«

Wyschinski: »Welche Ziele verfolgte Ihre konterrevolutionäre Organisation?«

Bucharin: »Diese konterrevolutionäre Organisation, um es kurz zu sagen …«

Wyschinski: »Ja, kurz für jetzt.«

Bucharin: »Das Hauptziel, das sie verfolgte, obgleich, sozusagen, sie selbst sich nicht voll darüber klar war … das war im Wesentlichen das Ziel, die kapitalistischen Wirtschaftsbedingungen in der Sowjetunion wiederherzustellen.«

Wyschinski: »Der Umsturz der Rätemacht?«

Bucharin: »Der Umsturz der Rätemacht war ein Mittel zu diesem Ziel.«

Wyschinski: »Mittels gewaltsamen Umsturzes?«

Bucharin: »Ja, mittels gewaltsamen Umsturzes dieser Macht.«

Wyschinski: »Mit welcher Hilfe?«

Bucharin: »Mit Hilfe der Schwierigkeiten, denen die Rätemacht gegenübersteht, vor allem eines zu erwartenden Krieges.«

Wyschinski: »Was war prognostisch in Aussicht, welche Hilfe dazu?«

Bucharin: »Die Hilfe fremder Staaten.«

Wyschinski: »Unter welchen Bedingungen?«

Bucharin: »Der Bedingung, konkret gesagt, einer Anzahl von Konzessionen.«

Wyschinski: »Bis wohin?«

Bucharin: »Bis zur Abtretung von Gebieten.«

Wyschinski: »Das heißt?«

Bucharin: »Wenn man es genau nimmt, bis zur Aufteilung der UdSSR.«

Wyschinski: »Der Abtrennung ganzer Regionen und Republiken von der Union?«

Bucharin: »Ja.«

Wyschinski: »Zum Beispiel?«

Bucharin: »Ukraine, Küstengebiete, Westrussland.«

Wyschinski: »An wen?«

Bucharin: »Die entsprechenden Staaten, die geographisch und politisch …«

Wyschinski: »Welche genau?«

Bucharin: »Deutschland, Japan und zum Teil England.«

Wyschinski: »So, das war die Übereinkunft mit den interessierten Kreisen? Ich kenne eine, die der Block hatte.«

Bucharin: »Ja, der Block hatte eine Übereinkunft.«

Wyschinski: »Und wie war die Einstellung zu Sabotage?«

Bucharin: »Die Einstellung zu Sabotage war, dass zuletzt, besonders unter dem Druck des trotzkistischen Teils des sogenannten Kontaktzentrums etwa 1933, trotz einer Anzahl innerer Differenzen und Manipulationen, die für die Untersuchung ohne Interesse sind, nach vielen Diskussionen doch eine Entschließung zur Vorbereitung von Sabotage angenommen wurde.«

Wyschinski: »Schwächten Sie die Verteidigungskraft des Landes?«

Bucharin: »Logischerweise.«

Wyschinski: »Folglich gab es also eine Orientierung auf Sabotage, auf Untergrabung der Verteidigungskraft?«

Bucharin: »Nicht formell, aber eigentlich war es so.«

Wyschinski: »Können Sie dasselbe über Abweichungshandlungen sagen?«

Bucharin: »Was Abweichung angeht, nun, durch … meine definierten Funktionen, die Sie kennen, beschäftige ich mich hauptsächlich mit Problemen der allgemeinen Führung und mit der ideologischen Seite. Indessen schloss das nicht aus, dass ich die praktische Seite der Angelegenheit kannte und von mir aus praktische Schritte unternahm.«

Wyschinski: »Aber der Block, den Sie anführten, hatte sich selbst das Ziel gesetzt, Abweichungsakte durchzuführen?«

Bucharin: »Soweit ich das anhand der verschiedenen Vorgänge in meinem Gedächtnis rekonstruieren kann, hing das von konkreten Umständen und konkreten Bedingungen ab.«

Wyschinski: »Wie Sie wohl hier merken, waren die Umstände konkret genug …«

Bucharin: »Über Beschleunigung von Sabotageakten wurde nicht gesprochen.«

Wyschinski: »Stand der Block auch hinter Terrorakten wie der Ermordung von Parteiführern und Regierungsmitgliedern?«

Bucharin: »Es war so, und die Vorbereitungen gehen bis auf etwa Herbst 1932 zurück.«

Wyschinski: »Und was war Ihre Beziehung zum Mord an Sergej Mironowitsch Kirow? Wurde dieser Mord auch mit dem Wissen und nach Anleitung des Blocks der Rechten und Trotzkisten begangen?«

Bucharin: »Ich wiederhole, dass ich das nicht weiß, Bürger Staatsanwalt.«

Wyschinski: »Sie wussten das nicht, im Besonderen nicht in Bezug auf den Mord an Sergej Mironowitsch Kirow.«

Bucharin: »Nicht im Besonderen, aber …«

Wyschinski (zum Gericht): »Erlauben Sie mir, den Angeklagten Rykow zu fragen!«

Präsident: »Bitte.«

Wyschinski: »Angeklagter Rykow, was wissen Sie vom Mord an Sergej Mironowitsch Kirow?«

Rykow: »Ich weiß nichts von einer Beteiligung der Rechten oder des rechten Flügels des Blocks am Mord an Kirow.«

Wyschinski: »Aber im Allgemeinen, wussten Sie von Vorbereitungen von Terrorakten von Morden an Partei- und Regierungsmitgliedern?«

Rykow: »Als einer der Führer des rechten Flügels im Block war ich an der Organisation einer Anzahl von Terroristengruppen beteiligt und an Vorbereitungen von Terrorakten. Wie ich schon in meinem persönlichen Verhör sagte, habe ich indessen von keiner einzelnen Entscheidung des Rechten Zentrums, durch das ich mit dem Block der Rechten und Trotzkisten verbunden war, Kenntnis, in der ein Mordauftrag konkret beschlossen worden wäre.«

Wyschinski: »Ein konkreter Auftrag, das ist es. Wissen Sie, dass es eines der Ziele des Blocks der Rechten und Trotzkisten war, Terrorakte gegen Parteiführer und Regierungsmitglieder zu organisieren und zu begehen?«

Rykow: »Ich sagte schon mehr als das, ich sagte, dass ich selbst Terroristengruppen organisierte. Aber Sie fragten mich, ob ich von solchen Zielen durch eine dritte Person wusste.«

Wyschinski: »Ich fragte, ob der Block der Rechten und Trotzkisten etwas mit der Ermordung des Genossen Kirow zu tun hatte.«

Rykow: »Ich weiß nichts von einer Beteiligung der Rechten an diesem Mord und deshalb bin ich bis heute überzeugt, dass die Ermordung Kirows von Trotzkisten ohne Kenntnis der Rechten durchgeführt wurde. Natürlich kann es sein, dass ich keine Kenntnis davon hatte …«

Wyschinski (zum Präsidenten): »Erlauben Sie mir, den Angeklagten Jagoda zu verhören: Angeklagter Jagoda, wissen Sie, dass Jenukidze den rechten Flügel des Blocks vertrat und dass er direkte Beziehung zum Mord an Sergej Mironowitsch Kirow hatte?«

Jagoda: »Rykow und Bucharin lügen beide. Rykow und Jenukidze waren anwesend, als im Zentrum die Ermordung von S. M. Kirow diskutiert wurde.«

Wyschinski: »Hatten die Rechten dazu Beziehung?«

Jagoda: »Ja, direkte Beziehung, denn es war ein Block von Rechten und Trotzkisten.«

Wyschinski: »Hatten die Angeklagten Rykow und Bucharin insbesondere irgendeine Beziehung zu dem Mord?«

Jagoda: »Ja.«

Wyschinski: »Sagen Bucharin und Rykow die Wahrheit, wenn sie behaupten, nichts davon zu wissen?«

Jagoda: »Das kann nicht sein, weil nämlich Jenukidze mir sagte, dass sie, das heißt, der Block von Rechten und Trotzkisten, ein Treffen hatten, um einen Terrorakt gegen Kirow vorzubereiten und dass ich mich dem kategorisch widersetzte.«

Wyschinski: »Warum?«

Jagoda: »Ich sagte, ich würde nie Terrorakte zulassen. Ich sah sie als absolut unnötig an.«

Wyschinski: »Und gefährlich für die Organisation?«

Jagoda: »Logischerweise.«

Wyschinski: »Und dann, erfolgten dann Ihrerseits persönliche Maßnahmen zwecks Durchführung der Ermordung von Sergej Mironowitsch Kirow?«

Jagoda: »Ich persönlich?«

Wyschinski: »Als Mitglied des Blocks.«

Jagoda: »Ich gab Instruktionen.«

Wyschinski: »Wem?«

Jagoda: »An Zaporozhjetz in Leningrad. Das ist nicht ganz, wie es war.«

Wyschinski: »Was ich jetzt will, ist, die Rolle zu erhellen, die Rykow und Bucharin in diesem Schurkenstreich spielten.«

Jagoda: »Ich instruierte Zaporozhjetz. Als Nikolajew verhaftet wurde …«

Wyschinski: »Das erste Mal?«

Jagoda: »Ja, Zaporozhjetz kam nach Moskau und berichtete mir, dass ein Mann verhaftet wurde …«

Wyschinski: »In dessen Aktentasche …«

Jagoda: »Ein Revolver und ein Tagebuch waren. Und er ließ ihn frei.«

Wyschinski: »Und Sie billigten das?«

Jagoda: »Ich nahm nur die Tatsache zur Kenntnis.«

Wyschinski: »Und dann gaben Sie Anweisung, den Mord an Sergei Mironowitsch Kirow nicht zu behindern?«

Jagoda: »Ja, ich gab sie … aber so war es nicht.«

Wyschinski: »In etwas anderer Form?«

Jagoda: »Es war nicht so, aber das ist nicht wichtig.«

Wyschinski: »Gaben Sie nun Anweisungen?«

Jagoda: »Ich habe das schon bestätigt.«

Später Wyschinski zu Bucharin: »Und haben Sie nicht schon 1918 mit der Verhaftung des Genossen Stalin gerechnet?«

Bucharin: »Damals sprach man davon …«

Wyschinski: »Ich frage nicht nach Gesprächen, sondern nach einem Plan, den Genossen Stalin zu verhaften.«

Bucharin: »Und ich sage, dass ich mit dem Ausdruck ›Plan‹ nicht einverstanden bin … Damals gab es, wie man sagen könnte, keinen Plan, sondern bloß ein Gerücht in der Richtung.«

Wyschinski: »In welcher?«

Bucharin: »Es wurde von der Bildung einer neuen Regierung der ›Linken Kommunisten‹ geredet.«

Wyschinski: »Und ich frage Sie, planten Sie 1918 die Verhaftung des Genossen Stalin?«

Bucharin: »Nicht von Stalin allein, aber es gab einen Plan zur Verhaftung von Lenin, Stalin und Swerdlow.«

Wyschinski: »Alle drei – Lenin, Stalin und Swerdlow?«

Bucharin: »Genau.«

Wyschinski: »Es gab einen Plan zur Verhaftung?«

Bucharin: »Ich sagte schon, es gab keinen Plan, sondern wir hörten nur davon.«

Wyschinski: »Etwas über die Ermordung der Genossen Stalin, Lenin und Swerdlow?«

Bucharin: »Unter keinen Umständen!«

Später Wyschinski: »Haben Sie in Österreich gelebt?«

Bucharin: »Ja.«

Wyschinski: »Lange?«

Bucharin: »Von 1912 bis 1913.«

Wyschinski: »Hatten Sie Beziehungen zur österreichischen Polizei?«

Bucharin: »Keine.«

Wyschinski: »Haben Sie in Amerika gelebt?«

Bucharin: »Ja.«

Wyschinski: »Lange?«

Bucharin: »Ja.«

Wyschinski: »Wie viele Monate?«

Bucharin: »Etwa sieben.«

Wyschinski: »In Amerika hatten Sie keine Verbindung zur Polizei?«

Bucharin: »Absolut nicht.«

Wyschinski: »Auf dem Weg von Amerika nach Russland reisten Sie über …«

Bucharin: »Japan.«

Wyschinski: »Waren Sie lange dort?«

Bucharin: »Etwa eine Woche.«

Wyschinski: »Sie wurden während dieser Woche nicht angeworben?«

Bucharin: »Wenn es Ihnen Spaß macht, solche Fragen zu stellen, bitte …«

Wyschinski: »Die Strafprozessordnung gibt mir das Recht zu solchen Fragen.«

Der Präsident: »Der Staatsanwalt hat umso mehr das Recht zu diesen Fragen, als Bucharin beschuldigt wird, die Ermordung der Führer der Partei schon 1918 beabsichtigt zu haben und die Hand gegen das Leben von Wladjimir Iljitsch Lenin schon 1918 erhoben zu haben.«

Wyschinski: »Ich überschreite nicht die Strafprozessordnung. Wenn Sie wollen, sagen Sie bitte ›nein‹, ich bitte darum, fragen zu dürfen!«

Bucharin: »In Ordnung.«

Präsident: »Die Zustimmung des Angeklagten ist nicht notwendig.«

Wyschinski: »Sie machten also keine Bekanntschaft mit der Polizei?«

Bucharin: »Absolut keine.«

Wyschinski: »Ich frage Sie nach Beziehungen zu irgendeiner polizeilichen Autorität.«

Bucharin: »Ich hatte keine Beziehungen mit irgendwelchen Polizeigewalten.«

Wyschinski: »Warum hatten Sie es so leicht, sich einem Block anzuschließen, der aktiv Spionage trieb?«

Bucharin: »Von Spionage weiß ich absolut nichts.«

Wyschinski: »Was meinen Sie mit ›Ich weiß absolut nichts‹?«

Bucharin: »Genau das.«

Wyschinski: »Und mit was beschäftigte sich der Block?«

Bucharin: »Nur zwei Leute haben hier von Spionage geredet, Scharangowitsch und Iwanow, beide das, was man Agents provocateurs nennt, also Ihre eigenen Spitzel, Herr Staatsanwalt!«

Wyschinski: »Angeklagter Bucharin, wollen Sie damit sagen, dass auch Rykow ein Spitzel ist?«

Bucharin: »Nein, das nicht.«

Wyschinski (zu Rykow): »Angeklagter Rykow, wissen Sie nicht, dass der Block der Rechten und Trotzkisten Spionage trieb?«

Rykow: »Ich weiß, dass es Organisationen gab, die Spionage trieben.«

Wyschinski: »Sagen Sie, trieb die westrussische national-faschistische Organisation, welche Teil Ihres Blocks der Rechten und Trotzkisten war, diese Organisation, geführt von Scharangowitsch (also dem Spitzel) Spionage?«

Rykow: »Das habe ich doch schon zugegeben.«

Wyschinski: »Sie wussten davon?«

Rykow: »Ja.«

Wyschinski: »Und Bucharin nicht?«

Rykow: »Meiner Meinung nach wusste es auch Bucharin.«

Wyschinski: »Also, Angeklagter Bucharin, es ist nicht Scharangowitsch, der das behauptet, sondern Ihr Freund Rykow!«

Bucharin: »Trotzdem wusste ich nichts davon.«

Präsident: »Genosse Ankläger, haben Sie noch mehr Fragen?«

Wyschinski: »Ich will mir selbst über den Angeklagten Bucharin klarwerden. Verstehen Sie jetzt, Bucharin, warum ich Sie über Österreich fragte?«

Bucharin: »Meine Beziehungen zur österreichischen Polizei bestanden in meiner Einkerkerung in einer österreichischen Festung … Ich war in einem schwedischen Gefängnis, zweimal in einem russischen und in einem deutschen Gefängnis.«

Wyschinski: »Das beweist nicht, dass Sie kein Spion sind. – Angeklagter Rykow, Sie bestätigen, dass, nach allen seinen Aufenthalten in den Gefängnissen verschiedener Länder Bucharin trotzdem die Beziehungen seiner Komplizen zum polnischen Geheimdienst billigte? Verstehen Sie das?«

Rykow: »Ich verstehe das nicht.«

Wyschinski: »Bucharin versteht es.«

Bucharin: »Ich verstehe, aber leugne es.«

Bucharin weiß sehr wohl, dass er sterben muss. Daher seine, ja, die geradezu lückenlose Geständnisfreudigkeit aller. Ziehen sie den Tod einer jahrelangen Zuchthausstrafe mit Folterungen vor? Aber noch einmal schlägt Bucharin zu. Aus seinem Schlusswort:

»Dieses Verfahren, der Schluss einer ganzen Serie von Verfahren, hat alle die Verbrechen und verräterischen Aktivitäten enthüllt, es hat die historische Bedeutung und die Wurzeln unseres Kampfes gegen die Partei und die Räteregierung bloßgelegt.

Ich war über ein Jahr im Gefängnis und deshalb weiß ich nicht, was in der Welt vorgeht. Aber, nach den Bruchstücken wirklichen Lebens zu urteilen, die mich durch Zufall manchmal erreichten, sehe, fühle und verstehe ich, dass die Interessen, die wir so verbrecherisch verrieten, jetzt in eine neue Phase gigantischer Entwicklung eintreten, dass sie in die internationale Arena eintreten, als großer und mächtiger Faktor der weltweiten Entwicklung des Proletariats …

Ich bedaure noch einmal, dass ich mich des Verrats am sozialistischen Vaterland schuldig machte, des gemeinsten aller möglichen Verbrechen, der Organisation von Bauernaufständen, der Vorbereitung von Terrorakten und der Mitgliedschaft in einer geheimen Anti-Räte-Organisation. Ich gebe weiter zu, dass ich eine Verschwörung zwecks einer Palastrevolution organisiert habe.

Aber das, zufällig, erweist die Unrichtigkeit aller Passagen in der Anklagerede des Bürgers Staatsanwalt, wo er behauptet, ich nähme die Pose eines bloßen Theoretikers, eines Philosophen an, und so weiter. Das sind alles durch und durch praktische Angelegenheiten und ich sage nochmals, dass ich ein Führer und nicht bloß ein Rädchen im Apparat der Konterrevolution war. Daraus folgt, wie jedermann klar sein muss, dass es viele einzelne Dinge gibt, die ich nicht wissen konnte und nicht gewusst habe, aber dass mich das nicht aus meiner Verantwortung dafür entlässt.

Indessen gebe ich zu, dass ich schuld bin am verräterischen Plan einer Aufteilung der UdSSR, denn Trotzki verhandelte über territoriale Konzessionen und ich war mit den Trotzkisten verbündet. Das ist eine Tatsache, die ich zugebe.

Kategorisch verneine ich aber mein Komplizentum beim Mord an Kirow, Menzhinsky, Kubibyschow, Gorki und dessen Sohn Maxim Pjeschkow. Jagoda behauptete, Kirow wäre im Einverständnis mit dem Block der Rechten und Trotzkisten ermordet worden. Davon weiß ich nichts. Aber was der Bürger Staatsanwalt Logik nennt, kommt hier dem tatsächlichen Inhalt zu Hilfe. Er fragte, ob Bucharin und Rykow bei diesen Morden beiseite stehen konnten und er antwortete, dass sie das nicht konnten, weil sie davon wussten. Aber nicht beiseite stehen und wissen, das ist ein und dasselbe. Es ist, was die elementare Logik ›Tautologie‹ nennt, das heißt, das, was erst bewiesen werden muss, als schon bewiesen anzusehen. Aber wie lautet die wirkliche Erklärung? Es könnte gesagt werden: Gut, also, du Schurke, wie erklärst du diese Tatsache? Kannst du leugnen, dass die eine oder andere Entscheidung von einer oder einer anderen Sektion gefällt wurde, mit dem Wissen von Jenukidze und Jagoda, oder leugnest du selbst das? Ich kann es nicht leugnen, Bürger Richter. Aber wenn ich es nicht leugnen kann, kann ich es ebenso wenig bestätigen, ich kann höchstens etwas vermuten: Immerhin müssen Sie den Geheimnischarakter der Arbeit berücksichtigen. Das Zentrum hielt keine Versammlungen ab, die Dinge wurden von Fall zu Fall diskutiert und unter solchen geheimen Methoden der Verbindung untereinander und der Mitteilung, da sind solche Dinge ganz gut möglich …

Oft erklärte man die Reue mit verschiedenen, vollständig unsinnigen Sachen, wie etwa mit tibetanischen Pulvern und so weiter. Von mir will ich sagen, dass ich im Gefängnis, in dem ich über ein Jahr gesessen habe, arbeitete, studierte, meinen Kopf bewahrte. Das ist eine tatsächliche Widerlegung aller Märchen und unsinnigen konterrevolutionären Dummheiten.

Man spricht von Hypnose. Aber ich habe vor Gericht auf dem Prozess auch juristisch meine Verteidigung geführt, habe mich an Ort und Stelle orientiert, mit dem staatlichen Ankläger polemisiert, und jeder auch nicht besonders in diesen Zweigen der Medizin erfahrene Mensch wird zugeben müssen, dass es eine solche Hypnose überhaupt nicht geben kann.

Sehr oft erklärt man diese Reue mit Dostojewskitum, mit spezifischen Eigenschaften der russischen Seele, was man über Typen etwa in der Art des Aljoscha Karamasow oder der Helden des ›Idioten‹ und anderer Gestalten Dostojewskis sagen kann, die auf die Straße hinaustreten und schreien: ›Schlagt mich, Rechtgläubige, ich bin ein Missetäter!‹

Aber hier liegt die Sache ganz und gar nicht so. In unserem Lande ist die sogenannte russische Seele und die Psychologie der Helden Dostojewskis eine längst vergangene Zeit, ein Plusquamperfectum. Solche Typen existieren bei uns nicht, es sei denn in den Hinterhöfen kleiner Provinzhäuser, aber auch dort existieren sie kaum. Umgekehrt aber gibt es eine solche Psychologie in Westeuropa.

Und nun das Entscheidende:

Ich muss hier von mir selbst sprechen, von den Ursachen meiner Reue. Natürlich muss man sagen, dass auch die Beweisstücke eine sehr große Rolle spielen. Ich habe ungefähr drei Monate geleugnet. Dann begann ich, Aussagen zu machen. Warum? Die Ursache liegt darin, dass ich im Gefängnis meine ganze Vergangenheit umgewertet habe. Da fragt man sich: Wenn du stirbst, wofür stirbst du? Dann ergibt sich plötzlich mit erschütternder Deutlichkeit eine absolut schwarze Leere. Es gibt nichts, wofür man sterben müsste, wenn man sterben wollte, ohne bereut zu haben, und umgekehrt nimmt all das Positive, das in der Sowjetunion leuchtet, im Bewusstsein des Menschen andere Ausmaße an. Dies hat mich endgültig entwaffnet und dazu getrieben, meine Knie vor der Partei und dem Land zu beugen. Und wenn man sich fragt: Nun gut, du stirbst nicht – wenn du durch irgendein Wunder leben bleiben wirst, dann wieder: wofür? Isoliert von allen, ein Feind des Volkes in einer nicht menschlichen Lage, in voller Isolierung von allem, was das Wesen des Landes ausmacht … Und in solchen Momenten, Bürger Richter, fallen alles Persönliche, aller persönliche Niederschlag, die Überbleibsel der Erbitterung, Eigenliebe und eine ganze Reihe anderer Dinge weg und verschwinden. Und wenn zu einem dann noch das Echo des weiten internationalen Kampfes gelangt, so tut all dies in seiner Gesamtheit seine Wirkung und es ergibt sich ein voller innerer moralischer Sieg der UdSSR über ihre kniefälligen Gegner.