Buch
Seit ihrer Rückkehr aus Irland und der turbulenten Begegnung mit Edward ist Diane fest entschlossen, ihr Leben in Paris wieder aufzunehmen. Mithilfe ihres Freundes Félix stürzt sie sich zurück in die Arbeit in ihrem gemeinsamen literarischen Café »Glückliche Menschen lesen und trinken Kaffee«, und Diane scheint es tatsächlich zu gelingen, ihren inneren Frieden zu finden. Doch dann wird sie erneut von den Ereignissen der Vergangenheit eingeholt, und alles, was sie sich während ihrer Zeit in Irland so hart erkämpft hat, droht mit einem Mal wieder einzustürzen. Wird es Diane endlich schaffen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und nach vorne zu sehen? Und welche Rolle spielt Edward dabei?
Autorin
Agnès Martin-Lugand ist Psychologin und war sechs Jahre im Rahmen eines Kinderschutzprogramms tätig. Seit dem Riesenerfolg des Romans Glückliche Menschen küssen auch im Regen, der demnächst verfilmt wird, widmet sie sich nur noch dem Schreiben. Agnès Martin-Lugand lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen in der Normandie. Abschiedsküsse zählt man nicht ist ihr zweiter Roman bei Blanvalet.
Von Agnès Martin-Lugand bei Blanvalet bereits erschienen:
Glückliche Menschen küssen auch im Regen
Abschiedsküsse zählt man nicht
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Agnès Martin-Lugand
ABSCHIEDSKÜSSE
ZÄHLT MAN NICHT
Roman
Aus dem Französischen
von Doris Heinemann
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel
»La Vie est facile ne t’inquiète pas« bei Editions Michel Lafon, Paris.
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1. Auflage
Copyright der Originalausgabe © Michel Lafon Publishing 2015,
La Vie est facile ne t’inquiète pas
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2015 by Blanvalet
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Alexandra Baisch
Umschlaggestaltung und -illustration: www.buerosued.de
JvN · Herstellung: sam
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-19860-2
V002
www.blanvalet.de
Für meine drei Männer
Ein normaler Trauerprozess endet keineswegs
mit dem Vergessen des Verstorbenen,
sondern mit der Fähigkeit, ihm in einer abgeschlossenen
Geschichte den ihm zukommenden Platz zu geben,
mit der Fähigkeit, sich wieder voll und ganz
den Tätigkeiten, den Plänen und Wünschen zu widmen,
die dem Leben einen Wert geben.
Monique Bydlowski,
Je rêve un enfant [Ich träume ein Kind]
Don’t worry. Life is easy.
AaRON, Little Love
1
Warum nur hatte ich seinem Drängen schon wieder nachgegeben? Auf irgendeine wundersame Weise gelang es Félix immer wieder, mich zu überlisten: Er fand ein Argument, irgendetwas, um mich doch zu überzeugen, und dann ging ich hin. Jedes Mal erlag ich seinen Einflüsterungen und dachte, ich würde vielleicht doch auf das gewisse Etwas treffen und weiche Knie bekommen. Dabei kannte ich Félix wie ein eigenes Kind, unsere Vorlieben waren einander diametral entgegengesetzt. Wenn er also an meiner Stelle dachte und entschied, lag er unweigerlich daneben. Ich hätte es wirklich wissen müssen, wir waren schließlich schon lange genug befreundet. Und trotzdem kam es dazu, dass ich zum sechsten Mal in Folge einen Samstagabend mit einem völligen Idioten verbrachte.
In der Woche zuvor hatte ich das Vergnügen mit einem Bio-Apostel und seiner gesunden Lebensweise gehabt. Als hätte Félix hinsichtlich der Laster seiner besten Freundin einen Gedächtnisschwund erlitten. Den ganzen Abend lang wurde ich über die Gefahren meines Tabak- und Alkoholkonsums sowie meiner schlechten Ernährung belehrt. Dieser Öko in Flipflops erklärte mir ganz selbstverständlich, mein Lebensstil sei katastrophal, über kurz oder lang würde ich unfruchtbar, und wahrscheinlich suchte ich unbewusst sogar den Flirt mit dem Tod. Offenbar hatte ihm Félix keine genaueren Angaben zu diesem Date geliefert. Jedenfalls erklärte ich ihm mit meinem schönsten Lächeln, was den Tod und Selbstmordgelüste angehe, hätte ich in der Tat einige Erfahrung, und dann ging ich.
Der heutige Idiot war vom Stil her ganz anders: eher gut aussehend, mit beachtlichem Alkoholfassungsvermögen und keinerlei Belehrungsabsichten. Doch er, und das war leider kein vernachlässigbarer Makel, war anscheinend davon überzeugt, er würde mich ins Bett kriegen, indem er mir die Heldentaten erzählte, die er gemeinsam mit seiner geliebten GoPro durchgestanden hatte: »Ich bin diesen Sommer mit meiner GoPro einen eisigen Sturzbach hinuntergefahren … Letzten Winter bin ich mit meiner GoPro auf einer Buckelpiste Ski gefahren … Ich habe mit meiner GoPro geduscht … Weißt du, neulich habe ich mit meiner GoPro die Metro ausprobiert« usw. Das ging so über eine Stunde, er sprach in jedem Satz von ihr. Ich fragte mich schon, ob er auch mit ihr zur Toilette ging.
»Ob ich mit meiner GoPro wohin gehe? Ich glaube, ich habe mich verhört«, unterbrach er sich plötzlich.
Hoppla … Da hatte ich offenbar laut gedacht. Ich hatte es satt, die Böse zu sein, die sich nicht für das interessieren konnte, was man ihr erzählte, und die sich sowieso fragte, was sie da eigentlich zu suchen hatte. Ich beschloss, das Pflaster mit einem Ruck abzureißen.
»Hör zu, du bist sicher sehr nett, aber deine Liebesbeziehung mit deiner Stirnkamera ist so innig, dass ich mich wirklich nicht zwischen euch drängen möchte. Auf das Dessert verzichte ich, und für den Kaffee habe ich alle nötigen Zutaten zu Hause.«
»Wo ist das Problem?«
Ich stand auf, er ebenfalls. Ich hob zum Abschied nur kurz die Hand und ging dann zur Kasse; so gemein war ich nun auch wieder nicht, dass ich ihn mit der Rechnung für dieses Fiasko sitzen lassen würde. Ich sah mich noch einmal um und konnte mir mein Lachen zum Glück verbeißen. Hätte ich mir bloß rechtzeitig eine GoPro zugelegt, um sein Gesicht festzuhalten … Armer Kerl …
Am nächsten Tag wurde ich vom Telefon geweckt. Wer wagte es, meine geheiligte Sonntagvormittagsruhe zu stören? Welche Frage!
»Hallo, Félix«, knurrte ich in den Hörer.
»And the winner is?«
»Halt die Klappe.«
Sein amüsiertes Glucksen ging mir auf den Geist.
»Ich erwarte dich in einer Stunde, du weißt schon wo«, brachte er etwas undeutlich hervor und legte auf.
Ich dehnte und streckte mich in meinem Bett wie eine Katze, dann erst sah ich auf den Wecker: 12.45 Uhr. Es hätte schlimmer kommen können. So wenig Probleme ich auch hatte, an Wochentagen früh aufzustehen, um mein Literaturcafé Glückliche Menschen lesen und trinken Kaffee zu öffnen, so großen Wert legte ich auf meinen Sonntagvormittagsschlaf, bei dem ich mich erholte und den Kopf freibekam. Schlafen war nach wie vor meine Zuflucht, früher vor meinem großen Kummer, jetzt vor meinen kleinen Problemen. Ich stand auf, sah aus dem Fenster und stellte voller Freude fest, dass es ein schöner Tag werden würde, der Pariser Frühling war da.
Als ich ausgehbereit war, musste ich mich zurückhalten, um nicht die Schlüssel zu den Glücklichen Menschen mitzunehmen; heute war Sonntag, und ich hatte mir geschworen, den »Tag des Herrn« nicht mehr dort zu verbringen. Auf dem Weg zur Rue des Archives ließ ich mir Zeit. Ich flanierte, bummelte an den Schaufenstern vorbei und rauchte genüsslich die erste Zigarette des Tages; hin und wieder begegneten mir Kunden der Glücklichen Menschen, und wir winkten uns zu. Doch als ich zu unserer sonntäglichen Verabredung auf der Caféterrasse erschien, bereitete Félix diesem friedlichen Charme ein jähes Ende.
»Wo zum Teufel warst du? Ich wäre fast von unserem Tisch vertrieben worden!«
»Guten Morgen, mein liebster Félix«, antwortete ich und gab ihm einen dicken Kuss auf die Wange.
Er kniff die Augen zusammen.
»Du bist zu nett zu mir, da ist was im Busch.«
»Aber gar nicht! Erzähl mir von deinem Abend. Wann hat er aufgehört?«
»Als ich dich anrief. Ich habe Hunger, lass uns bestellen!«
Er winkte dem Kellner, um unseren Brunch zu bestellen. Das war Félix’ neuester Tick. Zu seiner eigenen Beruhigung hatte er sich eingeredet, nach seinen wild durchgefeierten Samstagnächten sei ein Brunch seiner Gesundheit zuträglicher als ein aufgewärmter Pizzarest. Seither bestand er darauf, dass ich zugegen war und ihn bewunderte, wenn er Rühreier, Baguette und Würstchen verschlang und den Liter Orangensaft hinunterstürzte, der den After-Party-Durst löschen sollte.
Wie gewöhnlich stocherte ich nur ein wenig in seinen Resten herum; er verdarb mir den Appetit. Danach lehnten wir uns, die Sonnenbrille auf der Nase, in unseren Stühlen zurück und rauchten.
»Besuchst du sie morgen?«
»Wie immer«, erwiderte ich lächelnd.
»Gib ihnen einen Kuss von mir.«
»Mach ich. Gehst du gar nicht mehr hin?«
»Nein, ich habe nicht mehr das Bedürfnis.«
»Wenn man bedenkt, dass ich anfangs gar nicht hinwollte!«
Es war zu meinem Montagsritual geworden. Die glücklichen Menschen waren geschlossen, und ich besuchte Colin und Clara. Ob es regnete, stürmte oder schneite, ich ging zu dieser Verabredung. Ich erzählte ihnen so gern von meiner Woche, von den kleinen Abenteuern der Glücklichen Menschen … Seit ich wieder ausging, erzählte ich Colin haarklein von all den abservierten Kandidaten; ich glaubte, ihn dann lachen zu hören, und lachte mit ihm, als wären wir Verschwörer. Mit Clara vertraulich zu sprechen war sehr viel schwerer. Meine Tochter, die Erinnerung an sie, stürzte mich in einen Abgrund des Schmerzes. Ich tastete zerstreut nach meinem Hals: Bei einem dieser vertraulichen Gespräche mit Colin hatte ich meinen Ehering, den ich als Anhänger an einer Halskette trug, abgenommen. Endgültig.
Seit einigen Monaten trug ich nichts mehr um den Hals. Ich hatte Colin erklärt, ich sei nach reiflicher Überlegung bereit, in die von Félix vorgeschlagenen Treffen mit anderen Männern einzuwilligen.
»Mein Liebster, du bist bei mir … Du wirst immer bei mir sein … Aber du bist fortgegangen … Du bist fern von mir und wirst nie zurückkehren, ich habe es akzeptiert … Weißt du, ich möchte es gern versuchen …«
Ich seufzte, versuchte meine Tränen hinunterzuschlucken und nahm den Ehering zwischen die Fingerspitzen.
»Er beginnt, schwer zu werden … Ich weiß, du bist mir nicht böse … Ich glaube, ich bin jetzt bereit … Ich werde ihn abnehmen … Ich spüre, dass ich von deinem Verlust geheilt bin … Ich werde dich immer lieben, daran wird sich nichts ändern, aber von nun an ist es anders … Ich kann ohne dich leben …«
Ich küsste das Grab und öffnete den Verschluss der Kette. Meine Augen liefen über. Ich schloss meine Hand mit aller Kraft um den Ehering. Dann stand ich auf.
»Bis nächste Woche, meine Geliebten. Meine liebe Clara … Maman … Maman hat dich lieb.«
Und dann war ich gegangen, ohne mich noch einmal umzudrehen.
Félix unterbrach meine Gedankengänge mit einem kräftigen Klaps auf meinen Oberschenkel.
»Wir gehen spazieren, es ist so schönes Wetter.«
»Nur zu, ich folge dir.«
Wir schlenderten über die Seine-Kais. Wie jeden Sonntag bestand Félix auch heute darauf, den Fluss zu überqueren und einen Abstecher in die Kathedrale Notre-Dame zu machen, um dort eine Kerze anzuzünden. »Ich muss doch etwas tun bei all meinen Sünden«, rechtfertigte er sich immer. Doch er konnte mich nicht täuschen: Diese Kerze war seine Art, die Verbindung zu Clara und Colin aufrechtzuerhalten. Während er in der Kirche bei ihnen war, wartete ich draußen und beobachtete die Touristen, die von den Tauben attackiert wurden. Ich konnte noch in aller Ruhe eine rauchen, bevor ich dem Tod der fabelhaften Mutter der fabelhaften Amélie beiwohnte, oscarreif verkörpert von Félix – vor allem der Schrei! Dann packte mich der weltbeste Schauspieler bei den Schultern, verbeugte sich vor dem imaginären tobenden Publikum, und wir machten uns gemächlich auf den Rückweg in unser geliebtes Marais zu unserer Sonntagabend-Sushibar.
Félix trank Sake. »Gift muss man mit Gegengift bekämpfen«, sagte er. Ich begnügte mich mit einem Tsingtao. Zwischen zwei Makis ging er zum Angriff über und verlangte einen Bericht. Der würde kurz ausfallen!
»Also, was hast du an dem von gestern auszusetzen?«
»Seine Stirnkamera!«
»Hey! So was ist doch geil!«
Ich verpasste ihm eine kräftige Kopfnuss.
»Wann wirst du endlich kapieren, dass wir nicht die gleiche Sexualität haben?«
»Was meinst du mit deiner?«, fragte er.
»Wollen wir nach Hause? Die werden das Fernsehprogramm nicht unseretwegen umstellen.«
Wie immer brachte mich Félix bis zur Tür des Gebäudes, in dem die Glücklichen Menschen untergebracht waren. Und wie immer zermalmte er mich in einer festen Umarmung.
»Ich möchte dich um etwas bitten«, sagte ich, noch in seinen Armen.
»Was?«
»Bitte hör auf, einen auf Parship zu machen, ich ertrage diese fürchterlichen Abende nicht mehr. Das ist so entmutigend.«
Er schob mich von sich weg.
»Nein. Ich höre nicht auf. Ich möchte, dass du einen netten, anständigen Kerl kennenlernst, mit dem du glücklich wirst.«
»Und stellst mir nur Hampelmänner vor, Félix. Bitte lass mich das selbst regeln.«
Er bohrte seinen Blick in meine Augen.
»Denkst du immer noch an deinen Iren?«
»Ach, hör doch auf mit dem Blödsinn! Ich bin schon seit einem Jahr aus Irland zurück. Habe ich Edward je wieder erwähnt? Nein! Er hat damit gar nichts zu tun. Das ist Vergangenheit. Aber ich kann nichts dafür, dass du nur Idioten antanzen lässt!«
»Schon gut, schon gut. Ich lass dich eine Zeit lang in Ruhe, aber sei ein bisschen offener für die Männer, denen du begegnest. Du weißt genauso gut wie ich, dass Colin sich freuen würde, wenn du einen Mann in deinem Leben hättest.«
»Ja, ich weiß. Das fände ich ja auch schön … Gute Nacht, Félix. Bis morgen! Morgen ist der große Tag!«
»Yes!«
Ich pflanzte ihm einen genauso dicken Kuss auf die Wange wie einige Stunden zuvor und ging ins Haus. Obwohl Félix mich immer wieder dazu drängte, wollte ich nicht umziehen. Ich lebte gern in meiner kleinen Wohnung über den Glücklichen Menschen. Ich war mitten im Geschehen, das gefiel mir. Und vor allem war ich in dieser Wohnung ganz allein und ohne fremde Hilfe wieder auf die Beine gekommen. Ich nahm lieber die Treppe als den Aufzug und stieg bis in den fünften Stock hinauf. In meiner Wohnung angekommen, lehnte ich mich mit einem zufriedenen Seufzer an die Tür. Anders als unser letztes Gespräch vermuten ließ, hatte ich einen herrlichen Tag mit Félix verbracht.
Und anders als er dachte, sah ich mir den Sonntagabendfilm nie an. Ich legte Musik auf – heute Abend Ásgeirs King and Cross – und begann mit dem, was ich meinen Wellness-Abend nannte. Ich hatte beschlossen, auf mich zu achten, und welcher Moment war besser geeignet als der Sonntagabend, um sich mit einer Maske, einem Peeling und diesem ganzen Mädelskram zu verwöhnen?
Anderthalb Stunden später kam ich endlich wieder aus dem Badezimmer, duftend und mit samtiger Haut. Ich machte mir den letzten Kaffee des Tages und fläzte mich aufs Sofa. Genüsslich steckte ich mir eine Zigarette an und ließ meine Gedanken schweifen. Félix hatte nie erfahren, aus welchem Grund ich Edward in die tiefsten Tiefen meines Gedächtnisses verbannt hatte, um nie wieder an ihn zu denken.
Nach meiner Rückkehr aus Irland hatte ich mit niemandem Kontakt gehalten: weder mit Abby und Jack noch mit Judith und schon gar nicht mit Edward. Natürlich hatte vor allem er mir gefehlt. Die Erinnerungen an ihn überfielen mich in Wellen, manchmal machten sie mich glücklich, manchmal unglücklich. Doch je mehr Zeit verging, desto sicherer war ich, dass ich sie nicht mehr fragen würde, wie es ihnen ging, sie nicht und ihn schon gar nicht. Es wäre nach so langer Zeit auch seltsam gewesen; jetzt war es schon über ein Jahr her … Und dennoch …
Etwa ein halbes Jahr zuvor hatte ich mich an einem verregneten Wintersonntag in meine Wohnung eingeigelt und den Schrank aufgeräumt. Dabei war ich auf die Schachtel mit den Fotos gestoßen, die er auf den Aran-Inseln von uns beiden gemacht hatte. Ich öffnete sie, und beim Anblick seines Gesichts war es um mich geschehen. Wie in einem Wahnanfall stürzte ich mich aufs Telefon, suchte seine Nummer in der Kontaktliste und drückte auf die Anruftaste. Ich wollte, nein, ich musste wissen, wie es ihm ging. Bei jedem Klingeln war ich kurz davor aufzulegen, hin- und hergerissen zwischen der Angst, seine Stimme zu hören, und dem tiefen Wunsch, wieder mit ihm in Kontakt zu treten. Und dann schaltete sich der Anrufbeantworter ein: nur sein Vorname, den er mit seiner heiseren Stimme sagte, und dann der Piepton. Ich stotterte herum: »Äh … Edward … Ich bin’s … Diane. Ich wollte … Ich wollte nur wissen … äh … wie es dir geht … Ruf mich zurück … Bitte.« Kaum hatte ich aufgelegt, dachte ich, ich hätte eine Dummheit gemacht. Nervös ging ich auf und ab und nagte dabei an meinen Nägeln. Der verzweifelte Wunsch, von ihm zu hören, zu erfahren, ob er mich vergessen hatte oder nicht, fesselte mich den ganzen Abend an mein Telefon. Ich war so besessen, dass ich nach 22 Uhr einen weiteren Versuch startete. Er nahm nicht ab. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, stand mir meine Lächerlichkeit deutlich vor Augen, und ich verfluchte mich und meine Dummheit. Dieser Anfall von Verrücktheit hatte mir zumindest klargemacht, dass es keinen Edward mehr gab, dass er nur eine kurze Episode in meinem Leben gewesen war. Er hatte mich auf den Weg gebracht und es mir ermöglicht, mich von dem Gefühl zu befreien, ich müsse Colin treu bleiben. Inzwischen fühlte ich mich auch von ihm befreit. Ich war bereit, mich für andere zu öffnen.