Der Papst hinter Gittern

Historischer Roman

Wolfgang Vater


ISBN: 978-3-95428-612-6
1. Auflage 2015
© 2015 Wellhöfer Verlag, Mannheim

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www.wellhoefer-verlag.de
Titelgestaltung: Uwe Schnieders, Fa. Pixelhall, Mühlhausen
Das vorliegende Buch einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlages unzulässig.

Inhalt

Wir werden eine historische Gestalt

immer auch auf unsere Zeit beziehen.

Sonst wäre sie allenfalls ein schönes Bildnis;

das uns fesseln kann, aber fremd bleibt.

Nein, die historische Gestalt wird

unter unseren Händen, ob wir es wollen oder nicht,

zum angewendeten Beispiel unserer Erlebnisse werden,

sie wird nicht nur bedeuten, sondern sein,

was die weilende Epoche hervorbringt oder leider versäumt.

Wir werden sie den Mitlebenden schmerzlich vorhalten:

seht das Beispiel.

Da aber das Beispiel einst gegeben worden ist,

die historische Gestalt leben und handeln konnte,

so sind wir berechtigt,

Mut zu fassen und ihn anderen mitzuteilen.

Heinrich Mann

Ein Hinweis vorweg!

 

In der in diesem Roman beschriebenen Zeit laufen mehrere geschichtliche Ereignisse parallel nebeneinander: Herrscherhäuser ringen nach dem Niedergang der Staufer um die Vormacht im Reich, die rheinische Pfalzgrafschaft etabliert sich zur Kurpfalz, die römische Kirche verlegt ihren Amtssitz nach Avignon, es kommt zur Kirchenspaltung (Schisma), Konzile sollen den Übelstand beseitigen, drei Päpste werden gewählt – und mittendrin die rheinischen Pfalzgrafen, mal als König, mal als Landesherr oder als Protektor des Konstanzer Konzils.

Weil diese Fülle verwirrt, haben wir für historisch Interessierte im Anhang eine Zeittafel beigefügt.

Historische Personen

Ruprecht I. der Rote, Kurfürst, 1309–1390, Gründer der Universität Heidelberg

 

Ruprecht II. der Harte, Kurfürst, 1325–1398

 

Ruprecht III., Kurfürst, 1352–1410, von 1400 bis 1410 römisch-deutscher König als König Ruprecht I.

 

Ludwig III., Kurfürst, 1378–1436

 

Blanche oder Blanca, 1392–1409, englische Prinzessin, durch Heirat Pfalzgräfin

 

Ruprecht der Engländer, 1406–1426, Sohn Blancas und Ludwigs III.

 

Mechthild (Matilde) von Savoyen, 1390–1438, Kurfürstin, zweite Gemahlin Ludwigs III.

 

Johann von Nassau-Wiesbaden-Idstein, 1360–1419, war als Johann II. von 1397 bis 1419 Kurfürst und Erzbischof von Mainz.

 

Johannes XXIII., 1370–1419, mit bürgerlichem Namen Baldassare Cossa, 1410–1415 Papst (Gegenpapst)

 

Wenzel von Luxemburg, 1361–1419, von 1363 bis 1419 böhmischer König, von 1376 bis 1400 römisch-deutscher König, von 1373 bis 1378 zudem Kurfürst von Brandenburg (das Haus Luxemburg vereinte somit für den Fall einer Königswahl zwei Kurstimmen, die böhmische und die brandenburgische, auf sich)

 

Sigismund von Luxemburg, 1368–1437, König von Ungarn, 1411 römisch-deutscher König, 1434 römisch-deutscher Kaiser

 

Jan oder Johannes Hus, 1369–1415, Theologe, Prediger und Reformator, zeitweise Rektor der Karls-Universität Prag

 

John Wiclif, 1330–1384, englischer Philosoph, Theologe und Kirchenreformer

 

Heinrich IV.,1367–1413, König von England, Vater Blancas

Romanfiguren

Almut Thalheim, Tochter des Hunold von Husen und Magdalena Thalheim

 

Magdalena Thalheim, Tochter des Wormser Bankiers Diethmar Thalheim und der Bürgerstochter Theresia Männich

 

Hunold Edler von Husen, kurfürstlicher Vogt und Domänenverwalter von Rheinhausen

 

Egolf von Husen, Sohn des Edlen von Husen aus der Ehe mit der verstorbenen Adelgunde von Strahlheim

 

Raban von der Sodern, Domherr in Mainz, Sohn des aus dem Schwäbischen stammenden Kanzleischreibers Ernst Sodern

 

Linhart Dörzbach, kurfürstlicher Oberhofkämmerer

 

Bürklin Wolgast, Aumann, kurfürstlicher Fischereiaufseher

 

Hennes Wolgast, Sohn des Aumanns

 

Konrad Wolgast, Sohn des Aumanns

 

Abraham Levi, Jude, Skriptor

 

Bruder Arnulf, Anhänger der wiclifschen Lehren

 

Bruder John, Anhänger der wiclifschen Lehren

 

Giovanni Lamm, Pisaner Straßenjunge

 

Wessel, Bediensteter im Herrenhaus des Edlen von Husen

 

Adam Endres, Pfarrer im Dorf Mannheim

 

Luitgart Wernz, Schultheiß im Dorf Mannheim

 

Jöst Kretzer, Ortsbüttel im Dorf Mannheim

 

Ernst Knoblich, Fährmann

 

Else Wannemacher, elsässische Hebamme

1.

Heidelberg im Frühjahr 1402.

Die Kurpfalz stand in Blüte. Ein Summen und Zwitschern erfüllte die Luft. Obwohl am Himmel kein Wölkchen zu sehen war, glich das Innere des Edlen von Husen einem finsteren, kalten Grab. In so ein Loch gehörte er auch. Versteckt hinter dem Gerüst der im Bau befindlichen Heiliggeistkirche machte er seinen Freund, den Domherrn von Mainz, auf das Jammerbild auf der anderen Seite des Marktplatzes aufmerksam.

König Ruprecht I. kehrte aus Italien zurück. Keine Fanfaren, Posaunen oder Lobgesänge waren zu hören. Abgemagert und in Lumpen saß er auf seinem Rappen. Die Leute am Straßenrand hoben nicht einmal die Hand zum Gruß, nur einige Jungen machten sich einen Spaß daraus, den König mit einem Spottvers in seiner Residenz willkommen zu heißen.

 

Der König wollte ziehen mit Gewalt gen Rom, um Kaiser dort zu werden,

doch das nit g’schah wie er gewollt.

Sobald sie kamen winters ins Gebirg,

mochten sie erhalten weder Speis noch finden Herberg.

Die mächt’gen Herrn von Mailand versperrten Weg und Steg,

gar viel erschlugen sie, die andern starben elend hungers oder liefen weg.

In allertiefster Armut kehrt nun heim der König Ruperecht

und wird empfangen mit viel Schand und Schmach und Spott.

 

Der Hofmarschall, der neben dem König ritt, hob drohend die Hand und deutete den Rangen Schläge an. Müde winkte Ruprecht I. ab. »Lass Er sie nur. Sie haben ja so recht!«

 

Der Domherr hatte genug gesehen. »Hast du mich hierhergebeten, um dieses Trauerspiel mit anzusehen? Und warum versteckst du dich?«

»Weil ich mit schuld bin, dass wir die Schlacht bei Brescia verloren haben und Hals über Kopf flüchten mussten.«

»Ha, du missratener Spross aus dem edlen Pfälzer Geschlecht derer von Husen, was hast du diesmal angestellt?«

»Ich habe die Soldgelder nicht weitergegeben, sondern sie verzockt, und daraufhin sind die Söldner scharenweise zum Mailänder übergelaufen. Die paar Pfälzer, die ausgeharrt haben, konnten dem Mailänder Visconti kein Paroli bieten.«

»Ist das alles oder kommt noch mehr?«

»Ich habe versucht, das Geld zurückzugewinnen. Dafür musste ich bei den Florentiner Geldwechslern Kredite aufnehmen, habe wiederum alles verspielt und die sitzen mir nun im Nacken.«

Ritter von Husens Stimme nahm einen bittenden, fast flehenden Ton an. »Raban, du bist mein Freund, du musst mir Geld leihen. Die Geldsäcke haben mir gedroht, zum König zu gehen und ihm reinen Wein einzuschenken, wenn ich nicht binnen dreier Tage die Kredite zurückzahle.«

Über so viel Unvernunft konnte der Domherr nur den Kopf schütteln. »Egolf, ich erspare mir, dir den Kopf zurechtzurücken, denn fürwahr, die Zeit drängt. Weiß noch jemand von der Veruntreuung? Oder anders gefragt: Von wem hast du die Soldgelder erhalten? Doch nicht von Dörzbach, dem Oberhofkämmerer, der jeden Pfennig dreimal umdreht? Soviel ich weiß, ist er auch der Vormund deiner Halbschwester.«

»Das ist es ja, was mich so umtreibt. Er kennt meine Spielleidenschaft und hat sehr wohl bemerkt, dass auch ich wie manche anderen Truppenführer den Sold nicht weitergegeben habe. Aber er hat mich nicht verraten.«

»Genauer!«

»Dörzbach wurde zum König beordert, und dieser hat ihm einen Brief unter die Nase gehalten. Darin stand, dass sich die angeworbenen Söldnertruppen beschwert haben, weil sie in den letzten vier Monaten keinen Sold erhalten hätten.«

»Und?«

»König Ruprecht I. hat wie ein Wahnsinniger getobt und gedroht, jeden, der damit etwas zu tun habe, zur Verantwortung zu ziehen.«

»Was hat Dörzbach ihm gesagt?«

»Allerhand Ausreden: Die verbündeten Reichsfürsten wären ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachgekommen, die Preise wären gestiegen und derlei mehr. Jedenfalls wurde er sofort seines Amtes enthoben, zudem hat der König zur Nachprüfung der veruntreuten Gelder eine Kommission eingesetzt. Wenn Dörzbach ein Wort sagt, bin ich geliefert.«

»Schlimm, schlimm! Warum tat der nun abgesetzte Kämmerer das?«

»Weil er den Namen meines verstorbenen Vaters, seines besten Freundes, nicht mit den Taten des Sohnes beschmutzen will.«

»Nobel, muss ich sagen. Aber du weißt, dass du ein Esel, ein gottverfluchter Esel bist. Soldgelder zu unterschlagen kommt Landesverrat gleich.«

Er zeigte auf den traurigen Tross, der durch die Straßen Heidelbergs zog. »Das ist das Werk von Leuten, wie du einer bist. In deiner Haut möchte ich nicht stecken. Kann sein, dass dein schönes Lockenköpfchen nicht mehr lange auf deinem Hals thront.«

Egolf lief ein Schauer über den Rücken; er sank vor seinem Freund fast auf die Knie. »Ich bitte dich, ich flehe dich an, hilf mir, gib mir das Geld, bevor es zu spät ist!«

»Weißt du, was du da von mir verlangst? Die Anwartschaft auf die Speyerer Bischofsmütze ist vakant. Der Traum meines Lebens liegt zum Greifen nahe. Allein dafür habe ich jeden Kreuzer zusammengehalten. Und auf einmal soll alles vorbei sein, nur weil mein Freund der Spielsucht verfallen ist? Niemals!«

Zum Gotterbarmen war es, händeringend bettelte der Edle von Husen. »Raban, du kannst mich doch nicht dem Schwert ausliefern. Bedenke, was mein Vater für euch getan hat. Deinen Vater, Eberhard Sodern aus dem Schwäbischen, ein kleiner Kanzleischreiber, hat mein Vater adeln lassen. Es war nicht leicht, den König zu überzeugen, aber das Wort Hunolds von Husen, Domänenverwalter von Rheinhausen und zugleich Vogt der Zollfeste am Rhein, galt etwas bei Hofe. Ohne meinen Vater wärst du nicht das, was du heute bist. Ein wenig Dankbarkeit könntest du schon zeigen.«

Der Domherr zögerte. Rührte ihn die Not seines Freundes oder hatte er ganz andere Gedanken? »Warum leihst du dir das Geld nicht bei den Wormser Juden? Dein Vater war doch bei ihnen gut angesehen. Die Hand haben sie ihm geküsst, wenn sie ihm begegnet sind.«

»Eben deswegen. Ich schäme mich, wenn ich sie anbetteln muss. Du bist mein Freund. Raban, bitte, ich tue auch alles, was du von mir verlangst. Mein Ehrenwort!«

Als ob der Domherr auf den letzten Satz gewartet hätte. »Gut.« Er legte seine Arme um Egolfs Schultern. »Ich leihe dir das Geld, schenken kann ich es dir nicht. Sobald du die Schuldscheine unterschrieben hast, haben deine Ängste ein Ende.«

Egolf hätte Raban um den Hals fallen können. Doch die Freude dauerte nicht allzu lange. Beim Nachdenken wurde ihm bewusst, dass er die Schuldscheine irgendwann würde einlösen müssen. Das Vermögen, das ihm sein Vater hinterlassen hatte, war längst von den Würfeln aufgezehrt, und die noch vorhandenen Ländereien gehörten seiner Halbschwester. Also, wie die Schuldscheine einlösen? Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn.

»Ich kann mir denken, was in deinem Kopf vorgeht«, bemerkte Raban. »Egal, wie du es drehst und wendest, du musst auf irgendeinem Weg zu Geld kommen. Wie wär’s mit dem Erbe deiner Halbschwester? Wenn sie edel ist, teilt sie aus purer Geschwisterliebe mit dir. Kannst du mit ihr darüber sprechen?«

»Mit ihr schon, aber Dörzbach, ihr Vormund, würde niemals zulassen, dass ihr Erbe für meine Spielschulden verwendet wird.« Energisch schüttelte Egolf den Kopf. »Es wäre auch nicht richtig. Es ist das Erbe, das ihre Mutter ihr hinterlassen hat.«

»Da schau an, der Edelfreie von Husen hat es mit der Moral. Soll denn die Mutter deiner Halbschwester, eine hergelaufene Bürgerliche, die sich scheinheilig an das verwundete Herz deines Vaters nach dem Tod deiner Mutter herangemacht hat, als Siegerin hervorgehen? Sicher, sie war die einzige Tochter des Wormser Bankiers Thalheim, und dein Vater hat deren Brautgeld in Ländereien angelegt, aber die Ehe kam nicht zustande. Einen Tag vor der Trauung ist dein Vater einem Herzschlag erlegen. Deine Halbschwester ist also keine von Husen. Sie ist die Tochter einer von deinem Vater Geschwängerten. Familiäre Gefühle passen jetzt nicht hierher.«

Egolf wurde immer kleinlauter.

»Wenn du klug bist, hör auf mich.« Raban stieß ihn in die Seite. »Ich kenne einen Weg, wie du an ihr Erbe gelangen kannst. Deine Almut wird dabei allerdings Federn lassen müssen.«

»Willst du ihr ans Leben? Da mach ich nicht mit.«

»Gott bewahre, sie soll nur aus dem Gesichtsfeld entfernt werden, das ist alles.«

Ungläubig schaute Egolf ihn an. »Hm! Und wie soll das geschehen?«

»Die Güter deiner Halbschwester liegen doch rund um das Mündungsgebiet des Neckars in den Rhein. Wo befindet sie sich denn zurzeit?«

»Im Herrenhaus derer von Husen. In der Nähe der Zollfeste.«

»Dann müssen wir dort anfangen. Ihr ein wenig Angst einjagen, sie gefügig machen. Das musst nicht du tun. Wir suchen uns einen, der das für dich erledigt. Lass mich nur machen. Mir fällt schon etwas ein.«

2.

Südlich der Stelle, wo sich vor fünfzig Jahren der Neckar ein neues Bett gegraben hatte, um in den Rhein zu münden, lagen die reichen Salmgründe des Pfälzer Herrscherhauses. Dort musste Bürklin Wolgast, der Aumann, nach dem Rechten sehen.

Gleich daneben verbarg sich tief in dem sumpfigen Niederwald mit den knorrigen Erlen und Eschen das Moorloch. Die Frauen und Kinder des nahen Dorfes Mannheim mieden den von Spukgestalten heimgesuchten Ort. Das Moor war ihnen nicht geheuer, denn dort trieb der Teufel in mondhellen Nächten mit den Moorjungfrauen seinen Schabernack, und wer ihnen zusah, wurde in die Tiefe gezogen.

Genau dieser Aberglaube reizte Almut. Sie glaubte nicht an Gespenster und schon gar nicht an einen leibhaftigen Teufel. Ihre Mutter, die leider allzu früh verstorben war und sie in den Sommermonaten im Herrenhaus die Heilkraft der Kräuter gelehrt hatte, war der Meinung gewesen, dass mit dem Teufel das Böse bezeichnet wird, das in jedem Menschen steckt. Das Böse locke zu Untaten und verführe die Tugendhaften. Jeder müsse also seinen inneren Teufel bekämpfen. Weil das aber viele nicht könnten oder wollten, hätten sie einen leibhaftigen Teufel mit Hörnern, Bockfuß und Schwanz erfunden. Diesem Gebilde könnten sie nun die Schuld an allem geben und seien fein heraus. Zu jener Zeit nicht ganz ungefährlich, so zu denken. Die Männer der Kirche sahen das nämlich anders – ganz anders. Die Scheiterhaufen brannten an so manchen Stellen im Reich und anderswo.

Auf der rechten Seite des Moorlochs stand eine windschiefe Hütte, der gelegentliche Unterstellplatz für die Holzsammlerinnen bei aufkommendem Unwetter. Diesen Platz hatte Almut für sich in Beschlag genommen. Hier trocknete sie die Heilpflanzen, kochte sie auf einem Feuerchen zu einem Sud oder vermengte sie mit Schweineschmalz zu schmerzlindernden Salben. Sogar ein Mittel gegen Blasensteine hatte sie von ihrer Mutter gelernt.

Heute war einer der besonders schwülen Tage in der Rheinebene. Kein Lüftchen regte sich. Die Hitze hatte sich über dem Wasser gestaut. Almut bat Konrad, den jüngeren Sohn des Aumanns, weitere Äste ins Feuer zu werfen, damit die Weinrautenblätter im siedenden Wasser ihre Heilstoffe freigeben konnten. Weinraute war gut gegen alles Giftige, das den Körper befallen hatte, obwohl sie einen unangenehmen, penetranten Geruch hatte.

Schweiß stand ihr auf der Stirn, das Hemd klebte am Leib, am liebsten hätte sie alle Kleidungsstücke von sich gerissen. Früher, als Kinder, waren sie in die kühlenden Fluten gesprungen, wie Gott sie erschaffen hatte, und hatten sich gegenseitig das Wasser um die Ohren gespritzt. So unbekümmert waren sie damals gewesen.

Ein Kind war Almut nicht mehr, aber ein kindliches Gemüt hatte sie sich bewahrt. Das Äußere an ihr ließ schon erkennen, dass sie bald eine begehrenswerte Frau sein würde, so sagte zumindest ihr Vormund. Als ihr Vater noch lebte, war er dessen bester Freund gewesen, und nach seinem Tod war er ihr ein zweiter Vater geworden. Es gab nichts, das sie nicht miteinander bereden konnten, jeder vertraute dem anderen blind. Deswegen war sie auch so heiter, so leichtlebig gestimmt. Um die Zukunft brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Linhart Dörzbach war ja da.

Die Schwüle wurde unerträglich. Wenn doch nur ein kleines Lüftchen ginge! »Konrad, es dauert noch, bis das Wasser siedet, derweil vertreiben wir uns die Zeit damit, den Wind zu fangen.«

»Was willst du? Den Wind fangen? Das ist wieder eines deiner Traumspiele. Du musst immer irgendetwas tun, das nicht existiert. Heute gibt es keinen Wind, also ist es Unsinn, ihn zu fangen.«

»Da, da!« Almut hüpfte in die Höhe und griff nach etwas, das gar nicht vorhanden war. »Ich hab ihn!« Sie öffnete ihre Hand. »Hui, jetzt ist er mir entwischt. Vielleicht muss ich einen Zauberspruch sagen, um ihn zu bannen.«

Eine dunkle, geheimnisvolle Stimme erklang: »Dreimal Wolkendunst und Regenschauer, bring den Wind und kühl den Bauer.« Sie hielt inne, fühlte mit beiden Händen – kein Wind.

Nun tauchte sie Blätter ins Moor und warf sie ins Feuer. Es dampfte und zischte. Qualm und Rauch stiegen empor und versperrten ihnen die Sicht. Darum konnten sie auch nicht erkennen, dass zwei Frauen aus dem Dorf mit je einem Bündel Holz auf dem Rücken sich bei Almuts Spinnereien angstvolle Blicke zuwarfen, die Hände über den Köpfen zusammenschlugen, sich dreimal bekreuzigten und schnell ins nahe Dorf Mannheim rannten. Man hätte meinen können, der Teufel sei hinter ihnen her. Immer wieder deuteten sie zum Himmel. Fürchteten sie, dass das Mädchen ein Unwetter heraufbeschworen hatte?

Almut war ausgelassen, wagemutig und manchmal kaum zu bändigen. Ihr Vater hätte Spaß an ihr gehabt. Ein Junge in Röcken. Heute war sie ganz in ihrem Element. Kreuz und quer sprang sie über das lichte Feuer und quietschte vor Vergnügen. »Konrad, komm, gib mir die Hand, wir springen zu zweit darüber. Wer sich versengt, hat verloren. Komm!«

Der eher zurückhaltende, vernünftige Konrad wand sich und trat sogar zwei Schritte zurück. Es war nicht so, dass er sich nicht traute, er hatte nur keine Freude an solchem närrischen Zeug. Viel lieber nahm er ein Buch in die Hand und schaute sich die Abbildungen der Blumen und Insekten an. Trotzdem hing er sehr an Almut. Liebe? Nein, so weit zu denken wagte er nicht, schon wegen des Standesunterschieds. Seine Jugendgespielin war so voller Leben, riss ihn einfach mit. Das tat ihm gut. Nur heute wollte er nicht.

Just in diesem Moment tauchte wie aus dem Nichts Hennes auf, Konrads Bruder und der Älteste von den dreien. Er hatte eine Narbe quer über die Stirn. Unbemerkt musste er eine Weile zugeschaut haben. »Almut, du mit deinen kindischen Spielen. Wind fangen, so etwas Dummes.« Er lachte auf. »Typisch Mädchen!«

Sich seiner Wirkung auf die weibliche Jugend im Dorf bewusst, wölbte er seine Brust und hob das Kinn. »Da, schau mich an: Ich kann, wenn ich will, über das Moor laufen, ohne einzusinken. Das ist etwas für harte Burschen, die sich vor nichts fürchten. Dazu gehört allerdings Mut, aber den haben Waschweiber natürlich nicht.«

»Beweise es erst einmal, du Großmaul, dann sehen wir weiter.« Almut pflanzte sich nun ihrerseits vor ihm auf und fixierte ihn mit herausfordernden Blicken.

Ohne die beiden noch eines Blickes zu würdigen, sprang Hennes behände auf einen aus der grünbraunen moorigen Oberfläche herausragenden Stein, dann auf einen Wurzelstumpf, warf einen Prügel ins Wasser, balancierte vorsichtig darüber, um gleich wieder auf eine feste Unterlage zu hüpfen, und erreichte mit einem mächtigen Sprung das andere Ufer. Das war ohne Zweifel gekonnt.

Beide Hände in die Hüften gestemmt, stand er in Siegerpose auf der anderen Seite des Moorlochs und rief: »Wer macht es mir nach? Wer traut sich? Meinen Bruder, Vaters Liebling, den Bücherwurm und Schmetterlingsjäger, brauch ich erst gar nicht zu fragen, er hat ja immer die Hosen voll. Aber du, Almut, was ist mit dir?«

Es war nicht zu übersehen, dass es Almut in den Knochen juckte. Sie wollte schon, aber ein Quäntchen Angst war auch da.

»Ha«, kam es von der anderen Seite. »Von Engeln und Teufeln reden und der Dämonen spotten, aber über eine Wasserlache zu hüpfen, dazu fehlt ihr halt der Mumm. Ich habe immer gewusst, dass Mädchen Angsthasen sind.«

Das konnte Almut nicht auf sich sitzen lassen und setzte zum Sprung an. Entsetzt packte Konrad sie am Arm. »Almut, bleib! Hennes will dich nur zu etwas Unvernünftigem verführen. Wenn du hineinfällst und einsinkst, reibt er sich die Hände und hüpft vor Schadenfreude.«

Bittend wandte er sich an seinen Bruder: »Wir wissen, dass du der Tapferste und Mutigste bist, aber mit deinen Lockungen bringst du Almut in Gefahr. Sie kennt das Moor nicht so gut wie du. Bist ja fast jeden Tag hier draußen.«

Enttäuscht winkte Hennes ab. Konrad appellierte an seine Ehre. »Vor drei Tagen haben wir uns geschworen, dass wir wie Geschwister in guten und in bösen Tagen zusammenstehen wollen. Wir haben uns sogar mit dem Messer ein Kreuz in den Unterarm geritzt und unser Blut ausgetauscht. Die Wunden sind noch nicht verheilt und du benimmst dich nicht wie jemand, der um seine Schwester besorgt ist.«

Hennes schleuderte einen Stock nach ihm. »Das sagst du doch nur, um dich bei Almut einzuschmeicheln. Glaubst du, ich merke nicht, wie du ihr schöne Augen machst? Aber Almut gehört mir.«

Drohend hob er die Faust. »Wer hat denn Almut wieder zum Leben erweckt, als sie vom Baum gefallen war? Du vielleicht? Du bist ein Vatersöhnchen, das immer schön gehorcht, das alles tut, was der liebe Vater möchte. Du bist doch kein Mann. Also halt dein Maul und lass sie selbst entscheiden!«

Almut hielt sich die Ohren zu. Sie wollte nicht diejenige sein, um die sich die Brüder stritten. Jeden der beiden mochte sie auf eigene Art. Schon mit fünf Jahren waren sie auf alle Bäume geklettert, hatten sich von Ast zu Ast gehangelt, da konnte es nicht ausbleiben, dass man zu Boden fiel und sich den Arm aufschürfte. Ja, zuerst bewunderte sie den Mut, die Kraft des Älteren, aber mit der Zeit fühlte sie sich mehr zu Konrad hingezogen, obwohl sie sich das weder anmerken ließ noch ein Wort darüber verlor. Sie kannte den Hitzkopf Hennes. Er wäre in seiner Unbeherrschtheit fähig, seinen eigenen Bruder ins Messer laufen zu lassen.

Die Eifersüchteleien passten jetzt nicht hierher. Heiraten würde sie sowieso keinen von beiden. Nicht weil sie ihr zu gering waren, sondern weil sie sich niemals in einer Ehe binden lassen wollte. Schon oft hatte sie gehört, dass die Ehe einem Gefängnis gleichkomme. Frei wie ein Vogel wollte sie sein. Basta!

Kurz entschlossen nahm sie Anlauf und sprang. Sie erreichte wohlbehalten und sicher den ersten Stein, dann setzte sie zum zweiten Sprung an. Oh Gott, das ging schief. Auf der glitschigen Wurzel rutschte sie aus und klatschte in die grünbraune Brühe. Im ersten Moment war sie so erschrocken, dass sie wie wild um sich schlug und mit den Beinen strampelte, aber je mehr sie das tat, desto tiefer sank sie ein. So tief, dass ihre Beine im klebrigen Schlamm immer schwerer wurden. Sie spürte, wie sie in dem haltlosen Morast Stück um Stück nach unten gezogen wurde. Panische Angst überkam sie.

Hennes lachte höhnisch. »Hab ich doch gleich gewusst. Weiber sind für nichts zu gebrauchen.«

Er schien die Gefahr, in der sich Almut befand, nicht zu erkennen oder erkennen zu wollen. Anders Konrad. Er schrie seinen Bruder an. »Sie sinkt ein! Siehst du das nicht? Such eine lange Gerte, damit sie sich daran festhalten kann! Schnall deinen Gürtel ab, zieh dein Hemd aus, mach ein Seil daraus und wirf es Almut zu! Schnell!«

Hennes dachte nicht daran. »Spiel dich nicht so auf. Almut kann sich allein befreien. Sie braucht nur mit den Armen Schwimmbewegungen zu machen, dabei ein Bein nach dem anderen langsam nach oben ziehen und versuchen, den Körper flach auf die Oberfläche zu legen. Ein Kinderspiel. Hab ich schon oft gemacht.«

»Wenn Almut etwas passiert, schlag ich dich tot, du Schwestermörder.«

 

*

 

Wie besessen wuchtete Konrad einen verrotteten Stamm hoch, warf ihn ins Moor und suchte fieberhaft nach armdicken Ästen. Eine Brücke wollte er bauen. Er zog seine Schuhe aus, legte sich bäuchlings auf das schwankende Gebilde und robbte vorsichtig auf Almut zu. Unter ihm schwabbelte und brabbelte es. Blasen stiegen hoch. Es roch nach Schwefel und verfaulten Pflanzen. Langsam näherte er sich der schon bis zu den Hüften Eingesunkenen. Das blanke Entsetzen sprach aus ihren Augen. Er streckte seine Hand aus. Ihre Fingerspitzen berührten sich. In diesem Moment gab seine Brücke nach und auch er fiel in den Morast.

Was er zuerst hörte, war Hennes’ hämisches Lachen, dann das Blubbern. Konrad, sagte er sich, verlier jetzt nicht die Nerven – leg deinen Oberkörper flach auf die schwabbelige Masse, streck die Beine wie ein Frosch aus und versuch, dich mit den Händen zu Almut zu schieben. Mühsam konnte er sich über Wasser halten und mit höchster Konzentration gelang es ihm, sich der Jugendfreundin zu nähern. Wie eine Ewigkeit erschien es ihm, doch dann berührten sich ihre Hände. Almut klammerte sich fest und ließ ihn nicht mehr los. Konrad konnte sich kaum noch bewegen, wurde unter Wasser gedrückt. Er sank, tiefer und tiefer. Ihr Gurgeln, ihre Angstschreie hörte er nicht mehr. Endlich spürte er unter seinen Füßen einen harten Gegenstand. Mit Wucht stieß er sich nach oben, fasste nach dem Baumstamm, umklammerte ihn, griff erneut nach Almuts Händen und zog sie zu dem haltgebenden Stamm. Seine Finger krallten sich in die Rinde. Festhalten! Nicht loslassen!

Seine letzten Kräfte verbrauchend, kämpfte sich Konrad paddelnd zurück ans Ufer, seine Last hinter sich herziehend. Es schien wie ein Wunder, als er endlich festen Boden unter seinen Füßen spürte. Gemeinsam robbten sie aus dem Verderben bringenden Schlamm und blieben halb tot im Gras liegen. Konrad regte sich nicht mehr. Mit glitschigen, verdreckten Händen strich Almut Konrad über die Wangen und hauchte ihm etwas ins Ohr. Es war nicht ganz zu verstehen, aber es klang nach einer unaussprechbaren Dankbarkeit, ein Leben lang.

 

*

 

Keinen einzigen Blick warf Almut ans jenseitige Ufer. Konrad hatte sein Leben für ihr Leben eingesetzt, und sein Bruder, der sich immer als ihr Beschützer aufspielte, was hatte der getan?

Sie warf sich über Konrad und heulte auf wie ein Schlosshund. Das befreite sie von der durchgestandenen Angst und ihre Tränen weckten Konrads Lebensgeister. Wange an Wange blieben sie liegen, und keine Macht der Welt hätte sie trennen können.

Da ertönte eine Glocke vom Herrenhaus her. Zeit zum Nachhausegehen. Das Abendessen würde fertig sein. Zum Herrenhaus gehörte auch das Gesindehaus. In ihm wohnte der Aumann mit seinen zwei Söhnen. Seit den Zeiten Hunolds von Husen war das Gehöft eine Gemeinschaft, man lebte zusammen, arbeitete zusammen und aß zusammen. Heute würde es Hirsebrei mit Apfelschnitz geben und der alte Wessel, die gute Seele des Hauses, würde darauf achten, dass die Räuberbande mit sauberen Händen am Tisch Platz nahm.

 

*

 

Hennes schlug einen anderen Weg ein. Seine Gedanken waren finster, es gärte und kochte in ihm. Almut hatte Konrad ihm vorgezogen, dafür würde sie büßen müssen, und seinen Bruder würde er auch noch kleinkriegen, dass er sich nicht mehr muckste. »Das werde ich tun, so wahr ich Hennes Wolgast heiße.«

3.

Wie ein Besessener hieb Hennes mit einer Gerte auf den Baumstumpf ein und schrie sich die Wut aus dem Leib. Beim gestrigen Abendtisch im Herrenhaus war es zum Streit gekommen. Almuts Vormund hatte sich eingefunden und von dem Fiasko des Italienfeldzugs berichtet. Hennes hatte seinen vorlauten Mund nicht halten können und den König als Feigling und Schwachkopf bezeichnet.

Daraufhin hatte ihm sein Vater eine schallende Ohrfeige gegeben und des Raumes verwiesen. Genau das war der Tropfen, der den Krug zum Überlaufen gebracht hatte. »Mein Vater stellt mich vor allen bloß. Ich sei zu unbeherrscht, jähzornig, würde sofort meine Fäuste gebrauchen. Oh, wie habe ich diese ständige Meckerei satt. Dazu kommt die blöde, langweilige Arbeit. Jeden Tag Reusen aus dem Wasser ziehen, die Fische einzeln herausklauben und sie im Bottich auf dem Rücken zur Zollburg tragen. Davon bekomme ich einen krummen Rücken und mein Vater die Anerkennung der Herrschaften. Ist das gerecht? Ich bin zu etwas Höherem berufen. Das spüre ich.«

Höhnisch lachte er auf, setzte wie bei einem höfischen Tanz einen Fuß vor den anderen und wiegte sich in den Hüften. »Möchte auch einer sein, der an der Tafel sitzt und Fische verspeist, der sich Wein nachschenken lässt, dem die Hofdamen Blicke zuwerfen und mit denen er sich im Tanze wiegt. In diesem armseligen Loch hier versauere ich noch. Ich muss hinaus in die Welt.«

Noch ein letzter Schlag, dann lenkte er seine Schritte ins Dorf zur Fischerklause, unweit des Sankt-Sebastians-Kirchleins und nur ein paar Meter vom Wohnhaus des Schultheißen Wernz entfernt. Diese beiden Gebäude waren im Dorf Mannheim die einzigen, die solide aus Stein gebaut waren, alle anderen bestanden aus Fachwerk, hatten lehmverputzte Wände und Strohdächer.

In der verrußten Kneipe spielten sie mit den neumodischen Karten – Pik und Ass und Trumpf. Nicht vorn, im Hinterzimmer. Glücksspiel war in der frommen Kurpfalz verboten. Das welsche Kartenspiel sei des Teufels, wurde von der Kanzel gepredigt und jedem das Fegefeuer angedroht, der auch nur eine dieser Karten anrühre. Doch alles Verbotene besaß eine magische Anziehungskraft.

Warum trafen sich die Kartenbrüder, wie sie sich nannten, gerade hier in der Fischerklause? Weil an solch einem unverfänglichen Ort nie ein Amtmann oder sonstiger Regierungsbeamter vorbeikam. Ungestört konnten die Süchtigen in der Abgeschiedenheit ihrer Leidenschaft frönen.

Vorsichtig drückte Hennes die angelehnte Tür auf und streckte erst einmal seinen Kopf in den Wirtsraum. Dunkel war er, die Wände verdreckt und die Luft zum Schneiden dick. Im gleichen Raum wurde gekocht, bewirtet und gegessen. Der Wirt, der blaue Dieter, gab ihm mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass die Kartenbrüder sich im Hinterzimmer befanden. Dass Ritter Egolf dabei sein würde, war ihm bekannt, doch dass auch Schultheiß Wernz und ein Wormser Geldverleiher dem Spiele frönten, war ihm neu. Von dem vierten Mann wusste er nur, dass er beim Zentgericht tätig war und zum Freundeskreis des Ritters zählte. Im Grunde waren alles noble Herren, die etwas zu sagen hatten und nicht auf den Pfennig achten mussten. Eine eingeschworene Männerrunde. Das zog Hennes mächtig an.

Die Herren hatten gerade eine Pause eingelegt, so brauchte er Ritter Egolf, der früher viel Zeit im Herrenhaus verbracht hatte, nicht während des Spiels zu unterbrechen. Schrittweise und in devoter Haltung, wie es ihm als Pfälzer Untertan gebührte, näherte er sich ihm und fragte, ob es erlaubt sei, sich neben ihn zu setzen.

 

*

 

Ritter Egolf war bass erstaunt, den ältesten Sohn des Aumanns hier zu sehen, denn um diese Zeit mussten die Fischer, Bauern und all die anderen ihrer Arbeit nachgehen und konnten nicht um die Wirtshäuser schleichen. Hennes war für ihn kein Unbekannter, doch konnte er sich nicht vorstellen, was der Bursche von ihm wollte. Als er ihm ins Gesicht sah, bemerkte er, dass den Jungen etwas bedrücken musste. An einem anderen Tag hätte er sich wahrscheinlich nicht mit Taglöhnern abgegeben, doch heute war ein guter Tag für ihn. Er hatte passable Karten erhalten und in seinen Taschen klimperten die gewonnen Silbermünzen. »Er zieht ein Gesicht, als ob ein Unwetter bevorstünde. Raus mit der Sprache! Er streicht ja nicht umsonst hier herum.«

»Der Edle von Husen hat ein gutes Gespür für Menschliches. Ja, wie sich am Himmel etwas zusammenzubrauen scheint, so auch in mir. Ich sage es ohne Umschweife. Ich halte es zu Hause nicht mehr aus. Alles ist zu klein, zu eng. Ich will die Welt sehen, möchte meinen Mann stehen, aber nicht bei den Fischen, Schnecken und Kröten. Daher möchte ich Euch fragen, ob Ihr mir bei der Suche nach einer Stelle behilflich sein könntet.«

Der Ritter hörte sich erst einmal alles ruhig an, denn den Wunsch des Burschen konnte er gut nachvollziehen. Er hatte ja auch sein Elternhaus verlassen. Doch hier schien es einen gewaltigen Unterschied zu ihm zu geben. »Weiß Sein Vater von Seinen Plänen und stimmt er denen auch zu?«

Aus dem Gedruckse und der kleinlauten Antwort konnte Egolf seine Schlüsse ziehen. »Hat Er sich mit seinem Vater überworfen? Das wäre nicht gut, denn jeder Dienstherr wird Ihn danach fragen. Aber ...«

Wieder musste er an seine eigene Jugend denken. Er hatte mit Willen seines Vaters das Elternhaus verlassen und bei dem Hirschhorner als Page das ritterliche Handwerk erlernt. Vielversprechend klopfte er Hennes auf die Schulter. »Ich werde mit meinem Freund sprechen, einem Mainzer Domherrn, ob er Ihn beim Erzbischof unterbringen kann. Der sucht immer mutige Männer, die nicht lange fragen, sondern handeln. So schätze ich Ihn zumindest ein.«

Ein selbstkritisches Lächeln glitt über seine Lippen. »Ich war lange in fremden Diensten und habe erlebt, dass man manchmal Dinge tun muss, die einem widerstreben. Hätte Karriere machen können, doch mein Fell war damals nicht dick genug. Wie es mit Seinem Fell aussieht, weiß ich nicht.«

Egolf war sich nicht sicher, ob Hennes begriffen hatte, was er ihm damit sagen wollte. Doch er war nicht der Erzieher des jungen Mannes und auch kein Moralapostel.

Ein Grollen unterbrach die Unterredung. Vom Westen her zogen bedrohliche Wolken auf. Im Linksrheinischen musste es schon regnen.

Bevor die Wassergüsse über sie hereinbrechen würden, musste der Ritter noch etwas klarstellen. »Er weiß, dass Er Untertan des pfälzischen Königs ist. Dieser lässt niemand außer Landes, es sei denn, man kann ihm eine Handvoll Dukaten auf den Tisch legen.«

Wieder dachte er angestrengt nach. »Im Augenblick fällt mir keine Lösung ein. Aber dem Domherrn stehen andere Mittel zur Verfügung, nicht immer die edelsten. Das muss Er wissen und das muss Er bei allem bedenken, was von Ihm verlangt wird.«

Es schien, als hätte Hennes gar nicht zugehört. Er war in einen Freudenrausch verfallen. »Ritter Egolf, das alles wollt Ihr für mich tun? Ich werde Euch ein Leben lang dafür dankbar sein.«

Wieder ein gewaltiger Donnerschlag. Diesmal näher. Lange würde es nicht mehr trocken bleiben.

 

*

 

Heute hatte Hennes mehr erreicht, als er erhofft hatte. Frohgelaunt und in Feierlaune bog er um die Ecke der Fischerkneipe, als er wie von einer Riesenhand zurückgedrängt wurde. Ein Windstoß traf ihn, so stark, dass er hätte Bäume umlegen können. Der Himmel war pechschwarz. Jeden Augenblick konnten sich die Schleusen öffnen und sich der Regen kübelweise auf die Erde ergießen – alles unter sich zermalmen, plattdrücken, wegschwemmen – einer Sintflut gleich.

Jetzt nichts wie weg, war Hennes’ einziger Gedanke. Hastig zog er sein Wams enger an den Leib und rannte in Richtung Herrenhaus. Trocken würde er dort nicht ankommen und gefährlich war es zudem. Der Wind riss nicht nur Äste herunter, sondern entwurzelte ganze Bäume. Ach was, er war doch keine Memme.

 

*

 

Nass bis auf die Haut hatten Bürklin, Konrad, der alte Wessel und Almut eine Reihe gebildet, um Sandsäcke zwischen dem Herrenhaus und dem Kanal, der über die Ufer getreten war, aufzutürmen. Im Innenhof stand das Wasser bis zu den Knöcheln. Noch eine Elle mehr, und sie würden in der Stube mit dem Nachen fahren können. Wo war Hennes? Der Vater hatte schon dreimal nach ihm gerufen. Jede Hand wurde gebraucht. Die Sorge um den ansteigenden Pegel hatte für eine Weile Bürklins Ärger über seinen ältesten Sohn verdrängt. Den ganzen Tag war er nicht zu sehen gewesen.

Jetzt wurde im Dorf das Sturmglöckchen geläutet. Das bedeutete, dass jeder Mann und jede Frau zu Hause alles stehen und liegen lassen musste und sich am Sammelplatz einzufinden hatte. Wenn die Kanäle verstopften, wenn Dämme brachen oder Brücken einstürzten, war jeder gefordert, und die Aufgabe des Aumanns war, die notwendigen Arbeiten und Einsätze abzustimmen. Sofort gab Bürklin Anweisung, als Erstes die Haustür abzudichten und dann alles Verderbliche vom Erdgeschoss in die oberen Kammern zu schaffen. Dann fasste er Konrad am Ärmel und zerrte ihn hinter sich her.

Vor der Kirche hatten sich alle verfügbaren Männer und Frauen eingefunden. Der Aumann ließ sich berichten, wie hoch der Rhein stand, was der Neckar machte und welche Kanalbrücken noch passierbar waren. Dann teilte er Beile, Haken, lange Stangen und Sägen aus und schärfte den Fischern und Bauern ein, dass das Wasser fließen müsse, sich nie stauen dürfe, falls doch, müsse unter allen Umständen die Ursache beseitigt werden – das betonte er dreimal. Was nicht zu retten sei, sollten sie dem Schicksal überlassen. Keine zu großen Risiken eingehen, ein Menschenleben sei wichtiger als ein nasser Mehlsack oder eine in den Fluten treibende Katze. Den Frauen trug er auf, Sandsäcke zu füllen, auf Karren zu laden und zu den Einsatzstellen zu bringen. Es war eine Schinderei, kein Weg war mehr passierbar. Die Räder blieben stecken oder die Achsen brachen. Bürklin Wolgast war überall, als ob er Flügel hätte. Er gab gute Worte oder trieb seine Leute an.

Immer wieder schaute er sich suchend um. Hennes war nirgends zu sehen. Auch fragen half nichts. Wie vom Erdboden war der Sohn verschwunden. Schon machte er sich ernsthafte Sorgen um ihn. Ein Blitzschlag hätte ihn treffen oder ein umstürzender Stamm ihn unter sich begraben können. Einen Suchtrupp zusammenstellen? Nein, hier wurde jetzt jede Hand gebraucht, um das Wasser zum Abfließen zu bringen. Haus, Hof und die Ernte standen auf dem Spiel.

Endlich, endlich tauchte der Verlorengeglaubte auf. Am liebsten hätte Bürklin seinem Sohn eine Backpfeife verpasst, doch ohne viele Worte drückte er ihm eine Stange in die Hand und schickte ihn zu den Leuten am Damm im niederen Grund. Alles andere würde er später regeln.

 

*

 

Während den Männern und Frauen der Schweiß von der Stirn lief, hatten sich die Alten und Kinder im Kirchlein versammelt, um auf den Knien liegend alle Heiligen anzuflehen, das Unwetter weiterziehen zu lassen. Inbrünstige Gebete waren zu hören, aber auch die Frage, warum ausgerechnet sie von so einem Unglück getroffen wurden. »Was haben wir getan, dass Du, oh HERR, uns so zürnst? Wir gehen jeden Sonntag in die Kirche, ehren und preisen Dich und vergessen auch die Armen und Kranken nicht. Unsere Steuern entrichten wir auf Heller und Pfennig und noch nie kam eine Klage über unsere Lippen. Warum, oh HERR, müssen wir das erleiden?«

Ein Gezischel, ein Gewisper, zuerst ganz leise, kaum hörbar, dann aber doch so, dass alle es hören konnten. »Es gibt schon einen Grund. Der HERR sieht alles und der HERR ist erbost, weil eine gewisse Jungfer Zauberei ausübt. Sie tut Dinge, die das Licht des Tages scheuen und sie hat das Unwetter bestimmt herbeigezaubert.«

»Pscht, seid still, ihr Lästerzungen!«

»Pah, mit eigenen Augen und Ohren haben wir gesehen und gehört, wie sie mit Tänzen und Worten und fürchterlichen Verwünschungen das Wetter heraufbeschworen hat.«

»Was, wer, wo?«

»Die Uneheliche war’s. Sie glaubt, nur weil ihr Erzeuger ein Adeliger war, kann sie tun und lassen, was ihr beliebt. In der Kirche beim Gottesdienst sieht man sie nicht allzu oft, sie hüpft lieber um das Moorloch herum und verführt die braven Buben des Aumanns. Sie war es, der Bastard. Man hätte sie schon längst von hier vertreiben müssen, dann wäre Ruhe.«

»Mein Gott, was ihr da sagt, ist ja schlimm.«

»Euch werden noch die Tränen in die Augen steigen, wenn ihr seht, dass die ganze Ernte vernichtet ist. Bei den Wassermassen, die da herunterkommen, wird kein Halm mehr aufrecht stehen. Alles wird verfault und vermodert sein.«

»Oh Gott, was sollen wir tun?«

»Die Schuldige muss bestraft werden.«

»Wo ist sie? Ins Loch mit ihr!«

 

Pfarrer Endres hatte schon die ganze Zeit ein wachsames Auge auf die Frauengruppe in der linken Ecke der Kirche geworfen. Er kannte sie. Allesamt verarmte Witwen, die ihren Lebensunterhalt durch Holzsammeln verdienen mussten. Sicher waren sie von Sorgen geplagt, aber das gab ihnen nicht das Recht, über andere herzuziehen oder gar Dinge zu behaupten, die gotteslästerlich waren. Es war seine Christenpflicht, schon im Vorfeld solchen abstrusen Verdächtigungen und gottlosen Reden Einhalt zu gebieten. Er musste ihnen ins Gewissen reden. »Der HERR, unser Gott, liebt alle Rechtschaffenen und Gottgläubigen und verdammt diejenigen, die falsches Zeugnis geben. Unwetter kommen und gehen. Jeder hat schon welche erlebt. Es ist, als ob die Natur sich in bestimmten Zeitabständen entladen muss. Nach einer großen Hitze folgt in der Regel ein großer Regen. Das ist so seit Urzeiten und wird auch in Zukunft nicht anders sein. Es hat nichts, aber auch gar nichts mit Zauberei zu tun. Und«, drohend hob er den Zeigefinger, »das sei euch allen gesagt, niemand kann durch Worte oder Taten Naturerscheinungen hervorrufen. Nur Gott ist allmächtig. Betet lieber, dass die Männer und Frauen wieder heil zurückkommen und dass der Schaden nicht gar so groß ausfalle.«

Schon drei Stunden wütete der Orkan, derweil war es Nacht geworden. Zum Umfallen müde kehrten die Männer zurück. Ein Menschenleben hatte es Gott sei Dank nicht gekostet, aber die Ernte würde an manchen Stellen vernichtet sein, zumal noch Hagel dazugekommen war.

Die Glocke läutete ein zweites Mal. Pfarrer Endres stimmte ein Loblied an und dankte Bürklin Wolgast für seinen besonnenen Einsatz und den unerschrockenen Männern und Frauen dafür, dass sie das Dorf vor noch mehr Schaden bewahrt hatten. Zudem ermahnte er diejenigen, deren Ernte weitgehend verschont geblieben war, ihre betroffenen Nachbarn nicht zu vergessen. Alle gelobten und versprachen es. Die Eintracht war wiederhergestellt. Doch es schien nur so. Nach dem Gottesdienst fing das Getuschel von Neuem an. Den mittlerweile eingetroffenen Schultheiß zog Pfarrer Endres zur Seite und bat ihn, den Lästerzungen das Maul zu stopfen. »Schultheiß, wir alle kennen diese Betschwestern. Jeder tote Vogel, den sie am Wegrand liegen sehen, ist bei ihnen ein Zeichen für den Weltuntergang. Es ist wohl ihr täglicher Kampf ums Überleben, der ihnen ständig Ängste bereitet. Gebt ihnen aus der Almosenkasse der Gemeinde drei Kreuzer mehr und sie werden zufrieden sein.«

Mit solchen Mitleidsgedanken war der Pfarrer bei Wernz an den Falschen geraten. Der Schultheiß war einer, der bei der Gemeindekasse nur an die Einnahmen, aber nicht an die Ausgaben dachte. Nur für Gotteslohn und schöne Worte gab es nichts. Daher auch seine Antwort: »Pfarrer Endres, unsere Wege bestehen aus Schlamm und Dreck, kein einziger ist gepflastert, unsere Kanäle versanden, müssen ständig ausgehoben werden, unsere ...« Er hielt inne. »Ach, was soll ich mich aufregen. Was versteht denn ein Kirchenmann vom täglichen Leben. Ich bin in der Gemeinde für Ruhe und Ordnung zuständig und werde dafür sorgen, dass die Jungfer in Zukunft solche Faxen, und das ist milde ausgedrückt, unterlässt.«