Wenn ich mich zu Bette lege
so denke ich an dich
Wenn ich wach liege
sinne ich über dich nach
Denn du bist mein Gott
den ich suche
Psalm 63
INHALT
Vorwort: Zulassen und Gestalten
1 | Metanoia: Das geschärfte Eisen
2 | Musik: Die Stimme der Seele
3 | Inspiration: Das hörende Herz
4 | Seelenführung: Die Berufung des Geistes
5 | Weisheit: Das neue Denken
6 | Eros: Die Liebe zum Leben
7 | Mystik: Die Quellen der Kraft
8 | Agape: Der Klang des Lebens
Epilog
Nachwort
Quellenhinweise
Anmerkungen
Bildteil 1
Vita
Bildteil 2
Vor lauter Lauschen und Staunen sei still
Vor lauter Lauschen und Staunen sei still,
du mein tieftiefes Leben;
dass du weißt, was der Wind dir will,
eh noch die Birken beben.
Und wenn dir einmal das Schweigen sprach,
lass deine Sinne besiegen.
Jedem Hauche gib dich, gib nach,
er wird dich lieben und wiegen.
Und dann, meine Seele, sei weit, sei weit,
dass dir das Leben gelinge,
breite dich wie ein Feierkleid
über die sinnenden Dinge.
Rainer Maria Rilke
19. Januar 1898, Berlin-Grunewald
Lorenz und die Eichen
11,7 × 16,1 cm, 2010
VORWORT
: Zulassen und Gestalten
Die Fichtenplatten, die ich für die Holzschnitte dieses Buches verwendet habe, sind allesamt Reststücke aus dem Holz meiner Geigendecken. Anfangs habe ich dazu noch das alte Lindenholz benutzt, das eigentlich den Zargenkränzen meiner Instrumente vorbehalten ist. Dass ich später für die Holzstöcke der Drucke Fichtenholz verwendet habe, kam durch eine Ausstellung der Holzschnitte Schmidt-Rottluffs zustande. Die Kuratorin des Buchheim-Museums hatte mich gebeten, am Ausstellungsende einen Vortrag über den Klang des Holzes zu halten. So konnte ich die Holzstöcke intensiv untersuchen und „belauschen“. Das Fichtenholz nimmt sich, wenn man es für Holzschnitte verwendet, durch seinen schroffen Wechsel zwischen den harten Spätsommerjahren und dem weichen Frühholz ein Mitspracherecht, das die Sache erschwert. Aber genau das ist gewollt. Schmidt-Rottluff hat durch den Schwartenschnitt, bei dem der unvorhersehbare Einfluss der Jahresringe noch stärker ist, nicht nur das denkbar schwierigste Fichtenholz verwendet, sondern er hat heimlich dem eigenwilligen Recht des Holzes sogar noch etwas nachgeholfen.
Dass gerade beim Holzschnitt nicht alles möglich ist, macht den Reiz erst aus. Das Holz behält sein selbstverständliches Mitspracherecht. Mit der Faser lassen sich lange, ungebrochene Stiche stechen; die Linie behält ihren Zug. Gegen die Faser muss man das Eisen in Querrichtung beständig ausdrehen. Die Faser reißt sonst ein.
Holzdrucke sind Antipoden jeder modernen Bildverarbeitung. Es kann nichts nachgebessert werden und das Material macht es einem nicht leicht. Gerade dieser Reiz aber, dass das Holz sich dem Gewollten ständig auf seine eigene Weise widersetzt, ruft ein zweifaches Gesetz ins Leben: Zulassen und Gestalten! Beides geschieht in seiner ganz eigenen Autorität: Das eine: Die Hand gestaltet, was das Auge sieht. Das andere: Das Holz bringt ein, was die Faser erlaubt. Weil die Werkzeugführung das Holz zulassen muss, haben die Bilder nicht die Kälte des unerbittlich Gewollten. Da aber doch zugleich mit dem Eisen in der Hand ein Ausdruck des Bildes durchgearbeitet werden muss, hat es auch nichts von der Willkür des bloß Zufälligen.
Bis zum Schluss weiß man nicht, wie es geworden ist, und selbst das Drucken gibt noch seine Meinung dazu. Dann zieht man das Blatt vom Holzstock ab, und erst in diesem Augenblick wird klar, ob man glücklich, wütend oder sogar erschrocken ist, weil die Wirkung noch stärker war als gedacht.
Die meisten Holzschnitte sind mit dem V-förmigen Hohleisen geschnitzt. Einige wenige aber – wie etwa der betende Rabbi an der Klagemauer – habe ich mit dem großen Stemmeisen mit wenigen Schlägen aus dem Holz herausgearbeitet.
So sind über die Jahre die Drucke entstanden, die dem Text gegenüberstehen. Denn auch die Texte selbst sind keine Konstrukte des Durchdachten. Auch beim Schreiben nimmt die Intuition ihren eigenen Faserverlauf. Die Dinge können wahrgenommen, aufgenommen, angenommen werden, aber man hat keinen Zugriff darauf. Man kann die inneren Worte und geistlichen Bilder nicht konstruieren, es gibt kein Kalkül.
Das Hören und Schreiben ist für mich eine Form des Betens. Als Geigenbauer kämpfe ich mit dem Holz und seinen Begrenzungen, kämpfe mit meinen handwerklichen Mängeln, meinen eigenen Begrenzungen, kämpfe mit dem Klang und all den Überraschungen. Aber Worte sind anders. Ich kämpfe mit der Wahrheit; ihr Worte zu schenken, geht über das hinaus, was man sich ausdenken kann. Worte sind reine Freiheit, sie sind Träger geistiger Schönheit und Manifestationen dessen, was sich in uns bildet, weil Inspiration und Intuition ihr selbstverständliches Mitspracherecht haben. Und doch sind es zugleich Erfahrungen, die durch die eigene Seele gegangen sind, Gedanken, die durchlebt sind.
Auch hier geht es um beides: Zulassen und Gestalten. Meine Texte sind Übungen des hörenden Herzens.
KAPITEL 1
: Metanoia
Das geschärfte Eisen
Es gibt viele wunderbare Arbeitsgänge im Geigenbau. Sie alle wahren ihr eigenes Geheimnis. Eine dieser Arbeiten möchte ich beschreiben, denn sie hat mir eine Wahrheit der Seele nähergebracht.
Vor vielen Jahren, an einem kalten Wintertag, stach ich aus einem tief geflammten bosnischen Ahornholz die Bodenwölbung für ein neu entstehendes Cello heraus. Das Abstecheisen hatte ich mir vor Jahren im Stubaital schmieden lassen. Den langen Holzgriff hat ein alter Meister gedrechselt. Diese Griffe mit ihrem kugelförmigen Ende haben eine lange Tradition. Die Kugel berührt die Bauchmuskulatur; so führt man das Eisen mit den Händen, aber der Bauch gibt dem Werkzeug die nötige Kraft und schiebt es mit jedem Stich durch das harte Holz. Das Ausstechen und Abstechen eines Cellobodens ist mit der bloßen Muskelkraft der Arme kaum zu bewältigen. Sie würden zu schnell ermüden.
An diesem Tag war es anstrengender als sonst. Ich hatte wohl drei Stunden gearbeitet. Der Schweiß lief mir von der Stirn und ich dachte: „Es ist diesmal ein ganz besonders hartes Holz. So anstrengend war es selten!“ Aber dann kam mir ein zweiter Gedanke: „Vielleicht liegt es gar nicht am Holz. Die Schneide wird nicht mehr ganz scharf sein.“
Ein Eisen zu schärfen, ist eine eigene Kunst. Es erfordert Sorgfalt und Geduld. Zuerst wird mit der Sichtschleifmaschine die Fase grob angeschliffen. Das ist die Kante der Schneide. Dann kommen der Abziehstein und das fließende Wasser ins Spiel. Man spürt am Widerstand und am Geräusch, ob man die Schneide richtig gepackt hat. So wird der Schleifgrat entfernt und beide Seiten bekommen einen feinen Schliff.
Ich prüfte die Schneide und merkte, dass sie stumpfer war, als ich gedacht hatte. Dennoch machte ich weiter. Es wäre richtig gewesen, das Eisen zu schärfen, aber ich wollte die Arbeit nicht unterbrechen. Es dauert lange, ein Eisen gut zu schärfen, und diese Unterbrechung stört den Arbeitsfluss. So redete ich mir ein: „Es reicht schon noch.“
Dieser Moment war wie ein innerer Blitzeinschlag. Es war, als würde Gott mir unmittelbar ins Herz sprechen, und die einfache Frage stellen: „Was hast du da gerade gesagt?“
Ich war erschrocken und wiederholte halblaut den Satz: „Es reicht schon noch.“
Was ich dann spürte, war eine unermessliche Traurigkeit – als würde der ganze Himmel sagen: „Wie oft höre ich diesen Satz von euch! Ich möchte euch schärfen, aber ihr sagt: ‚Es reicht schon noch!‘“
Das alles war mehr als nur ein inneres Hören. Es war, als ob Gott mich auf eine erschütternde Weise etwas von seinem Innersten spüren ließ. Die Botschaft schien direkt aus seinem Herzen zu kommen. Der Satz Es reicht schon noch ist ein Herzensgedanke des Menschen. Wir spüren unsere Abgestumpftheit, aber anstatt uns schärfen zu lassen, sprechen wir uns diesen fatalen Satz ins Herz.
In den Tagen danach las ich intensiv in der Heiligen Schrift und war erstaunt festzustellen, dass Jahrtausende zuvor jemand offenbar das Gleiche erlebt haben musste – den gleichen prophetischen Moment. Denn ich entdeckte, dass im Buch Kohelet1 ganz ähnliche Worte geschrieben stehen. Im zehnten Kapitel sagt dieses nüchterne alttestamentliche Weisheitsbuch: „Wenn ein Eisen stumpf wird und an der Schneide ungeschliffen bleibt, muss man mit ganzer Kraft arbeiten. Aber die Weisheit bringt die Dinge in Ordnung.“2
Der Epheserbrief des Neuen Testamentes sagt etwas Ähnliches: Da heißt es von Menschen, sie haben sich ihrem Leben entfremdet und sind durch den verwahrlosten Zustand ihres Herzens „abgestumpft“3.
Ich habe, als dies damals geschah und all die Jahre danach, viel darüber nachgedacht. Es war wie ein sonderbares Anteilnehmen an einem Schmerz Gottes. Aus ihm heraus entstand das folgende Gleichnis vom geschärften Eisen.
Wenn ich sage, dass Gott in jenem Augenblick zu mir „gesprochen“ habe, möchte ich einem möglichen Missverständnis entgegenwirken. Dass es uns möglich ist, die Stimme Gottes zu hören, ist kein exklusives Recht einzelner Menschen, sondern es ist eine jedem Menschen innewohnende Fähigkeit des Herzens, die wir entdecken und zulassen können und die durch Übung und Liebe in uns reifen kann. Was Gott sagt, entspricht der Liebe, deshalb wird nur das liebende Herz die Wahrhaftigkeit haben, etwas von der Wahrheit Gottes zu vernehmen. Darum wäre es gewiss sinnvoll, nicht nur vom „Priestertum aller Getauften“, sondern ebenso vom „Prophetentum aller Liebenden“ zu sprechen. Es ist, wie eine mütterliche Freundin mir einmal sagte: „Wenn du in der Liebe bist, wird alles zu dir sprechen.“
: DAS STUMPFE HERZ
Wenn ich dieses Erlebnis aus der Werkstatt mit den Augen des Herzens sehe, werden mir mehrere Dinge des inneren Lebens deutlich. Das eine: Es kostet ungeheure Kraft und ermüdet unsere Seele, wenn wir mit einem abgestumpften Herzen leben – einem Herzen, das durch Enttäuschungen, Resignation, Bitterkeit oder Sorgen stumpf geworden ist. Wir sagen dann: „Die Beziehungen, die Arbeit, die Pflichten – es ist alles so schwer und anstrengend geworden!“ In Wahrheit ist das Herz stumpf geworden – wie das Buch Kohelet sagt: „Wenn ein Eisen stumpf wird und an der Schneide ungeschliffen bleibt, muss man mit ganzer Kraft arbeiten.“ Die Anstrengung kommt aus der Verwahrlosung des Herzens, sie kommt aus der Stumpfheit des Werkzeugs, mit dem wir diese Welt berühren.
Aber es geschieht noch etwas Zweites, etwas Tragisches, wenn man mit einem stumpfen Werkzeug arbeitet: Man verliert das Gefühl für das Holz. Jedes Holz hat seinen eigenen Faserverlauf, seine Markstrahlen, seinen Drehwuchs, seine Abhölzigkeiten, seine Eigenheiten und Möglichkeiten, seine Verheißungen und Besonderheiten.
Die Markstrahlen sind die radial zwischen der Markröhre des Stammes und dem lebendigen Kambium verlaufenden Zellen. Man nennt sie auch den „Spiegel“. Sie geben der Geigenwölbung in Querrichtung ihre Festigkeit und verleihen der Faser unter der Lackierung eine leuchtende Schönheit. Unter Abhölzigkeit versteht man einen ungünstig verdrehten Faserverlauf.
Auf all dies einzugehen, ist die eigentliche Kunst des Geigenbaus. Mit einem stumpfen Eisen verliere ich mehr und mehr das Gefühl für das Holz. Es entsteht dann keine stimmige Wölbung, nichts, was dem Holz entspricht. Solch ein Instrument wird am Ende nicht klingen. Nur mit einem scharfen Werkzeug beginnt das Holz schon während der Arbeit, sich mir mit jedem Stich in seinen Eigenschaften zu erkennen zu geben. Es entsteht – je nach Faserverlauf – ein zischender oder rauer Ton. Diesen muss ich hören und entsprechend in der Ausarbeitung und der Wölbung beherzigen. Das Holz hat sein Mitspracherecht, doch nur mit einem scharfen Werkzeug kann ich es hören.
Auch diese Erfahrung gleicht einem inneren Gesetz des Lebens. Mit einem stumpfen Herzen verlieren wir das Gefühl für das, was mit uns und um uns geschieht. Unser Herz ist ein Empfangsorgan, mit dem wir deuten, was uns gesagt werden soll, und gestalten, was durch uns geschehen soll. Mit einem stumpfen Herzen empfangen wir nichts. So, wie ein Geigenbauer mit einem stumpfen Werkzeug das Gefühl für das Holz verliert, verlieren wir das Gefühl dafür, ob das, was wir tun, eigentlich stimmig ist. Wir vernachlässigen die Dinge, denen wir uns zuwenden sollen, und übertreiben, was wir in Ruhe lassen sollen. Vor allem aber verlieren wir das Gefühl für die Verheißung des Augenblicks, sind nicht geistesgegenwärtig, nicht präsent, und so arbeiten wir, ohne es zu merken, gegen die Fasern des Lebens an. Solch ein Leben kann nicht klingen.
Es ist nicht zu vermeiden, dass wir die Härten dieser Welt zu spüren bekommen und daran stumpf werden. Wir stoßen uns an Misserfolgen und Enttäuschungen. Wir erleben, dass Menschen und Umstände uns verletzen. An manchen Widrigkeiten und Problemen arbeiten wir uns auf. Durch manche Erfahrungen zieht sich eigene und fremde Schuld. Unsere Arbeit, unsere Aufgaben, unsere Beziehungen – vieles, was uns sonst Freude macht, wird auf einmal zur Mühe und Last. Denn die vielen kleinen Enttäuschungen haben uns stumpf gemacht.
Abgestumpft zu sein, bedeutet: die Seelenkraft ist verletzt, die Hoffnung getrübt, die Berufung entfremdet, das innere Leben seiner Freude beraubt. Wie das Eisen, das sich am Holz aufarbeitet und dadurch immer stumpfer wird, so arbeiten wir uns auf und stumpfen ab. Wir machen angestrengt weiter, aber wir spüren immer weniger Erfüllung und immer mehr Erschöpfung. Und doch muss man sagen: Wenn wir nicht stumpf werden, haben wir auch nicht gearbeitet. Wenn Sünde uns nicht berührt, haben wir auch nicht gelebt.
Noch ein Drittes wird an diesem Gleichnis deutlich: Es ist nicht die Schuld des Eisens, dass es stumpf wird. Das ist nicht zu vermeiden; es liegt in der Natur der Sache. Mit jedem Stich spürt auch das schärfste Eisen das harte Ahornholz. Mit uns ist es nicht anders: Es liegt im Wesen des Menschen, sich gegenseitig zu verletzen. Wir spüren, was die Lebenswelt uns zumutet, und die Enttäuschungen hinterlassen ihre Spuren. Das Buch Kohelet sagt dazu: „Wer Steine bricht, der kann sich dabei wehtun; und wer Holz spaltet, der kann dabei verletzt werden.“4 Was damit ganz lapidar gesagt wird: Das Leben mutet sich uns zu und diese Zumutung verändert unser Herz.
Nur ein unbenutztes Werkzeug bleibt scharf. Es ist sich zu fein, an dieser Welt stumpf zu werden. Aber unsere Stumpfheit zeigt doch: Wir haben die Härte unserer Berufung erlebt.
Es ist nicht schlimm, dass wir stumpf werden. Aber fatal ist es, wenn wir uns nicht wieder schärfen lassen. Darum habe ich damals diese atemberaubende Traurigkeit über dem Satz Es reicht schon noch gespürt.
: HEILSAME SELBSTUNTERBRECHUNGEN
Man muss die Arbeit unterbrechen, um das Eisen zu schärfen. Auch wir müssen uns unterbrechen, um geschärft zu werden. Manchmal muss das Eisen neu angeschliffen werden, dann dauert es länger. Das sind in unserem Leben die Auszeiten und Exerzitien, die ein gesunder Jahresablauf von uns fordert. Aber manchmal muss das Eisen nur abgezogen werden. Dann sind es nur wenige Minuten, die nötig sind. Das sind die kurzen und doch unendlich heilsamen Minuten im Alltag, in denen wir uns unterbrechen und die liebende Stille suchen. Geschärft zu werden, bedeutet, sich zu unterbrechen, damit Gott uns immer wieder für sich allein haben kann.
Wenn ich unruhig und stumpf werde, zieht es mich immer wieder in den kleinen Nebenraum meiner Werkstatt; er ist das „Kämmerchen“, von dem Jesus spricht: „Wenn du betest, geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist.“5 Dort wird Gott mit uns über die Gedanken unseres Herzens sprechen, und wir werden lernen, was es heißt, aus einem hörenden Glauben zu leben.
Ich liebe die betende Stille, das gemeinsame Schweigen mit Gott. Wir sind verantwortlich dafür, uns ein fragendes Herz zu bewahren und uns zeigen zu lassen, wie wir geschärft werden können. Wer sich schärfen lässt, der begreift die Würde, die darin liegt, verantwortlich zu sein – verantwortlich für den eigenen Zustand. Jesus sagt: „Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.“6 Diese Reinheit kann entstehen.
Der Hörende
11,6 × 12,7 cm, 2010
In der Stille werden uns Ohren des Herzens gegeben. Da spricht die Weisheit: „Nun hör auf. Unterbrich dich und suche meine Nähe. Wenn du in deinem Tun die Einheit mit dir selbst verloren hast, lass dich schärfen.“
Wenn ein Instrument verstimmt ist, nützt es nichts, noch inbrünstiger zu spielen. Das Verkehrte kann nicht durch ein noch höheres Maß an Einsatz wettgemacht werden. Man muss das Instrument vor dem Spielen stimmen.
Der Himmel sucht unsere Stimmigkeit. Wenn das Werkzeug stumpf ist, nützt es nichts, mehr Kraft aufzuwenden oder um himmlischen Segen zu bitten. Man muss es schärfen. Nicht ein Mehr an Kraft, sondern gestimmt zu werden, geschärft zu werden – das bedeutet Segen.
Die Wahrheit gießt sich nicht in ein verwahrlostes Herz. Es wäre ein Akt der Selbstentwürdigung, sich mit Blick auf ein verwahrlostes Herz zu beschwichtigen und zu sagen: „Es reicht schon noch.“ Alle großen spirituellen Kulturen und alle bedeutenden Schulen der Seelenführung, von der Antike bis zum heutigen Tag, sprechen von der Reinigung des menschlichen Herzens. Still werden, leer werden, sich stimmen lassen, sich schärfen lassen – es meint alles dasselbe. Es ist die Zeit, in der alles Hören zur liebenden Stille wird.
: DIE SCHARTEN DER GEWOHNHEIT
Nun hat das Gleichnis noch etwas Dramatisches. Denn es weist auf etwas hin, was nicht nur anstrengend, sondern zerstörerisch ist: Wenn das Eisen nicht geschärft wird, entstehen in seiner Schneide feine Scharten. Anfangs sind diese Scharten mikroskopisch klein, aber das harte Holz hakt sich an ihnen ein, und so brechen diese Scharten weiter aus. Und durch die Scharte reißt die Holzfaser aus. Was nun geschieht, verursacht tatsächlich einen Schaden. Jeder Stich fügt dem Holz die Zeichnung der Scharte zu. Jeder Stich macht sichtbar, dass das Eisen diese Scharte trägt. So wird das entstehende Werk mit jedem Stich auf eine hässliche Weise gezeichnet.
So ist es auch mit uns. Die Scharten, die wir in uns tragen, werden alles zeichnen, was wir berühren. Jeder Gedanke, jede Begegnung – was immer ich berühre, es wird die Zeichnung meiner Scharte tragen: die Scharte der Rechthaberei, die Scharte des Geizes, die Scharte der Sorgen, die Scharte der Eitelkeit, vor allem aber die Scharte der Unversöhnlichkeit und Bitterkeit – diese gehegten und gepflegten Enttäuschungen, die wir nicht loslassen. Wie die Scharte in der Schneide mit jedem Stich das Holz zeichnet, so zeichnen unsere Scharten jede Begegnung und jede Beziehung und verletzen die Welt des Lebens.
Eine dieser hässlichen Scharten, die alles zeichnet und verdirbt, was sie berührt, ist die Scharte der Undankbarkeit.
Dankbarkeit erzeugt ein Empfinden der Fülle. Undankbarkeit erzeugt – egal, wie gut es uns geht – ein Empfinden des Mangels. Wir entscheiden, in welcher Welt wir leben wollen – in einer Welt der Fülle oder einer Welt des Mangels. Beziehungen, die nicht von gegenseitiger Dankbarkeit bestimmt sind, werden unweigerlich hässlich und mühsam werden. Wir zeichnen einander durch die Scharten, die wir haben.
Der Unterschied besteht nicht darin, dass die einen stumpf werden und die anderen nicht, sondern darin, dass die einen sich schärfen lassen und die anderen nicht. Im Babylonischen Talmud, dem grundlegenden Werk des Judentums, steht ein wunderbares Wort geschrieben, das genau davon spricht. Es heißt dort: An dem Ort, an dem die Bußfertigen stehen, können nicht einmal die vollkommen Gerechten stehen.[1]
Das heißt: Vollkommen zu sein, bedeutet nicht, dass du nicht stumpf wirst, sondern, dass du dich schärfen lässt.
: DAS BLAU GESCHLIFFENE EISEN
Noch einen letzten Aspekt birgt das Gleichnis. Dabei geht es um die Weisheit im Umgang mit uns selbst. Um etwas von dieser Wahrheit der Seele zu begreifen, ist es wichtig, das Werkzeugschärfen zu verstehen: Es braucht einen bestimmten Druck, wenn man ein Eisen schärfen will. Das Eisen muss die Schleifscheibe und den Abziehstein berühren. Doch es gibt auch ein Zuviel. Durch zu viel Druck wird das Eisen nicht schneller scharf, sondern es verglüht an seiner Schneide. Wer ein Eisen schärfen will, braucht darum vor allem Geduld. Ungeduld ist immer ein Angriff auf den Frieden der eigenen oder fremden Seele.
Wird das Eisen unter zu großem Druck geschliffen, dann verglüht der Stahl und wird weich. Er läuft blau an und ist in diesen Bereichen – wie man sagt – „verbrannt“. Man kann das Eisen zwar dann noch immer abziehen, doch der verbrannte Bereich wird unter dem Arbeiten sofort wieder stumpf. Die Ungeduld und der zu starke Druck haben das Eisen unbrauchbar gemacht.
Das blau geschliffene Eisen, das an der Schneide verglüht, ist ein Sinnbild für die Selbstentwertung. Wir überwinden Stumpfheit durch Schärfen, Verbohrtheit durch Einsicht, Fehler durch Reue, Sünde durch Umkehr. Aber wir dürfen Reue nicht mit Selbstentwertung verwechseln. Fluch und Segen liegen oft nahe beieinander.
Gute Pilze haben häufig einen giftigen Zwilling. Der gedrungene Wurstling sieht dem giftigen Pantherpilz sehr ähnlich. Der schmackhafte Maipilz und der ungenießbare ziegelrote Rißpilz, die Spitzmorcheln und die giftigen Lorcheln – sie sind einander täuschend ähnlich. Wir kommen buchstäblich in „Teufels Küche“, wenn wir den Unterschied nicht sehen. Selbstentwertung nimmt uns die Würde. Sie ist ein Seelengift. Aber es gibt eine „Reue der Liebe“, die etwas anderes ist und gegen die wir uns nicht auflehnen sollten, denn sie ist eine Gotteskraft, die uns verändert. Sie schärft das stumpfe Werkzeug, sie stimmt das verstimmte Instrument, sie leitet uns zur Umkehr, wo wir es nötig haben.
Im griechischen Urtext der Bibel wird für das deutsche Wort Umkehr (oder das altdeutsche Wort Buße) das klangvolle Wort „metanoia“ verwendet. Es setzt sich zusammen aus „noein“ („denken“) und der Vorsilbe „meta“ („um“ oder „nach“). Metanoia bedeutet also Umdenken. Es ist die Sinnesänderung des inneren Menschen. Durch metanoia werden wir an die Quellorte der Gnade geführt, an denen die verletzte Seele heilen und das abgestumpfte Herz geschärft werden kann. In der orthodoxen Kirche ist der Begriff metanoia mit einer Verneigung des Körpers zur Erde verbunden. Wir beugen die Knie, um uns auf das zu besinnen, was wichtig ist.
Metanoia ist die hohe Kunst des Glaubens, die darin besteht, Zukunft zu schaffen. In ihr ist die Kraft der Hoffnung, die den gegenwärtigen Ängsten und Sorgen trotzt. Doch auch die Vergangenheit greift unsere Gegenwart an. Haben wir es verstanden, uns eine heilige Vergangenheit zu schaffen? Was der Zukunft die Hoffnung ist, das ist der Vergangenheit die Vergebung. Nur die Reue schafft wirklich Bereinigung, nur die Umkehr schafft eine heilige Ruhe, nur das Vertrauen besiegt die Sorge, und nur die Liebe triumphiert über die Angst. Weil uns Reue und Umkehr, Vertrauen und Liebe fehlen, zerrinnt uns die Gegenwart zwischen den Fingern, und wir sind nicht wirklich da. Wer etwas von der Heilung der Menschenseele versteht, der weiß, mit Reue und Umkehr, Vertrauen und Liebe zu leben, denn nur so bezwingt er das Unheil der Vergangenheit und die Heillosigkeit der Zukunft. Nur so wird er der Gegenwart geschenkt und in ihr Gott. So wird die Heillosigkeit einen Vasallen des Unglaubens verlieren.
So, wie es lebenswichtig ist, dass man zwischen einem nahrhaften und einem ungenießbaren Pilz zu unterscheiden vermag, ist es ebenso wichtig, auch seelische Vorgänge zu unterscheiden. Dass das Eisen stumpf geworden ist, entwertet das Eisen nicht, sondern es zeigt die Härte, die es erfuhr, und es zeigt die Notwendigkeit, geschärft zu werden. Wenn die Heiligen Schriften von Sünde sprechen und den Menschen zur Umkehr führen, geht es ihnen nicht darum, ihn als Sünder zu entwerten, sondern ihn als Liebenden zu stärken. Das eine entwertet, das andere stärkt. Das eine macht nieder, das andere richtet auf. Das eine stößt in einen Abgrund, das andere zeigt einen Weg.
Wie eine vorsichtige und dann doch herzliche Versöhnung nach einem anstrengenden Streit, wie eine Genesung nach einer schlimmen Krankheit, so ist die Umkehr des Herzens. Metanoia ist die stärkste Verheißung, die der Mensch je hören kann, denn sie sagt: Deine gebrochene, geknickte, erloschene, abgestumpfte Liebe kann geheilt und aufgerichtet werden.
Das allein ist der Grund, warum der Glaube von Sünde spricht. Das stumpfe Eisen wird nicht verworfen, es wird geschärft. Dass du wieder scharf wirst, bedeutet, dass du wieder neu fähig wirst die dir anvertrauten Menschen zu lieben; es bedeutet, dass du neu fähig wirst, dich deiner Welt zuzuwenden und ein Werkzeug des Segens zu sein. Dass du wieder fähig wirst, zu lieben, ist der größte Gottesbeweis, den dein Leben je erfahren kann.
Darum ist Umkehr – metanoia – ein heiliger Trotz angesichts der Fehlbarkeit des Lebens. Es ist ein Trotz, den die angeschlagene Seele braucht.
Am Ende einer der schönsten Geschichten des Neuen Testaments steht ein wundervoller Satz geschrieben: „Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.“7 Unsere Welt und unsere Beziehungen würden wahre Wunder erleben, wenn wir anfingen, diesen Zusammenhang zwischen Vergebung und Liebesfähigkeit zu sehen, von dem Jesus hier spricht.
: DIE ÜBERFEINE SEELE
Es wäre ein Irrtum, zu glauben, metanoia sei nur eine innere Angelegenheit, etwas, das man mit sich selbst ausmachen kann. Wer sagt denn, dass ein Mensch geeignet ist, über sich zu urteilen? Wer sagt, dass er nicht zu weich oder zu hart mit sich ist? Das Auge kann alles erkennen, nur nicht sich selbst.
So gibt es Menschen, die ständig nur nach innen sehen, als könnten sie sich so erkennen. Sie sind wie Werkzeuge, die sich unentwegt nur schärfen, obgleich sie gar nicht stumpf geworden sind. Sie wenden sich nicht der Welt zu, der sie gegeben sind, sondern nur sich selbst. In andauernder Innenschau haben sie ständig nur ihre Schuld und ihre Verletzungen im Sinn – als könnten sie über sich selbst zu Gericht sitzen oder sich selbst heilen. Nicht das Grübeln, sondern das Arbeiten wird uns zeigen, wie es um unsere Schärfe steht. Der Grübler beschäftigt sich in einem Übermaß mit sich selbst. Ihn wird die Weisheit fragen: „Wer hat dir befohlen, dich zu quälen? Gib die Eitelkeit auf, die darin besteht, dich selbst zu verneinen, und die dich dazu verleitet, deine Selbstkritik zur Schau zu stellen! Was ergötzt du dich daran, wie streng du mit dir bist?“
Martin Buber erzählt in einer der chassidischen Geschichten von solch einem Menschen, der einem blau geschliffenen Eisen gleicht:
„Als Rabbi Chajim von Zans seinen Sohn der Tochter des Rabbi Elieser vermählt hatte, trat er am Tag nach der Hochzeit beim Brautvater ein und sagte: „Schwäher, Ihr seid mir nahe gekommen, und ich darf Euch sagen, was mein Herz peinigt. Seht, Haupt- und Barthaar sind mir weiß geworden, und noch habe ich nicht Buße getan!“ „Ach, Schwäher“, erwiderte ihm Rabbi Elieser, „Ihr habt nur Euch im Sinn. Vergesst Euch und habt die Welt im Sinn!“[2]
Rabbi Chajim war in einem Übermaß damit befasst, sich selbst zu prüfen („Wie scharf ist die Schneide?“). Da war das Werkzeug wichtiger als das entstehende Werk.
Was wäre ein Werkzeug, wenn es sich mir entzieht, nur weil es stumpf geworden ist? Soll es die Stumpfheit denn wirklich als Entwertung begreifen? Im Buch Genesis heißt es am Anfang: „Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.“8 Wie soll Gott uns ansehen, wenn wir uns im Versteck unserer Schuldgefühle verbergen? Man kann auf eine selbstgefällige Weise sein vermeintliches Kaputtsein zelebrieren. Das ist kitschig. Es ist eine subtile Form der Arroganz, sich selbst nicht genug zu sein – wenn es auch verständlich sein mag, denn in der Ablehnung seiner selbst hat man eine abgründige Form der Selbstsicherheit gefunden. Es ist ein verhängnisvolles „ergo sum“: „Ich bin schlecht, also bin ich. Ich bin etwas Besonderes, denn ich lehne mich ab.“
Die Selbstentwertung ist gewiss das, was Martin Buber „die dämonische Versuchung“ nennt. Es ist diese Abgründigkeit des Menschen, der sich selbst im Stich lässt. Sie formuliert sich in dem Lügenwort: „Von da heraus, wo du hineingeraten bist, führt kein Weg mehr!“
Buber fasst es in der Deutung einer chassidischen Erzählung so zusammen: „Es gibt eine verkehrte Selbstbesinnung, die den Menschen nicht zur Umkehr bewegt und auf den Weg bringt, sondern ihm die Umkehr als hoffnungslos darstellt und ihn damit dorthin treibt, wo sie anscheinend vollends unmöglich geworden ist und der Mensch nur noch kraft des dämonischen Hochmuts, des Hochmuts der Verkehrtheit, weiterzuleben vermag.“[3]
Es gibt jenen selbstbetrügerischen Hochmut, dem es immer um das Große geht: Wenn nicht alles gut ist, ist es nicht gut; wenn nicht alles klar ist, habe ich es nicht verstanden. Darin liegt eine Form der Drückebergerei. Solch eine Art von „großem“ Denken ist nicht radikal genug. Denn die großen Veränderungen nimmt man sich meist nur vor; die kleinen finden tatsächlich statt.
Gott hat uns die Fähigkeit gegeben, unsere Stumpfheit zu erkennen, aber er hat uns nicht das Recht gegeben, uns durch Selbstentwertung blau zu schleifen.
Mein Werkzeug ist ein wunderbarer Stahl aus dem Stubaital. Es hat seinen Wert nie verloren, es ist nur stumpf geworden.
Ignatius von Loyola (1491–1556), der Begründer der Jesuiten, sagte im 16. Jahrhundert etwas Wesentliches über die dämonische Versuchung der Selbstentwertung. In seinem epochalen Werk „Geistliche Übungen“ erklärt er: Wenn es dem Feind nicht gelingt, eine Seele zu vergröbern, dann setzt er alles dran, sie in einem Übermaß zu verfeinern. Solch eine überfeine Seele hält ständig Dinge für Sünde, „wo gar keine Sünde ist“9, und darum klagt sie sich an.
Die grobe Seele ist anders. Ignatius sagt: „Sie macht sich nichts aus Sünden“ – in der Sprache des Gleichnisses: Sie arbeitet fröhlich mit all ihren Scharten weiter und zerstört das Holz. Anders ist die überfeine Seele. Sie leidet unter dem Druck der Skrupel und verbrennt an ihren heiligen Ansprüchen. Dort, wo die Schneide dünn und empfindlich ist und die Hitze darum nicht abgeleitet werden kann, wird sie blau geschliffen und verbrennt – das heißt in der heutigen Sprache: Burn-out.
Die überfeine Seele ist maßlos in ihrer Vorstellung, wie glücklich oder heilig das Leben sein soll. Sie schleift sich durch Ungeduld und Selbstverurteilung blau. Das Neue Testament sagt: Bring dein Herz, wenn es dich anklagt, vor Gott zum Schweigen.10 Denn „er erkennt alle Dinge“11. Das ist das Ansehen, aus dem du leben sollst. Es ist die Flucht nach vorn, die Flucht in die Arme Gottes, der dich erkennt. Wenn du aufhörst zu glauben, Gott sei dein Feind, wird seine Barmherzigkeit dein Herz heilen, und du wirst barmherziger und behutsamer mit dir selbst umgehen. Und du wirst aufhören, dir Dinge zu Herzen zu nehmen, die dich nichts angehen. Der Geist Gottes wird der überfeinen Seele sagen: Nicht du, sondern das Lamm Gottes trägt die Sünde der Welt.12
Es gibt eine heilige Ruhe. Es ist die Ruhe, die gelernt hat, das Gute anzusehen. Wir nehmen dem Guten unseres Lebens das Ansehen, wenn wir nicht lernen innezuhalten. Der Glaube hat diesem Ansehen einen Namen gegeben: Es ist der Lobpreis. Solch ein Lobpreis ist wie ein Geburtshelfer des Guten, das in unserer Mitte zur Welt kommen soll.
: HEILIGUNGSWAHN
Wenn gewissenhafte Menschen („feine Seelen“) ein geistliches Leben führen, entsteht in ihnen häufig eine wahnhafte Vorstellung davon, was „Heiligung“ bedeutet. Dahinter steht der Irrglaube, unser Leben zu heiligen würde bedeuten, dass wir ständig an uns arbeiten. Wie kommen wir eigentlich auf diese Überheblichkeit, dass man „an sich selbst arbeiten“ kann – als könne man Werkstück und Werkmeister in einem sein?
Johannes vom Kreuz (1542–1591) schreibt über jene Menschen, die gar so viel an sich arbeiten: „Es gibt andere, die – bar jeder Demut, dafür aber voll Ungeduld mit sich – in Zorn geraten, wenn sie sich unvollkommen erleben. In dieser Hinsicht sind sie so ungeduldig, dass sie an einem Tage heilig werden möchten. Von diesen, die sich viel vornehmen und große Vorsätze machen, gibt es viele. Da sie aber nicht demütig sind und sich zu viel zutrauen, fallen sie umso öfter und werden umso ungehaltener, je mehr Vorsätze sie machen.“[4]
Es gibt ein Geheimnis des Lebens, das besagt: Wir werden dem ähnlich, was wir lieben. Der Zugang zu dieser Erfahrung der Angleichung an den Geliebten aber ist die Freude. Das Bild Christi nimmt in uns Gestalt an, weil wir ihn lieben. So wird unser Suchen und Sehnen, unser Ringen und Fragen als ein Ausdruck unserer Liebe geheiligt sein – nicht, weil wir es müssen oder sollen, sondern, weil die Kraft dessen, was wir lieben, nicht anders kann. Die Frage des Lebens ist, was du liebst. Du formst und veränderst dich nicht einfach, sondern du liebst – und so wirst du durch die Liebe unmerklich verändert.
Eine Ursache für diesen Vollkommenheitswahn, von dem Johannes vom Kreuz spricht, ist der maßlos übersteigerte Glaube an die eigene Willenskraft. Der menschliche Wille ist ein wunderbares Werkzeug, wenn es um das geht, was wir tun – wie das Judentum sagt: „Der Ort des Menschen ist die Tat.“ Aber der Wille ist ein ganz und gar unbrauchbares Werkzeug, wenn es darum geht, die eigene Seele zu verändern – als sei unser Wille ein Zauberstab, mit dem wir uns zu dem Menschen machen könnten, der wir gern wären. Unsere maßlosen Forderungen haben keine schöpferische Kraft.
Als Geigenbauer weiß ich: Jedes Holz hat seinen Faserverlauf, seine Geschichte, seine Eigenheiten und Verletzungen. Das muss ich spüren, um das Holz zum Klingen zu bringen. Doch dazu braucht es Barmherzigkeit mit dem Gegebenen. Sie ist die eigentliche Schöpfungskraft, die alles heiligt, was sie berührt: unsere krummen Fasern, unsern Drehwuchs, das Reaktionsholz, das sich durch schwierige Umstände gebildet hat, die Abhölzigkeit – all das, was nicht perfekt ist. Ich weiß als Geigenbauer ein Lied davon zu singen.
Ein Mensch, der sein Vertrauen auf die Weisheit Gottes setzt, hat keine besseren Holzfasern als andere, aber er weiß, er hat einen Meister, der sie zum Klingen bringt. Es ist das Geheimnis des Geigenbaus: Nicht das Holz wird dem Meister gerecht, sondern der Meister wird dem Holz gerecht. Das Holz überlässt sich der Gestaltungskraft des Meisters. Nur durch Barmherzigkeit lassen wir die Weisheit Gottes an uns heran. Wenn wir unbarmherzig mit uns selbst sind, verbieten wir uns diesen Werdegang. Es ist in der Tat reichlich einfallslos und trivial, alles besser haben zu wollen, als es ist – den Faserverlauf des eigenen Lebens anzuschauen, den Drehwuchs, der sich unter dem alltäglichen Druck der Belastungen gebildet hat, und zu fordern: „Alles an mir und in meinem Leben sollte besser sein!“
Was schaust du deine krummen Fasern an, aber bist ohne jeden Glauben an den Klang, der dir verheißen ist? Du willst glänzen und etwas Heiliges sein? Auch das blau geschliffene Eisen glänzt, wenn man es abzieht. Die blaue Färbung verschwindet dann auf dem Abziehstein. Aber das heißt nichts! Im Innern ist das Eisen zerstört, denn es wurde mit zu viel Druck geschliffen. Warum schleifst du dich und deine Mitmenschen an deinen Ansprüchen blau?
Es ist gut, sich darauf zu besinnen, dass es beim Propheten Nehemia nicht etwa heißt: „Unsere Erwartungen sind unsere Kraft“, sondern: „Die Freude am Herrn ist unsere Kraft.“13 Ohne Freude kann nichts heilig sein. Die Bibel redet viel von der „Heiligung des Lebens“. Aber Heiligung bedeutet nicht, dass wir an uns arbeiten, sondern, dass wir aus den Quellen unserer Freude leben.
Einzig die Freude hat die göttliche Kraft, der es gelingt, uns in der Tiefe unserer Seele zu verändern – und wir werden es oft nicht einmal merken, denn es ist keine gewollte, sondern eine gewachsene Veränderung. Die Freude ist der Werkmeister des Lebens. Darum ist es so wichtig, dass wir uns von Gott die Quellen unserer Freude zeigen lassen, aus denen wir leben können.
VOLLKOMMENHEIT. Die Mahnung des blau geschliffenen Eisens sagt: Es ist wichtig, zwischen Vollkommenheit und Perfektion zu unterscheiden. Der Perfektionist ist ständig bemüht, die Gnade Gottes mit seiner eigenen Großartigkeit anzureichern, denn was ihn treibt, ist die Angst, dass es nicht reicht. Der Vollkommene ist, weiß Gott, nicht perfekt, aber er lässt sich von Christus die Füße waschen, und er widersteht dem Impuls, dass er dessen nicht würdig sei. Darum ruht er in seiner Würde. Das ist seine Vollkommenheit: dass die unendlich demütige Gnade Gottes seine Seele berührt.
Alles bittet uns um unsere Liebe. Selbst die Bäume, aus denen ich Geigen mache, bitten mich, Gott zu lieben. Und diese Liebe findet an der Werkbank ihren Ausdruck. Genau das aber bedeutet es, geschärft zu werden. Es ist eine Qualität der Liebe, die Gott in uns sucht. Der fragende Glaube, der forschende Glaube, der hörende Glaube – das alles ist Ausdruck einer liebenden Suche, wie die Suche nach Klang. Das, was uns schärfen kann, ist kein Patentrezept, sondern eine Qualität des Herzens. Es ist ein Herz, dessen Glaube wieder angefangen hat, eine suchende Liebe zu sein.
Ich habe über diesen einen Vers aus dem Buch Kohelet geschrieben, der am Ende sagt: „Die Weisheit Gottes bringt die Dinge in Ordnung.“ Der Zugang zur Weisheit ist nicht das, was wir wissen, sondern das, was wir von Herzen lieben.
: DER VERBRANNTE GLAUBE
Das Gleichnis vom geschärften Eisen spricht über die Weisheit im Umgang mit uns selbst. Aber nicht nur die Seele, auch der Glaube kann durch zu viel Druck überhitzt und durch Ungeduld und falsches Denken blau geschliffen werden. Die Vorstellung, unser Glaube müsse frei von Zweifeln, unsere Liebe frei von Krisen, unsere Zuversicht frei von Niedergeschlagenheit, unsere Hoffnung frei von Rückschlägen sein … all dies schleift die Seele blau. Denn was den Glauben bedrängt, ist nicht der Zweifel, sondern die Erwartung, er müsse frei von Zweifeln sein.
Manchmal können wir nur auf eine schmerzhafte Weise gesegnet werden. Da entziehen sich uns die gewohnten Antworten, damit wir Fragende bleiben, es entzieht sich das vertraute Wissen, damit wir Erkennende bleiben, es entzieht sich uns, was wir über uns dachten, damit wir neu und tiefer begreifen, wer wir sind. Darum gibt es eine Art des Zweifels, der nicht weniger heilig als der Glaube ist, denn er macht uns ehrlich und wach. Nur die Dumpfheit, die weder Zweifel noch Glauben kennt – und die durch einen Mangel an Zweifel so selbstgefällig und durch einen Mangel an Glauben so einfallslos ist –, ist Feindschaft gegenüber dem Leben. Ihr sind die Dinge schlicht egal.
Ich finde Zweifel anstrengend, aber noch anstrengender finde ich Menschen, die nie Zweifel haben. Das kommt fast einer Behinderung gleich. Es ist ein für die Umwelt äußerst unangenehmer Mangel an Intelligenz, wenn ein Mensch ohne Selbstzweifel ist. Da ist keine souveräne Kraft, die uns in Anspruch nimmt, keine Suche, die uns an die Hand nimmt, keine Krise, die uns in die Tiefe führt, keine Wahrheit, die uns verunsichert.
Durch manche Krisen hindurch habe ich gelernt, dass uns Verunsicherungen zugemutet werden müssen, damit wir erkennen, was uns gesagt werden soll. Darum wird jeder lebendige Glaube uns nicht nur zur Gewissheit werden, er muss auch zur rechten Zeit eine Verunsicherung sein, eine kreative Verunsicherung, etwas, das uns wach und wahrhaftig macht.
Jener Art Zweifel ist eine heilige Autorität gegeben, die uns sagt: Gott darf sich deinem Glauben entziehen. Wenn die guten Rituale deiner Liebe zur lieblosen Routine geworden sind und religiöse Gewohnheit sich in deine Gottesliebe eingeschlichen hat, wenn du aufgehört hast, durch den Weg zu lernen, den du gehst, und du dich stattdessen in einem Gedankengebäude eingenistet hast, wenn du Gott durch deinen Glauben gezähmt hast (und nennst das Ergebnis Religion), dann wird der Zweifel diese Autorität in Anspruch nehmen – denn ohne ihn, der dich unruhig macht, würdest du unmerklich Gott verlieren.
In diesen Phasen hat der Zweifel eine Stimme, durch die Gott zu uns spricht: „Verwechsle mich nicht mit deinem Glauben.“ In den abgründigen Phasen wird manch ein Zweifel ein Bote Gottes sein, dem das Recht gegeben ist, uns auf eine schmerzhafte Weise zu segnen. Nicht der Glaube, sondern der Zweifel wird uns dann zurückwerfen in das Raue, Echte und Ursprüngliche einer angreifbaren Gottesbeziehung.
Wenn der Zweifel ein Bote Gottes ist, wird er uns helfen, Gewissheiten zu verlieren, damit Raum für das entstehen kann, was uns gesagt werden soll. Er wird Abschied nehmen, wenn seine Zeit gekommen ist; er wird gehen, wenn er sieht, dass wir seiner nicht mehr bedürfen. Denn wir haben uns aufgemacht zu tun, was wir begriffen haben. Das heißt, wir haben Wahrhaftigkeit erlernt.
Der Verlust von Gewissheiten, an die wir uns gewöhnt hatten, ist ein typisches Symptom der Postmoderne. Dass wir Gewissheiten verlieren, weil etwas nicht stimmig ist, kann auf eine verstörende Weise heilsam sein. Wenn eine Gesellschaft aber ihre Sehnsucht nach der verloren gegangenen Gewissheit verliert, ist sie verloren.
Wir müssen das, was uns trägt, nicht tragen. Solange wir unsere Liebe bewahren, wird der Zweifel nie etwas Bedrohliches oder Böses sein; er wird die unruhige Gestalt einer Liebe sein, die um des Geliebten willen niemals in die Gewöhnung hineinschlafen mag, in der jeder Schmerz betäubt und jede Liebe erloschen ist. Es gibt eine innere Liebe des Zweifels, die den Menschen in diesen anstrengenden Phasen das Wesentliche sagen lässt: „Zeig mir, was ich erkennen soll, ich will es hören. Denn ich weiß, dass nicht der Wissende, sondern nur der Hörende deiner Stimme folgt und dass nur der Suchende sich finden lässt. Ich weiß, dass nur der Liebende deine Liebe begreift. Wenn dich etwas bedrängen darf, mein Gott, dann soll es meine Stille sein.“
Das Lebendige des Glaubens ist für mich nichts anderes als das Erforschen Gottes durch die Liebe. Nicht durch unsere Erfahrung, sondern durch unsere Liebe geben wir Gott das Recht, sich in unser Beten einzugießen. Darum wird mir gesagt: Lass jedes Gebet wie dein erstes sein. Erzwinge nichts, sondern lass es liebende Stille sein.
Wie könnte der „wahre“ Glaube je etwas anderes sein als die liebende Bereitschaft zur Unsicherheit? Es ist das Vertrauen, dass man sich seiner selbst nicht sicher sein muss, um gehalten zu sein. Was also ist der Zweifel anderes als der Aufschrei einer Wahrheit, die dir sagt: Verliere in den Wüstenzeiten, in denen Gott dich auf diese schmerzhafte Weise segnen muss, deinen Glauben, damit Gott ihn dir schenken kann. Du ängstlicher Mensch, hast du deinen Glauben denn nicht lange genug durch ebendeine Angst verletzt, du könnest ihn verlieren? Du wirst womöglich deinen Glauben, aber niemals Gott verlieren. Darum sagt der Zweifel: Lass dich in Ruhe. Schleife deinen Glauben nicht durch die verbissene Suche nach Gewissheit blau, überhitze ihn nicht. Nur in der Ruhe vor dir selbst kann Gott dir nahen.