Cover

Über dieses Buch:

Der 39-jährige Dominik Zwick könnte eigentlich ganz zufrieden sein: Seit überall bekannt ist, dass der neu gewählte Papst aus dem verschlafenen fränkischen Dorf Höllenkirch stammt, läuft Dominiks kleiner Andenkenladen dort richtig gut. Und bald schon will er endlich seiner Traumfrau Loreley das Ja-Wort geben.
Doch dann tauchen geheime Dokumente, die keinen Zweifel offen lassen: Dominik ist der Sohn des Papstes! Gezeugt in einer rauschenden Nacht, lange bevor aus Alfons Katzenbeck Papst Bonifaz XIII wurde. Dominik würde die Sache am liebsten unter den Tisch kehren, doch die bucklige Verwandtschaft wittert das ganz große Geschäft – und das Chaos bricht los.

Bunt, witzig, frech – eine herrlich schräge Komödie über Sünde, Sanktus und Sippschaft.

Über den Autor:

Christoph Treutwein hat sich erfolgreich quer durch die deutsche Film- und Fernsehunterhaltung geschrieben und dabei immer wieder seine Vielseitigkeit bewiesen: Er arbeitete für Comedy-Größen wie Hape Kerkeling und Dieter Hallervorden, schrieb Drehbücher für zahlreiche TV-Formate und beherrscht die ernsten Tonlagen ebenso virtuos wie die humorvollen. Sein erster Roman Noch sieben Schuss, dann ist Schluss – über den Ingolf Lück urteilte: »Das witzigste Buch, seit ich lesen gelernt habe!« – erscheint ebenfalls bei dotbooks.

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Originalausgabe Juli 2016

Copyright © der Originalausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/TheIrona

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-538-9

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Christoph Treutwein

Der Sohn des Papstes

Roman

dotbooks.

»Kinder, Tiere, Titten und der Papst, das bringt Katharsis und Auflage!«

Aristoteles (Das kleine 1 x 1 des erfolgreichen Schreibens)

1. Teil: Die Vorbereitung

1. Kapitel

Einmal im Monat mindestens musste Dominik Zwick pflichtgemäß bei der Familie seines Bruders antreten, damit auch er einmal unter anständigen Leuten war, etwas Beschauliches mit Niveau für den Kopf genießen konnte und etwas Warmes in den Bauch bekam. Und jedes Mal hatte sich sein Halbbruder Patrick aus pädagogischen Gründen eine spezielle Aufgabe ausgedacht, die er zusammen mit dem Sorgenkind der Familie bewältigen musste.

Ein später Nachmittag im Oktober. Die dichte, mausgraue Wolkendecke hing über der altmodisch vornehm vermoderten kleinen Vorstadt und schnürte ihr die Luft ab. Kein Blatt regte sich. Dominik ging an der Haustür vorbei, vor der sein Porsche stand, der Lack weiß wie Schnee, innen die Polster rot wie Blut. Er öffnete die weiße, gut geölte Gartentür mit dem bedrohlichen Schild – Vorsicht, bissiger Hund! und machte sie sorgfältig wieder zu, ging an den Mülltonnen und der Doppelgarage vorbei den sauberen Kiesweg entlang durch den Garten. Apfelbäume, gepflegter Rasen, Blumenrabatte, Kletterrosen, ein gepflegter Schuppen wie ein Hexenhäuschen hinten am Nachbarszaun. Unter einer Trauerweide ein kleiner Teich. Die Fensterrahmen und altmodischen Läden am Haus, alles was es zu streichen gab, war blütenweiß wie die Unterwäsche einer makellosen Jungfrau.

Der Herbst begann erst dann und wann, die Backen aufzublasen, als Dominik quer über den Rasen auf die elterliche Jugendstilvilla zuging, in der sich sein Halbbruder eingenistet hatte. Dr. Patrick Zwick lebte im alten Elternhaus seines Vaters, das er an sich gerissen hatte, wie er als Familientier so ziemlich alles Familiäre für sich beanspruchte. Schließlich war er der einzige leibliche Erstgeborene, während Dominiks Herkunft im Trüben lag. Ein Fehltritt seiner Mutter wohl, über den seit jeher der Mantel des Schweigens gebreitet wurde.

Das Anwesen war eine bröckelnde, beinahe abbruchreife Jugendstilvilla mit parkähnlichem Garten, ein erhabenes Zeichen vergehenden Reichtums.

»Und wie geht’s dir?«

Um seine Herzlichkeit zu beweisen, pflegte Patrick seinen Bruder und alle anderen auch zu umarmen und sich für einige Zeit wiegend, ja reibend fest an sich zu pressen, um ihnen dabei Wangenküsse zu verpassen. Angeblich eine alte mediterrane Tradition von Franzosen, Spaniern, Italienern, Griechen, sogar Arabern, wie er glaubte. Wieder einmal kam Dominik in Versuchung, dem jetzt wieder brüderlich stöhnenden Mann den Waschbrettbauch zu durchlöchern.

»Es könnte besser sein«, sagte Dominik wahrheitsgemäß, während er sich unter die Achseln Patricks duckte und auf Distanz ging, bevor er gesegnet wurde. Einen halben Kopf kleiner als sein altgriechisch gebauter Bruder, atmete er tief durch, während Patrick, der edlere Spross der Familie, Typ griechisch-römische Marmorstatue, mit wehem Blick durch ihn hindurch in die Ferne sah. Wie vorbildhaft resolut, markant, ehrlich, herzlich, sauber der Bruder auftrat, wie Luis Trenker in bester Reife, und vertrauensselig mit den Gelenken knackte. Nichts konnte ihn aus der Ruhe bringen.

Wie doch alles so lästig war, dachte Dominik müde. Einen großen Teil der ohnehin viel zu kurzen kostbaren Lebenszeit verbrachte der Mensch im Kreise seiner Familie, sogar wenn er das Glück hatte, keine eigene zu haben. Unverheiratete Singles wie Dominik wurden von kinderreichen Eheleuten behandelt wie bettelarme, minderjährige Waisenkinder, die sich über die soziale Gerechtigkeit freuen sollten, die ihnen ohne Not oder Hilferuf geboten wurde. Und so, kein Wunder, auch bei ihm. Jedenfalls klemmte und quietschte die Haustür des brüderlichen Anwesens. Er kam wie meistens gerade zur rechten Zeit, um dem Bruder als rechte Hand zur Seite zu stehen.

Die zwischen den Wolkenbänken aufbrechende Sonne blendete Dominik, als sie gemeinsam über die Terrasse das Haus betraten.

»Die Tür quietscht«, sagte Patrick kurz angebunden und reichte Dominik einen Hammer. Als Handwerker war Dominik ein Mann der kurzen Worte und ersparte sich die Zeit, die Akademiker sonst brauchen, sich umständlich verständlich zu machen.

Beim letzten Besuch musste Dominik ein tiefes Loch in den Garten buddeln, in dem ein kleines Bäumchen ein neues Leben beginnen sollte: Drei Dinge braucht der Mann – ein Haus bauen, ein Kind zeugen und so weiter. Das war das pädagogische Lernziel des Therapeuten für ihn, den Bruder Leichtfuß, gewesen.

»Das Sanatorium frisst mich mehr und mehr auf«, meldete der Halbbruder an. »Die Patienten rauben mir den letzten Nerv. Die Verantwortung steigt mir über den Kopf.«

Dr. Patrick Zwick, das Heil der Menschheit. An der Seele seiner Mitmenschen interessiert, wandte er sich einer christlich geprägten Psychologie zu und wurde in kürzester Zeit Spezialist für Wahnvorstellungen. Schon in jungen Jahren schwang er sich zur Koryphäe in seinem Fach auf und war bald stolzer Besitzer und idealistischer Chef einer privaten Nervenheilanstalt, in der er mehrere Napoleons, dazu Nero, Cleopatra, Jesus und sogar einen Walter Ulbricht erfolgreich behandelte und so ein zufriedenes Leben fristete. Van Gogh, Jackson Pollock und Heinrich Heine. Maler, Bildhauer, Komponisten und Lyriker sorgten für große Unterhaltung mit Niveau. Und alle freuten sich darüber, dass Thomas Gottschalk jetzt schon einen Platz auf der langen Warteliste gebucht hatte.

»Ich weiß«, sagte Dominik, »darüber hast du dich schon vor zehn Jahren beklagt. Aber das Leben geht weiter. Und deine Frau?«, fragte er beiläufig. Das musste gefragt werden. So waren die Regeln.

Patrick widmete sich der Tür und klopfte sie fachkundig ab, bevor er ihr einen Tritt gab. Dominik nahm den Hammer, den er als Hilfskraft halten und auf Zeichen reichen durfte.

Patrick streckte die Hand aus. Dominik reichte den Hammer.

»Eine gute und eine schlechte Nachricht«, sagte Patrick vertraulich. »Welche zuerst?«

Er ließ den Hammer fallen. Dominik bückte sich.

»Egal.«

»Du bist der Sohn des Papstes!«, sagte der Bruder so beiläufig, als ob er ihn darauf aufmerksam machte, dass er Dreck am Kinn hätte.

»Aber das muss unter uns bleiben«, fügte er hinzu. »Wenigstens momentan noch.«

Dominik erstarrte mitten in der Bewegung.

»Mach Witze!« Nach gefühlten Ewigkeiten klang sein gequältes Lachen durchs Haus. Patrick hob die Hände, als ob er ihn erwürgen wollte: »So beruhige dich doch!«

»Du gehörst in die Anstalt, Bruderherz!«

»Nein, ganz im Ernst«, sagte Patrick in seinem professionell psychiatrischen Tonfall, »das bist du nun mal«.

»Das musst du erst beweisen«, sagte Dominik und horchte seinem Satz hinterher, der wie ein lahmender Sperling davonflatterte.

Patrick lachte und winkte ab. »Keine Sorge, das werde ich.«

Der Satz plumpste zu Boden. Dominik seufzte. Sie hatten doch alle ohnehin so viel am Hals, da hatte das gerade noch gefehlt.

Der Bruder näherte sich dem Zustand seiner allerschwierigsten Patienten. Das war schlimmer als Alzheimer und Parkinson. Und das schon in diesem Alter.

»Hast du es denn nicht in dir gespürt, mein Junge?«

Dominik war sich nicht sicher, ob er das Spielchen mitspielen wollte.

»Du siehst aus, als ob du eine Kröte verschluckt hättest«, lächelte Patrick beruhigend. »Das sollte die gute Nachricht sein.«

»Warum gerade ich?«, sagte Dominik leise, wie es tumorkranke Todeskandidaten zu sagen pflegen.

Patrick schüttelte den Kopf. Nein, es war die Wahrheit, nichts als die Wahrheit. Er hämmerte eine Weile fröhlich auf die Tür ein, ließ den Hammer fallen und Dominik wusste, dass er ihn aufheben musste.

»Beweise«, sagte Dominik.

Patrick verschwand für eine Weile und kam mit einer abgeschabten Diplomatenmappe zurück. Er sah sich vorsichtig um, öffnete sie und ließ ein gutes Dutzend handgeschriebener Briefe und ein paar Fotografien auf den Parkettboden gleiten, auf dem sich die beiden niederließen wie zwei neugierige Pfadfinder. Dominik kramte in den alten vergilbten Schriftstücken und betrachtete kopfschüttelnd ein Foto, auf dem ein Priester im Talar seine liebenswert schiefen, leicht vorstehenden Zähne zu einem strahlenden Lachen entblößte. Er überflog seine Geburtsurkunde, die vor langer Zeit schon verschwunden war.

»Ist das …?«

»Das ist Papst Bonifaz XIII.«

Dominik war in Versuchung, sich dreimal zu bekreuzigen.

»Und ich bin …?«

»Du bist sein leiblicher Sohn, von ihm gezeugt mit unserer Mutter – damals noch als Alfons Katzenbeck.« Patrick zwinkerte. »Glückwunsch, mein prominenter Halbbruder, Glückwunsch!«

»Und warum soll ich das wissen – gerade jetzt?«

»Das erzähle ich dir später.«

»Warum nicht gleich?«

»Es soll eine Überraschung sein.«

Dominik wandte sich den Schriftstücken genauer zu. Er überflog die Briefe seiner Mutter Gundula und die ihres einstigen Geliebten, während sich sein Bild über sich, Gott und die Welt veränderte. In zierlicher, weiblich anmutender Schrift verfasste Schriftstücke, lustvoll bis salbungsvoll frei nach den Bibel-Charts, aus den Top Ten des Alten Testaments: Esau und das Linsengericht – knapp hinter Onan, Platz sieben. Spannungsgeschichten aus dem altehrwürdigen frommen Haushalt, die sich bis heute erhalten hatten wie alte Kriegswunden.

»Hymne an Gundula«, las Dominik halblaut: »Wir tanzten damals zusammen den ganzen Abend lang. – Es war ein Abend voll Freude, voller Gesang.«

»Schwärmereien eines hoffnungslos verliebten Romantikers«, kommentierte Patrick und nahm Dominik die Blätter aus den Händen. »Ringsum die Paare flogen«, las er laut und theatralisch, »in wiegenden Walzerwogen – auch wir, wir schwebten dahin – und hatten nur Liebe im Sinn.«

»Das kann doch nicht wahr sein«, murmelte Dominik entgeistert.

»Denk mal drüber nach«, sagte Patrick.

»Du hast recht«, sagte Dominik, »am besten ist es wahrscheinlich, ich denke da mal drüber nach.«

»Vielleicht ist es jetzt langsam an der Zeit, dass du deinen Papa näher kennenlernst?«, schlug Patrick vor, während sich sein Bruder weiter in die Lektüre der alten Post versenkte.

Die persönlichen Briefe zwischen seiner Mutter Gundula und Alfons Katzenbeck zeugten eindeutig von der Vaterschaft des Heiligen Vaters. Nicht von der Absicht, doch der wohl einmalige Vorgang wurde von beiden Seiten in moralisierend poetischen Umschreibungen ausführlich immer und immer wieder thematisiert. Späte Nachkriegsliteratur. Frömmelnd formuliert und mit Gewissensnöten garniert, war die Besprechung der gemeinsamen Lustbarkeiten eindeutig hingebungsvoll und glücksbetont.

Patrick sammelte die Schriftstücke zusammen.

»Wie fühlt sich das an?«, lächelte er.

Wenn es um Sex ging, hoffte Dominik, wurde schon immer viel geredet und geschrieben. Nicht alles stimmte mit der reinen Wahrheit überein. Dieter Bohlen, Jörg Kachelmann, Boris Becker – manche ritten sich im Überschwang der Situation direkt in die Hölle. Männer machten sich wichtig, und das galt auch für Päpste. Denn immerhin baumelte auch an den Botschaftern Gottes das ewige Aufstehmännchen herum, das nie Ruhe geben will.

»Wie lange ist das her?«, fragte Dominik.

»Na, wie alt bist du?«

»Ach so.« Dominik schloss die Augen und versuchte sich zu konzentrieren.

Wie lange war das schon her, dass aus Alfons Katzenberg Papst Bonifaz XIII. geworden war? Endlich und völlig unerwartet ein Papst aus dem schönen Frankenland, dem stolzen, kleinen, von Oberbayern erniedrigten Volk. Er stammte aus einem Gasthaus bei Höllenkirch, die feste, katholische Trutzburg im protestantischen Feindesland.

Patrick schwenkte das Bündel Beweismaterial, das seinen Bruder zum Halbbruder machte und dessen Leben vielleicht für immer verändern sollte.

»Das ist doch eine Überraschung, die einiges wert ist«, stellte er zufrieden fest.

So war der Lauf der Dinge. Jede Familie hat ihr eigenes Bündel zu tragen – den Großvater mit Alzheimer, den drogensüchtigen, arbeitslosen Schwager, den verbrecherischen Onkel hinter Gittern – aber bei den Zwicks wollte das Schicksal noch ganz anders zuschlagen. Wer konnte das noch überbieten? Papstsohn!

»Klar, dass du das erst mal verarbeiten musst«, sagte Patrick, der Psychologe, erfahren und verständnisvoll. »Lass dir nur Zeit.«

Er wandte sich wieder seiner reparaturbedürftigen Tür zu und schwang sie in ihren Scharnieren hin und her, so als wäre nichts. Die Tür gab stellvertretend für Dominik schmerzhaft kreischende Laute von sich.

»Und die schlechte Nachricht?«, fragte Dominik.

»Du wirst lachen, die ist noch besser als die gute!«

»Habt ihr das Quietschen gehört?«, fragte eine unwillige weibliche Stimme in die brüderliche Bekenntnisstunde hinein. Dominik richtete sich auf, gab Patrick den Hammer zurück und reichte Friederun beide Hände. Sie zog ihn innig an sich. Warum schwitzen manche Menschen stärker als andere? Warum haben manche diesen gewissen Mundgeruch?

»Das klang wie ein abgestochenes Schwein«, rief Patricks Gattin, urchristliche Heiligengestalt, bäuerlich rundlich gebaut mit großen, kissenartigen Brüsten, breitem Becken, kräftigen Schenkeln und kurzen, stämmigen Beinen.

»Psst!«, zeigte Patrick Dominik in seiner Taubstummensprache und flüsterte: »Nichts vom Papstsohn bitte!«

»Ihr könnt euch ruhig weiter unterhalten«, sagte Friederun nachsichtig. »Ich höre gar nicht hin.«

In Patricks Augen flackerte es gefährlich.

»Mein lieber Dominik, welche Ehre, wieder einmal von dir beehrt zu werden.« Sie zwickte Dominik mütterlich in die Wange.

2. Kapitel

Höllenkirch, noch nie gehört? Sanfte Höhenzüge ohne schroffe Gipfel und tiefe Schluchten und ohne Gämsen und röhrende Hirsche, wohin du auch schaust. Wer von der Autobahn auf die Staatsstraße in Richtig Osten fährt und links abbiegt, kommt schon nach etwa zehn Minuten im versteckten Höllenkirch an, das man sofort an seinem markanten Kirchturm erkennen konnte. Es riecht nach Rettich – und ein bisschen nach Weihrauch. Kurz hinter dem Ort taucht plötzlich die bescheidene Tafel auf, die auf das international renommierte Nervensanatorium hinweist.

Dr. Patrick Zwicks Reich lag am Ende der engen, schlecht geteerten Nebenstraße, die von der Hauptstraße aus Höllenkirch nach Süden abging. Nur dieses kleine, edle Messingschild markierte die Abzweigung. Für ein reguläres Krankenhaus, zu dem Leute mitten in der Nacht angeprescht kamen, um Babys zur Welt zu bringen, Gliedmaßen eingegipst zu bekommen und nach Herzstillständen wieder reanimiert zu werden, wäre dafür ein Schild nötig, das groß genug wäre, um von den Scheinwerfern erfasst zu werden. Aber für dieses kostspielige, schwer bewachte Privatinstitut für eine betuchte Klientel aus Show, Sport und Politik und Prominenz war es genau richtig. PK nannten es die Einheimischen: Promiklapse.

***

Dominik bog hinter einer alten Scheune um die Kurve und rumpelte durch ein verschnörkeltes Tor. Tropfnasse Äste hingen so tief, dass sie über die Windschutzscheibe seines verrosteten Käfers streiften, bis sie sich schließlich lichteten und den Blick auf das Hospital am Ende freigaben. Das Gebäude war ein mehrfach zweckentfremdetes, umgebautes Lustschloss.

Dominik sprang die Treppen hoch und trat durch die schwere Flügeltür in die dämmrige Eingangshalle, von der eine breite Treppe zu einem Etagenabsatz mit einem großen Buntglasfenster führte, durch das drohende Farben die vierzehn Stationen des Leidenswegs Jesu zeigten. Vierte Station: Jesus begegnet seiner Mutter.

Er trat an den Empfangstresen innerhalb der Biegung der Treppe, die sich rechts und links nach oben zu den Gemächern der Gäste schwang. Eine Schwester saß mit gesenktem Kopf über einer Computertastatur. Hinter ihr hing ein Ganzkörperporträt von Dr. Patrick Zwick, dem Gründer und Besitzer dieses einmaligen Instituts, wie er in seiner juvenilen Kraft erdrückt wurde unter der Bürde von Verantwortung und Selbstlosigkeit.

Mit einem Räuspern versuchte Dominik, die Schwester auf sich aufmerksam zu machen, die, wie sich jetzt herausstellte, nicht in ihre Büroaufgaben, sondern in ein eBook versunken war.

Dominik konnte es ihr nicht verdenken.

Als sie aufschaute, zeigte sich eine komplizierte Landkarte aus Falten und verschleierten Augen.

»Hallo, Dominik. Schön, Sie wieder mal hier zu sehen«, begrüßte die Schwester ihn in ihrem breiten fränkischen Dialekt, ein Kind der Gegend, und lächelte schief.

»Ich möchte meine Mutter sehen.«

Die Schwester sah auf die Uhr.

»Natürlich«, sagte sie. »Wollen Sie Ihren Bruder auch sehen?«

»Eher nicht.«

Die Schwester nickte verständnisvoll.

Eine hochgewachsene Angestellte in weißem Kittel, eine Ärztin vielleicht, eilte hastig vorbei und stoppte. Einen kurzen Moment musterte sie Dominik mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen. Dominik starrte zurück. Herbe Gesichtszüge, tintenschwarze, kurzgeschnittene Haare um schneeweiße Haut.

Schneewittchen hat den vergifteten Apfel gegessen. Sie kam ihm bekannt vor.

***

»Ich wollte nur kurz vorbeischauen«, sagte Dominik und überzeugte sich mit einem Blick davon, dass seine Mutter in ihrem prunkvoll eingerichteten Salon allein war. Gundula Zwick richtete sich auf ihrem purpurnen Samtdivan auf, ordnete Schichten von Seide, Stickereien und Rüschen und breitete die Arme aus, um ihren Sohn zu umarmen.

»Wie geht es dir, Mutter?«

»Verstopfung und Durchfall, manchmal gleichzeitig«, berichtete Gundula eifrig, »Übermüdung, Koliken, Magengeschwüre, Sodbrennen, Blasenentzündung. Ansonsten geht es mir hervorragend.«

Dominiks Mutter Gundula, geheimnisumwoben und immer etwas geistesabwesend und versponnen, Mutter Theresa, Jeanne d’Arc und kniefällige Magdalena, Geliebte des Herrn, Erzfeindin von Inge Meysel, der Mutter der Nation, und vorbildhafte Starpatientin des Hauses inmitten verantwortungsvoller Verrückter, psychopathischer Genies jenseits aller Moralvorstellungen, die mit gutem Gewissen ihrem Lebensabend Sinn verliehen. Eine kleine, verschworene Gemeinschaft am Rande des Deliriums.

»Bilde ich mir das ein, oder ist hier ein eigenartiger Geruch im Raum?«, fragte Dominik, als ihm der süße Duft von Marihuana in die Nase stieg.

»Das ist«, räusperte sich Gundula und sah ihn kokett an, »Weihrauch.«

Dominik küsste die 80 Jahre alten Erosionen ihrer Haut. Ihr Atem roch stark nach Cannabis, er ging zum Fenster, um frische Luft zu schnappen, und ließ den Blick über das Anwesen unter ihm schweifen. Draußen gab es Plätze für Tennis und Boule und einen Eislaufplatz für den Winter, jetzt im Herbst noch ein idyllischer See, umgeben von Trauerweiden, auf dem sich Schwäne tummelten. Irgendwo jenseits des Fensters spielte die Liveband des Sanatoriums eine sentimentale Mischung aus Rolling Stones und Flippers. Die männlichen Heimbewohner grillten unter der dezenten Betreuung und Aufsicht des Personals Nürnberger Bratwürste, tranken statt Prosecco starkes dunkles Bamberger Bier und stießen andächtig auf die alten Zeiten an. Um sie herum wie Schmetterlinge die alternden Diven wie auf einer jener sagenhaften Benefizveranstaltungen mitten im Vogelgezwitscher, Grillenzirpen, sonnenwarmen Gras mit kalten Flaschen Bier in den Händen.

»Ich hoffe, du bist gesund«, sagte Gundula, »dein Papa neigte ja auch schon immer zum Kränkeln. Er war ja so zerbrechlich und sensibel.«

Das sagte sie immer, jetzt aber ließ es Dominiks Herz schneller schlagen. Sein offizieller Vater war abgehauen, verschwunden, als er sechs Jahre alt gewesen war. Die alleinerziehende Mutter hatte ihn und Patrick auf dem Land großgezogen. Seine Kindheit war schön gewesen.

»Ich bin nicht schwächlich«, sagte Dominik. Ob sie ihm einmal die Wahrheit über seine Herkunft sagen würde?

»Ach Dominik, mit dir ist es so, als wäre ich mit deinem Vater zusammen.«

Dominik blieb wie angewurzelt stehen. Er war sich nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. Sie stand auf und verschränkte die Arme unter ihrem Busen, den sie mit einer knappen Bewegung zurechtrückte.

»Glaub mir, du hast große Ähnlichkeit mit ihm: Die gleiche Nase, die gleiche Stimme, genau die gleichen Augen.«

Dominik sah unsicher an sich hinab. Unwillkürlich griff er sich an die Nase, dann sah er seiner Mutter in die Augen.

»Schau nicht so dumm«, lächelte seine Mutter verschwörerisch. »Wir waren jung und ich konnte ja nicht wissen, dass er einmal unser Papst werden würde.«

Dominik stand eine Weile vor ihr und kaute an seiner Unterlippe.

»Gut gemacht«, sagte er schließlich.

3. Kapitel

Wie alles begann? Bei Adam und Eva? Bei Batman und Robin? Oder vielleicht bei ihr, Loreley Liebherr und Dominik Zwick?

Verdammt lang her, verdammt lang! Die kleine Ewigkeit der Einsamkeit zumindest für Loreley. Verdammt lang her, verdammt lang! Eine alleinstehende Gymnasiallehrerin, Lehrkraft in den Fächern Deutsch, Biologie und Ethik, lässt sich im Frankenland nieder auf der Suche nach dem Glück, weil sie nirgendwo anders eine Stelle kriegt, und findet sich umgeben von guten Pädagogen, glücklichen Familienvätern und mütterlichen Kolleginnen. In der Großstadt, hat sie vernommen, vereinsamt man in der Anonymität der Masse. In der Region bist du gut aufgehoben. Du findest Anschluss, wo immer du auch willst, in Vereinen, auf Stammtischen, und lernst dort schnell eine gute Freundin, einen Lover oder sogar den Mann deines Lebens kennen. Loreleys Versuche, Leute kennen- und mögen zu lernen, endeten kläglich. Sie zweifelte langsam an sich und der Welt.

Begonnen hatte es unvermutet dann doch mit einem zufälligen Zusammentreffen früh am Morgen vor kaum einem halben Jahr in dem religiösen Ramschladen in der engen Heilig-Geist-Gasse. Ob Dominik sich wohl auch noch so oft daran erinnerte? Nach einer viel zu schwülen Frühsommernacht war Loreley, ewiger Single, gerädert aufgewacht. Sie wachte inzwischen in jeder Nacht während ihrer meist langweilig und billig zusammengeschusterten Lust- und Albträume mehrfach auf, sobald der Abspann an ihr vorbeihuschte. Die Sonne ging in diesen Tagen so zögernd und mit kleinen ruckenden Bewegungen auf, dass viele Menschen unwillkürlich nach ihren Handys griffen und erleichtert feststellten, dass sie immer noch funktionierten. Und das in der düstersten Provinz, in der die Menschheit in Laut- und Konsonantenbildung noch artikulierte wie in der Steinzeit. Worauf achtete die europäische Frau bei dem Entscheidungsprozess der langfristigen Paar- und Nestbildung? Loreley als ehrgeiziger Biologin schwebten da Vorbilder im Kopf. Nein, nicht das, was im Tagebuch einer Gänsemutter geschrieben stand, das sie in der Unterstufe durchnahm.

Seit frühester Kindheit träumte Loreley von ihm, der schmal und schlank, elegant und geschmeidig die Kopulation sowohl im Nest als auch beschwingt in der Luft vollziehen konnte, was eindeutig besser und gesünder war. Dem Geschlechtsverkehr voraus ging immer eine gegenseitige Gefieder-Pflege, wie es sich gehörte, hieß es in der Vogelwelt. Insbesondere am Kopf. Loreley nahm ihre Bürste und fuhr durch ihren zerzausten Schopf. Tausend Striche? Heute nicht. Stattdessen ergriff sie ihre Luftgitarre und sang Fly me to the moon von Frank Sinatra, dann Fly on the wall von Miley Cyrus, schließlich Über den Wolken von Reinhard Mey. Heute musste sie erst in der vierten Stunde in die Kindermühle.

***

Dominik wohnte von jeher im ersten Stock über seinem Geschäft mit internationalen, preisgünstigen Devotionalien in der Heilig-Geist-Gasse und hatte einen direkten Zugang nach unten. An diesem legendären Frühlingsmorgen, als die Welt noch unschuldig war, eilte Dominik aus der Wohnung die steile Treppe hinab. Draußen herrschte schon reges Leben. Die Stadt war bedroht von einem verheißungsvollen Gewitter, das nicht so recht in Gang kommen wollte. Ein einsamer, aufgeregter Vogel flatterte suchend nach einer Partnerin. Ein Blick nach rechts und nach links in die wenig besuchte Gasse. Dominik schloss seinen Laden auf und rollte die Verkaufs- und Ausstellungs-Ständer vor die Tür auf den Bürgersteig. Er ließ die Markise herunter. Die Schaufensterscheiben müssten endlich wieder mal geputzt werden. Und vielleicht sollte er die Auslagen neu und attraktiver dekorieren.

***

Wenn Loreley keinen Dienst hatte, kam sie regelmäßig an Dominiks Geschäft vorbei, schließlich war Höllenkirch ihre Stadt geworden, ihr Städtchen, in dem sie sich wohlfühlen wollte. Bis sie endlich einmal eintrat in das Reich der Rätsel, das ihr, der unvoreingenommenen Intellektuellen, fremd war.

Loreley Liebherr, frisch in der Stadt, Lehrerin wohl im Gymnasium sieben Kilometer entfernt auf dem flachen Land, wie sich Dominik während der gängigen Klatscheinheiten hatte sagen lassen. Große rehbraune Kuhaugen mit Eulenlidern, gute Figur, wie Dominik in den kurzen Augenblicken feststellte, in denen er einen Blick auf sie werfen konnte.

Das Schaufenster war dekoriert und bestückt. Ungefähr ein Dutzend Objekte waren darin ausgestellt. Eine Auswahl von Rosenkränzen, einige Gebetswürfel, Kreuze, Weihwasserkessel, Heiligenbilder. Zum ersten Mal blieb Loreley stehen.

Christuskörper, Mariendarstellungen und Heiligenfiguren aus Kunstharz und Bronze. Die Figuren konnten auch im Freien verwendet werden. Zur Pflege im Freien wurde ein Schutzwachs angeboten, die Dose für 19 Euro im Sonderangebot.

Loreley warf einen kopfschüttelnden Blick auf die übereinander gehäuften Gegenstände. Sie griff nach einem klobigen, rostigen Nagel, eingeschweißt in eine Plastiktüte, und betrachtete ihn näher. Offenbar handgeschmiedet, Blutspuren … Nagel vom Kreuz des Hl. Sebastian (linke Hand), war auf die Verpackung gedruckt. Drinnen war ein Beipackzettel mit einer näheren Beschreibung des kostbaren Stücks.

Loreley, in Sachen Ethik geschult, wog die Reliquie in der Hand und drehte sie um. Sonderposten, stand auf der Rückseite, statt 49,90 nur noch 9,90 Euro. In winzigen Lettern ein Aufdruck: Made in China – Offizielle Nachbildung von Weihbischöfen geweiht.

Loreley stieß einen abschätzigen Pfiff aus und schnalzte mit der Zunge.

Neugierig ging sie zur Tür. Auf dem Schild, das dort hing, stand: Bei Unwägbarkeiten fragen Sie Ihren Verkäufer!

Daneben ein offizielles Blatt an die Scheibe geheftet: Laut EU-Verordnung dürfen Devotionalien und Reliquien auch dann vertrieben und verkauft werden, wenn Herkunft und Echtheit umstritten sind, weil das Patent bzw. Copyright auf z. B. Holzsplitter vom Kreuz Christi nicht wirklich vorhanden bzw. nachvollziehbar sind.

Loreley spähte durch die schmutzige Glastür, um einen Blick auf den Besitzer dieses dubiosen Etablissements zu werfen, das für sie nicht besser als eine illegale Glücksspielhölle war.

Der Mann hinter der Theke neben der altmodischen, vermutlich geweihten Ladenkasse war eher klein, zierlich und sah sanft und friedlich aus. Nicht gerade der Typ markanter Aufreißer, sondern ein herzensguter Langweiler, ein Johnny Depp für die Landjugend.

Aber manchmal entpuppten sich die Guten ja als die Schärfsten. Waren stille Wasser nicht schon immer tief?

Sie stieß die Tür auf, trat ein und schaute sich vorsichtig um. Einer ihrer Sumpfblütengedanken keimte in ihr auf: Das war ein Horrorladen! Bisher war bestimmt kein Kunde über die Schwelle getreten, der je noch einmal lebend das Tageslicht erblickt hatte. Der Ladenbesitzer mit dem dünnen, schwarzen Bärtchen auf der Oberlippe stand über eine der Vitrinen gebeugt, schaute auf und lächelte sie an.

»Hallo«, sagte er und schob sich seine zu langen Haare hinters Ohr.

»Ich will mich nur ein wenig umsehen«, sagte sie wie alle, die nichts kaufen wollten. Sie warf dem Verkäufer ihrer Wahl und ihres Vertrauens einen langen kühlen Rühr-mich-nicht-an-Blick zu, der ihn zu irritieren schien, und schlenderte durch den Laden. Ein Schüchterner, dachte sie. Was sollte nur aus ihr werden in diesem Niemandsland?

»Nur zu, sehen Sie sich nur alles an«, sagte Dominik vorsichtig und schwenkte die Hand hinüber zur Wand, an der eine lange Reihe niedlicher Stoffpuppen von Papst Bonifaz XIII. aufgereiht stand, unser Papst, prominentester Sohn Höllenkirchs und längst vergangener Verkaufsschlager für Jung und Alt aus Nah und Fern.

Jetzt im Supersonderangebot bereit, verramscht zu werden.

»Stehen Sie dahinter – mit Herz und Verstand?« Loreley ließ ihren Blick über all die religiösen Attribute schweifen. »Mit all dem religiösen Krimskrams?«

Loreley zog die Augenbrauen hoch, eine nach der anderen, und ihre Nasenflügel blähten sich, als sie am Papst schnupperte.

Bonifaz XIII., 30 Zentimeter hoch ohne Mitra und aus besonders wertvollem weißen Mohair gefertigt. Fünffach gegliedert. Die Details liebevoll von Hand gestickt. Außerordentlich prächtig und wertvoll!

Dominik sah sie mit trüben Augen an.

»Eigentlich eher weniger«, sagte er schließlich gedehnt.

Loreley legte den kuschelweichen, Wunder wirkenden Papst Bonifaz XIII. vor sich hin und zückte die Geldbörse.

»Den nehme ich trotzdem«, sagte sie. Zum ersten Mal erklang ihr unverwechselbar atemloses, heiseres Lachen, als ob ihr die Luft wegbliebe, und der Schüchterne schien hingerissen zu sein. Es war also noch Leben in ihm in dieser Wüste. Wer hier so lachen konnte, dem sollte man bis ans Ende der Welt folgen.

Ihre Blicke flossen in eins, und wie vom Himmel gestoppt, hörte die Erde auf, sich zu drehen.

Loreley versank in süßer Seligkeit, und Hitze wallte in ihr auf. Jetzt hatte sie ihn vielleicht doch endlich entdeckt, wie Kolumbus einst zufällig sein ersehntes Indien. Zwei Träumer, zwei verschrobene, ungewöhnliche Erwachsene zweierlei Geschlechts hatten sich endlich gefunden und schnell verliebt. Zumindest sie, aber bei ihm würde sie schon dafür sorgen. Und ohne den Laden wäre das Glück nie zustande gekommen, schon deshalb achtete und ehrte sie ihn bereits jetzt, so wenig sie das Angebot auch interessierte.

»Wenn ich gewusst hätte, dass du der Sohn des Papstes bist«, sollte Loreley später sagen, »hätte ich dich gemieden wie der Teufel das Weihwasser.« Und: Zuerst hätte sie gedacht, er sei eine Fälschung wie alles um ihm herum: Reliquien, Devotionalien und archäologische Funde. Alles erfunden! Gewinnstreben, Ruhmsucht, Wahnsinn, aber auch billige Wichtigtuerei und Besserwisserei waren die Grundlage, warum diese Welt auf ihren tönernen Füßen schwankte.

Verdammt lang her, verdammt lang? Damals vor gar nicht allzu langer Zeit fand eine junge, alleinstehende Lehrerin urplötzlich die Antwort auf die Sinnfragen des Lebens: Wer bin ich? Wo bin ich? Wozu lebe ich? Wohin sie gehen würde? Keine Ahnung. Das Leben war ein hübscher Traum aus Bagatellen, und man erkannte erst im Nachhinein, ob man das gute Leben verpasst hatte oder nicht.

4. Kapitel

Und dann Patrick, zwischen der täglichen Alltagshetze die Fahrt vom Sanatorium in den Ort. Ein Besuch der Höllenkircher Pfarrkirche, in der Pater Ewald in bewährter Manier seines Amtes waltete, stand an. Patrick fuhr in seinem Porsche 911 Carrera S, 3,8-Liter-Motor, maximal 355 PS, Cabriolet mit Allradantrieb, in den Waldweg, hinter dem sein kostbares Reich, das Sanatorium, versteckt war, das das sündhaft schöne Auto finanzieren musste.

Es stand schlecht mit den Finanzen. Seine cleveren Gäste, Fußballer, Schlagersänger, Baumarktbesitzer, Kulturminister, hatten gierige Verwandte und clevere Anwälte. Zahlungen blieben aus, Leistungen wurden bestritten, Prozesse liefen schlecht. Dann das Misstrauen der Verbände, die Kontrollen. Es wurde eng, seit die hohen, himmlischen Zuschüsse an seine Mutter ausblieben. Ein wunderbarer, immerwährender Geldregen seit über 30 Jahren, mit dem er sein Sanatorium und seinen Porsche am Leben erhielt. Und so sehr ihm seine inzwischen engste Mitarbeiterin – nicht nur in beruflicher Hinsicht – wieder hoch half, wenn er zu stolpern drohte, so viel Sicherheit und auch Vergnügen sie ihm bot, so sehr wurde sie ihm auch zur Last. Heute hatte er ihr Langzeit-Tête-à-Tête gecancelt. Liliane war not amused. Liliane, seine Wonne, seine Pein, das hässliche Entlein, das er zum Schwan aufgeputzt hatte, wie Victor Frankenstein in seinem unüberlegten Eifer einst sein Monster erschaffen hatte. Und wie bei Frankenstein schlug Patricks Begeisterung, als er das Ausmaß seiner hybrischen Tat begriff, langsam in Bestürzung und Selbstvorwürfe um. Liliane tanzte ihm auf der Nase herum. Er war so abhängig von ihr wie der Süchtige von der Nadel, mit der der Drogendealer lockte. Und sie wusste, wie es um ihn stand.

Patrick bog auf die Landstraße ein, vorbei am Sportheim des FCH 1910. Der Höllenkircher Fußballklub spielte in der vorletzten Liga und war am Absteigen. Nicht Patricks Welt. Der nächste Golfplatz lag weit entfernt. Inmitten der Felder ragte gruselig verlassen ein Wachturm in den Himmel. Zeuge der Vergangenheit, der bei allen Bemühungen der Gemeinde einfach kein historisches Wahrzeichen werden wollte, das Touristen anlockte. Der Himmel war von sattem, tiefem, unnatürlichem Himmelblau, und die Wolken formierten sich zu einer flüchtigen Szene der Steinigung des Heiligen Stephanus, als Patrick die Kreuzung bei Gelb überfuhr. Sein schlechtes Gewissen pochte. Er konnte nicht dagegen ankämpfen. Die kindliche Prägung war einfach zu stark.

Nein, in Patrick pochte kein schlechtes Gewissen, als er auf dem schiefen Kirchplatz parkte. Der Zweck heiligt die Mittel. Aber gebeichtet muss werden. Sicherheit ging vor. Wer will schon 333 Millionen Jahre im Fegefeuer verbringen?

***

Pater Ewald war stolz auf seine Kirche. Die Kirche von Höllenkirch, von außen ein schlichter romanischer Bau, stand hinter dem abschüssigen Kirchplatz mit seinem reparaturbedürftigen Kopfsteinpflaster. Zehn abgenutzte Stufen zur schweren, schwarz-grauen, rissigen Tür, die schon bessere Zeiten gesehen hatte. In dem üblichen verwitterten Schaukasten daneben hingen die üblichen Ankündigungen der Gemeinde, der Messen, Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen und der Diözese-Feste, Novenen, Pilgerfahrten, Ausflüge, der verschiedenen Treffen und Aufrufe, die einen bedeutenderen Appell enthielten.

Pater Ewald schloss den Kasten auf, entfernte eine längst vergessene Beerdigung und heftete die neueste Info ans Schwarze Brett, die er auch schon auf der Homepage der Kirchengemeinde untergebracht hatte, die leider von wenigen Klicks und Likes beehrt wurde: Eheschließung mit großer Messe samt Chor zwischen Dominik Zwick und Loreley Liebherr. Die Zwicks, eine alteingesessene, einst ehrwürdige Familie. Heutzutage eher mit Vorsicht zu genießen.

Ein protziges Schild daneben wies samt Hinweispfeil auf das idyllische Wirtshaus im romanischen Kreuzgang des Klosterinnenhofs hin, der hinter der Kirche versteckt war. Es finanzierte seit einiger Zeit die kirchlichen Einrichtungen und grub in tragischer Weise dem Italiener um die Ecke das Wasser ab.

Padre Evaldo, wie er einst in Rom genannt wurde, war selbst spitznasig, hohlwangig, knochig, ein altmodischer Haarkranz um die Tonsur. Das jahrhundertealte Klischee des düsteren Filmmönchs. Ein Jesuit aus viel zu wenig Fleisch und Blut, ein abschreckendes Ausstellungsstück, aber in ihm sah es ganz anders aus. Sein Haar ergraut, das muskulöse Gewicht junger Jahre einem sehnigen Körper gewichen, der früher von der Kutte des obersten vatikanischen Vertrauten des Papstes umhüllt wurde.

Pater Ewald öffnete den Glaskasten für die Speisekarten und heftete die neueste Wochenfassung hinein: Stierbeutel, Lammhoden, Ochsenschwanz. Innereien hatten erwiesenermaßen heilende Kräfte auf Krankheiten im Unterleibsgebiet. Muscheln, Austern, Spargel wirkten aufbauend. »Herr, wir danken dir für deine Gaben.«

Ein Blick auf die Uhr. Gleich würde seine Sitzung im Beichtstuhl beginnen, früher der Höhepunkt seiner Berufung. Heutzutage hatte er sein Smartphone dabei und chattete durch die Welt, um nicht einzuschlafen.

Pater Ewald eilte um die Kirche zum Nebeneingang und betrat die Sakristei, die auch sein Büro war. Er warf einen Blick auf das offizielle Papstbild, das in jeder Pfarrei zu hängen hatte. Draußen gab es noch ein halbes Dutzend Porträts des omnipräsent gewordenen Frankengewächses. Früher einmal hatte Papst Bonifaz XIII. Höllenkirch regelmäßig in sein Urbi und Orbi einbezogen und einmal sogar ein etwas verschlamptes »Ins Land der Franken fahren … Ave Maria« mit eingefügt. Ach, diese typische verschliffene Artikulation des Heimatlands, als wäre er bis zum Rand abgefüllt. Außer dem kaum noch besuchten Papstmuseum im Geburtshaus des Landessohnes war im Ort nicht viel Handfestes geblieben vom erhofften gesegneten Dauerhype einer Papst-Ära.

***

Patrick warf einen Blick über die Schulter zurück zu seinem klinisch weißen Porsche. Als christlicher Psychiater, hochgewachsen, athletisch, braun gebrannt, mit breiten Schultern, fiel er in Höllenkirch immer wieder auf. Der Platz war menschenleer. Er blieb vor der Kirchentür stehen, um zu kontrollieren, ob die Hochzeit seines Bruders korrekt eingetragen war. Sie war es. Dominik Zwick und Loreley Liebherr etc. Pater Ewald war nicht gerade ein dynamischer Typ, in letzter Zeit schien er fahrig zu sein und sah schlecht aus. Der Alkohol, vermutete man. Patrick musterte fachkundig ein billig kopiertes Blatt mit einigen Zeilen, das bescheiden ein wenig abseits auf das Schwarze Brett geheftet war, und deklamierte die Themen der kommenden Sonntagspredigten mit ironischer Feierlichkeit: Jeremia 31,35. Salomo, 3,15. Die Offenbarung des Johannes.

Patrick betrat den kühlen Kirchenraum. Er ging durch das Mittelschiff. Er spürte, dass er beobachtet wurde, er, ein mächtiger finanzieller Pfeiler der Gemeinde. Mit knapp gestutztem, leicht ergrautem Kinnbart, dem elastisch federnden Gang und optimistisch freudvollem Blick nach vorn strahlte er Energie für zehn aus, zu viel vielleicht. Um ihm herum die Skulpturen von Heiligen, deren Namen schon vor langer Zeit auf dem verdammten Friedhof der Geschichte gelandet waren; die Jungfrau Maria, heiter und ergeben in ihre historische Rolle.

Patrick schlich behutsam an einigen Betschwestern um den Beichtstuhl herum vorbei, Frauen, die zum Teil mit seiner Frau Kontakt hatten, kniete sich hinter ihnen nieder in eine Kirchenbank, nicht, dass sie ihn beobachten könnten.

Er konzentrierte sich auf die Gewissenserforschung, so wie er es gelernt hatte, und ging die Zehn Gebote durch. Seine Haupt- und Todsünde war eindeutig seine fatale Liebschaft mit Liliane. Alles andere, was sich da angehäuft hatte bis zur grandiosen Idee, den Vatikan zu schröpfen, waren lediglich die Folgen dieser seiner unseligen, nicht zu bändigenden Triebhaftigkeit. All seine hohen Ziele, Ansprüche und Ideale standen in Frage. Wenn sein Doppelleben aufflog, war seine Existenz in der sorgsam intakt gehaltenen Familie zerstört. Der Druck, den seine Geliebte und eine seiner besten Kräfte in der Klinik auf ihn ausübte, verstärkte sich und mischte sich auch außerhalb der Wäschekammer in sein Leben. Liliane begann, ihn zu erpressen. Die finanziellen Sorgen standen ihm bis zum Hals und drohten ihn zu ersticken. Der Ruin, ein Sturz ins Nichts. Schwer, da noch die Contenance zu bewahren. Und da die große Chance, die einzige, die er noch hatte. Wenn du glaubst, es geht nicht mehr … Ein Geschenk Gottes, das ihm da rein zufällig in die Hände gefallen war auf dem Dachboden seines Elternhauses. Sein Bruder, sein Lichtlein, der Segen, der Goldregen. So unschuldig kam man darauf, den Vatikan um ein paar Millionen erleichtern zu wollen. So leid es ihm tat, das machte ihm keine Gewissensbisse. Der Täter zeigt keinerlei Rechtsbewusstsein, würde man sagen, falls man ihm auf die Schliche kam.

***

Niemand um ihn herum erahnte die ganz private Schummerblende des väterlichen Nervenarztes, die ihn immer wieder und viel zu oft qua mentaler Zeitreise zurück in die Vergangenheiten warf, die ihn langsam als Zukunftsaussicht bedrohte. Und diesmal setzte sie eine Frau mit kurzen tintenschwarzen Haaren und sehnig sportlichem Körper ins Bild, mit ihm zusammen, beide halb nackt, in ihrer Wohnung, genauer gesagt, im Badezimmer.

Noch einmal öffnete Patrick ein Auge, nahm die lieben Verwandten um ihn wahr, und dann war er auf dem Sprung zu seinem Trauma, von dem es keine Heilung gab.

»Was hast du denn, Liebling?«, stieß Patrick in seiner albtraumhaften Rückblende entgeistert hervor. Liliane, seine unverzeihliche langjährige Geliebte und unverzichtbare Verhaltenstherapeutin. Liliane, die Frau, die wieder einmal um ihn kämpfte wie eine Löwin um ihr Glück, aber es konnte nur eine geben. Leider.

»Patrick«, heulte Liliane.

Er starrte sich im Spiegel an und stellte fest, wie zerstörerisch ein Liter Tränenflüssigkeit auf alternden Männerteint wirken konnte.

»Mach es uns doch nicht noch schwerer«, sagte Patrick. Früher waren ihre Treffen unproblematischer verlaufen.

Liliane entzog sich seinem ungeschickten Versuch, sie zu umarmen.

»Das machst du nicht«, sagte Patrick. »Du nicht, dazu hängst du viel zu sehr am Leben.«

Unter Vernachlässigung von Auftrieb, Luftreibung, Zunahme der Gravitationskraft bei Annäherung an die Erde und der Folgen der Erdrotation prallte ein anfangs in Ruhe befindlicher Körper senkrecht mit konstanter Beschleunigung auf dem Globus auf, auch der Körper Lilianes.

»Wetten?«, stieß sie hervor.

Die Vorzeichen von g und der Geschwindigkeit waren positiv für eine nach unten zeigende Koordinatenachse. Wählte man die Nullpunkte geschickt, dann waren auch die Formeln einfach.

Ja, er war auch in Physik ein Talent, wenn nicht ein Genie gewesen, nicht nur in der Erforschung der menschlichen Psyche.

Lächelnd griff er nach ihrem Arm.

»Finger weg!«, stieß Liliane hervor und klammerte sich, mit einem Bein außen, mit dem anderen auf Zehenspitzen innen balancierend, ans Balkongitter.

»So schaffst du es nicht«, sagte Patrick. »Und ich dachte, du bist so sportlich?«

Abblende. Zurück zur wirklichen Reality. Vorsichtig öffnete er die Augen.

***

Pater Ewald zündete die Kerzen im rechten Seitenschiff an, das Zeichen, dass die Beichtzeit beginnen konnte. Sein langes Gesicht mit den tiefliegenden, eisgrauen Augen, die mehr sahen, als Augen eigentlich sehen sollen, schimmerte im flackernden Licht. Er schlüpfte in sein Reich, füllte es mit bedrohlichem Leben und wartete auf Kundschaft. Der Beichtstuhl war geliebt und gefürchtet. Er zog immer noch die Damenwelt an. Männer reizte das heutzutage nicht mehr, außer in der Branche selbst, versteht sich. Er warf einen Blick auf die rar gewordenen Sünder, die noch bekennen wollten.

Pater Ewald vom Kloster der reinen Maria voller Gnaden und den zwölf Aposteln.

***

Patrick übte sich in Geduld und verfiel in die Betrachtung des linken Nebenaltars. Die spätbarocke Tafel mit dem Erzengel Gabriel, gutaussehender Bursche, bärtig und traurig, die Augenbraue hochgezogen ob irgendeines melancholischen Widerspruchs. Seraphim, eine feurige, sechsflügelige Engelserscheinung, Herr der Heerscharen, umschwebte Gottes Thron und sang immerfort: »Heilig, heilig, heilig!«

Es war schon einige Jahre her, erinnerte sich Patrick, als Liliane ihn zum ersten Mal rabiat dazu bringen wollte, sich von seiner Frau zu trennen. Viel zu lange hatte er ihr des lieben Friedens und der unverzichtbaren Lustbarkeiten wegen Versprechungen gemacht, die er ernsthaft in die Tat umsetzen wollte.

Nun war alles zu spät. Enttäusche Liebe konnte dazu führen, dass das Leben aus den Fugen geriet. Die Verlassenen litten unter Entzugserscheinung wie Drogensüchtige und fielen in Depressionen. Die Konzentration der Glückshormone Dopamin und Serotonin sank rapide ab, der Stoffwechsel im Gehirn geriet aus dem Takt.

»Wetten?«, lachte Liliane aufreizend.

»Das kannst du nicht tun.« Patrick lachte wohlwollend mit ihr, als sie sich auf das Balkongeländer stützte und erfolglos eine Art seitgespreizten Bocksprung ansetzte.

»Sicher kann ich das«, lachte Liliane, als sich ihr schönes, langes Bein in einem Blumenkasten verhedderte, in dem sie Liebstöckel, Rosmarin und Thymian angepflanzt hatte.

»Um Gottes willen!«, rief Patrick überrascht, »was hast du vor?«

»Ich will mich gerade in den Abgrund stürzen, du Idiot!«

»Das ist kein Abgrund«, schrie Dominik, »da unten ist nur eine Straße.«

Dominik zerrte an ihrem Bein und achtete nebenbei darauf, dass der Liebstöckel nicht zu sehr beschädigt wurde.

»Du könntest jemanden verletzen«, erinnerte er sie, »willst du unschuldige Menschen mit in den Tod reißen?«

»Warum nicht?«

»Versprich mir, dass du nie mehr in deinem Leben an meiner großen Liebe zu dir zweifelst!«

Patrick zerrte an Lilianes Stöckelschuh, der beim Aufsteigen über die Balustrade ihre selbstgezüchteten Kräuterbeete aufwühlte.

***

Pater Ewald, der Stadtpfarrer und örtliche Schläfer als Mitglied des Geheimdienstes des Vatikans, Spion und Zuträger nach oben für den Fall schwerer Verfehlungen der Christenheit, ging seinen niedrigen Aufgaben nach. Das Beichtkind in seinem Schattenreich beichtete in leierndem Ton und virtuos gleichförmiger Einfalt das ewige Sündenregister, bei dem es früher sicher einiges unterschlagen hatte, heute im hohen Alter maßlos übertrieb. Zumindest litt es nicht unter Alzheimer. Bei all seinem finsteren Auftreten war der Priester kein humorloser Mensch. Die Zeiten waren härter geworden. Es gab nicht mehr nur Internetbewertungen für Restaurants, Ärzte und Lehrer. Inzwischen wurden Pfarrer, Gottesdienste, Predigten und sogar Beichten mit Punkten und ausführlichen Kritiken bewertet. Eine falsche Bewertung, und man wurde bedroht wie ein unfähiger Fußballschiedsrichter. Mit Pater Ewalds Bewertungsstatus im Pfarrer-Forum stand es schlecht.

***

Mit einem winzigen Schubs vor die Brust hätte Patrick Liliane rücklings über das verwitterte Geländer befördern können. Mit ein bisschen Glück wäre sie acht Meter tiefer aufgeschlagen. Aber Patrick ließ die Gelegenheit verstreichen, schob sich höflich lächelnd an ihr vorbei und grämte sich über seine ewige Unschlüssigkeit. An diesem windigen Tag während der Mittagstischzeit und dem zur Routine gewordenen Vollzug alter Leidenschaften wurde Patrick klar – post coitum animal triste – dass er keine Chance hatte, sich gegen seine Geliebte zu wehren. Nicht, solange sie lebte.

Wenn er nur ein bisschen impulsiver wäre, hätte er schon längst keine Sorgen mehr. Kein Mensch hätte an einem Unfall gezweifelt. Nicht einmal der Schatten eines Verdachts wäre auf ihn gefallen. Wieso sollte ein renommierter Psychiater eine kleine Angestellte vom Balkon stoßen?