ISBN: 978-3-95428-608-9
1. Auflage 2015
© 2015 Wellhöfer Verlag, Mannheim
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Titelgestaltung: Uwe Schnieders, Fa. Pixelhall, Mühlhausen
Die Erzählungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit wirklichen Personen oder tatsächlichen Ereignissen sind nicht beabsichtigt und somit rein zufällig.
Das vorliegende Buch einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlages unzulässig.
Eine Woche verging wie im Flug, wenn man sich auf etwas freute. Bei Hilde waren es die Freitage, die ihr Herz zum Stolpern brachten. Schon beim Zubereiten des Mittagessens konnte sie es kaum erwarten, bis der Zeiger endlich auf zwölf Uhr dreißig sprang und es an ihrer Haustür klingelte.
»Professor Waldmann, du stehst mir im Weg«, schimpfte die alte Dame und schob den übergewichtigen Dackel mit dem Fuß liebevoll zur Seite. Seine Krallen kratzten über den Kachelboden in der Küche. Mit einem Grunzen watschelte der Hund in sein Körbchen im Esszimmer, drehte sich zweimal um die eigene Achse und bettete sich schwerfällig auf das Polsterkissen. Dabei ließ er Hilde nicht aus den Augen.
Sie band eine weiße Latzschürze mit Rüschen um den Bauch und krempelte die Blusenärmel nach oben. Mit einem Messer machte sie sich an ein Bündel frisch gewaschener Kräuter. Die Stängel lagen der Länge nach auf dem Schneidebrett. Hilde liebte das Ratschen, wenn die Klinge durch das Grünzeug fuhr und es in winzige Stückchen schnitt. Keine Küchenmaschine, sei sie noch so praktisch und schnell, ersetzte ihr diesen Moment, wenn der Pflanzensaft in die Ritzen des Schneidebrettchens sickerte und diesen würzigen Kräuterduft freigab.
Als Reinhold ihr eines Tages gestand, dass er für Grüne Soße sündigen könne, beschloss Hilde, dies auszuprobieren. Seitdem servierte sie ihm jeden Freitag sein Leibgericht mit Eiern und Pellkartoffeln und einem Glas gekühlten Äppelwoi. Um ihm diese Freude zu bereiten, stand sie freitagmorgens früh auf und marschierte mit schaukelnden Hüften von Sachsenhausen über den Eisernen Steg bis zur Kleinmarkthalle. Dort kaufte sie die sieben Kräuter in geheimnisvollen Rollen aus weißem Papier mit grüner Aufschrift und frische Eier. Reinhold bevorzugte die von freilaufenden Hühnern. Das sei christlicher, als diese grausame Tierhaltung in Legebatterien zu unterstützen.
Die Küchenuhr schlug Viertel vor zwölf und Hilde schaltete den Herd für das Kartoffelwasser an. Sie hatte Reinhold vor einem halben Jahr in der Alten Nikolaikirche am Römerberg kennengelernt. Das war kurz nach dem Tod ihres Mannes. Seit 48 Jahren hatte sie fast jede Minute mit ihrem Gatten verbracht. Und von einem Moment auf den anderen riss eine Herzattacke ihre Leben auseinander. Darauf war sie nicht vorbereitet gewesen und wusste nicht, wie sie mit diesem Verlust umgehen sollte. Trost fand sie in der Kirche. Dort betete sie, weinte oder saß einfach nur auf der Kirchenbank und betrachtete den Altar und die bunten Fenster. Bis eines Tages plötzlich Reinhold neben ihr saß. Er schwieg, legte seine Hand auf ihren Unterarm. Gemeinsam starrten sie auf die brennenden Kerzen. Seine Nähe hatte etwas Tröstliches. Hilde kam fortan täglich von Sachsenhausen über den Eisernen Steg gelaufen und freute sich auf die Treffen mit Reinhold. Sie sprachen viel über den Tod und die Einsamkeit. Das Leben war ohne ihren Mann sinnlos und grau geworden.
Eines Freitags klingelte es um genau zwölf Uhr dreißig an ihrer Haustür in der Gutzkowstraße in Sachsenhausen. Sie saß am Küchentisch und aß zu Mittag, eingelegter Hering mit Quark und Kartoffeln. Bestimmt hatte sich jemand in der Tür geirrt. Die alte Dame bekam nie Besuch und der Briefträger war schon da gewesen. Hilde erhob sich, richtete die grauen Dauerwellen im Nacken und strich die Küchenschürze glatt. Zaghaft drückte sie die Gegensprechanlage und fragte, wer da sei. Es war Reinhold. Er brachte ein Hundekörbchen mit einem Dackel darin mit. Professor Waldmann war sein Name. Anfangs wusste Hilde nicht, wie sie Reinholds Geschenk finden sollte. Ein Tier erforderte Pflege und Aufmerksamkeit. Beides hätte sie lieber für sich in Anspruch genommen, statt dies nun einem Hund entgegenbringen zu müssen. Doch sie änderte ihre Meinung. Nach nur wenigen Tagen konnte sie sich keinen besseren Weggefährten vorstellen. Die Besuche in der Kirche wurden seltener, stattdessen bevorzugte sie Spaziergänge mit Professor Waldmann am Mainufer. Freitags reichte es nur für eine kurze Runde durch die Parkanlage neben ihrer Wohnung am alten Friedhof, denn freitags kam Reinhold. Hilde verwöhnte ihn jede Woche mit seiner Lieblingsspeise. Außerdem putzte sie morgens noch die Wohnung, saugte den Berberteppich im Wohnzimmer, fuhr mit der Fusselrolle über das weinrote Polstersofa und kreiste mit dem Staubwedel über die Sammlung der Porzellantänzerinnen in der Glasvitrine. Reinholds Besuche hatten etwas Warmes, etwas Herzliches und das weckte ein Kribbeln in ihr, das sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. Manchmal stand sie vor dem Spiegel in der Diele und zupfte die Dauerwellen zurecht oder sie träufelte ein paar Spritzer Kölnisch Wasser hinter die Ohrläppchen, bevor sie die Haustür öffnete. Reinhold schmunzelte jedes Mal, wenn er sie betrachtete. Er machte ihr Komplimente und lächelte. Seine Besuche wurden zum Höhepunkt der Woche. Hilde fieberte den Freitagen entgegen und war traurig, sobald Reinhold um halb drei wieder zurück in die Frankfurter Innenstadt musste.
Eines schönen Sommertages, als sie mit Reinhold und Professor Waldmann nach dem Essen im Park auf einer Bank in der Sonne saß, fragte Hilde, ob er sich vorstellen könne, sie öfter zu besuchen. Ihr Herz pochte wie bei einem pubertierenden Schulmädchen. Ihre Wangen färbten sich feuerrot. Wie peinlich. Kinder schrien auf dem angrenzenden Spielplatz. Ein Radfahrer schoss von hinten an ihnen auf der Brückenstraße vorbei. Hilde erschrak. Reinhold räusperte sich, richtete sich auf der Parkbank gerade auf und antwortete ausweichend. Hilde hätte sich ohrfeigen können. Sie wusste doch, wie bescheiden und zurückhaltend er war. Sie hatte ihn überrumpelt, in Verlegenheit gebracht. Er wich ihrem Blick aus und blickte zur Uhr. Es war halb drei, Zeit sich zu verabschieden.
Die alte Dame schaute ihm enttäuscht nach, bis er in die Schifferstraße einbog und aus ihrem Blickfeld verschwand.
Dieser Mann war wie ein Jungbrunnen, und ob sie es wollte oder nicht, Hilde war mit ihren 75 Jahren bis über beide Ohren verliebt. Sie legte den Handrücken gegen die Stirn und lächelte. Professor Waldmann kratzte sich zu ihren Füßen mit der Pfote am Ohr. Die alte Dame konnte der Versuchung nicht widerstehen und gab einem Impuls nach, den sie anfangs nicht zulassen wollte. Sie erhob sich und eilte so schnell es ihre Arthrose zuließ, hinter Reinhold her. Zu spät! Er war bereits mit schnellen Schritten davongeeilt. Sie lief bis zum Eisernen Steg, aber statt Reinhold entdeckte sie dort ein innig umschlungenes Pärchen. Die beiden küssten sich in aller Öffentlichkeit. Ihre Leidenschaft blendete die Welt um sie herum aus. Die junge Frau lehnte an dem mit Rosetten verzierten Eisengeländer, das Hilde auf eine Idee brachte.
In der kommenden Woche erledigte sie einige Dinge und platzte schier vor Freude. Reinhold würde Augen machen, wenn er die Überraschung sah, die sie für ihn vorbereitet hatte. Hilde zählte die Tage bis Freitag. Zuerst aßen sie zusammen, vielleicht ein wenig schweigsamer als sonst, aber Reinhold war galant und zuvorkommend wie eh und je. Hilde betrachtete ihn heimlich. Ein attraktiver Mann. Dunkles Haar, gepflegte Hände und eine sportliche Figur. Sie hatte ihn nie nach dem Alter gefragt, schätzte ihn auf Ende fünfzig. Das Schönste an ihm war sein Lächeln, mit dem er sie verzauberte.
Kurz vor halb drei, als Reinhold sich auf den Heimweg machte, nahm Hilde die Hundeleine von der Garderobe im Flur und klickte den Karabinerhaken in Professor Waldmanns Halsband ein. Die Riemen ihrer Handtasche legte sie über den linken Unterarm und hakte sich mit rechts bei Reinhold ein. Heute würde sie ihn bis zum Eisernen Steg begleiten.
Zu dritt flanierten sie in Richtung Main. Es war ein wunderschöner Sommertag. Die Sonnenstrahlen funkelten auf der Wasseroberfläche, Ausflugsschiffe tuckerten unter der Brücke hindurch. Jugendliche fuhren mit Inlineskates vorbei, Kinder schleckten an bunten Eistüten. Es war der perfekte Tag für Hildes Überraschung. Mitten auf dem Steg blieb sie stehen, öffnete die Handtasche und zog ein kleines Päckchen daraus hervor. Sie reichte es Reinhold und wartete mit glänzenden Augen. Seinen entsetzten Blick, als er ein Liebesschloss mit der Gravur ihrer beider Namen auf dem goldenen Metall in Händen hielt, wollte Hilde nicht sehen. Ihm stand der Mund offen, er suchte nach Worten, die Hilde ebenfalls nicht hören wollte. Reinhold war einfach viel zu schüchtern, redete sie sich ein. Es war doch Sinn und Zweck der Überraschung, dass endlich alle Menschen den Beweis ihrer Liebe sehen konnten. Wieso sollten sie das länger verschweigen? Sie kettete das Vorhängeschloss an eine der Metallrosetten im Geländer, das bereits über und über mit solchen Schlössern geschmückt war. Den Schlüssel warf sie in hohem Bogen in den Main. Reinholds Protest artete in einen Streit aus. Er ließ sie in der Mitte der Brücke stehen und stürmte wutschnaubend davon. Hilde zog enttäuscht den Rückzug an.
Die kommende Woche verging quälend langsam. Die alte Dame zweifelte, ob Reinhold am Freitag kommen würde. Er hatte ihr offene Worte an den Kopf geknallt, die sie nicht hören wollte und die sie sehr verletzten. Ob er wiederkam oder nicht, wusste Hilde nicht einzuschätzen. Vorsichtshalber ging sie am nächsten Freitag früh in die Kleinmarkthalle und kaufte die Kräuter für die Grüne Soße. Sie wollte vorbereitet sein und kochte für ihn, dieses Mal ganz besonders lecker. Als es pünktlich um halb eins an der Haustür klingelte, lächelte sie.
Reinhold entschuldigte sich für seine groben Worte. Sie sprachen lange und offen über ihre Beziehung. Hilde fühlte sich bestätigt und wünschte dem Gast einen guten Appetit. Sie hatte keinen Hunger mehr.
Als Reinhold ging, schloss sie die Tür hinter ihm und vergoss ein paar Tränen. Professor Waldmann setzte sich vor sie auf die Hinterbeine und winselte, als ob er ebenfalls litt.
In den nächsten Wochen blieb es freitags sehr still in Hildes Wohnung. Keine Einkäufe auf dem Markt, kein Gast zum Mittagessen. Sie besuchte wieder öfter die Kirche, saß auf den Holzbänken und betrachtete den Altar, die Kerzen. Professor Waldmann hechelte zu ihren Füßen.
Heute war Freitag. Hilde hatte das Kartoffelwasser aufgesetzt. Sie schnitt die letzten Kräuter für die Grüne Soße, deren würziger Duft ihr in die Nase stieg. Es war zwölf Uhr und der Tisch gedeckt. Der Dackel lag im Esszimmer in seinem Körbchen und beobachtete Hilde in der Küche hantieren, während sie ein Lied summte und dabei lächelte. Die Zeit wurde knapp. Die alte Dame wirbelte umher, bis alle Vorbereitungen abgeschlossen waren. Genau um zwölf Uhr dreißig hielt sie kurz den Atem an und lauschte auf die Haustürklingel.
Er kam drei Minuten zu spät, doch das Lächeln, das ihr entgegenstrahlte, als sie die Wohnungstür aufriss, entschädigte sie für das Warten.
»Guten Tag, Frau Hellknecht. Ich bin Pfarrer Lukas Engelsberg, der Nachfolger von Pfarrer Reinhold Liebkind. Unsere Pfarrsekretärin erzählte mir von Ihnen. Schrecklich, die Geschichte seines tragischen Ablebens. Herzversagen aus heiterem Himmel. Die Wege des Herrn sind manchmal unergründlich.«
Hilde bemühte sich um einen angemessenen Gesichtsausdruck, denn es waren nicht Gottes Wege, die Reinhold mit den richtigen Kräutern in der Grünen Soße ins Jenseits katapultiert hatten, sondern ihre. Sein Geständnis, sie niemals geliebt, sondern nur aus Mitgefühl besucht zu haben, wie viele andere Gemeindemitglieder auch, hatte Hilde genauso schmerzlich getroffen wie der Tod ihres Mannes.
»Wenn Sie erlauben, Frau Hellknecht, würde ich nach Reinholds tragischem Tod gerne an seiner Stelle freitags nach Ihnen sehen und mit Ihnen beten, so wie er es tat.«
Die alte Dame betrachtete den neuen Pfarrer, der genauso attraktiv wie Reinhold aussah, vielleicht sogar noch etwas verwegener lächelte. Professor Waldmann stand neben seinem Frauchen und wedelte mit dem Schwanz. Die Entscheidung war gefallen. Sie lud den Pfarrer zum Essen ein. Genau wie sein Vorgänger liebte er Grüne Soße und Äppelwoi. Beim Hinsetzen beugte er sich nach unten und kraulte das Fell des Dackels. Es rumorte in Hildes Bauch und das war ganz und gar kein Hungergefühl.
Lukas, ein wunderschöner Name. Der machte sich zusammen mit ihrem bestimmt gut auf einem Liebesschloss.
Zutaten für 4 Portionen:
200 g gehackte Kräuter (2 Pakete)
1 Becher Schmand
1 Becher Joghurt
9 Eier, je nach Geschmack
Essig, Salz, weißer Pfeffer, etwas Zucker
Zubereitung:
Die Eier hart kochen, abschrecken und pellen. Ein Ei in feine Würfel schneiden. Die Kräuter waschen, abtrocknen, fein hacken und mit den Eierwürfeln, Schmand, Joghurt, Essig, Salz, Pfeffer und etwas Zucker gut verrühren. Halbierte oder ganze Eier in der Grünen Soße anrichten.
Als Beilage kann man Pellkartoffeln und Apfelwein servieren.
Die Grüne Soße kann aber auch gut zu Schnitzel und Tafelspitz gegessen werden.
Wissen Sie, meine Schwiegertochter, die Uschi, das ist so eine Verrückte. Eine Ausgeflippte, meine ich. Hat sich mit achtundvierzig noch eine Rose aufs Schulterblatt tätowieren und ein Nasen-Pieksing machen lassen. Oder wie das heißt.
Also verstehen Sie mich nicht falsch, ich hab nichts gegen sie! Ist doch schön, wenn man jung bleibt und aufgeschlossen ist für Neues. Ich bin da genauso! Ich meine – es muss ja nur nicht gleich ein Pieksing sein, oder?
Jedenfalls hat mir die Uschi zum 70. Geburtstag so eine Wochenendbusreise geschenkt. Das verrückte Huhn! Ich bin aus allen Wolken gefallen. »Eine Kaffeefahrt?«, hab ich gefragt, ganz entsetzt. »Wo sie die alten Leute so lange einsperren, bis jeder eine Heizdecke gekauft hat?«
»Ach, Omma«, sagte die Uschi. »Quatsch! Eine ganz seriöse Kulturreise – und gar nicht billig. Du wolltest doch schon lange mal wieder nach Frankfurt rein, oder?«
Sie hat mir einen wunderschönen Gutschein gebastelt, mit den wichtigsten Programmpunkten: Aufbruch morgens um acht, Busfahrt nach Frankfurt mit zwei Zwischenstopps zum Zusteigen. Besuch des Goethe-Hauses, anschließend ein geführter Rundgang zu den Schätzen der Altstadt, Paulskirche, Römerberg. Zeit zur freien Verfügung. Gemeinsame Einkehr in einem schönen Altstadtbistro bei Speckkuchen und Äppelwoi. Danach Bezug des Hotels, Freizeit.
2. Tag: Frühstück im Hotel, 12 Uhr Treffpunkt Eisener Steg – zur Mainrundfahrt auf dem Ausflugsschiff Wappen von Frankfurt, Ausklang. Rückfahrt um 16 Uhr 30.
Na ja, auf das Goethe-Haus hätte ich verzichten können, aber eine Fahrt auf dem Main und ein Speckkuchen in der Altstadt – wenn das keine Kultur ist, dann weiß ich auch nicht! Also habe ich ja gesagt und angefangen, mich auf die Reise zu freuen.
Im Bus saß ich neben einem älteren Herrn, Hildebrand hieß er. Ich hatte so ein bisschen das Gefühl, als hätte der Reiseleiter uns absichtlich zusammengesetzt, mit Hintergedanken, wenn Sie verstehen, was ich meine. Bei den meisten anderen Mitreisenden handelte es sich nämlich um Paare, zwischen 40 und 70 Jahren würde ich sagen, aber ein paar jüngere waren auch dabei. Natürlich war ich ganz froh, nicht alleine zu sitzen, aber der Herr Hildebrand war jetzt auch nicht wirklich eine Stimmungskanone. Oder eine Intelligenzbestie. Wie soll ich sagen: Alzheimer, ick hör dir trapsen!
Weil wir so früh am Morgen losgefahren sind, war ich ziemlich müde und bin mit der Zeit eingenickt. Erst als der Fahrer diese Vollbremsung hinlegte und es mich mit der Stirn gegen den Vordersitz knallte, bin ich wieder aufgewacht. Da, sehen Sie? Ich habe eine dicke Beule abbekommen!
Der Fahrer fluchte und der Reiseleiter erzählte uns über das Mikrofon, dass wir eine Panne hätten. Irgendwas am Auspuff, ich hab gar nicht richtig hingehört.
»Das fängt ja gut an!«, sage ich zu Herrn Hildebrand. »Und wir sind noch nicht mal auf der Autobahn!« Aber er hat nur gelächelt und genickt; sein Temperament ließ auch zu wünschen übrig.
Nach einer knappen halben Stunde brachte uns ein junger Mann das Ersatzteil, das wir brauchten. Da wurde ich zum ersten Mal stutzig. Ganz ehrlich: Wir standen irgendwo in der Pampa, noch gut 80 Kilometer von Frankfurt entfernt – und nach schlappen zwanzig Minuten ist der Kerl mit dem richtigen Teil hier? Wo gibt es denn so was! Weiß doch jeder, dass Deutschland eine öde Servicewüste ist, da muss man sich einfach wundern, wenn etwas so reibungslos klappt! Und dann hat sich der Mann auch noch so merkwürdig benommen. Ist durch den ganzen Bus gelaufen, hat uns gemustert, als würde er jemanden suchen, und ab und zu hat er sich runtergebeugt und mit einem großen Schraubenschlüssel auf den Boden geklopft. Ich meine, was soll das denn? Ich bin ja keine Expertin, aber was kann man schon hören, wenn man auf den Busboden schlägt?
»Ich glaube, mit dem stimmt was nicht!«, flüstere ich Herrn Hildebrand zu. Der zieht die Augenbrauen hoch und schaut mich ganz groß an: »Meinen Sie?«, fragt er. Dann grinst er ein bisschen dümmlich: »Meinen Sie wirklich?«
Na, ich sag’s ja: nicht der Hellste. Von seiner Seite war wohl keine Unterstützung zu erwarten, wenn sich mein Verdacht erhärtete. Ich hab den fremden Kerl jedenfalls nicht aus den Augen gelassen und war sehr erleichtert, als er wieder ausstieg und wir endlich weiterfuhren.
Im Goethe-Haus kamen wir dann trotzdem auf die Minute pünktlich an. Der Fahrer muss ganz schön auf die Tube gedrückt haben! Ich nahm meinen Stock mit rein, wissen Sie, mein linkes Knie will nicht mehr so richtig. Laufen kann ich zwar, aber Rumstehen ist tödlich. Darum habe ich mir auch gleich im Erdgeschoss in der Blauen Stube einen Stuhl gesucht und die anderen mit dem Reiseleiter weiterziehen lassen. Der alte Goethe war sowieso noch nie so ganz mein Ding. Ich habe ihn seit der Schule nicht mehr gelesen, viel lieber mag ich die Sachen von Charlotte Link oder Bücher über Cornwall oder auch mal einen Thriller.
Na, und wie ich da so am Esstisch des Dichterfürsten sitze, rempelt mich plötzlich ein junger Mann an. Ich bin fast vom Stuhl gefallen! Erst die Beule von der Vollbremsung im Bus – und jetzt ein blauer Fleck am Oberarm. Ich hatte gute Lust, den Reiseveranstalter zu verklagen. Wenn der nicht besser auf seine Gäste aufpassen kann! Schließlich hat die Uschi selbst gesagt, dass die Fahrt nicht ganz billig war.
Der junge Mann hat sich immerhin entschuldigt, ein paar Worte genuschelt, von wegen er hätte mich für eine Wachsfigur gehalten, die zum Arrangement gehört, und ob ich nicht wüsste, dass es verboten ist, auf den Exponaten zu sitzen? Dann lief er schnell raus und erst als er weg war, ging mir ein ganzes Lichtermeer auf: Ich hatte den Kerl doch schon mal gesehen! So, und jetzt halten Sie sich gut fest: Es war tatsächlich der komische Typ, der uns das Ersatzteil in den Bus geliefert hat! Er trug andere Klamotten und hatte eine Brille auf, deshalb habe ich ihn nicht gleich erkannt. Aber er war es, einwandfrei!
Ja, Himmel, was sollte ich denn tun? Mit dem Gehstock konnte ich ihn ja schlecht verfolgen! Mir blieb nichts anderes übrig, als auf den Rest der Gruppe zu warten.
»Wir werden verfolgt«, sage ich zum Reiseleiter. »Der Kfz-Mechaniker ist hinter uns her!«
Und was macht dieser Trottel? Schaut mich an, als wäre ich meschugge!
»Ein Autoschrauber darf sich doch wohl auch für Goethe interessieren, oder?«, meint er.
Was sagen Sie dazu? So ein Idiot! Herrn Hildebrand habe ich meine Beobachtung natürlich auch mitgeteilt: »Der seltsame Typ aus dem Bus hat mich angerempelt«, sage ich. »Der führt doch was im Schilde!«
»Meinen Sie?« Herr Hildebrand zieht die Augenbrauen hoch und schaut mich groß an. »Meinen Sie wirklich?«
Tja. Hätten die Herren mal besser auf mich gehört, dann wäre vielleicht alles anders gekommen!
Auf die Führung zu den Schätzen der Altstadt konnte ich mich danach gar nicht mehr richtig konzentrieren. Wissen Sie, ich bin ja nicht senil oder so! Und meine Augen funktionieren auch noch ganz gut. Ich weiß, was ich sehe, und jetzt erzählen Sie mir nicht, es wäre normal, wenn ein Mechaniker morgens um neun Uhr noch arbeitet, aber um halb elf plötzlich Feierabend hat, sich umzieht und das Goethe-Haus besichtigt! Im Leben nicht!
Am Römer oben bemerkten dann die ersten Reisegäste beim Einkauf ihrer Souvenirs, dass ihre Portemonnaies verschwunden waren.
»Das war er!«, sage ich zu Herrn Hildebrand. »Aber mir glaubt ja keiner!«
Ein wenig Schadenfreude hat noch niemandem geschadet, denke ich immer, aber das Lachen verging mir ganz schnell, als ich feststellte, dass meine Brieftasche ebenfalls weg war.
Der Rempler im Museum! Ich hätte es doch wissen müssen, das liest man ja immer wieder, ein ganz alter Trick! In einer Großstadt wie Frankfurt sind natürlich jede Menge professioneller Taschendiebe unterwegs – und wir Landeier sind da doch ein gefundenes Fressen. Der Mechaniker hat im Bus seine Opfer ausgesucht!
Was habe ich mich geärgert! Immerhin hatte ich fünfhundert Euro mitgenommen, nur so für den Fall, dass ich etwas Schönes finde in der Stadt – ein neues Kostüm vielleicht oder ein paar bequeme Schuhe.
Fünfhundert Euro futsch – das steckt man nicht so leicht weg, bei meiner schmalen Rente, das können Sie mir glauben!
»Na, so was!«, sagt Herr Hildebrand. Sein Portemonnaie war noch da und er versprach mir, mich auf einen Kaffee einzuladen.
Die anderen bestohlenen Mitreisenden nahmen es deutlich lockerer als ich. Die jungen Leute haben eben keinen rechten Bezug mehr zum Geld. Vielleicht hatten sie auch einfach nicht so viel dabei.
Zumindest der Reiseleiter war jetzt betroffen. »Die Polizei!«, ruft er. »Wir brauchen die Polizei!«
Zehn Minuten später kam sie. Ohne Blaulicht, ohne Martinshorn. Ein paar beklaute Touristen waren wohl nicht so wichtig. Der Beamte war allein, anders als im Fernsehen, wo sie immer zu zweit auftreten. Er trug eine altmodische Uniform, Sie wissen schon: gelbes Hemd, Khakihose und Schirmmütze. Ich wusste gar nicht, dass es die noch gibt. Ansonsten war er aber recht cool, wie man so sagt. Lässig mit Kaugummi im Mund, man verstand ihn ziemlich schlecht.
»Wassn los hier?«, fragt er mich, ausgerechnet mich und da habe ich ihm natürlich alles erzählt, vom falschen Mechaniker, vom Rempler im Museum und dass danach mein Geldbeutel weg war.
»Können Sie den Mann beschreiben?«, fragt er und lässt lautstark eine Kaugummiblase platzen.
Und ob ich das konnte! In allen Details. Aber glauben Sie etwa, der Kerl hätte mitgeschrieben? Nichts! Schiebt seinen Kaugummi von rechts nach links und wieder zurück, und einmal, ich schwöre es!, einmal hat er unserem Reiseleiter verstohlen zugezwinkert – mit einem Seitenblick auf mich – und da war mir plötzlich alles klar. Die steckten alle unter einer Decke! Der Fremde, der Reiseleiter und der dumme Polizist, der höchstwahrscheinlich gar keiner war, mit seiner uralten Uniform.
Mein Gott, dachte ich mir. Die Uschi ist auf eine Betrugsfirma reingefallen! Und die fünfhundert Euro konnte ich mir auch abschminken. »Herr Hildebrand«, zische ich ihm leise zu. »Das ist ein Komplott!«
»Meinen Sie?«, flüstert er zurück. »Meinen Sie wirklich?«
Oh Herr, schmeiß Hirn vom Himmel!
Wissen Sie, danach habe ich mich dann lieber ruhig verhalten. Wollte nicht mehr auffallen. Man weiß ja nie, wozu so eine Bande fähig ist. Als der Pseudo-Polizist meine Personalien aufnehmen wollte, habe ich sie ihm gegeben – mein Gott, die hatten sie ja eh schon von der Anmeldung.
»Jetzt kann ich aber wirklich einen Speckkuchen brauchen!«, sagt der Reiseleiter, sobald der falsche Beamte weg war. Und da musste ich ihm ausnahmsweise recht geben. Ich war völlig ausgehungert und außerdem war das Essen im Preis inbegriffen, ein wichtiger Gesichtspunkt, jetzt, da ich pleite war.
Ich saß mit Herrn Hildebrand an einem Zweiertisch und die Gabel in meiner Hand zitterte ein wenig. Er tätschelte meinen Arm. »Die finden den Dieb schon!«, sagt er. »Da bin ich mir sicher.« Ich konnte seine Zuversicht nicht teilen, aber es war nett, dass er mich zu trösten versuchte.
Der Speckkuchen beruhigte mich ein bisschen. Wirklich, sehr köstlich. Ich verputzte drei große Stücke – wir hatten all you can eat gebucht – und hörte erst auf, als es in meinem Bauch rumorte. Kennen Sie das? Lauch hat bei mir diese Wirkung. Genau wie Wirsing, Blumenkohl und Zwiebeln. Dann muss es ganz schnell gehen, ich bin schließlich nicht mehr die Jüngste. Herr Hildebrand schaute mir ein wenig verdattert nach, als ich meinen Stock packte und plötzlich aufsprang. Aber glauben Sie mir, das hatte nichts mit Vorsatz oder Absicht zu tun. Es lag wirklich nur am Speckkuchen, ich musste einfach zu den Toiletten.
Ja – und auf dem Weg dorthin habe ich mich in der Eile verlaufen und bin in diesem kleinen Nebenraum gelandet. Und dort saß er. Jetzt wieder ohne Brille. Vor sich auf dem Tisch fünf oder sechs Portemonnaies – meines war auch dabei.
Ich frage Sie – wären Sie da nicht auch ausgerastet? Ich meine, das war doch die letzte Chance, meine fünfhundert Euro wiederzubekommen! Da war mir mein rumorender Bauch erst mal egal, ich habe den Gehstock gepackt und dem Kerl gegeben, was er verdiente.
Ich bitte Sie, Herr Kommissar! Woher hätte ich denn wissen können, dass der Mann nur ein Schauspieler war? Und dass mich die Uschi, das verrückte Huhn, zu so einer Reality-Krimi-Dingsda-Reise angemeldet hat?
Die anderen Fahrgäste, die wussten, worauf sie sich eingelassen hatten – sogar der Herr Hildebrand. Aber ich hatte keine Ahnung, sollte ja unbedingt eine Überraschung sein!
Dass ich mit meinem Gehstock so hart zuschlagen kann, war mir überhaupt nicht bewusst. Der arme Kerl! Ich hoffe doch, das wird beim Prozess berücksichtigt, Herr Kommissar?
So, nun habe ich Ihnen alles erzählt. Kann ich jetzt vielleicht noch ein Stück von diesem exzellenten Speckkuchen haben?
Den Speckkuchen gab’s in hessischen Dörfern immer an Backtagen. Wenn der Ofen für Brote nicht mehr heiß genug war, rollten die Landfrauen übrig gebliebenen Teig auf großen Blechen aus. Darauf verteilten sie Schmand und Speck, Semmelbrösel, Eier und Porreeringe und servierten den kross gebackenen, köstlich dampfenden Speckkuchen der ganzen Familie.
Zutaten:
4,5 Pfund Brotteig
2 Pfund Porree
20 Eier
2 Pfund Speck
eine halbe Handvoll Paniermehl
1 EL Salz
2 bis 2,5 kg Schmand
Zubereitung:
Den Brotteig daumenbreit auswellen. Die Eier aufschlagen und mit dem Schmand glatt rühren. Porree in dünne Ringe schneiden und dazugeben. Mit Salz abschmecken. Die gut vermengte Masse auf dem Teig verteilen. Den Speck in dünne Stücke schneiden. Die Speckstücke in Semmelbröseln wälzen und auf dem Kuchen verteilen. Den Speckkuchen bei großer Hitze etwa 20 Min. backen.