WESTERN LEGENDEN

 

 

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In dieser Reihe bereits erschienen:

 

9001 Werner J. Egli Delgado der Apache

9002 Alfred Wallon Keine Chance für Chato

9003 Mark L. Wood Die Gefangene der Apachen

9004 Werner J. Egli Wie Wölfe aus den Bergen

9005 Dietmar Kuegler Tombstone

9006 Werner J. Egli Der Pfad zum Sonnenaufgang

9007 Werner J. Egli Die Fährte zwischen Leben und Tod

Werner J. Egli

 

 

Die Fährte zwischen Leben und Tod

 

 

Historischer Western

 

 

 

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Werner J. Egli gilt als ein Meister der Erzählkunst. Er wurde unter anderem durch seine Bestseller Im Sommer als der Büffel starb, Die Nacht als der Kojote schwieg und Die Siedler bekannt. Egli hat über 30 Jahre in Arizona gelebt. Für seine Romane, Erzählungen wurde er mehrfach ausgezeichnet. Zu erreichen ist der Autor unter www.egli-online.com

© 2017 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Lonati

Satz: Winfried Brand

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-95719-407-7

VORWORT

 

Dieser historische Roman ist der vierte Band meiner Delgado-Reihe, den ich exklusiv für den BLITZ-Verlag schreibe.

Es ist die Geschichte von der Rückkehr Delgados zu seinem Volk, den Mimbreño-Apachen, die sich selbst Tichende nannten, was auf Englisch People of the willows bedeutet. Delgados Heimkehr war eine andere als die, die sich der junge Krieger auf dem langen Pfad zum Sonnenaufgang vorgestellt hatte. Fast ein ganzes Jahr war Delgado auf einsamen Pfaden durch eine Wildnis unterwegs gewesen, von Westen nach Osten, durch mächtige Gebirge, unberührte Wälder und menschenfeindliche Wüstengebiete, in denen er sich nicht auskannte.

White-Mountain- und Coyotero-Apachen hatten ihm Gastrecht gewährt, hatten ihn sich ausruhen lassen und ihn mit Proviant für den Weiterweg versorgt. Einige der Krieger hatten es sich nicht nehmen lassen, ihn ein Stück auf seinem Weg zu begleiten, aber die meiste Zeit war Delgado allein gewesen.

Auf dem Weg hatte er wenige Spuren von Weißaugen entdeckt, aber irgendwo an der zerfurchten Flanke eines Gebirgszuges war ihm eine Gruppe von Prospektoren mit einigen Maultieren begegnet, die ihre ganze Ausrüstung trugen.

Delgado tötete die Weißaugen und die Maultiere, schleppte die Packen zum Rand eines Canyons und stieß sie über den Rand in die Tiefe.

Er schnitt einige der besten Fleischstücke aus einem der Kadaver und brach auf zu einem Sattel des Gebirgszuges, wo er unter mächtigen Bäumen ein Feuer machte, an dem er die Fleischstücke räuchern konnte.

Beinahe wäre er an einem der folgenden Tage in die Hände einer Armeepatrouille aus Camp Thomas gefallen, aber die Soldaten gaben die Verfolgung nach kurzer Zeit auf, da ihnen klar wurde, dass sie diesen einzelnen Apachen auf seinem Pferd niemals einholen würden.

1869 war das Jahr der Schlacht am Chiricahua-Pass, an den Abhängen eines Hochplateaus, das heute Rocky Mesa genannt wird. Delgado hörte erst nach seiner Rückkehr zu den Mimbreños von diesem Kampf zwischen Chokonen aus den Chiricahua Mountains, angeführt von Cochise, und einer Abteilung von Captain Reuben F. Bernard, in der nach späteren Angaben des Captains achtzehn Krieger starben. Von Bernards Soldaten fielen ein Sergeant und ein Soldat. Zwei weitere wurden verletzt, einer von ihnen war First Lieutenant John Lafferty, dem eine Bleikugel Teile des Unterkiefers zertrümmerte. Lafferty und der verletzte Soldat wurden nach dem Rückzug von Bernards Kompanie in einem Ambulanzwagen, der aus einem Holzkasten auf Rädern bestand, 60 Meilen weit über rauestes Terrain zurück nach Fort Bowie transportiert.

Cochise hingegen brachte seine dezimierte Kriegerschar in die Dragoon Mountains zurück, wo sich sein Stronghold befand. Vermutlich wurde dem Chiricahua-Chief in den Folgetagen klar, dass die Fortsetzung des Krieges gegen die amerikanischen Soldaten für die Apachen nur in einer Niederlage enden konnte. Jeder in kleinen Scharmützeln verlorene Krieger schwächte die Kampfkraft der Apachen, während die Amerikaner ihre Verluste schnell durch neue Soldaten und neue Waffen ersetzen konnten. Es ist gut möglich, dass Cochise nach dem Kampf mit Bernard zum ersten Mal ernsthaft dazu bereit war, sich mit Victorio zu vereinen, um mit dem Mimbreño-Chief eine mögliche Friedensverhandlung mit den Weißaugen zu besprechen, und dass sich die beiden Häuptlinge danach in Ojo Caliente oder in den Mimbres Mountains getroffen haben.

Vor über dreißig Jahren habe ich während Feldstudien im Gebiet der Chiricahua Mountains dieses entlegene und nur schwer zugängliche Schlachtfeld genauso besucht wie die meisten Orte, die in der Handlung dieses historischen Romans entweder vorkommen oder von geschichtlichem Interesse sind.

Einer der bedeutendsten Orte dieser Geschichte ist wohl Cañada Alamosa, das inzwischen Monticello heißt. Dieses nahezu ausgestorbene Nest, und die ganze Gegend um Ojo Caliente, kann man heute vom Freeway 25 aus über die Bundesstraße 139 mit dem Auto erreichen.

Beide Orte gehören zu den geschichtsträchtigsten im Südwesten der USA. Von besonders wilder Schönheit ist der Canyon, der sich zwischen ihnen befindet und durch den Delgado auf seiner Rückkehr nach Ojo Caliente an der Seite des alten Kämpfers Nana geritten ist.

Vor vielen Jahren, auf der Fahrt durch den Canyon, bin ich in meinem alten Ford Bronco trotz Allrad im Treibsand des Rio Alamosa stecken geblieben und fand dadurch Muße genug, noch einmal in jene Zeit zurückzukehren, die ich in diesem Buch beschrieben habe.

 

Zürich und Tucson, Arizona

Werner J. Egli

BROCK

 

Delgado betrachtete den Schädel, von dem er nicht sagen konnte, ob es der eines Apachen war oder der eines der Weißaugen, die sich in diesem entlegenen Gebiet herumtrieben, auf der Suche nach irgendwas, nach Gold, nach einem Platz, wo ein Leben neu beginnen konnte, nach Ruhm, nach Wild.

Das Überbleibsel dieses Menschen lag im dürren Gras, Schattenflecken der abgestorbenen Äste eines Wacholderbusches über dem ausgebleichten Totenkopf. Nichts sonst lag da, nur der Schädel, abgetrennt vom Körper und hierhergetragen von Wildtieren, von Kojoten vielleicht oder einem Puma. Mann oder Frau, vielleicht ein älterer Junge oder ein Mädchen, ein Soldat, der im Kampf gefallen war, sich davonschleppte, bis all seine Kraft, all sein Überlebenswille aus ihm gewichen war. Vielleicht aber auch ein Krieger der Apachen, die hier lebten, einer, der mit anderen durch dieses Tal gezogen war, auf der Flucht oder auf der Suche, so wie er selbst. Wie wenig von diesem Menschen übrig geblieben war. Ein Schädel. Keine Träume. Keine Wünsche. Kein Hass. Keine Liebe. Kein Ziel.

Seit vielen Tagen folgte Delgado einem Pfad, der ihn dorthin zurückbringen sollte, wo die Weißaugen seinen Vater ermordet hatten. Jahre hatte er in der Fremde verbracht, im zerklüfteten Berggebiet der Yavapai-Apachen, das er vor mehreren Wochen verlassen hatte, um zu seinen eigenen Leuten zurückzukehren. Delgado war ein Mimbreño-Apache, kein Yavapai. Die Sehnsucht, zu den Mimbreño zurückzukehren, war erwacht, nachdem er glasklar erkennen konnte, dass die Yavapai nach dem Tod ihres Anführers Wah-poo-eta den Kampf gegen die verhassten Weißaugen nicht mehr gewinnen konnten. Zu viele von ihnen waren getötet worden. Zu wenige waren bereit, den Kampf gegen einen übermächtigen Feind fortzuführen, für ihre Freiheit und die Freiheit ihrer Kinder. Die Zukunft war eine andere als die, welche ihnen bis jetzt vertraut gewesen war. Delgado verließ die verzweifelten und mutlos gewordenen Yavapai, getrieben von der Sehnsucht, die in seiner Kindheit und seiner Jugend wurzelte, in seinem Heimweh und seinen Träumen, die noch nicht verblasst waren.

Er wusste nicht, was ihn dort erwartete, wo er geboren worden war. Er wusste nicht einmal, ob er jemand antreffen würde, der sich noch an ihn erinnerte, an einen kleinen mageren Jungen, der nicht gehen wollte, weil er nicht glauben konnte, dass sein Vater, der große Mangas Coloradas, nie mehr nach Hause kommen würde.

Aber es war eine Tatsache. Die, die dabei gewesen waren, als sein Vater ermordet wurde, hatten ihm berichtet, was vorgefallen war. Ohne Scheu vor der Tatsache, dass der kleine schmächtige Junge sie nicht verstehen könnte. Delgado verstand jedes Wort, aber er wollte den Tod seines Vaters nicht wahrhaben. Und so schickte ihn seine Mutter weg, zu ihrem Bruder, Wah-poo-eta, einem Häuptling der Yavapai, bei dem er in Sicherheit aufwachsen konnte, geschult von Pajaro Pinto, einem weisen alten Mann, der dem jungen Mimbreño die Welt erklären konnte, die Welt der Menschen und die Welt der Geister und damit auch den Unterschied zwischen Sein und Nichtsein, falls es überhaupt einen gab.

Delgado schwang sich auf sein Pferd, einen rostroten Wallach, der auf seiner Flanke den US-Brand der Kavallerie trug. Ein gutes Pferd war es, willig, ausdauernd und genügsam. Der Sattel, den es trug, war ein McClellan, Zaumzeug und Gebiss von der US-Armee. Delgado hatte es einem Meldereiter abgenommen, den er mit einem einzigen Schuss aus seinem Winchestergewehr tötete. Der Meldereiter war ein rothaariger junger Soldat gewesen, kaum älter als Delgado selbst. Unterwegs nach Camp Grant war er gewesen, einem isolierten Armeeposten am Aravaipa Creek. Noch vor wenigen Monaten hätte Delgado den Jungen reiten lassen, aber die Zeit war jetzt eine andere. Keine der Lehren von Pajaro Pinto waren ihm heute so wertvoll wie der alte Hass auf alle Weißaugen. Er hatte sich geschworen, auf seinem Pfad zum Sonnenaufgang jeden und alle zu töten, die ihm begegneten. Er hasste sie alle. Sie hatten Siki getötet, das Mädchen, das er liebte, sie hatten Pajaro Pinto und Wah-poo-eta getötet, jene Männer, die er respektierte und achtete, wie er seinen Vater respektiert und geachtet hatte. Nicht die Zeit des Friedens war gekommen, sondern die des Krieges. Zum Schutz der Frauen und der Kinder. Zum Schutz der Freiheit und des Seins in dieser Welt und nicht in der der Geister.

Delgado war sich im Klaren darüber, dass das Soldatenpferd, das er ritt und die Sachen, die er dem Meldereiter weggenommen hatte, ihn in Gefahr bringen würden, sollte er irgendwelchen Weißaugen begegnen. Aber der Gedanke, dass er sie alle töten würde, ließ ihn diese Gefahr geradezu herbeiwünschen. Er hatte dieses neue Repetiergewehr und Munition dazu von einem Mann, der mit Waffen handelte. Er hatte ihn am Gila River getroffen, in der Nähe eines Dorfes der Pima; hatte ihm in der Nacht aufgelauert, hatte ihm mit dem Messer die Kehle durchgeschnitten und ihm das Repetiergewehr und die dazugehörige Munition abgenommen. Es gab wenige dieser Gewehre, und eines dieser wenigen gehörte nun ihm und machte ihn stolz. Er konnte sich wehren, konnte töten, ohne selbst getötet zu werden.

So machte er nicht einmal große Umwege, wenn er in die Nähe der Siedlungen von Weißaugen oder einer ihrer Karrenstraßen kam, die ihre Siedlungen miteinander verbanden wie Fäden im Netz einer Spinne. Delgado fürchtete sich nicht vor ihnen. Er war bereit zu kämpfen. Er war aber auch bereit zu sterben. Das musste er sein, denn sie würden ihn beim ersten Anblick als Schwächling entlarven, wenn er nicht dazu bereit gewesen wäre.

An diesem späten Nachmittag näherte er sich jenem Ort in den Bergen, wo einmal alles begonnen hatte. Einem Ort, wo sich die Weißaugen wie Maulwürfe in die Erde gruben, um ihr das Metall wegzunehmen, das für sie zum Wichtigsten auf dieser Welt gehörte. Gold machte sie reich und arm zugleich, aber sie wussten es nicht. Die Gier nach Reichtum und Macht trieb sie an, machte sie zu Herrschern und zu Sklaven gleichzeitig.

Sie wussten nicht, dass sich Delgado in ihrer Nähe befand, sich ihrer Stadt näherte, der sie den Namen Santa Rita del Cobre gegeben hatten.

Delgado folgte einer Frachtstraße dorthin. Schon von Weitem konnte er sie riechen, den Rauch aus den Schornsteinen, der ganz anders roch als der von einem offenen Feuer. An einer Stelle, keine zehn Meilen von Santa Rita del Cobre entfernt, legte sich Delgado auf die Lauer.

Es war ein guter Platz, um Weißaugen zu töten. Am Hang leuchteten die Blätter der Espen golden im Sonnenlicht. Der Himmel über den dunklen Hügeln in der Ferne war wolkenlos und von einem hellen Blau. Die Zeit der verheerenden Sommergewitter war längst vorbei. Es war Herbst. Der Winter würde bald Einkehr halten in diesem hoch gelegenen Gebiet, und er würde wie jedes Jahr ein strenger Winter sein, mit kurzen kalten Tagen und langen, noch kälteren Nächten.

Hier wollte sich Delgado nicht lange aufhalten. Sein Ziel lag im Tal des Rio Grande del Norte, wo sich die warmen Quellen befanden.

Hier, an dieser Stelle, wollte er nur geduldig warten und dann mit aller Macht zuschlagen. Ohne zu wissen, auf wen er wartete, war er zum Töten bereit. Ein Krieger und ein Rächer. Niemand würde ihn aufhalten können, nicht einmal sein Gewissen, denn eines war er nicht: ein Schwächling.

 

*

 

Vor wenigen Minuten war die Sonne hinter den Hügeln im Westen untergegangen, als sich zwei hintereinander fahrende Frachtwagen der Stelle näherten, wo sich Delgado zum Kampf bereit machte.

Noch leuchtete der Himmel im Westen flammend blutrot.

Die beiden schwer beladenen Wagen wurden von je zwölf Maultieren gezogen und befanden sich am Anfang eines kurzen aber steilen Anstieges. So nahe ihrem Ziel rechnete keiner der Fahrer und der beiden Begleitfahrer mit einem Überfall. Auf der Strecke von Silver City nach Santa Rita del Cobre durfte ihre Wachsamkeit niemals nachlassen. Gefahren drohten ihnen von herumstreunenden Apachen und von Desperados und Wegelagerern. Unter anderem transportierten die Wagen eine kostbare Fracht von Baumaterial und Werkzeugen für den Hardwarestore von Loomis & Harper, eine Kiste mit Medikamenten für Doc Hoyer und eine Ladung Sour Mash für den Copper Canyon-Saloon an der Mainstreet.

Auf dem Bock des ersten Wagens saßen Big Jim Bell und sein Begleitmann Shotgun Tom Tabor, ein Mann, auf den Verlass war. Daheim, in Silver City, warteten seine Frau, eine junge Mexikanerin, und zwei Söhne auf seine Rückkehr. Der zweite Wagen wurde von Link Morton gefahren, einem ehemaligen Butterfield-Mann. Neben ihm auf dem Bock saß John Calahan, ein Ex-Deputy Sheriff aus Tucson, der bei einem Banküberfall angeschossen worden war und seither humpelte. Alle vier waren erfahrene und kampferprobte Männer, die weder Tod noch Teufel fürchteten.

»Auf geht’s, ihr müden Tanten!«, rief Bell seinen Maultieren zu. »Noch diese letzte Rampe und wir sind da!«

Die Maultiere verstanden ihn wohl kaum, aber sie quälten sich mit letzter Kraft den Anstieg hinauf, als wüssten sie, wie nahe sie dem Ziel gekommen waren. Hinter dem ersten Wagen rumpelte der zweite durch den Staub. Die Straße war an dieser Stelle von tiefen Furchen durchzogen. Bei schlechtem Wetter und während Sommergewittern war sie derart aufgeweicht, dass immer wieder Wagen im Morast stecken blieben. Die sengende Hitze hatte die Straße inzwischen bis tief ins Erdreich ausgetrocknet und steinhart gemacht.

Beide Wagen schwankten zwischen den Furchen wie zwei kleine Schiffe in aufgewühlter See, aber Jim Bell und Link Morton kannten die Tücken dieses Anstieges gut, und so trieben sie die Maultiere mit ihren Rufen an, knallten mit ihren Peitschen und kamen der Stelle immer näher, wo Delgado in aller Ruhe seine Winchester bereit machte. Als die Ohren der ersten Maultiere des vorderen Gespanns auftauchten, dann die Köpfe und dahinter die Kisten auf dem Wagen und der Bock mit den beiden Männern, suchte Delgado noch einmal nach einem Falken am Himmel, dem Geist von Pajaro Pinto, aber dieser schien sich vor Tagen von ihm abgewandt zu haben. In seinen Gedanken hätte er ihn jetzt vielleicht rufen können, aber Delgado verzichtete darauf, denn jetzt tauchte auch der zweite Wagen auf.

Ganz ruhig nahm Delgado die Winchester an die Schulter und visierte sein Ziel an. Er kannte keinen der vier Männer, aber diese erste Kugel galt Tom Tabor, dem Mann mit der Schrotflinte. Die zweite sollte John Calahan treffen, die dritte Link Morton und die vierte und letzte Big Jim Bell. Vier Kugeln, die vier Weißaugen den Tod bringen sollten. Keine einzige Kugel wollte Delgado verschwenden.

Er wartete, bis der erste Wagen das Ende des Anstieges erreichte, zielte auf Tom Tabors Kopf und krümmte den Finger langsam. Druckpunkt und Schuss. Delgado brauchte nicht hinzusehen, was die Kugel mit Tom Tabors Kopf anrichtete. Noch bevor Calahan dazu kam, sein Gewehr schussbereit zu machen, traf ihn Delgados zweite Kugel in die Brust. Er fiel seitwärts vom Bock. Die dritte Kugel traf den Fahrer des zweiten Wagens und mit der vierten tötete Delgado den großen Mann auf dem Bock des ersten Wagens.

Es geschah genau das, was Delgado erwartet hatte. Die Maultiere des vorderen Wagens blieben einfach stehen. Keine Panik. Blieben stehen und warteten auf ein Kommando, das nicht kam. Die Maultiere des zweiten Wagens drängten zum äußeren Straßenrand und der Wagen geriet aus der Balance, kippte langsam über den Straßenrand und stürzte mit dem Gespann den Hang hinunter.

Delgado wartete einige Minuten. Als er sich erhob, hatte sich der Staub gelegt. Die Maultiere des ersten Wagens schlugen mit den Ohren und den Schwänzen um sich, um sich der Fliegen zu erwehren. Als sich Delgado ihnen näherten, schrie ihn das Führungstier an. Delgado ging zu ihm und legte ihm die Hand an den Hals. Dabei schaute er sich um und bemerkte, wie der Fahrer des Wagens seitlich vom Bock hing. Blut lief ihm vom Kopf in den Hemdärmel seines rechten Armes. Der Begleitmann saß zusammengesackt auf dem Bock. Von seinem Hinterkopf fehlte ein großes Stück. Delgado beachtete die Toten nicht länger. Er wollte keine Zeit verschwenden, ging zum Wagenende und zum Straßenrand. Dort lag Calahan. Er lebte noch. Röchelte. Als Delgado über ihm stand, hob er den Kopf. Was er tatsächlich sah, wusste Delgado nicht. Sah er ihn oder sah er den Tod. Calahan streckte Delgado seine rechte Hand entgegen.

»Hilf mir auf«, stöhnte er.

»Wozu? Du stirbst, Weißauge.«

»Ich will nicht sterben«, keuchte Calahan. Ein Schwall von Blut quoll aus seinem Mund.

»Warum bist du dort weggegangen, wo du hergekommen bist?«

»Wo denn?«

Delgado hob die Schultern. »Du musst irgendwo weggegangen sein, um hierher zu kommen.«

»Richmond, Virginia«, sagte Calahan mühsam, und sein Kopf fiel zurück. Seine Brust hob und senkte sich einige Male, bevor er sich aufbäumte und an seinem eigenen Blut erstickte.

Delgado bückte sich und zog den Sechsschüsser aus dem Holster Calahans. Er betrachtete ihn kurz, steckte ihn sich in den Hosenbund und schaute den Hang hinunter.

Unten am Fuße einer steilen Böschung eines ausgetrockneten Arroyos lagen der zertrümmerte Wagen und einige der Maultiere. Beim Sturz waren einige der Kisten geborsten. Die Luft roch nach Kentucky Bourbon. Überall am Hang und im Arroyo lag Zeug herum. Nichts, was Delgado brauchen konnte. Er schaute einem der Maultiere nach, das scheinbar eines der Hinterbeine gebrochen hatte. Es schleppte sich durch den Arroyo. Noch einmal hob Delgado die Winchester, zielte und drückte ab. Das Maultier brach zusammen.

Als sich Delgado abwenden wollte, bemerkte er zwischen den Kisten in der Nähe der Wagentrümmer eine Bewegung. Zuerst glaubte er, dass sich dort unten ein Tier bewegte, aber dann tauchte ein Junge auf, dem aus einer Schramme an der Stirn Blut über das Gesicht und ihm vom Kinn auf die schmutzige Hemdbrust hinunter tropfte. Der Junge bückte sich, hob einen Hut vom Boden auf und stülpte ihn sich über einen brandroten Haarschopf. Delgado hatte sein Gewehr angelegt und hätte nur noch abdrücken müssen, um den Jungen zu töten, aber er tat es nicht. Der Junge blickte misstrauisch zu ihm herauf und hob langsam beide Hände.

»Mein Name ist Clifford Brock«, sagte er mit fester Stimme. »Schau, ich fürchte mich nicht vor dir oder der Kugel, die mich trifft.« Und ohne eine Antwort abzuwarten, begann er, zwischen den verstreuten Trümmern des Wagens herumzusuchen, bis er schließlich einen Beutel gefunden hatte, in dem seine wenigen Habseligkeiten steckten. Der Beutel aus Segeltuch war noch schmutziger als das Hemd und die Hose, die er trug. Er hängte ihn sich über die rechte Schulter und kam den Hang hinauf, die Augen zu Boden gerichtet. Einen Revolver trug er nicht, auch schien er kein Gewehr zu besitzen. Seine Füße steckten in Lederschuhen, wie sie Delgado nur während seiner Gefangenschaft in Prescott gesehen hatte, Schuhe, in denen Stadtleute herumstolzierten. Hier draußen in der Wildnis halfen sie dem Jungen kaum, sicheren Schrittes einen Hang hinaufzugehen, der von Geröll, Kakteen und Dornengestrüpp bedeckt war. Delgado erwartete, dass der Junge seinen Halt verlieren würde, aber der Junge konzentrierte sich und es gelang ihm, sich im Gleichgewicht zu halten, auch wenn er im Geröll ausrutschte.

Delgado beachtete der Junge mit keinem Blick. Nur einmal hob er den Kopf, aber Delgado bemerkte, dass sein Interesse nur dem oberen Rand des Hanges galt und sein Blick den Apachen mit der Winchester nicht einmal streifte.

Schließlich erreichte der Junge keuchend den Straßenrand. Sein Hemd war inzwischen voller Blutflecken, sein Gesicht verschmiert. Er wischte sich mit dem Hemdärmel das Blut von den Augen und der Nase und sah sich neugierig um.

Erst als ihm klar wurde, dass er und der Apache mit der Winchester die einzigen Menschen weit und breit waren, richtete er seinen schmalen Körper bolzengerade auf und holte erst einmal tief Luft. Jetzt blickte er zu Delgado hinüber, der noch am gleichen Ort stand, dessen Gewehr jetzt allerdings nicht mehr auf den Jungen gerichtet war.

»Wer bist du?«, fragte der Junge.

»Ein Apache«, sagte Delgado.

»Habe ich befürchtet«, sagte der Junge und für einen Moment gelang es ihm, den Mund zu einem Grinsen zu verziehen. »Und wo sind wir hier?«

»Weniger als zehn Meilen von Pinos Altos entfernt«, erklärte ihm Delgado.

Der Junge schüttelte den Kopf. »Zur falschen Zeit am falschen Ort«, sagte er und zeigte zum ersten Wagen hinüber, wo der Fahrer mit dem Oberkörper und den Kopf nach unten vom Bock hing, als hätte ihn jemand heruntergestoßen. »Du hast sie alle getötet«, stellte der Junge trocken fest. »Alle vier.« Er ging zum ersten Wagen und betrachtet zuerst den toten Fahrer, dann den Begleitmann, dessen Finger noch immer eine doppelläufige Parker-Schrotflinte umklammerten, als hätte sie ihn zurückhalten können von seinem Weg ins Jenseits.

Der Junge stieg aufs Trittbrett und nahm dem Mann die Schrotflinte aus den Händen. Auch den Colt nahm er ihm ab. Er steckte ihn in den Gürtel. Dann erst wandte er sich wieder Delgado zu, musterte ihn und hob die Schrotflinte ein wenig an.

»Willst du mich nicht töten?«, fragte er. »Jetzt bin ich bewaffnet und könnte dir gefährlich werden.«

»Ich töte keine Kinder«, sagte Delgado.

Der Junge lachte auf. »Ich bin vorgestern sechzehn Jahre alt geworden. Also kein Kind mehr. Und ich habe gehört, dass Apachen auf dem Kriegspfad auch Kinder ermorden.«

»Es ist Krieg«, erwiderte Delgado dem Jungen.

»Stimmt. Ich habe vor, ein Soldat zu werden. In Fort Cummings kann ich mich rekrutieren lassen, hat man mir gesagt.«

»Vielleicht sollte ich dich wirklich töten.«

Mit dem letzten Wort drehte sich Delgado um, ging am Wagen vorbei und schirrte die Maultiere aus. Dem Leittier legte er eine Schlinge, die er aus einem der langen Zügel herstellte, um den Hals. Die anderen elf Maultiere fingen an, vom zähen Büschelgras am Straßenrand zu fressen. Keines machte Anstalten, sich vom Wagen zu entfernen. Nicht einmal durch den Blutgeruch ließen sie sich aus der Ruhe bringen.

Der Junge beobachtete den Apachen bei seinem Tun. Keine Sekunde ließ er ihn aus den Augen, wartete nur darauf, dass ihm dieser irgendwann irgendwas erklären würde, aber Delgado nahm das Leittier am Zügel und ging mit ihm davon, ohne sich um den Jungen zu kümmern.

Das passte Cliff Brock überhaupt nicht. Da ging der Apache, der eben vier Männer getötet hatte, mit einem Maultier an der Leine eine flache Anhöhe hinauf auf einige große Felsbrocken zu, die sich etwa zweihundert Schritte entfernt befanden. Dort fing der Espenwald an.

Der Junge nahm die Schrotflinte in die linke Hand und setzte sich in Bewegung.

»Heh!«, rief er dem Apachen hinterher. »Was hast du vor, verdammt? Mich hier allein zurücklassen?«

Der Apache blieb kurz stehen, schaute zurück und stieß einen Pfiff aus, mit dem er die Maultiere, die am Straßenrand stehen geblieben waren, auf sich aufmerksam machte. Die Tiere hoben die Köpfe und begannen, eines nach dem anderen, dem Leittier zu folgen.

»Heh, warte, Mr. Apache! Ich bleibe nicht allein hier zurück.«

Der Junge hastete über die Straße und die Böschung hinauf und folgte den Maultieren.

»Heh, Mr. Apache. Warte, ich komme mit dir! Ich habe es mir anders überlegt. Ich bin nicht den ganzen langen Weg von Boston hierher gekommen, um Soldat zu werden und euch auszurotten. Bleib stehen, verdammt, ich kann nicht so schnell laufen wie du!«

Ungeachtet der Beteuerung des Jungen, dass er es sich anders überlegt hatte, ging Delgado weiter, die Maultiere in einer Linie hinter sich. Er redete mit dem Leittier, das er an der Leine führte, redete in englischer Sprache mit ihm und es schien jedes Wort zu verstehen, folgte ihm, ohne auch nur einmal zu zögern oder zu maulen. Und die Tiere aus seinem Gespann vertrauten ihm und folgten ihm genauso vertrauensvoll, wie es selbst dem Mann folgte, der es am langen Zügel hielt und mit ihm redete, als wären sie alte Bekannte.

Für den Jungen war dieses Verhältnis zwischen dem Mann und den Tieren eine der vielen neuen Entdeckungen, die er machte, seit er von Zuhause aufgebrochen war, um sein Fernweh zu stillen, das ihn seit seiner frühen Jugend unruhig machte.

Er hatte mehrere Bücher und Zeitungsberichte gelesen über die Abenteuer, die einen mutigen jungen Mann, wie er selbst einer war, im Westen erwarteten. Allein die Tatsache, dass dieses weite Land zuerst erobert werden musste, bevor sich die Zivilisation von Ozean zu Ozean ausbreiten konnte, erfüllte ihn mit grandiosen Träumen von Gegenden, in die noch nie ein Weißer seinen Fuß gesetzt hatte, von endlos weiten Prärien und Wüstengebieten, von den legendären Rocky Mountains und von der Küste Kaliforniens. Aber ein Traum war gewaltiger als alle anderen, nämlich der von Kämpfen gegen die wilden Horden barbarischer Reiter, die im Volksmund Rothäute genannt wurden. Jetzt war er hier, im Land der Apachen, einem Volk, das als besonders hinterlistig und grausam galt und von dem behauptet wurde, dass es die eigenen Pferde aß, wenn grad mal der Magen knurrte.

Nichts hatten die Apachen gemeinsam mit den stolzen Prärieindianern, den Sioux im Norden oder den wilden Comanchenhorden im Süden. Sie lebten nicht in Tipis, sondern in Ast- und Grashütten und sie kämpften in kleinen Gruppen gegen die US-Armee, wild entschlossen, ihr Land und ihre Freiheit niemals aufzugeben.

Apacheria wurde dieses Gebiet genannt, eine schier grenzenlose Wildnis mit mächtigen Gebirgszügen, tiefen Schluchten und unwegsamen Einöden. Gold und Silber gab es hier, Kupfer und andere wertvolle Metalle, die jeden, der sich den Gefahren aussetzte, zu großem Reichtum brachten.

Deswegen war Clifford Brock hier, fast zweitausend Meilen von jener Stadt entfernt, in der er aufgewachsen war, der Sohn eines Reifschneiders, der in der Küferei einer Bierbrauerei arbeitete. Clifford, oder Cliff, wie er genannt wurde, wollte kein Reifschneider in Boston werden und auch kein Küfer. Er wollte Abenteuer erleben in einer fremden Welt, die ihn mit magischer Kraft anzog, als könnte er nur dort und nirgendwo sonst glücklich werden.

Jetzt war er hier und beobachtete, wie ein echter Apache und nicht einer von denen, welche er als Junge daheim in einem düsteren Zelt einer Jahrmarktshow bewundert hatte, mit Maultieren umging, die eben noch von erfahrenen weißen Männern geführt worden waren, die der Apache alle mit unglaublicher Leichtigkeit umgebracht hatte.

Cliff spürte, wie seine Finger die Schrotflinte noch fester umschlossen und wie in seinem Kopf der Gedanke erwachte, diesen Apachen zu töten.

Wie wäre er in Santa Rita del Cobre empfangen worden, ein junger Held, ausgespuckt von der Zivilisation, der sie alle den Rücken zugekehrt hatten, um hier ihr Glück zu versuchen. An seinem Gürtel hätte der Skalp des Apachen hängen können, diese schulterlangen schwarzen Strähnen, die der Apache mit einem weißen Tuch, das er sich um den Kopf gewunden hatte, zu bändigen versuchte.

Viel hätte nicht mehr gefehlt, und der Junge hätte in seiner Unerfahrenheit den entscheidenden Fehler seines Lebens gemacht, denn dieser Apache war keiner, den man einfach töten konnte. Cliff wusste es nicht, aber er ahnte es. Er musste eine gute, nein, eine perfekte Gelegenheit abwarten, und so senkte er den Doppellauf der Schrotflinte und ging hinter den Maultieren und dem Apachen her im Staub über die Anhöhe bis zu einem lichten Kiefernwald. Dort hatte der Apache sein eigenes Pferd zurückgelassen. Es schnaubte, als sich Delgado mit den Maultieren ihm näherte, und auch die Maultiere wurden jetzt unruhig, zögerten im Schritt, sahen sich an, starrten mit großen Augen zum Pferd hinüber und gingen erst weiter, als hinter ihnen der Junge aufschloss und sie mit kurzen Rufen davon überzeugte, dass es besser war, dem Leittier zu folgen.

Im Zwielicht, das sich zwischen den Kiefern ausgebreitet hatte, blieb Delgado stehen und drehte sich nach dem Jungen um. Der Junge hielt an, rieb sich etwas verlegen das schiefe Kinn.

»Wieso folgst du mir?«, fragte ihn Delgado.

Der Junge kniff die Augen etwas zusammen.

»Was sollte ich denn sonst tun?«

»Die Straße bringt dich nach Santa Rita del Cobre.«

»Was soll ich dort?«

»Ihnen sagen, was passiert ist. Dass ich die vier Männer getötet habe und dass ich noch viele von ihnen töten werde.«

»Wer bist du?«

»Mein Name ist Delgado.«

»Delgado?«

»Das ist Spanisch und bedeutet ›der Schlanke‹.«

»Du redest wie einer von uns. Und du gehst mit Maultieren um, als hättest du es gelernt.«

Delgado gab ihm darauf keine Antwort. Er strich dem Leittier mit der Hand über den Hals.

»Was hast du vor mit diesen Maultieren?«

»Meine Leute werden sie im Winter wahrscheinlich essen.«

»Deine Leute?« Cliff sah sich misstrauisch um. »Wo sind deine Leute?«

»Irgendwo. Vielleicht in der Nähe, vielleicht etwas weiter entfernt in den Bergen oder im Tal des Rio Grande del Norte. Irgendwo sind sie, und ich bin sicher, dass sie wenig zu essen haben und dankbar sind, wenn ich ihnen diese Maultiere bringe.«

»Gibt es nicht genug Wild in diesen Bergen?«

»Es gibt genug Wild, aber die Soldaten jagen meine Leute, so dass sie nirgendwo Ruhe finden, um ihre Hütten zu bauen und auf die Jagd zu gehen und sich Vorräte für den Winter zuzulegen.«

»Deine Leute sind Apachen! Sie sollen sich ergeben oder sie werden alle ausgelöscht.«

»So ist es«, sagte Delgado. »Aber wir werden kämpfen, bis keiner von uns mehr am Leben ist.«

Der Junge schüttelte ungläubig den Kopf.

»Das ist verrückt, Mr. Apache. Weißt du denn nicht, wie viele es gibt von uns? Weißt du denn nicht, dass es tausende von Soldaten gibt, die alle mit Gewehren und Revolvern bewaffnet sind?«

»Wir fürchten uns nicht.«