WESTERN LEGENDEN
In dieser Reihe bereits erschienen:
9001 Werner J. Egli Delgado der Apache
9002 Alfred Wallon Keine Chance für Chato
9003 Mark L. Wood Die Gefangene der Apachen
9004 Werner J. Egli Wie Wölfe aus den Bergen
9005 Dietmar Kuegler Tombstone
9006 Werner J. Egli Der Pfad zum Sonnenaufgang
9007 Werner J. Egli Die Fährte zwischen Leben und Tod
9008 Werner J. Egli La Vengadora, die Rächerin
Werner J. Egli
LA VENGADORA, DIE RÄCHERIN
Historischer Western
Werner J. Egli gilt als ein Meister der Erzählkunst. Er wurde unter anderem durch seine Bestseller Im Sommer als der Büffel starb, Die Nacht als der Kojote schwieg und Die Siedler bekannt. Egli hat über 30 Jahre in Arizona gelebt. Für seine Romane, Erzählungen wurde er mehrfach ausgezeichnet. Zu erreichen ist der Autor unter www.egli-online.com
© 2017 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Titelbild: Rudolf Lonati
Satz: Winfried Brand
Alle Rechte vorbehalten
www.BLITZ-Verlag.de
ISBN 978-3-95719-408-4
Dieser historische Roman ist der 5. Band der Delgado-Reihe, exklusiv nur für den BLITZ-Verlag geschrieben.
Die Reihe ist für mich heute so etwas wie mein eigenes Erbe. Ursprünglich habe ich eine Trilogie geschrieben, die beim Pabel-Verlag als Taschenbücher veröffentlicht wurden. Es ging mir damals darum, den Krieg um die Apacheria aus der Sicht eines jungen Apachen chronologisch darzustellen. Das wollte ich schon immer mal tun, obwohl dies ein sehr schwieriges Unterfangen ist, an dem sich bereits mehrere Autoren von Western-Romanen versucht haben. Aber für mich blieben ihre Geschichten mehr oder weniger romantische Märchen, die mit der Realität wenig zu tun hatten.
Mir war es damals und ist es auch heute noch wichtig, den Kampf der Apachen als einen grausamen Überlebenskampf darzustellen. Ich wollte die Angst dieser Menschen aufzeigen, die sich ihres Untergangs Tag und Nacht bewusst waren, weil sie jeden Tag gegen einen übermächtigen Feind mit seinen Monstersoldaten zu kämpfen hatten und dabei eine der schlimmsten Demütigungen zu ertragen hatten, nämlich die der verwehrten Existenzberechtigung in ihrem eigenen Land.
Der tägliche Kampf um ihr Überleben als Volk verschiedener Stämme brachte unter den Apachen nicht nur berühmte Krieger und Häuptlinge wie Mangas Coloradas, Big Rump, Cochise, Victorio, Geronimo oder Ulzana hervor, sondern auch Legenden, die sich um einige Kriegerinnen ranken.
Die Fährte Delgados, der sich aufgemacht hat, die verschiedenen Apachenstämme im Kampf gegen die verhassten Amerikaner und Mexikaner zu vereinen, kreuzten sich im Frühjahr 1871 mit der einer jungen schönen Frau der Chokonen Chiricahua Apachen in den östlichen Ausläufern der Chiricahua Mountains, einige Wochen vor dem Camp Grant Massaker. Von den Mexikanern wird diese Frau La Vengadora genannt. Wer sie berührt, stirbt.
Aus Liluye, wie sie als Kind gerufen wurde, ist eine extrem effiziente Töterin geworden, die es zu ihrer Lebensaufgabe gemacht hatte, sich für den Mord an ihren Eltern und Geschwistern zu rächen. Dabei wurde sie zur Einzelgängerin, die nichts und niemandem traute und auch die Nähe Delgados nur für eine Nacht tolerierte, bevor sie sich wieder auf und davon machte.
Getrennte Wege brachten die beiden letztlich zum Aravaipa Creek, wo im Morgengrauen des 30. April 1871 über hundert Frauen und Kinder sowie ein paar alte Männer von einem Mob aus der kleinen Stadt Tucson ermordet werden.
Wenige Tage danach stirbt auf seinem letzten Patrouillenritt Howard Bass Cushing, einer der hoffnungsvollsten und verwegensten jungen Offiziere der US-Kavallerie, in der Nähe der Bear Springs am Fuße der Whetstone Mountains, als er mit seinem F-Trupp der 3. US-Kavallerie in einen Hinterhalt gerät.
Meines Wissens haben weder Historiker noch Romanautoren diese beiden Ereignisse direkt miteinander verknüpft. In meinem Roman geschieht dies jedoch als zwangsläufige Folge der Ereignisse der damaligen Zeit im Südwesten der USA.
Das Camp Grant Massaker gilt heute als der schwärzeste Tag in der Geschichte dieser Region, die von den Spaniern Apacheria genannt wurde, aber die Kriege von heute und die mit ihnen verbundene Menschenverachtung unterscheiden sich oft kaum von den Indianerkriegen, nur ist inzwischen die ganze Welt zur Apacheria geworden.
Unter diesem Aspekt sind die Delgado-Bände nicht nur historisch genau recherchierte Western- oder Indianerromane, sondern ein Spiegel der Menschheitsgeschichte bis in die heutige Zeit.
Zürich und Tucson, Arizona, Werner J. Egli
Als Delgado ihr zum ersten Mal begegnete, war sie damit beschäftigt, einem toten Pferd den Bauch aufzuschlitzen.
Sie war bis auf die Knochen abgemagert, ihr langes Haar zerzaust, und das Zeug, das sie trug, zerfetzt und schmutzig. Bevor Delgado sie sehen konnte, roch er sie. Der Geruch kam vom Rand eines Waldes her, von dort, wo sie den Meldereiter aus Fort Bowie getötet hatte.
Jetzt kniete sie am Boden, tief über den Kadaver des Pferdes gebeugt, und schlitzte ihm mit der schartigen Klinge eines Bowiemessers das Fell und die Bauchdecke auf. Gedärm quoll aus dem offenen Bauch und sie legte das Messer zur Seite, griff mit beiden Händen zu und entfernte die Eingeweide.
Delgado beobachtete sie. Er kauerte hinter einem Dornengestrüpp, aus dem ein einzelner, noch junger Säulenkaktus wuchs. Eine Packratte hatte unter dem Busch ihren Bau angelegt, ein Hügel ineinander verflochtener Zweige und stachelige Glieder eines Cholla-Kaktus, die hier am steinigen Abhang wuchsen. Eine Distanz von etwa zwanzig Schritten lag zwischen ihm und ihr. Offenes Gelände, das leicht abfiel, bis zu einem ausgetrockneten Flussbett.
Sie hatte ihn nicht bemerkt, wusste nicht, dass er da war.
Sein Pferd hatte er im Wald zurückgelassen. Mit beiden Händen hielt er ein Winchestergewehr schräg vor seiner Brust. An seinem Gürtel in einer Scheide steckte ein Jagdmesser und befand sich ein Halfter, aus dem der Griff eines Colt-Revolvers ragte. Seine Füße steckten in Mokassins und er trug eine weiße Leinenhose, ein gestreiftes Hemd und eine schwarze Stoffweste. Das strähnige Haar, gebändigt von einem Tuch, das er zu einem Streifen gefaltet um seinen Kopf gebunden hatte, hing ihm von einem Mittelscheitel bis auf die Schultern herunter.
Er selbst war von einem langen Ritt gezeichnet, sein schmales Gesicht voll mit verkrustetem Schweiß und Staub, doch seinen Augen entging nichts. Am Rand der Armeestraße, die nach Fort Bayard führte, lag der tote Meldereiter. Jenseits des Flussbettes ging ein Kojote an der Uferböschung auf und ab. Bald würden auch die Geier auf das tote Pferd und seinen Reiter aufmerksam werden, und so würde es nicht lange dauern, bis hier aufgeräumt war. Knochen würden übrig bleiben, die Zähne des Pferdes und Fellstücke, die Hufeisen, Metallteile vom Zaumzeug und vom Sattel, die Gürtelschnalle und die Messingknöpfe an der Uniformjacke des Reiters, seine Sporen und die Schnallen der Satteltaschen. Vielleicht ein paar wertlose Münzen, die der Reiter bei sich getragen hatte.
Delgado erinnerte sich, wie er einmal den Schädel eines Menschen gefunden hatte, dem nicht mehr anzusehen gewesen war, ob es sich bei ihm um eine Frau oder einen Mann gehandelt hatte, um einen Weißen oder einen Apachen. Wie lange würde es dauern, bevor es hier nichts mehr gab, keine Spur mehr von dem, was an diesem Tag geschehen war?
Sie entfernte das Herz des Pferdes mit Hilfe ihres Messers. Erst jetzt richtete sie sich auf und schaute sich um, vergewisserte sich, dass sie allein war und ihr keine Gefahr drohte. Erst als sie sich dessen sicher war, erhob sie sich.
Weit ging sie nicht. Im Schatten eines Wacholderbaumes setzte sie sich hin und aß das Herz. Während sie aß, sah sie sich die ganze Zeit um. Ihre Augen kamen nie zur Ruhe. Manchmal wischte sie sich mit dem Handrücken Blut vom Mund und vom Kinn, aber sie achtete nicht darauf, dass ihre Kleidung mit Blut besudelt wurde. Die Hände wischte sie sich an den Stofffetzen ab, die von ihren schmalen Schultern herunterhingen und ihren Körper bedeckten.
Delgado wartete geduldig, bis sie gegessen hatte. Sie erhob sich und warf einen Rest des Herzens dem Kojoten zu, der sich am anderen Ufer des Flusses hechelnd in den Schatten der Böschung gelegt hatte. Der Kojote sprang auf, holte sich aber nicht das Stück Fleisch, sondern verschwand blitzschnell im Gestrüpp.
Er hörte sie auflachen.
»Du bist wie ich, mein Bruder«, rief sie in die Richtung, wo der Kojote verschwunden war. Sie erhob sich, ging zum Pferd des Meldereiters und entfernte die Wasserflasche vom Sattel. Am Boden kauernd, öffnete sie den Verschluss und trank.
Inzwischen wimmelte es bereits von Fliegen. Dies schien sie jedoch nicht zu stören. Nur hin und wieder scheuchte sie einige der lästigsten von ihnen mit einer Handbewegung weg.
Als sie genug getrunken hatte, hängte sie sich den Tragriemen der Wasserflasche über die Schulter. Dabei rutschte ihr einer der Stofffetzen am Arm über ihre Brust herunter. Sie achtete nicht darauf. Sie kauerte sich beim Pferd nieder und durchsuchte die Satteltaschen. Was sie gebrauchen konnte, legte sie auf einen Stein, schaute sich um, misstrauisch und immer bereit, einer Bedrohung zu begegnen. Als sie sicher war, allein zu sein, ging sie zum Toten zurück, zog ihm das Hemd und die Uniformjacke vom Körper. Auch die Stiefel zog sie ihm aus. Dann hob sie einen großen Steinbrocken vom Boden auf und zerschmetterte ihm damit den Schädel. Breitbeinig über ihm stehend betrachtete sie ihn. Schließlich kauerte sie sich nieder, öffnete seine Hose und kastrierte ihn. Seine Geschlechtsteile legte sie in seine nach oben gedrehten Hände.
Noch einmal betrachtete sie ihr Werk und sie schien mit sich und dem, was sie getan hatte, zufrieden zu sein. Doch es gab noch mehr zu tun. Sie streifte sich einige der Fetzen vom Leib, die sie bis jetzt getragen hatte, und zog das Hemd und die Uniformjacke des Toten an. Den Gürtel mit dem Revolverhalfter schlang sie sich um die Hüfte, setzte sich hin und entfernte die Lappen von den Füßen. Die Stiefel waren ihr jedoch viel zu groß, und so zerschnitt sie die Uniformjacke in passende Stücke und umwickelte mit ihnen zum Schutz gegen die Dornen von Büschen und die Stacheln von Kakteen ihre Füße, Knöchel und Unterschenkel. Den Rest des Stoffes ließ sie achtlos liegen, ging zum Pferd und hängte sich die Satteltaschen über die Schulter.
Mit dem Karabiner und dem Revolver des Meldereiters bewaffnet, ging sie davon, schräg den steinigen Hang hinunter und durch das ausgetrocknete Flussbett.
Es war spät am Nachmittag.
In wenigen Stunden würde es Nacht werden.
Delgado schaute ihr nach, bis sie hinter einem der langgezogenen Hügelrücken verschwunden war, dann holte er sein Pferd und folgte der Spur durch ein zerfurchtes weites Hochland.
*
Sie lauerte ihm in einem Arroyo auf.
Ganz klein machte sie sich, eingeklemmt zwischen den Wurzelarmen eines Mesquitebaumes, die frei in der Luft über eine Böschung hinausragten.
Delgado sah sie nicht.
Im Licht der untergehenden Sonne warfen die Wurzeln Schatten gegen die Böschung, zeichneten scharf die Spalten und Risse in der roten Erde, das Schattengewirr der Bäume an der gegenüberliegenden Böschung und seinen eigenen Schatten, dem er zu folgen hatte.
Mit der Geduld einer Raubkatze, die sich ihrer Beute sicher war, wartete sie auf ihn, behielt ihn die ganze Zeit im Auge, während er über die Böschung herunterritt und weiter ihren Spuren folgte, die im Arroyo viel deutlicher zu sehen waren, weil sie darauf geachtet hatte, beim Gehen die Schwemmsandkruste mit ihren Füßen absichtlich aufzubrechen.
Den Revolver, den sie dem toten Meldereiter abgenommen hatte, hielt sie mit beiden Händen. Der Hammer war gespannt, die Arme hatte sie auf ihren Knien aufgestützt. Jetzt brauchte sie nur noch abzudrücken, aber sie wartete damit, bis er sich keine zehn Schritte mehr von ihr entfernt befand.
Der Schuss zerstörte eine bleierne Stille, die sich zusammen mit der Dämmerung wie eine Decke über das Land gelegt hatte.
Delgados Pferd scheute, brach zur Seite aus und warf seinen Reiter aus dem Sattel. Der Schuss war noch nicht verhallt, als Delgado auf einer mit Geröll bedeckten Sandbank aufprallte und mit dem Kopf heftig gegen einen Stein schlug.
Regungslos lag er am Boden, einen Arm unter seinem Körper, den anderen weit von sich gestreckt.
Den Revolver noch immer in beiden Händen, verharrte sie regungslos zwischen den Wurzelarmen an der Böschung, bereit, eine zweite Kugel abzufeuern, wenn Delgado sich gerührt hätte.
Aber er lag still. Leblos. Zumindest seine Brust hätte sich heben und senken müssen, wäre er nicht tot gewesen.
Minuten ließ sie verstreichen, bevor sie hinter den Wurzelarmen an der Böschung herunterrutschte. Langsam näherte sie sich ihm, den Finger der rechten Hand am Abzug des Revolvers.
Der Grund des Arroyo befand sich nun im Schatten der Böschung. Am Himmel begannen die ersten Sterne zu funkeln. Der Mond stand blass über den bewaldeten Bergen, die ins dunkle Licht der untergehenden Sonne getaucht waren. Sie blieb einige Schritte von ihm entfernt stehen. Neigte den Kopf zur Seite, um in sein Gesicht sehen zu können. Sein Mund stand weit offen. Das eine Auge, das sie sehen konnte, war geöffnet, starrte vor sich hin, ohne etwas zu sehen.
Jetzt war sie sicher, dass er tot war.
Sein Pferd wieherte. Sie schaute sich nach ihm um. Es stand im Gestrüpp auf einer langgezogenen Sandbank in der Mitte des Flussbettes. Die Zügel hingen ihm vom Maul herab. Es warf den Kopf hoch und wieherte noch einmal.
»Lauf nur nicht weg«, rief sie ihm zu. »Ich werde gut zu dir sein.«
Sie wollte den Revolver in das Holster am Gürtel stecken, als ein Geräusch hinter ihr sie herumfahren ließ. Einem Schatten gleich flog eine Gestalt auf sie zu. Sie hob die Hände mit dem Revolver, drückte ab, aber der Hammer schlug leer auf. Mit einem Schrei schleuderte sie die Waffe von sich, aber diese flog an dem Schatten vorbei. Im nächsten Augenblick war er bei ihr. Sie wurde herumgerissen, stolperte dabei über ihre eigenen Füße und brach unter dem Gewicht des Mannes zusammen, den sie eben noch für tot gehalten hatte.
Delgado versuchte, sie an den Armen festzuhalten, aber es gelang ihr, sich loszureißen. Sie bäumte sich unter ihm auf und krallte die Finger einer Hand in sein Gesicht, während sie ihm ein Knie in den Bauch stieß und sich gleichzeitig unter ihm wegdrehte.
Im nächsten Moment war sie auf den Beinen, trat mit einem Fuß nach seinem Kopf. Er erwischte sie am Knöchel und riss sie von den Beinen. Sie prallte neben ihm auf den Boden, warf sich herum und versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien, mit dem er sie am Bein zurückhielt. Dabei fauchte, schrie und keuchte sie, stammelte Wortfetzen, von denen er keinen einzigen verstand, schlug mit ihren Fäusten nach ihm. Wie ein wild gewordener kleiner Hund wehrte sie sich gegen ihn, und obwohl sie knochenmager war, verfügte sie über Kräfte, die nicht erlahmen wollten. Jede Gelegenheit nutzte sie, ihn anzugreifen und ihm gleichzeitig zu entkommen. Hätte Delgado den Griff an ihrem Knöchel gelockert, wäre sie aufgesprungen und davongerannt, ohne dass er sie in diesem Gelände hätte einholen können, so geschmeidig und schnell, wie sie war. Erst als ihr die Luft ausging, gelang es ihm, sich über sie zu werfen. Schreiend wand sie sich unter ihm, bis er sie mit beiden Beinen und beiden Armen umschlingen konnte.
Sie spuckte ihm ins Gesicht, als er sich über sie beugte, und versuchte, ihn in die Arme zu beißen.
»Ich bin ein Krieger«, stieß Delgado in der Sprache der Apachen hervor, »und ich habe dich besiegt!«
Er merkte, wie ihr Körper erschlaffte. Sie ließ den Kopf zurückfallen. Ihre dunklen Augen blitzten auf.
»Wer bist du, Apache?«, fauchte sie ihn an.
»Ein Mimbreño«, antwortete Delgado. »Mein Name ist Delgado.«
»Dann lass mich los!«
»Nur, wenn du mir versprichst, nicht davonzulaufen.«
»Lass mich los!«
Sie bäumte sich unter ihm auf, aber er hielt sie fest und schließlich gab sie auf.
Nach Luft ringend lag sie unter ihm, das Hemd des Soldaten zerrissen. Aus einer Schramme an ihrer Stirn lief Blut ihre Nase entlang über ihr Gesicht.
Dass sie den Kampf aufgegeben hatte, sah er in ihren Augen. Aber ergeben hatte sie sich ihm noch lange nicht. Er konnte ihr nicht trauen, auch wenn sie jetzt bereit war, alles zu tun, was er von ihr verlangen würde.
Sie atmete heftig, während sie zu ihm aufblickte.
»Ich laufe dir nicht davon«, sagte sie. »Wenn du mich willst, gehöre ich dir.«
Delgado richtete sich auf und kniete nun rittlings über ihr. Dabei hielt er sie an den Handgelenken fest.
»Ich käme wohl auch nicht weit«, keuchte sie, noch immer nach Luft ringend.
»Das stimmt allerdings. Es sei denn, es gelänge dir, auf meinem Pferd davonzureiten. Aber dazu müsstest du mich zuerst töten.«
»Ich habe es fast getan. Die Kugel hat dich am Arm gestreift. Du blutest.«
»Du hast nicht gut genug gezielt. Vielleicht solltest du daheimbleiben, bei den anderen Frauen deiner Familie, und Körbe flechten, anstatt den Krieger zu spielen.«
Ihre Augen wurden hart.
»Ich habe keine Familie.«
»Dann bist du allein?«
»Ich bin allein. Seit vielen Jahren bin ich allein. Vielleicht gehe ich mit dir, egal wohin du gehst.«
»Ich kann an meiner Seite kein unartiges Kind gebrauchen.«
»Ich bin kein Kind«, sagte sie. »Wenn du meine Hände loslässt, zeige ich es dir.«
»Das werde ich nicht tun.«
»Dann zieh mir dieses Soldatenhemd aus!«
»Wozu?«
»Damit du siehst, dass ich kein Kind mehr bin.«
Delgado ließ ihre Handgelenke los.
»Geh!«, forderte er sie auf. »Lauf davon. Ich werde nicht versuchen, dich aufzuhalten.«
Er erhob sich, blieb einen Moment breitbeinig über ihr stehen und holte dann ihren Revolver. Sie hatte sich aufgesetzt und ließ ihn dabei nicht aus den Augen. Sie traute ihm genauso wenig, wie er ihr traute, aber sie dachte nicht daran, fortzulaufen, denn es wurde jetzt schnell dunkel. Nicht, dass sie die Nacht gefürchtet hätte; auch dieser Mann, der sich Delgado nannte, war keiner, vor dem sie sich fürchten musste. Das war ihr bewusst geworden, als er über ihr kniete und erkannte, dass sie sich ihm hingegeben hätte, um ihre Freiheit zu erlangen.
Er warf ihr den Revolver zu, als er an ihr vorbeiging. Er fiel neben ihr in den Sand.
Ohne ein Wort zu sagen, ging er zu seinem Pferd, nahm die Zügel auf und kam mit ihm zurück. Er band die Zügel an einem der Wurzelarme fest, hinter denen sie sich versteckt gehalten hatte.
»Wenn du ein Stück Fleisch vom Soldatenpferd mitgenommen hättest, könnten wir es jetzt braten und essen«, sagte er und begann, Feuerholz zusammenzutragen. »Ich habe nicht viel mehr dabei als ein Stück Brot, das ich mit dir teilen könnte.«
Sie erhob sich. Das Soldatenhemd zerrissen und blutverschmiert. Strähnen ihres Haares klebten in ihrem Gesicht. Sie sah wild aus, und schön zugleich, ein Wesen, wie er noch nie eines gesehen hatte, ein Mädchen und doch schon eine Frau. So wie sie da stand, weckte sie ein Verlangen in ihm, das er so noch nie gespürt hatte, nicht einmal, als Siki noch gelebt hatte.
»Ich weiß, dass du mich willst«, sagte sie. »Und ich will dich!«
Er nickte nur und ging langsam auf sie zu, aber sie drehte sich um und lief davon. Wieselflink kletterte sie zwischen den Wurzelarmen die Böschung hinauf und war ihm nächsten Moment verschwunden.
Delgado holte sein Pferd, schwang sich in den Sattel und ritt den Arroyo hinunter bis zu einer Stelle, wo dieser in einen anderen Arroyo mündete. Dort trieb er das Pferd an der Böschung hinauf. Die Nacht hatte sich inzwischen über der Wüste ausgebreitet. Nur am Horizont über fernen Bergzügen war der Himmel noch blutrot.
Delgado zügelte das Pferd und schaute sich um. War sie ihm tatsächlich davongelaufen? Hatte sie ihn in der kurzen Zeit, nachdem er sie unterworfen hatte, nur zum Narren gehalten?
»Du bist dumm, Delgado«, murmelte er und zog sein Pferd herum. Weit konnte sie noch nicht gekommen sein, aber in diesem Zwielicht, kurz bevor es Nacht wurde, konnte sie sich überall verstecken, ohne dass er sie hätte sehen können.
Langsam ritt er den Arroyo entlang. Da tauchte sie vor ihm auf, nichts anderes als ein flüchtiger Schatten unter solchen, die sich nicht bewegten. Nur wenige Sekunden konnte er sie sehen, bevor sie sich, keine hundert Schritte von ihm entfernt, mit einem Sprung zu Boden warf. Die Klinge ihres Messers blitzte im Widerschein des glutgetränkten Himmels im Westen, und im nächsten Moment sprang sie auf die Beine und streckte ihren rechten Arm hoch. Von ihrer Hand baumelte zuckend ein Wildkaninchen, das sie an den Löffeln festhielt. Sie stieß einen kurzen, kehligen Schrei aus, bevor sie sich in Bewegung setzte und auf ihn zuging.
Neben seinem Pferd blieb sie stehen und streckte ihm den toten Hasen entgegen.
»Nimm ihn«, sagte sie. »Ich habe ihn für dich erlegt.«
Er musterte sie, von ihren mit Lumpen umhüllten Füßen bis zu ihren Augen.
»Warum bist du so mager, wenn es dir so leicht fällt, einen Hasen zu erlegen?«, fragte er sie.
»Oft gelingt es mir nicht«, erklärte sie. Er beugte sich zu ihr herunter, nahm ihr den Hasen aus der Hand und half ihr aufs Pferd. Hinter ihm sitzend, hielt sie sich an ihm fest. Er spürte den Druck ihre Brüste an seinem Rücken. Obwohl er versuchte, seine Begierde zu zähmen, dachte er an nichts anderes mehr als daran, mit ihr zusammen zu sein.
Viele Monde waren vergangen, seit Siki, die seine Frau und die Mutter seiner Kinder werden sollte, im Kampf gegen die Soldaten der Weißaugen getötet worden war.
Seither war ihm kein weibliches Wesen mehr begegnet, mit dem er hätte zusammen sein wollen, nicht bei den Yavapai, die er verlassen hatte und auch nicht bei den Mimbreños, zu denen er zurückgekehrt war.
*
Als Kind hatte sie zu den Chokonen-Apachen gehört, deren Stammesgebiet die Chiricahua Mountains waren.
Ein kleines Mädchen von zehn Jahren war sie gewesen, als Skalpjäger aus Mexiko in einem Canyon nördlich der Grenze eine Schar von Apachen überfallen hatten, die sich auf einem der Pfade in die Chiricahua Mountains befanden.
Obschon seither neun Jahre vergangen waren, konnte sie sich noch gut an den Tag erinnern, denn es war der Tag, an dem ihre Mutter, ihre Großmutter, ihr Vater und ihre zwei Schwestern starben.
Die Schar der Chokonen lagerte in einem von hohen Bergen eingeschlossenen Talkessel, in dem ein kleiner Bergsee lag. Dieser Platz gehörte zu den schönsten im Berggebiet, das für die Chokonen die angestammte Heimat war und auch ein sicheres Rückzugsgebiet. Kaum je hatten sich Fremde, Mexikaner oder Weißaugen bis hierher gewagt. Die wenigen Pfade hierher führten durch unübersichtliches Gelände, das der Kampfart der Apachen entgegenkam, während es ihre Feinde dazu zwang, keine Fehler zu machen.
Wie eine mächtige dunkle Insel ragten die Chiricahua Mountains aus dem sie umfassenden Ödland. Über die Kiefern, Föhren und Wacholderbäume ragten an ihren höchsten Stellen nackte, von Wind und Wetter zernagte und geschliffene Felsformationen zum Himmel auf; versteinerte Wächter über ein Gebirge, das sich in tieferen Lagen mit seinen schroffen Ausläufern nach allen Richtungen meilenweit in die Wüstentäler und Hochebenen hinauszog, von denen die Chiricahua Mountains umgeben waren.
Im Norden lag das San Simon Valley, im Osten die weite Ebene, die sich, durchbrochen von kleineren Gebirgszügen und Alkaliebenen, bis hin zum Tal des Rio Grande del Norte ausdehnte, im Westen eine zerfurchte Wüste bis zum Tal des Rio San Pedro und im Süden ein unwegsames Hochland, so weit das Auge reichte.
Das Mädchen hatte damals noch keinen Namen, denn es war zu jung für das Ritual der Namensgebung, das mit dem des Pubertätsrituals zusammenfiel. Sie war auch zu jung, um zu kämpfen, und trotzdem tat sie es an diesem Tag zum ersten Mal in ihrem Leben.
Ih-tedda wurde sie von den Erwachsenen gerufen, Kleines Mädchen, und von ihren Geschwistern und den anderen Kindern Liluye, was Singender Falke bedeutete.
Ja, sie sang gern und die Leute hörten ihrer klaren, kräftigen Stimme gerne zu, wenn sie sich an den Gesängen der Frauen beteiligte.
Von diesem frühen Morgen des Tages an, der wie mit einem glühenden Metallstück in ihre Erinnerung eingebrannt worden war, sollte sie nie mehr singen und den Namen, den ihr ihre Schwestern gegeben hatten, hörte sie nie mehr aus dem Mund eines Menschen, denn sie sagte ihn niemandem.
Die Skalpjäger hatten sich an den steilen Hängen hinter Steinbrocken in Stellung gebracht. Die Familienbande der Chokonen bestand aus acht Erwachsenen und einem alten Mann, der krank war und den Winter ein letztes Mal bei den Nednhi-Apachen in Mexiko verbracht hatte, wo er das Klima besser ertragen konnte, als in den eiskalten und tief verschneiten Tälern der Chiricahua Mountains. Drei Kinder der Nednhi, deren Eltern von mexikanischen Soldaten getötet worden waren, zwei Jungen und ein Mädchen, befanden sich bei ihnen.
Für die Skalpjäger waren die Menschen, die im kleinen, von bewaldeten Hängen umgebenen Talbecken lagerten, nichts weiter als heidnische Wilde, deren Skalpe sie bei der mexikanischen Regierung gegen Geld einlösen konnten. Sie hofften aber auch, einige der Kinder gefangen zu nehmen, die sie dann in den Städten Mexikos später als Sklaven verkaufen konnten.
Ein einträgliches Geschäft sollte es für sie werden, ein kurzer Ritt über die Grenze, zuschlagen und zurückreiten zu ihren Familien in Janos und in anderen Orten entlang der Grenze.
Der Tag graute.
Die Chokonen wollten an diesem Tag weiter, um sich mit anderen Familienbanden zu vereinen, die Mexiko schon vor ihnen verlassen hatten. Keiner unter ihnen rechnete damit, dass ihnen hier, tief im unwegsamen Gebiet der Chiricahua Mountains, Gefahr drohte. Zwei Tagesmärsche waren es noch bis in das Tal zwischen den südlichen Ausläufern, wo sich der große Cochise aufhielt. Drei ihrer eigenen Männer hatten sie bereits vorausgeschickt, um ihr Kommen anzukündigen und Cochise zu berichten, dass es ihnen auf dem langen Marsch wohl ergangen war.
Doch als die Ersten von ihnen unter den Decken hervorkrochen, die sie an Buschästen aufgehängt und mit Steinen beschwert hatten, so dass sie, vor kalten Nordwinden geschützt, die Nacht verbringen konnten, begannen die Skalpjäger von ihren Positionen an den Hängen auf sie zu schießen. Sie besaßen noch keine Repetiergewehre, aber sie schossen nicht alle gleichzeitig, sondern einer nach dem anderen, so dass es fortwährend krachte und die Bleikugeln die Decken und Planenstücke der notdürftigen Unterkünfte zerfetzten, in denen Eltern ihre Kinder zu schützen versuchten, indem sie diese unter sich begruben.
Die, welche ins Freie stürzten, um sich zur Wehr zu setzen, sahen sich einer Übermacht von Reitern gegenüber, die ihre Pferde anspornten und jeden mit Kolbenhieben niederstreckten, der ihnen in die Quere kam.
Ein Mädchen, klein und zierlich, rannte einem der Reiter mit weit geöffnetem Mund entgegen und sprang ihn von der Seite her an, krallte sich an ihm fest und versuchte, ihn aus dem Sattel zu reißen. Dabei schrie es aus Leibeskräften, aber der Mann, ein kräftiger großer Patrón einer Hazienda, lachte nur, riss sein Pferd herum und bearbeitete es mit seinen Sporen, bis es sich, so schnell es nur konnte, im Kreis drehte.
»Liluye!«, hörte das Mädchen ihre Mutter rufen, und als sie sich nicht mehr an dem Mann festhalten konnte, wurde sie in ein Dornengestrüpp geschleudert. Nur wenige Schritte von diesem entfernt, hielten zwei der Skalpjäger ihre Mutter fest, während ihr ein dritter die Kleider vom Leibe riss. Sie sah auch ihren Vater durchs Geröll kriechen, blutüberströmt, den leblosen Körper seiner jüngsten Tochter mit sich ziehend.