»Bist’n Bulle, stimmt’s?«
Die Stimme hatte einen komischen Unterton. Komisch und tragisch. Aus reiner Höflichkeit ignorierte ich den ersten Eindruck und sagte mir, das ist einfach nur ein Typ im Park, der neugierig ist, ob er mich richtig eingeschätzt hat.
Er war klein und mondgesichtig, irgendwas über sechzig und hatte ungefähr zehn Kilo Übergewicht. Seine Augen waren braun und wurden von den dicken Gläsern der runden Nickelbrille vergrößert. Sein blasses, rosafarbenes Gesicht wirkte betont ausdruckslos, der Ziegenbart an seinem Kinn war eine Mischung aus Rot und Grau. Er trug eine formlose Twillhose, abgetragene Wildlederschuhe, über einem verblassten Jeanshemd ein Sakko aus einem Secondhandladen und ein marineblaues Wollbarett auf dem, wie ich vermutete, kahlen Kopf.
Trotz der kühlen Aprilluft schwitzte er. Schweiß rann ihm in zwei dünnen Linien von irgendwo unterm Barett heraus, an den Ohren hinunter und dann den Unterkiefer entlang, bis die Tropfen in seinem Bart verschwanden.
Als ich eine Viertelstunde zuvor mit meiner Times, einem Brötchen und einem Kaffee aus dem Deli in den Park gekommen war, hatte ich diesen Burschen beiläufig registriert, und auch, dass nur wir beide an einem Vormittag mitten in der Woche in dem kleinen Park waren. Ich hatte meine eigenen Sorgen. Er hatte ganz sicher seine.
Ich hatte mich auf eine der beiden letzten intakten Bänke des Parks gesetzt. Es war die Bank in der Sonne. Er saß bereits auf der zweiten Bank auf der anderen Seite eines mit zerbrochenen Ziegeln und Glas übersäten Fußweges im schwachen Schatten von Großstadtbäumen, die gerade neue Blätter bekamen. Ich bemerkte, dass er eines dieser Revolverblätter auf den Knien ausgebreitet hatte, wie man sie in Supermärkten findet.
Gelegentlich warf ich einen flüchtigen Blick in seine Richtung, wenn ich eine Seite umblätterte oder einen Schluck Kaffee trank, und erwischte ihn, wie er mich anstarrte und nicht die Zeitung auf seinem Schoß.
Jetzt stand er nahe genug vor mir, dass ich seinen rasselnden Atem hören konnte. Da war er, neugierig auf eine komische Art. Eigentlich ganz und gar nicht komisch.
Ich warf einen Blick auf meine Uhr: halb elf. Außerdem sah ich die fetten Buchstaben der Schlagzeile auf der ersten Seite seines Revolverblattes: Elvis-Statue auf Mars gefunden. Ich sagte mir, okay, hier haben wir also einen typischen Vertreter des Viertels, der in aller Unschuld etwas frische Luft schnappen will, na und?
Schließlich antwortete ich ihm mit einer Gegenfrage: »Woher wissen Sie, dass ich ein Cop bin?«
Er drehte sich jemandem zu, der neben ihm stand. Nur dass da natürlich niemand war. »Hör dir den an. Der fragt doch tatsächlich, ›Woher wissen Sie’s?‹ Kann man so was fassen?«, sagte er zu Niemandem.
Zu mir sagte er dann: »Freund, wenn du willst, können wir zum Strand runtergehen, und falls dort ein Cop ist, dann zeig ich ihn dir. Kinderleicht. Auch wenn er eine von den Badehosen mit kleinen Segelbooten auf dem Hintern anhätte, könnte ich ihn noch als Cop ausmachen unter all den anderen, die mit halbnacktem Arsch im Sand liegen. Wie das kommt? Weil’s ’ne Tatsache ist, dass ich eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe hab, deswegen, okay?«
»Okay.«
Er lächelte. »Hah! Wenn du jetzt deine Visage sehen könntest, dann würdest du genau wie ich merken, dass in riesigen Buchstaben Cop drauf geschrieben steht.«
»Wieso?«
»Also, erstens würdest du sehen, dass du mich anstarrst wie ein Bussard hoch oben am Himmel, der unten im Schnee nach Blutspuren sucht. So, wie du mich im Moment anglotzt, musst du entweder ein blödes Kind oder ein Cop sein. Und es fällt mir ehrlich gesagt schwer, mir vorzustellen, dass du je niedlich genug warst, um ein kleiner Junge gewesen zu sein.«
»Ich verstehe …«
»Da ist noch was, das mir sagt, du bist ein Cop. Du hörst aufmerksam zu. Ein Cop, der hört jedem zu, auch wenn’s nur ein brabbelnder Säufer oder ein vollgepumpter Junkie oder ein bekloppter Jesus-Freak ist.«
»Wir sollen zuhören.«
»Ich sag ja auch nicht, dass du’s nicht tun sollst. Ich sag nur, das ist es, was ich beobachtet hab, okay?«
»Okay.«
»Außerdem seh ich’s an deinen Händen, dass du ein Cop bist.«
»An meinen Händen?«
»Versteh das bitte nicht falsch, Freund, aber sogar jemand, der nicht meine Beobachtungsgabe besitzt, kann sehen, dass du zur Henkelmann-Sorte gehörst. Allerdings hast du keine Schwielen an den Fingern, was meiner Erfahrung nach wieder bedeutet, du bist ein Cop, denn Cops sind Typen, die’s zur Polizei zieht, weil sie nämlich genau wie du meistens zur Henkelmann-Sorte gehören, die allerdings keine körperliche Arbeit tun wollen. Na, hab ich recht, oder was?«
»Vielleicht«, sagte ich. Zu recht, dachte ich. Ich sagte: »Dann ist es also kein Problem für dich, jeden Cop in der Stadt zu erkennen?«
»Ist ein ziemlicher Klacks, ja. Abgesehen von euren Lady-Cops. Bei denen ist’s was schwieriger, weil sie Frauen sind. Aber wenn ich genug Zeit hab, erkenn ich die meistens auch.«
»Ich verstehe …«
»Natürlich verstehst du. Wie ich schon sagte, ich besitz eine große Gabe. Außerdem hab ich dich beobachtet, falls du’s nicht bemerkt hast …«
Mich beobachtet? »Nein, das wusste ich nicht.«
»Tja, jetzt weißt du’s.« Er zuckte mit den Achseln.
»Jedenfalls hab ich dich sofort als Cop erkannt. Und jetzt sagst du mir, dass ich recht hatte. Stimmt doch, oder nicht?«
Er wartete meine Antwort nicht ab. Stattdessen drehte er sich zu Niemand um und sagte: »Hundert Pro hab ich recht.«
Dann faltete er das Revolverblatt zusammen. Er stopfte die Zeitung in die Seitentasche seines Secondhand-Sakkos, ein cremefarbenes Leinending, das zu seiner Zeit durchaus schick gewesen sein mochte. Aus der anderen Tasche fischte er ein Lackpapier-Päckchen mit dünnen Zigarren, steckte sich eine zwischen die Lippen und bot mir auch eine an. Wir zündeten sie an, und dann beobachteten wir beide den Verkehr auf der Tenth Avenue, der nach Norden rollte. Ungefähr eine Minute sagte keiner von uns ein Wort. Er hing seinen Gedanken nach, ich meinen.
In einer sonst meist lauten und aufdringlichen Stadt stellte dieser komische alte Kauz, der mit mir und mit Niemandem redete, einen echten Frühlingsboten dar. An den meisten anderen Orten sieht man im April plötzlich Frauen in Kitteln, die Wäsche in den wunderbar frischen Wind raushängen, und Rotkehlchen, die fette Würmer aus dem feuchten Gras und dem duftenden Matsch ausgraben. In New York kann man sicher sein, dass der Winter vorbei ist, wenn auf den Schulhöfen Mädchen Seil springen, wenn jeder dritte Typ mit Anzug eine gelbe Krawatte trägt, wenn Menschentrauben mit ängstlichen, blassen Gesichtern in Midtown Manhattan herumlaufen und ihnen Straßenpläne aus den Gesäßtaschen wachsen, und schließlich, wenn die Parks die Rückkehr alter Käuze erleben, die nach einem langen und einsamen Winter im Haus wieder auf den Bänken sitzen und auf jemanden warten, mit dem sie reden können. Es ist Frühling, wenn sie Fremden – ja sogar wildfremden Cops – ihre beunruhigenden Lebensgeschichten erzählen und das, worüber sie den ganzen Winter gegrübelt haben …
»Tja, und dann hab ich mich gefragt«, sagte er und stieß beißenden blauen Qualm aus, »ob du dich immer so anziehst, oder wenn nicht, ob heute dein freier Tag ist, oder was?«
»Beides, könnte man sagen.«
Ich trug eine Hose mit Löchern an den Knien und zehn Jahre alten Farbflecken, dazu ein grünes T-Shirt von einer Ungeziefervernichtungs-Firma aus Hoboken mit einer toten Küchenschabe auf der Brust, eine Popeline-Jacke, deren Kragen und Manschetten praktisch nicht mehr existierten, eine Yankees-Baseballkappe und schwarze, knöchelhohe P-F Flyer-Turnschuhe, die ich ungefähr schon seit dem letzten Miss-Rheingolds-Kalender besitze.
»Oh, ich hab’s«, sagte er. »Du bist ein Ziviler. So was wie ein Undercover-Agent, hä? Ich mag Detektivgeschichten. Vielleicht hab ich in der Zeitung schon mal von dir gelesen?«
»Ganz sicher nicht in der Zeitung, die in Ihrer Jackentasche steckt«, erwiderte ich.
Er stieß Niemand einen Ellbogen in die Rippen und meinte: »He, hier haben wir mal einen Officer mit Sinn für Humor, was? Das gefällt mir bei einem Cop. Wenn Cops lächeln können, ist die Stadt gleich weniger nervös. Stimmt’s nicht? Hundert Pro hab ich recht.«
Dann zu mir: »Tja, Freund, ich les alle möglichen Zeitungen. Von deiner New York Times bis zu dem Käseblatt in meiner Tasche, das im Übrigen, das kann ich dir sagen, sehr oft auch nicht seltsamer ist als manche Geschichten, die sie in deiner feinen Presse bringen. Das liegt daran, dass heutzutage so ziemlich jeder verkommen ist, wie ich bemerkt hab.«
Er hielt mir seine weiche, rosa Hand hin und fügte mit einem freundlichen Lächeln hinzu: »Jedenfalls, freut mich, dich endlich kennengelernt zu haben.«
Wir schüttelten uns die Hand, und er sagte: »Ich wette, du weißt nicht, wer ich bin.«
Ich antwortete, die Wette hätte er gewonnen.
»Also, keine Angst, ist nicht deine Schuld, dass du mich nicht kennst«, sagte er. »Ich hab in diesem Leben keine großen Spuren hinterlassen.«
Er nahm einen letzten Zug von der Zigarre und warf sie dann auf den Weg, wo sie schließlich ausbrennen würde. Ich dachte daran, ihm zu sagen, dass ich viele Menschen auf der Welt hatte verenden sehen, die genauso beiläufig zu Boden geworfen worden waren wie gerade seine Zigarre. Doch ich behielt meine Gedanken für mich, wollte mich auf seine konzentrieren, was, wie er bereits sehr richtig bemerkt hatte, offenkundig in der Natur eines Cops lag.
Er setzte sich neben mich auf die Bank, zog ein Taschentuch aus der Jacke und wischte den Schweiß von seiner Vollglatze, nachdem er das Barett abgenommen hatte. Ich wusste, dass er kahl war! Er fragte: »Willst du wissen, wie ich heiß?«
Ich zuckte zustimmend mit den Achseln.
»Jeder, der mich kennt oder meint, mich zu kennen, nennt mich Picasso. Willst du wissen, warum?«
Natürlich antwortete ich: »Weil Sie ein Maler sind?«
Genau die Antwort, die er erwartet hatte, und deshalb lächelte er mich schon spöttisch an, noch während die Worte dummerweise über meine Lippen kamen. Woraufhin er sich zu Niemand umdrehte, der sich vermutlich ebenfalls zu uns auf die Bank gesetzt hatte, und sagte: »Hör dir den an. Er sagt: Weil Sie Maler sind? Kannst du’s fassen?«
Er setzte das Barett wieder auf und verstaute das feuchte Taschentuch. Dann steckte er sich eine weitere dünne Zigarre an, diesmal ohne mir eine anzubieten. Er saß stumm da, paffte und starrte zur Avenue hinüber. Dann sagte er: »Komm mit. Dann erfährst du was über mich und die Welt der Kunst.«
Wir erhoben uns, und ich ließ meine Times, das nur halb gegessene Brötchen und den größten Teil des Kaffees auf der Bank zurück. Wir gingen zur Bushaltestelle an der Straße. Er deutete auf die andere Straßenseite. »Siehst du da drüben im Schaufenster der Bodega das Schild Heute im Angebot: Schweinefleisch zwei neunzehn das Pfund, und dazu ein Bild von einem großen, fetten Schwein, das aussieht, als hätt’s eine Scheißangst?«
Ich sagte, ich sähe es.
»Tja, da hast du einen echten Picasso vor dir. Wette, du wusstest nicht, dass sich Picasso auch mit Schaufenstermalerei beschäftigt hat, häh?« Darüber musste er lachen. Dieses Lachen war eines der traurigsten und hässlichsten, das ich je gehört habe.
»Ich bemal die Schaufenster von dem Puertoricaner da drüben regelmäßig«, erklärte er. »Statt Geld gibt er mir dafür diese guten Zigarren hier, Wein, der überhaupt nicht gut ist, und Sandwiches. Und das sind heute im Wesentlichen meine künstlerischen Kicks als Maler.
Weißt du, ich wünschte, du würdest irgendwann mal rübergehen, bevor das neue Sonderangebot der Woche angekündigt wird – damit du dir aus der Nähe ansehen kannst, wie ich die nackte Angst des zum Tode verurteilten Schweins eingefangen hab. Wie ich schon sagte, das Studium des Wesentlichen der Dinge ist mein ein und alles. Weißt du, genau wie ich zum Beispiel auch dich all die Monate über studiert hab -«
Verkehrslärm schnitt ihm das Wort ab. Picasso hörte auf zu reden und starrte durch die vorbeifahrenden Autos und Lastwagen und Taxen auf das Schaufenster der Bodega. Dort fuhr gerade ein Mercury-Cabrio mit Nummernschilder aus Jersey vorbei, vollbesetzt mit ausgelassenen, lärmenden Mädchen, die offensichtlich die Schule schwänzten, nur um ein paar schlecht gekleideten Typen an einer Bushaltestelle zuzuwinken – eine Lieblingsbeschäftigung von Jugendlichen aus Jersey.
Ich sah Picasso an, der immer noch seine Interpretation des zum Tode verdammten Schweins anstarrte, und ich sagte mir: Vergiss jetzt das abgedrehte Zeug; du hast tausend andere Dinge zu tun; es ist der erste Tag deines wohlverdienten Urlaubs; du hast vor kurzem erst eine gewisse Ruby Flagg kennengelernt, sie ist hinreißend, und es ist Frühling.
Doch als könnte ich nicht genug bekommen, wartete ich im Gegenteil darauf, dass der Verkehr wieder nachließ, um noch mehr über ihn zu erfahren. »Womit verdienen Sie sich Ihre Brötchen?«
»Ich arbeite so wenig wie möglich, weil ich mich für meine Kunst schone!« Ein weiteres bösartiges Lachen. »Zu meinem Glück bin ich ein einfallsreicher alter Bastard und komm zurecht.«
»Wie?«
»Manchmal sammel ich Flaschen und Dosen und kassier das Pfand. Manchmal verteil ich Handzettel für das Horny Poodle, diesen Oben-ohne-Schuppen drüben auf der Seventh Avenue. Mal dies, mal das. Du weißt ja selbst, wie’s in dieser feinen Dienstleistungsgesellschaft so läuft.«
»Wohnen Sie hier irgendwo in der Nähe?«
Er gestikulierte, umfasste damit einen großen Teil des Viertels. »Hier irgendwo, da irgendwo. Du weißt schon.«
»Wie steht’s mit medizinischer Versorgung?«
Wieder grinste er spöttisch. »Und was meinst du damit genau? Ob ich reif bin fürs Sabberheim? Die Leute nennen mich Picasso, also denkst du, ich müsst mal mein Hirn untersuchen lassen, oder was?«
»Was ich meine ist …«
»Ach, spar dir das! Ich sag dir: Heute wird man nur aus einem wesentlichen Grund in die Klapse geschickt, und zwar, weil man was Übles gemacht hat, das nicht einfach nur bekloppt, sondern himmelschreiend bekloppt ist – falls du den Unterschied verstehst. Und dann, eines schönen Tages …«
Er brach ab, holte tief und rasselnd Luft. Dann fuhr er fort. »Eines schönen Tages setzen sie dich dann urplötzlich wieder auf die Straße und wünschen dir alles Gute. Das ist das Einzige, was sie noch tun können, nachdem sie am Ende zugeben müssen, dass sie keine Antworten, sondern nur Fragen haben. Die Straßen sind voll von uns. Oder sehe ich das falsch?«
»Ich glaube, Sie haben recht«, sagte ich. Als die nächste Woge lärmender Autos vorbei war, fragte ich: »Wieso haben Sie mich beschattet? Und warum erzählen Sie mir das alles überhaupt?«
Zu Niemand meinte er: »Jetzt will er wissen, ›Warum?‹ Der Kerl hat vielleicht das letzte mitfühlende Herz in einer alten, gottverdammt herzlosen Stadt, häh? Kannst du’s fassen?«
Er schaute die Avenue runter. Der M-11er Bus stand vor der roten Ampel an der Forty-Second Street. In wenigen Minuten würde er an der Haltestelle am Park sein. Picasso wühlte in seinen Hosentaschen nach Münzen.
Dann drehte er sich zu mir. »Du weißt doch, was mildernde Umstände sind, stimmt’s oder hab ich recht?«
Ich nickte.
»Natürlich weißt du’s. Du bist ja ein Cop. Also, vielleicht wollt ich einfach nur, dass jemand von mir und meinen mildernden Umständen erfährt. Die sogar ein Bekloppter hat. Und ich bin ein echter, klassischer Bekloppter, weil ich ungefähr seit der zweiten Amtszeit vom alten Ike immer mal wieder im Bellevue gewesen bin, alles klar?«
»Klar.«
»Aber das Bellevue, weißt du, das bringt mir nichts. Die Ärzte da sind schon in Ordnung und alles, aber trotzdem sind es nur unwissende Ärzte, die bestenfalls zwei Seiten einer Geschichte sehen können. Echte Geschichten mit echten Menschen haben erheblich mehr als nur zwei Seiten, ist dir das schon mal aufgefallen?«
»Mir ist aufgefallen, dass echte Geschichten voller mildernder Umstände sind«, sagte ich.
Er lächelte und sagte »Jaaa«, weil ihm meine Bemerkung gefiel. Zur Abwechslung war es ein freundliches Lächeln. Dann wurde er hektisch und zählte Münzen in seine Hand, gerade genug für den Busfahrschein. Der M-11er war jetzt nur noch einen Block entfernt.
»Weil’s dich interessiert«, sagte er, »werd ich dir verraten, dass ich früher mal ein total normaler Durchschnittstyp mit Frau und Kind war. Aber als Ehemann und Papa war ich ein Versager. Die Familie war auch nicht viel besser. Die Frau wurde schlampig, das Kind wurde fromm.
Ach, zum Teufel! Familienleben und Friede, Freude, Eierkuchen, das ist einfach nicht mein Ding. Als mir das klargeworden ist, hab ich mich auf den Weg nach New York gemacht. Denn genau hier gehören wir überzähligen Socken hin. Gewissermaßen bin ich weggelaufen, um mich dem großen Zirkus anzuschließen.«
Worüber er lachen musste. Es war einer seiner freudlosen Beller. »Tja, das hat was!« sagte er. »Der Zirkus!«
»Hatten Sie je Gelegenheit zu malen, was Sie malen wollten? Ich meine, haben Sie je ernsthaft gemalt?«
Zu Niemand sagte er: »Ho, ho, hab ich gemalt oder hab ich gemalt? Ernsthaft oder ernsthaft? Und, warum hab ich gemalt, was ich gemalt hab?«
Zu mir sagte er: »Ernsthafte Bilder? Die hängen tonnenweise überall in der Stadt. Hier und da eben, genau wie ich; nicht so, dass sie jeder bemerkt, wieder genau wie ich. Was auch der Grund ist, wieso es ein so gottverdammt guter Witz ist, dass man mich Picasso nennt, häh?«
Er fügte hinzu: »Freund, rat doch mal, wo gerade jetzt eins von meinen Bildern hängt?«
»Wo denn?«
»In einer Bar, in der du Stammgast bist …«
Ächzend hielt der Bus vor uns, wodurch er mir die letzte Chance nahm, Picasso zu fragen, seit wann er mich schon beobachtete. Und warum.
Picasso stieg ein.
Dann – unmittelbar, bevor sich die Falttür hinter ihm schloss, bevor er in den hinteren Teil des Busses ging, sich setzte und mich durch das breite Heckfenster auslachte und auslachte, wie ich da auf der Tenth Avenue stand und ihm wie ein blöder Cop nachstarrte – sagte er:
»Tja – und weil’s dich so furchtbar interessiert – vielleicht willst du ja wissen, dass mir all die Warums meines verpfuschten Lebens zum Hals raushängen. Weswegen ich an einem Plan arbeite, einem Plan, um jeden zu töten, der mich so tief hat fallen lassen, wie du ja selbst gesehen hast …«