Sevgi Soysal: Tante Rosa
Tante Rosa
Aus dem Türkischen von Ute Birgi-Knellessen
Die Originalausgabe erschien 1968 unter dem Titel Tante Rosa
© İletişim Yayıncılık, 2002
Published by arrangement via AnatoliaLit Agency.
Mit freundlicher Unterstützung durch das TEDA-Projekt des Kulturministeriums der Republik Türkei
Deutsche Erstausgabe
© 2016 binooki GmbH & Co. KG, Berlin
www.binooki.com
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2016
Lektorat: Elisabeth Göske
Satz: Marc Berger
Illustration: Sasha Wels
Umschlagestaltung: Kai Wels
ISBN 978-3-943562-57-6
eISBN 978-3-943562-60-6
Warum aus der kleinen Rosa keine Zirkusreiterin werden konnte
Tante Rosa in der Klosterschule
Tante Rosas Tiere
Tante Rosa wird aus der Kirche ausgeschlossen
Tante Rosa wird zur Friedhofsunternehmerin
Tante Rosa kehrt zu ihren verwelkten Feldblumen zurück
Tante Rosa ist für alles offen
Tante Rosa lässt sich nicht unterkriegen
Tante Rosa, I Love You
Tante Rosa, Großherzogin z.Z.d.
Tante Rosas Papagei
Tante Rosas Traum
Tante Rosas Reise
The End – Tante Rosa
Als Tante Rosa elf Jahre alt war, las sie in dem Familienwochenblatt »Unter Uns« unter einem historischen Foto, das die Königin Victoria im Reiterkostüm zeigte, folgende Nachricht:
»Die achtzehnjährige Königin Victoria inspiziert das Königliche Reiterregiment. In ihrem uniformähnlichen Reitkostüm, mit gespornten Stiefeln und einem der neuesten Mode folgenden Soldatenkäppi auf dem Kopf hat die verehrte Königin – wie stets – im Sturm die Herzen ihrer Landsleute und des Reiterregiments erobert.«
Nur kurz nachdem die Worte von den eroberten Herzen und das Bild der Pferde auf dem erwähnten Foto sich in ihrem Gedächtnis eingegraben hatten, beschloss Tante Rosa, Zirkusreiterin zu werden. Als sie ihrer Mutter von ihrem Entschluss erzählte, las diese gerade den folgenden Abschnitt des in der Familienzeitschrift »Unter Uns« veröffentlichten Fortsetzungsromans:
»Die Monate zogen sich hin wie Jahre, die Tage wie Wochen, und sie wandte – statt den aufgrund der herzzerreißenden Sünde anschwellenden Leib der Schwester anzusehen – die Augen ab, die sich lieber mit wilden Tieren im Kampf gemessen hätten, und mit dem Gefühl der Scham, für einen Undankbaren Tränen zu vergießen, derer dieser nicht wert war, und um ihr im Grunde doch weiches Herz mit feindlichen Gedanken gegen dieses unschuldige ungeborene Kind der Sünde zu stählen …«
Rosas Mutter legte mit verständlichem Entsetzen den Roman zur Seite und lief zu Rosas Vater, der ihr das Wohlergehen ihrer Tochter bis zu deren achtzehntem Jahre garantiert hatte. Obwohl der Vater ein strenger Mann war, sah er Rosas anhaltendem Gejammer gegenüber keinen anderen Ausweg als sie zu einem Zirkus zu bringen. Dabei vergaß er nicht, dem Zirkusdirektor einiges einzuschärfen. Und so setzte man Rosa noch am gleichen Tag auf das ungebärdigste Pferd im ganzen Zirkus. Viele Male purzelte an jenem Tag die kleine Rosa vom Pferd; doch ihr rüschenbesetztes Kostüm mit dem sich lustig drehenden Faltenröckchen gefiel ihr so gut, dass sie am Abend zu Hause den unerträglichen Schmerz ihres Popos vergaß und ihre Karriere als Zirkusreiterin unbedingt fortsetzen wollte. Erst nachdem sie von ihrem Vater eine gehörige Tracht Prügel bezogen hatte, schien sie die Zirkusreiterei vergessen zu haben. Und als Rosas Vater starb, noch bevor die achtzehnjährige Garantie erfüllt war, wechselte ihr Mütterchen die Firma und besorgte so eine weitere Garantie für Rosas Wohlergehen. Der neue Vater hatte gar nichts einzuwenden gegen Rosas Wunsch, Zirkusreiterin zu werden. So kam Rosa wieder zum Zirkus. Der Direktor, den dieses Mal niemand am Ohr zog, begriff auf der Stelle, dass Rosas kleiner Hintern weniger kostete als Schulbücher. Diese Rosa kam ihm gerade recht. Ein Mädchen, von dem man nicht möchte, dass es Zirkusreiterin wird, muss sofort aufs Pferd gesetzt werden. Ein Mädchen aber, das zum Zirkus gegeben wird, um es loszuwerden, lässt man auf keinen Fall aufsitzen. Rosa konnte jetzt nicht mehr vom Pferd herunterfallen; stattdessen schaufelte sie den Mist der Zirkustiere in Säcke, die sie anschließend zu den Bauern trug und verkaufte.
Rosa weinte viel. Sehr oft weinte sie. Zuerst hasste sie nur den Mist, dann aber auch die Pferde, und zum Schluss deren Steiß, weil ihr von den Pferden als einziges der Steiß übrig geblieben war. Es mag Psychologen geben, welche die hartnäckige Verstopfung, unter der Rosa im Alter litt, mit diesem Kindheitskomplex in Zusammenhang bringen. Wie dem auch sei, das Ereignis, das den größten Einfluss auf Rosas weiteres Leben haben sollte, fiel jedenfalls in die ersten Tage des damals beliebtesten Krieges.
Im ersten Kriegsjahr nämlich, als die Offiziersuniformen am glänzendsten und die Offizierstechtelmechtel am unwiderstehlichsten waren, beobachtete Rosa einmal – wie sie es jeden Abend tat – durch ein Loch in der Zeltbahn die Kunststücke der Zirkusreiterin. Sie sah zwischen ihren Fingern hindurch, mit denen sie das Loch auseinanderzog, und ihr Traum, in dem sie sich an die Stelle der Zirkusakrobatin setzte, ließ sich selbst durch den an ihren Fingern haftenden Mistgestank nicht verscheuchen.
Da, ich wippe; und da bin ich zu Boden gesprungen. Und jetzt bin ich wieder auf dem Pferderücken. Jetzt hab ich mein Bein hochgestreckt, und ein wilder Applaus bricht los. Wer ist das, dieser Leutnant da ganz vorne, dessen Augen stärker glänzen als die Knöpfe seiner Uniform? Er sieht mich an; er ist ganz verrückt nach mir; er kommt jeden Abend her, schaut mir zu und geht wieder; jetzt werde ich meine tollste Nummer für ihn abziehen. Wenn nur das Pferd nicht zu schnell ist, so dass ich meinen Salto richtig hinkriege. Das Pferd … springt los. Da … plötzlich ein Knistern. Das Knistern breitet sich aus. Dann wird es hell. Danach noch heller, immer heller. Zum Schluss kommen Schreie. Hitze, Geprassel. Flammen. Mehr Flammen. Die einen Traum heiß umzingeln. Rosa sah, dass die Flammen alle vier Seiten erfasst hatten. Sie sah, wie die Zuschauer herumrannten, die Zeltpfosten brannten, wie der Zirkusdirektor fluchte und die bunten Leuchtbirnen unter dem Zeltdach vom Rauch schwarz wurden, wie alle auf die Tür zu rannten, und sie sah, dass die Tür schmal war. Doch sie schaute nur auf die Akrobatin, das heißt, auf sich selbst, wie sie ihrem Liebsten ihre letzte Nummer präsentierte:
Ich hatte gerade mein Bein hochgestreckt, als ich zuerst das Knistern und dann die Schreie hörte. Durch den unerträglichen Schmerz hindurch, mit dem mein Kopf gegen die Manegenbegrenzung geprallt war, begriff ich, dass mein Pferd gescheut und mich abgeworfen hatte. Und jetzt kommt es wie von Sinnen wiehernd auf mich zu galoppiert. Aber ich verspüre keine Angst. Ich weiß, dass der da mit den glänzendsten Knöpfen und den glänzendsten Augen gleich kommen und mich retten wird. Da springt er ja schon über den Manegenring. Zuerst ergreift er das Pferd am Zaum. Das sich gerade noch aufbäumende Tier wird plötzlich zahm wie ein Lamm. Jetzt kommt er zu mir gelaufen. Er nimmt mich in seine Arme und schwingt sich mit mir auf den Sattel. Er drückt die glänzenden Sporen seiner Stiefel in den Leib des Pferdes, und wir preschen aus dem Zelt. Schreie, Rauch und Flammen hinter uns lassend, galoppieren wir in den Sonnenaufgang.
Rosa braucht das Loch in der Zeltwand nicht mehr mit ihren Fingern zu weiten. Die Flammen haben dort eine riesige Lücke geschaffen. Rosa hat gesehen, wie das Pferd scheute, die Zirkusreiterin von seinem Rücken abwarf und sich wild aufbäumte. Das am Boden liegende Mädchen konnte sie nicht sehen, doch sie sah den Leutnant über den Manegenzaun springen. Zwischen all dem Geschrei und dem Rauch sah sie nur ihn. Er hielt das Pferd an, stieg auf und verließ in fluchtartigem Galopp die Brandstätte. Und Rosa sah, wie der Leutnant auf den Ausgang zuritt und die am Boden liegende Zirkusreiterin unter die Hufe nahm.
Im Geiste sah Tante Rosa noch einmal das Foto in der Illustrierten »Unter Uns«, das Königin Victoria hoch zu Ross zeigte, und sie begriff in diesem Moment, dass aus ihr keine Zirkusreiterin werden konnte.
Fünf Kinder, fünf kleine Mädchen rannten hin und her. Dort, zwischen den Tannenbäumen, liefen die Mädchen umher und sahen, dass die Tannen mit Weihnachtsschmuck behängt waren. In einer Klosterschule herumzurennen ist an sich schon nicht leicht; mit den bis zum Boden reichenden schwarzen Kleidern mit Fischbeinstäbchenkragen fällt es einem Mädchen wirklich schwer, im Garten herumzurennen. Und wie schwer ist es erst sich vorzustellen, wie die kahlen Tannen mit Weihnachtsschmuck behängt dastehen.
Tante Rosa jedoch rannte trotz alldem umher, schnaufend und verschwitzt. Sie war eine Prinzessin, ein Feenkind; sie durfte sowohl herumrennen wie die geschmückten Tannen sehen. Ja, sie war eine Prinzessin. Aber noch mehr Prinzessin war sie natürlich, wenn sie an den Sonntagmorgen in die Kneipe lief und ihren Vater bat: »Trink nicht so viel Bier, gib nicht zu viel aus, spar das Geld lieber, damit ich eine prinzessinnengemäße Aussteuer habe, wenn der Prinz kommt, um mich heimzuführen«, oder wenn sie ihre Mutter anflehte: »Ich hab dich zwar lieb, aber bitte, bitte, sag ihm, dass ich ein Findelkind bin, dass ich als eine kleine Prinzessin in einem Korb gefunden wurde!« Jetzt, in ihrem schwarzen Kleid mit dem Fischbeinstäbchenkragen, genoss sie gerade zum ersten Mal die Übertretung eines Verbots. Die anderen vier Mädchen hatten sich bald geängstigt und zu rennen aufgehört. Die haben Angst, weil sie keine Prinzessinnen sind. Für Prinzessinnen gibt es keine Verbote. Ihnen geschieht überhaupt nichts, auch wenn sie alle Regeln übertreten. Denn eines Tages wird der Prinz angeritten kommen und die Prinzessin retten.
Rosa atmete heftig und schwitzte stark. Sie war durstig. Rosa verspürte Durst – in einer Klosterschule! Sie rannte zum Wasserhahn und begann gierig zu trinken. Eine Hand klatschte auf ihre Schulter, mit voller Kraft. Sie schaute auf mit ihrem Prinzessinnenblick. Schwester Maria schalt sie: »Da kommst du her und trinkst einfach so Wasser, ohne besonderen Grund. Du bist ein sündiges Mädchen, das seine Gelüste nicht im Zaum hält. Du verstehst es nicht, dein Inneres abzutöten.«
»Ich kann mein Inneres nicht abtöten«, entgegnete Rosa. »Denn mein Inneres ist eine Prinzessin. Die Prinzessin gehört dem Prinzen, und etwas, das dem Prinzen gehört, abzutöten, dazu haben selbst Sie kein Recht.« Schwester Maria wurde zornig, sehr zornig, und sie schlossen Tante Rosa in den Keller ein. Tante Rosa weinte im Keller. Sie betete zur Jungfrau Maria. Dann dachte sie nach. Sie befand, dass alle Katholiken hässlich und schlecht waren. Die Jungfrau Maria war so lieb, die war sicher keine Katholikin, als sie Jesus zur Welt brachte. Aber was war sie dann? Eine Prinzessin – sie war eine Prinzessin.
In der Klosterschule lernte Tante Rosa, dass ihr Körper etwas Schlechtes war. Es war verboten, sich beim Waschen auszuziehen. Man wusch sich im Hemd. Eines Tages, als Rosa wieder einmal herumrannte, fiel sie hin. Die Nonnen erlaubten nicht, dass sie ihre schwarzen Strümpfe auszog, nicht einmal, um die Wunde ordentlich zu verbinden. Die Wunde entzündete sich. Schwester Maria behauptete, dass Gott Rosa bestrafen wolle, weil sie es nicht verstünde, ihren Körper zu vergessen, ihr Inneres Gott zu weihen und ihre Gelüste zu besiegen, und dass er ihr deswegen nicht bei der Heilung der Wunde helfe. Rosa weinte und dachte, dass der hübsche, blauäugige Jesus unmöglich der Sohn eines solch strengen Gottes sein konnte. Sie fragte die Jungfrau Maria, wer der echte Vater von Jesus sei. Sie fragte sie nach dem König.
Ostern rückte näher. Die Vorbereitungen für die Festaufführung waren in vollem Gang.